„Alle machen mit“ Der Titelbildwettbewerb der Zeitschrift Psychiatrische Praxis geht in die nächste Runde. Sie haben Erfahrungen mit Psychiatrie, psychischen Erkrankungen, Dann machen Sie mit beim Titelbildwettbewerb der Zeitschrift Psychiatrische Praxis! Reichen Sie Ihr Kunstwerk rund um die Psychiatrie bei uns ein oder ermuntern Sie Ihre Patienten oder deren Angehörige, bei uns mitzumachen. Die ausdruckstärksten Bilder werden mit je 100 € prämiert und erscheinen auf den Titelseiten der nächsten Jahrgänge der Zeitschrift Psychiatrische Praxis. Die Siegerbilder werden durch das Editorial Board der Zeitschrift Psychiatrische Praxis gekürt. Einsendungen bitte an: psychiat-praxis@thieme.de Einsendeschluss ist der 14. Februar 2020. Die Bilder können ausschließlich digitalisiert eingereicht 1098 Pixel breit × 2102 Pixel hoch) und müssen zum Abdruck www.thieme.de/psychpraxis Wi r fre uen uns au f Ihre Kunst we rke! Sie möchten Studienergebnisse, neue Erkenntnisse und tragen? Hatten schon einmal eine unangenehme Begegnung mit den Medien? Kennen die Situation, Journalisten gegenüber Rede und Antwort zu stehen? ankommen. Dazu bieten wir Ihnen ein modular aufgebautes Medientraining für Einzelpersonen und Kleingruppen. Interessiert? www.thieme.de/medientraining l l e w a r / a i l o t o F ©

Herausgeberboard Organische psychische Störungen Prof. Dr. Michael Hüll Jahrgang 1964, studierte Humanbiologie und Medizin in Marburg und San Diego sowie Gesundheitsmanagement in Heidelberg. Nach der Facharztausbildung in Tübingen und Freiburg leitete er als Arzt für Psychiatrie, Psychothera- pie, Geriatrie an der Universitätsklinik Freiburg von 2007– 2014 die Sektion für Gerontopsychiatrie und Neuropsycho- logie sowie das interdisziplinäre Zentrum für Geriatrie und Gerontologie. Seit 2014 ist er Chefarzt der Klinik für Alterspsychiatrie und -psychothera- pie des Zentrums für Psychiatrie Emmendingen, akademisches Lehrkran- kenhaus der Universität Freiburg. Störungen durch psychotrope Substanzen Prof. Dr. Falk Kiefer Jahrgang 1969, promovierte nach seinem Medizinstudium an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seine psychiatrisch- psychotherapeutische Facharztausbildung absolvierte er am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, wo er auch 2004 habilitierte. Im Jahr 2005 nahm er eine Professur für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidel- berg an, 2014 übernahm er den Lehrstuhl für Suchtforschung, der mit der Position des Ärztlichen Direktors der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim verbunden ist. Prof. Kiefer ist President-elect der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht), Vorstand der Deutschen Suchtstiftung und Herausgeber der Zeitschrift „European Addiction Research“. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Ätiopatho- genese, Diagnose und Therapie von Suchterkrankungen. Schizophrenien, schizophreniforme und wahnhafte Störungen Prof. Dr. Andreas J. Fallgatter Jahrgang 1963, absolvierte nach dem Studium der Human- medizin in Frankfurt am Main zunächst eine Facharztwei- terbildung für Neurologie in Trier, dann für Psychiatrie und Psychotherapie in Lohr am Main und an der Universitäts- klinik Würzburg. Dort war er 12 Jahre als Oberarzt, davon 5 Jahre als leitender, geschäftsführender Oberarzt und als W2-Professor für Psychiatrie tätig. Seit 2010 ist er Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Hirnfunktionsmessungen bei psychischen Erkrankungen mittels elektrophysiologischer Methoden, Nahinfrarot- spektroskopie und fMRT sowie die Entwicklung von innovativen Therapie- methoden, basierend auf Neurofeedback-Interventionen und Neuro- stimulation mit rTMS und tDCS. Affektive Störungen Prof. Dr. Fritz Hohagen (Schriftleiter) Jahrgang 1954, studierte in Barcelona, Paris und Heidel- berg/Mannheim Medizin. Während seiner Zeit als Oberarzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der Uni- versität Freiburg habilitierte er dort 1995. Seit 1999 ist Prof. Hohagen Ordinarius für Psychiatrie der Universität zu Lübeck und Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psycho- therapie sowie der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie sowie medizinischer Geschäftsführer des Zentrums für Integrative Psychiatrie. Er war von 2005–2006 Präsident der DGPPN. Seine Forschungsschwer- punkte sind Neurobiologie und Psychotherapie der Zwangsstörungen, Depressionsforschung und die Interaktion zwischen Depression und kör- perlichen Erkrankungen. Neurotische, somatoforme und Belastungsstörungen Prof. Dr. Ulrich Voderholzer Jahrgang 1961, absolvierte nach dem Studium der Human- medizin in München und Boston eine klinische und wissen- schaftliche Ausbildung an der Psychiatrischen und Neuro- logischen Universitätsklinik in München. Von 1993–2009 war er an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Freiburg tätig. Seit Januar 2010 ist er Ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Prof. Voderholzer ist Mitglied mehrerer Fachgesellschaften. Seine Forschungs- schwerpunkte sind Zwangsstörungen, Essstörungen, Schlafstörungen und affektive Störungen. Psychische Störungen bei körperlichen Faktoren Prof. Dr. Stephan Zipfel Jahrgang 1962, studierte Medizin in Heidelberg, London und Frankfurt a. M. und absolvierte seine klinische und wissenschaftliche Ausbildung in Heidelberg und Sydney/ Australien. Er ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Innere Medizin und seit 2003 Ärztlicher Direktor der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Medizinischen Universitätsklinik Tübin- gen. Er ist Vorsitzender des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM) und Prodekan der Medizinischen Fakultät Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Essstörungen und Adipositas, soma- toforme Störungen und Psychoonkologie. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Prof. Dr. Klaus Lieb Jahrgang 1965, wurde nach dem Studium der Medizin und Philosophie in Ulm, Tübingen und Los Angeles und der Facharztweiterbildung in Ulm und Freiburg Oberarzt an der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie des Uni- versitätsklinikums Freiburg. Von 2001–2007 war er dort Leitender Oberarzt und Stellvertreter des Ärztlichen Direk- tors. Seit 2007 ist er Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psycho- therapie, Universitätsmedizin Mainz und seit 2018 wissenschaftlicher Geschäftsführer des Deutschen Resilienz Zentrums Mainz. Seine For- schungsschwerpunkte sind die Borderline-Persönlichkeitsstörung, affek- tive Störungen und Resilienz. Spezielle Themen Prof. Dr. Rolf-Dieter Stieglitz Jahrgang 1952, machte nach dem Studium der Psychologie eine Ausbildung in Gesprächspsychotherapie, Paar- und Familientherapie sowie in Verhaltenstherapie und erhielt 1999 die Anerkennung als Psychologischer Psychothera- peut. Prof. Stieglitz ist seit 2005 Halter einer Doppelprofes- sur der Medizinischen Fakultät und der Fakultät für Psycho- logie der Universität Basel, Schweiz. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Diagnostik und Therapie psychischer Störungen, u. a. Schizophrenie und ADHS bei Erwachsenen. Prof. Stieglitz ist Autor und Herausgeber von zahlreichen Büchern, Buchbeiträgen und Beiträgen in Fachzeitschriften Interessenkonflikte s. www.thieme.de/psychup2date/herausgeber 2 PSYVCH up2date 2020; 14

DAS STANDARDWERK DER PSYCHOTHERAPIE ÜBERWINDET GRENZEN . ff u a H . A . c . h . r D : n e t s o k d n a s r e V n e d n e l l i a f n a e d n e d r e w ] D l [ b a h r e ß u a n e g n u r e f e i L i e B . n e t l a h e b r o v r e m ü t r r I d n u n e g n u r e d n ä s i e r P G h p , 9 9 4 3 A R H , t r a g t t u t S r e t s i g e r s l e d n a H d n u - z t i S , G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . t e n h c e r e b r e t i e w Das Buch vermittelt systematisch und praxisbezogen den aktuellen Stand der Psychotherapie. Führende Fachvertreter stellen alle wissenschaftlich anerkannten Grundorientierungen vor und bieten neue Denkanstöße für eigene Behandlungsstrategien. • Aktuell: der neueste Wissensstand zu diagnostischen Verfahren und Behandlungstechniken • Ausführlich: Diagnostik, Indikation und Therapieoptionen für ein sehr breites Störungsspektrum • Praxisnah: viele Hinweise und Handlungsempfehlungen für den therapeutischen Alltag • Einzigartig: das gesamte Spektrum der psycho- therapeutischen Verfahren in einem Band NEU Buch + Online-Version in der eRef ISBN 978 3 13 242079 3 149,99 € [D] www.thieme.de/shop

Studienreferate Weniger Tiefschlaf als Risikofaktor für Alz- heimer-Erkrankung? Lucey BP, McCullough A, Landsness EC et al. Reduced non-rapid eye movement sleep is asso- ciated with tau pathology in early Alzheimer’s disease. Science Translational Medicine 2019; doi: 10.1126/scitranslmed.aau6550 Zahlreiche wissenschaftliche Unter- suchungen haben gezeigt, dass be- reits 15 bis 20 Jahre vor der Entwick- lung einer Demenz die Aggregation von ß-Amyloid beginnt und die intra- zelluläre Aggregation von TAU in mediotemporalen Regionen folgt. In Tier- und Humanstudien konnte zu- dem nachgewiesen werden, dass ein gestörter Schlaf auch die Konzentra- tion von Aß im Liquor beeinflusst und somit eine Relation von gestör- tem Schlaf und der Entwicklung einer Alzheimer-Demenz in Zusammen- hang gebracht wurde. So zeigte sich beispielsweise eine erhöhte Aß-Kon- zentration im Liquor bei Patienten mit gestörtem Schlaf. Auch bei Menschen konnten zahlreiche klinische Studien zeigen, dass ein gestör- ter Tiefschlaf das Risiko für kognitive Stö- rungen erhöhen kann. Amerikanische Wissenschaftler der Washington Univer- sity haben in einer jüngst veröffentlich- ten Studie den Zusammenhang zwischen reduziertem Tiefschlaf (non-REM-Schlaf) und dem Risiko für die Entwicklung einer Alzheimer-Demenz mithilfe von ver- schiedenen Biomarkern – erstmals auch TAU – untersucht. Insgesamt wurden 119 Patienten ab 60 Jahren in diese (wei- terhin laufende Longitudinal-)Studie ein- geschlossen. 80 % der Patienten zeigten keinerlei kognitive Defizite, die übrigen 20 % allenfalls milde kognitive Einbußen. Alle Studienteilnehmer wurden über eine Woche mittels eines vereinfachten EEGs (nur frontal) zur Messung der Schlafakti- vität sowie Sensoren zur Messung von Beinbewegungen und Atmung unter- sucht. Zudem wurden Schlafprotokolle angefertigt. Teilnehmer, die neuropsy- chologisch getestet wurden, erhielten zudem eine Liquor-Untersuchung (ß- Amyloid und TAU, n = 104), Apoliprotein Dennoch könnte die bisher eher nicht im Vordergrund stehende Frage, wie das Schlafverhalten eines älteren Patienten ist, eine Aussagekraft besitzen: so könn- ten Patienten, die auch tagsüber schla- fen oder über einen unruhigen und weni- ger tiefen Schlaf berichten, möglicher- weise von einer weiteren Diagnostik pro- fitieren. So könnte ein intensiveres Schlafmonitoring ein weiterer Marker sein, welcher möglicherweise in der Früherkennung einer Alzheimer-Demenz neben den etablierten Biomarkern eine Rolle spielen kann. Priv.-Doz. Dr. Arnim Quante, Friedrich von Bodelschwingh-Klinik, Klinik für Psy- chiatrie und Psychotherapie E-Genotypisierung, PET mit Amyloid- und TAU-Tracern (n = 84). Teilnehmer, die einen reduzierten NREM-Schlaf auf- wiesen, zeigten insgesamt erhöhte TAU Konzentrationen im Gehirn (mittels PET, Liquor oder beidem) sowie eine erhöhte TAU/Amyloid-ratio im Liquor. Die Schlaf- dauer selbst hatte keinen Einfluss auf TAU – im Gegenteil: so zeigte sich, dass insbesondere die Patienten, die insge- samt mehr geschlafen haben und auch tagsüber schliefen, meist auch diejeni- gen waren, deren Tiefschlaf insgesamt reduziert und TAU erhöht war. Reduzierte Tiefschlafphasen sind also mit einer TAU-Pathologie assoziiert, wie sie bei Patienten mit einer Alzheimer-De- menz zu finden ist. Ob solche Schlafstö- rungen bereits Folge einer TAU-Patholo- gie sind oder aber umgekehrt die Schlaf- störungen die TAU-Pathologie fördern, ist aus dieser Studie nicht ersichtlich. V I E L E N D A N K ! Der 13. Jahrgang der PSYCH up2date wurde mit dem vorangegangenen Heft abgeschlossen. Wir möchten uns bei unseren Leserinnen und Lesern und bei allen, die an dieser Zeitschrift mitgewirkt haben, herzlich für ihr Interesse, ihr Engagement und ihr Vertrauen bedanken. Besonders danken wir den vielen fachkundigen Gutachtern, die uns auch in diesem Jahr wieder mit ihrer Expertise kompetent und mit großer Sorgfalt unterstützt haben, namentlich R. Becker, Tübingen A. Daudert, Prien S. Englisch, Mainz S. Faschina, Basel M. Favreau, Prien A. Glahn, Hannover U. Hagenah, Aachen T. Hofmann, Berlin G. Juckel, Bochum K. Junghanns, Lübeck S. Klingberg, Tübingen J. Krapohl, Prien R. Lencer, Münster K. Müller-Vahl, Hannover T. Nickl-Jockschat, Iowa City A. Obermayr, Prien M. Rösler, Homburg/Saar M. Schouler-Ocak, Hamburg U. Schweiger, Lübeck J. Werz, Prien H. Wiegand, Mainz D. Wietelmann, Emmendingen A. Zeeck, Freiburg Wir wünschen allen Lesern, Autoren, Gutachtern und Freunden der PSYCH up2date ein glückliches und gesundes neues Jahr! Herausgeber und Verlag 6 PSYCH up2date 2020; 14: 5–6

SOP / Arbeitsablauf ject headings gefunden werden kann, ist für eine mög- lichst vollständige Literaturrecherche eine kombinierte Suche aus Suchbegriffen und subject headings zu emp- fehlen. banken Embase® (www.embase.com), Medline (www. ncbi.nlm.nih.gov/pubmed), Web of ScienceTM (www. webofknowledge.com) und Google ScholarTM (https:// scholar.google.de) zu verwenden [2] (vgl. ▶ Tab. 1). 3. Auswahl der passenden Literatur- datenbanken Die passende Datenbank sollte themenspezifisch zur Fragestellung ausgewählt werden. Für eine umfängli- che oder gar systematische Literaturrecherche im klini- schen Bereich empfiehlt es sich, mindestens die Daten- 4. Entwicklung des Suchstrings Mit Hilfe von Booleschen Operatoren können die ver- schiedenen Suchbegriffe inklusive Synonyme und sub- ject headings zu einem Suchstring zusammengesetzt werden. Die am häufigsten verwendeten Booleschen Operatoren sind AND (Suchbegriffe vor und nach AND 1. Entwicklung der Fragestellung Population: Intervention: Comparison: Outcome: Wer ist die Zielgruppe? Welche Intervention soll Mit wem oder was soll Welche Zielgröße soll untersucht werden? verglichen werden? erfasst werden? 2. Auswahl der Suchbegriffe, unter Berücksichtigung von: Synonymen verschiedenen Schreibweisen alternativen Wortendungen Abkürzungen Subject headings 3. Auswahl der passenden Literaturdatenbanken Thema: Welche Datenbank passt Studientyp: Nach welchen Extra: Freier Zugang: Subject headings, Zu welchen Datenbanken thematisch zur Frage- Studientypen suche ich? AutoAlerts, Speicherung habe ich Zugang? stellung? der Suche möglich? 4. Entwicklung des Suchstrings, z. B. 1. Suchbegriff OR Synonyme OR subject heading AND 2. Suchbegriff OR Synonyme OR subject heading AND 3. Suchbegriff OR Synonyme OR subject heading 5. Ausführung der Literatursuche Suche kann gespeichert werden und Ergebnisse in Literaturverwaltungsprogramm exportiert werden 6. Bewertung der Qualität der gefundenen Studien Wie gut eignet sich das Studiendesign, um die Unterliegt die Studie möglichen Verzerrungen? Forschungsfrage zu beantworten? 7. Auf dem Laufenden bleiben Suche speichern Einrichten von AutoAlerts Registrierung bei Wissenschaftliche soziale Zeitschriften Netzwerke (z.B. ResearchGate) ▶ Abb. 1 Flussdiagramm zur Literaturrecherche in sieben Schritten. 8 Denkinger Jana et al. SOP Literaturrecherche … Psychiatrie up2date 2020; 14: 7–11

SOP / Arbeitsablauf sicht definiert, sollten sich systematische Literatur- übersichten deshalb möglichst nicht auf Studien in einer bestimmten Sprache, aus einem bestimmten Land oder auf einen limitierten Publikationszeitpunkt beschränken. Neben publizierten Journalartikeln soll- ten sie möglichst auch Literatur außerhalb des wissen- schaftlichen Verlagswesens (graue Literatur) einschlie- ßen. So kann ein Publication Bias, eine Verzerrung durch die bevorzugte Veröffentlichung „positiver“ bzw. signifikanter Ergebnisse, minimiert werden. Auch bei einer systematischen Literaturübersicht wer- den die hier vorgestellten Schritte zur Literaturrecher- che durchgeführt. Da es sich jedoch um eine systema- tische Zusammenfassung aller relevanten Literatur handelt, sollten bei der Definition der Fragestellung zu- sätzlich präzise Ein- und Ausschlusskriterien formuliert werden. Damit können zwei unabhängige Personen über mehrere Schritte hinweg überprüfen, ob gefunde- ne Artikel in die systematische Literaturübersicht ein- geschlossen werden sollen oder nicht. Im Falle von Un- stimmigkeit empfiehlt es sich, eine dritte Person hinzu- zuziehen. Anschließend sollte die Qualität der einge- schlossenen Studien ebenfalls von zwei unabhängigen Personen unter Verwendung eines geeigneten Instru- ments bewertet werden. Orientierung beim Erstellen einer systematischen Literaturübersicht bietet das PRISMA Statement [5] samt PRISMA Checklist sowie das Cochrane Handbuch für systematische Literatur- übersichten [6]. Um die Qualität einer systematischen Literaturübersicht zu beurteilen, eignet sich das ROBIS Tool [7]. Systematische Literaturübersichten können Metaana- lysen enthalten. Diese stellen ein statistisches Verfah- ren dar, die Ergebnisse verschiedener Studien zusam- menfassend zu analysieren und dadurch einen Schätz- wert über den Effekt einer Intervention zu errechnen. Da mehrere Studien in die Berechnung einfließen, wer- den Verzerrungen aufgrund von zufälligen Fehlern in einzelnen Studien reduziert. Nicht jede systematische Literaturübersicht enthält eine Metaanalyse und nicht jede Metaanalyse entsteht aus einer systematischen Literaturübersicht. Ergebnisse einer Metaanalyse, die nicht an eine systematische Literaturübersicht gekop- pelt ist, sollten jedoch nur unter genauer Betrachtung der Studienauswahl interpretiert und generalisiert wer- den. 7. Auf dem Laufenden bleiben Um auch nach Abschluss der Literaturrecherche weiter- hin auf dem aktuellen Stand der Forschung zu bleiben, kann bei den meisten Datenbanken ein Konto einge- richtet und die Literatursuche gespeichert werden. Dies dient zum einen der Nachvollziehbarkeit der eige- nen Recherche, ermöglicht aber auch die einfache Durchführung weiterer Suchdurchläufe zu späteren Zeitpunkten. Bei den meisten Datenbanken kann zu- dem eine automatische Benachrichtigung per Mail ein- gerichtet werden (AutoAlert), die in regelmäßigen Ab- ständen über neue Publikationen zur gespeicherten Suche informiert. Zusätzlich ist eine Registrierung bei spezifischen Zeitschriften möglich, um Benachrichti- gungen über aktuelle Publikationen zu erhalten. Um über neue Publikationen einzelner Wissenschaftler*in- nen oder Forschungsgruppen informiert zu werden, eignen sich auch einschlägige soziale Netzwerke wie beispielsweise ResearchGate. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht. Autorinnen/Autoren Jana Denkinger M.Sc. Psych., Studium der Psychologie an der Universität Tübingen und San Francisco (USA). Seit 2016 wissenschaftliche Mitarbei- terin der Abt. für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Medizinische Klinik des Universitätsklinikums Tübingen mit For- schungsaufenthalt in Brisbane (Australien). Schwerpunkte: Psychotraumatologie und Migrationspsychosomatik. Katrin Ziser M.Sc. Psych., Studium der Psychologie an der Universität Tübingen. Seit 2015 Wissen- schaftliche Mitarbeiterin der Abt. für Psycho- somatische Medizin und Psychotherapie, Medizinische Klinik des Universitätsklinikums Tübingen. Schwerpunkte: Veränderungsbe- reitschaft bei PatientInnen mit Ess- und Gewichtsstörun- gen. Katrin Giel Prof. Dr., 2000–2006 Studium der Psycholo- gie an der Universität Tübingen und Queens- land (Australien). 2010 Promotion an der Universität Tübingen. Seit 2016 Professorin für Psychobiologie des Essverhaltens in der Abt. für Psychosomatische Medizin und Psy- chotherapie, Medizinische Klinik des Universitätsklinikums Tübingen. Schwerpunkte: Mechanismen und Therapie der Ess- und Gewichtsstörungen Stephan Zipfel Prof. Dr. med., Studium der Humanmedizin an der Universität Heidelberg, London (UK) und Frankfurt. Facharzt für Innere Medizin und Psychosomatische Medizin und Psycho- therapie. Seit 2003 Ärztlicher Direktor der Abt. für Psychosomatische Medizin und Psy- chotherapie am Universitätsklinikum Tübingen, aktuell Pro- dekan der Medizinischen Fakultät und Ärztlicher Direktor des Kompetenzzentrums für Essstörungen. 10 Denkinger Jana et al. SOP Literaturrecherche … Psychiatrie up2date 2020; 14: 7–11

Impressum PSYCH up2date 14. Jahrgang Die PSYCH up2date erscheint 6-mal jährlich. ISSN (Print): 2194-8895 eISSN: 2194-8909 Eigentümer & Copyright © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York 2020 Schriftleitung Prof. Dr. Fritz Hohagen Zentrum für Integrative Psychiatrie ZIP gGmbH Campus Lübeck Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck Tel.: + 49 451 500-2441, Fax: + 49 451 500-2603 E-Mail: fritz.hohagen@uksh.de Herausgeber Prof. Dr. Andreas Jochen Fallgatter Tel.: + 49 7071/2 98 23 00, Fax: + 49 70 71/29 53 79 E-Mail: andreas.fallgatter@med.uni-tuebingen.de Prof. Dr. Michael Hüll, Emmendingen Tel.: + 49 7641/461-11 00, Fax: + 49 7641/461-29 02 E-Mail: m.huell@zfp-emmendingen.de Prof. Dr. Falk Kiefer, Mannheim Tel.: + 49 621/1703-3501, Fax: + 49 621/1703-3505 E-Mail: falk.kiefer@zi-mannheim.de Prof. Dr. Klaus Lieb, Mainz Tel.: + 49 6131/177335, Fax: + 49 6131/229974 E-Mail: klaus.lieb@unimedizin-mainz.de Prof. Dr. Rolf-Dieter Stieglitz, Basel Tel.: + 41 61/32558-66, Fax: + 41 61/32558-67 E-Mail: Rolf-Dieter.Stieglitz@upkbs.ch Prof. Dr. Ulrich Voderholzer, Prien am Chiemsee Tel.: + 49 8051/68-100102, Fax: + 49 8051/68-100103 E-Mail: uvoderholzer@schoen-kliniken.de Prof. Dr. Stephan Zipfel, Tübingen Tel.: + 49 7071/2 98 06 95, Fax: + 49 70 71/29 45 41 E-Mail: stephan.zipfel@med.uni-tuebingen.de Die Herausgeber sind nicht verantwortlich für in der Zeitschrift enthaltene Anzeigen und Beilagen. Verlag Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 30 11 20, 70451 Stuttgart Tel.: + 49 711 8931-0, Fax: + 49 711 8931-298 www.thieme.de, www.thieme.de/psych-u2d www.thieme-connect.de/products Web-App: www.thieme.de/eref-app Redaktion Sie erreichen die Redaktion unter: Psych-u2d.impressum@thieme.de V. i. S. d. P.: Lea-Marie Tröster, Rüdigerstr. 14, 70469 Stuttgart Verantwortlich für den Anzeigenteil Thieme Media Pharmedia Anzeigen- und Verlagsservice GmbH Andreas Schweiger, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 30 08 80, 70448 Stuttgart Tel.: + 49 711 8931-245, Fax: + 49 711 8931-470 E-Mail: andreas.schweiger@thieme-media.de Produktionsmanagement Tel.: + 49 711 8931-540, Fax: + 49 711 8931-393 E-Mail: helene.herdt@thieme.de Abonnentenservice Wir bitten unsere Abonnenten, Adressänderungen dem Abonnentenservice mitzuteilen, um eine rei- bungslose Zustellung der Zeitschrift zu gewährleis- ten. Tel.: + 49 711 8931-321, Fax: + 49 711 8931-422, E-Mail: aboservice@thieme.de Unter dieser Adresse können Abonnenten der PSYCH up2date kostenlos einen neuen Archivierungs-Ord- ner bestellen. Bitte geben Sie Ihre Anschrift und Abo- Nummer an. Die Inhalte der Zeitschrift stehen online in Thieme Connect zur Verfügung (www.thieme-connect.de/ products). Der Zugang ist für persönliche Abonnen- ten im Preis enthalten. Über kostenpflichtige Zugangsmöglichkeiten und Li- zenzen für Institutionen (Bibliotheken, Kliniken, Fir- men etc.) informiert Sie gerne unser Institutional Sales Team, E-Mail: sales@thieme-connect.de Warenbezeichnungen und Handelsnamen Marken, geschäftliche Bezeichnungen oder Handels- namen werden nicht in jedem Fall besonders kennt- lich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinwei- ses kann nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Handelsnamen handelt. Informationen für unsere Autoren Manuskriptrichtlinien und andere Informationen für Autoren entnehmen Sie bitte den Autorenhinweisen unter dem Reiter „Autoren“ auf www.thieme.de/ psych-u2d. Grundsätzlich werden nur solche Manu- skripte angenommen, die noch nicht anderweitig veröffentlicht oder zur Veröffentlichung eingereicht worden sind. Bitte beachten Sie: Wir können keine Abbildungen annehmen, die bereits in Büchern, Zeitschriften oder elektronischen Produkten anderer Anbieter publi- ziert worden sind oder an denen ein Dritter Nut- zungsrechte hat (z. B. Arbeitgeber). Der Grund: Auch gegen Lizenzgebühr ist es kaum noch möglich, die Nutzungsrechte in dem für uns erforderlichen Um- fang zu erhalten. Bitte zahlen Sie deshalb keine Li- zenzgebühren (z. B. bei „RightsLink“/Copyright Clea- rance Center) – auch die Standard-Lizenzverträge von „Creative Commons“ sind für eine Publikation lei- der nicht ausreichend. 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Das Abonnement wird zumJahreswechsel im Voraus berechnet und zur Zahlung fällig. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung zum 30. September vorliegt. ** Der institutionelle Jahresbezugspreis inkludiert Online-Zugriff für 1 Standort; weitere Informationen finden Sie unter http://www.thieme.de/ connect/de/services/produkt-licensing.html For users in the USA Authorization of photocopy items for internal or per- sonal use, or the internal or personal use of specific clients, is granted by Georg Thieme Verlag Stuttgart. New York for libraries and other users registered with the Copyright Clearance Center (CCC) Transactional Reporting Service; www.copyright.com. For reprint information in the USA, please contact: journals @thieme.com Wichtiger Hinweis Wie jede Wissenschaft ist die Medizin ständigen Ent- wicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbeson- dere was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in diesem Heft eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autoren, Herausgeber und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstel- lung der Zeitschrift entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Ap- plikationsformen kann vom Verlag jedoch keine Ge- währ übernommen werden. Jeder Benutzer ist ange- halten, durch sorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Präparate und ggf. nach Konsulta- tion eines Spezialisten festzustellen, ob die dort ge- gebene Empfehlung für Dosierungen oder die Be- achtung von Kontraindikationen gegenüber der An- gabe in dieser Zeitschrift abweicht. Eine solche Prü- fung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Präparaten oder solchen, die neu auf den Markt ge- bracht worden sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Autoren und Verlag appellie- ren an jeden Benutzer, ihm etwa auffallende Unge- nauigkeiten dem Verlag mitzuteilen. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind für die Dauer des Ur- heberrechts geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und straf- bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung und Verbreitung in gedruckter Form, Übersetzung, Über- tragung und Bearbeitung in andere Sprachen oder Fassungen sowie die Einspeicherung und Verbreitung in elektronischen Medienformen (z. B. CD‑ROM, DVD, USB-Speicher, Datenbank, Cloud-basierter Dienst, E-Book und sonstige Formen des Electronic Publi- shing) und auch öffentlicher Zugänglichmachung (z. B. 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Printed in Germany Umschlaggestaltung: Georg Thieme Verlag KG Satz: seitenweise, Tübingen Druck und Bindung: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, Calbe (Saale) 12 PSYVCH up2date 2020; 14

CME-Fortbildung Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen: Metakognitive Therapie Christopher Gindele, Bartosz Zurowski Heft 4/2019 Störungsorientierte Behandlung der chronischen Depression nach dem CBASP-Konzept M. Kensche, U. Schweiger, J. Klein Heft 5/2014 Tiefe Hirnstimulation M. Grözinger, A. Sartorius, J. Kuhn Heft 2/2019 Pharmakotherapie der Depression A. Engel, C. Hiemke, A. Tadić Heft 2/2014 Schädel-Hirn-Trauma bei Kindern Peter Herkenrath Heft 1/2019 Interaktion von Depression mit kardiovaskulären und meta- bolischen Erkrankungen M. Deuschle, M. Gilles Heft 1/2019 Depressive Störungen bei Jugendlichen: Diagnostik und Therapie S. Naab, M. Hauer, U. Voderholzer, M. Hautzinger Heft 1/2014 Behavioral Activation: Therapie der Depression E. Faßbinder, M. Rogg, U. Schweiger Heft 5/2018 Achtsamkeit als Rückfallprophylaxe bei Depressionen T. Heidenreich, K. Rohde, J. Michalak Heft 6/2013 Interpersonelle Psychotherapie bei affektiven Störungen A. von Lucadou, E. Schramm Heft 1/2018 Phasenprophylaxe bei bipolaren Störungen U. Lewitzka, E. Severus, M. Bauer Heft 4/2013 Nebenwirkungen der neuen Antidepressiva F. Lenz, M. Bauer, P. Ritter Heft 6/2017 Chronobiologie: Licht- und Wachtherapie bei psychiatrischen Erkrankungen C. Cajochen Heft 3/2013 Traumatisierung und Depression U. Schweiger, V. Sipos, E. Fassbinder, J. P. Klein Heft 4/2017 Burnout: eine zeitgemäße psychische Störung? A. Hillert Heft 6/2012 Internet- und mobilebasierte Psychotherapie der Depression L. Sander, D. Ebert, H. Baumeister Heft 6/2016 Behandlungsstrategien der therapieresistenten Depression S. Köhler, M. Bauer, M. Adli Heft 3/2012 Sport- und Bewegungstherapie bei Depression K. Henkel, A. Schweinoch, F. Schneider Heft 4/2016 Nebenwirkungen von Antidepressiva G. Hiller, U. Voderholzer Heft 3/2012 Therapie der Manie J. Petzold, M. Bauer, E. Severus Heft 4/2016 Elektrokonvulsionstherapie M. Grözinger Heft 2/2016 Anhaltende komplexe Trauerreaktion – ein neues Krankheits- bild? J. Steinig, A. Kersting Heft 5/2015 Depression im Alter M. Hüll, F. Bjerregaard Heft 4/2015 Depression in der Peripartalzeit – Diagnostik, Therapie und Prophylaxe A. Riecher-Rössler Heft 3/2015 Kognitive Defizite bei Depressionen und ihre Behandlung D. Roesch-Ely, M. Weisbrod, M. Bartolovic Heft 2/2015 Psychodynamische Therapie der Depression D. Huber, G. Klug Heft 2/2012 Differenzialdiagnose bei Depression B. Heimbach, M. Hüll Heft 1/2012 Akutbehandlung der Manie J. Rentzsch, R. Ricken, M. Adli Heft 4/2011 Dysthymia P. Schönknecht, U. Hegerl Heft 4/2011 Postpartale psychische Störungen V. Dorsch, A. Rohde Heft 5/2010 Die atypische Depression C.-H. Lammers, M. Nagel Heft 1/2015 Psychotherapie bipolarer Störungen T. Meyer, B. Bernhard Heft 4/2010 ALLES ONLINE LESEN JETZT FREISCHALTEN Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: online wie offline, am PC und mobil, alle bereits erschienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! https://eref.thieme.de/psych-u2d Sie haben Ihre Zeitschrift noch nicht freigeschaltet? Ein Klick genügt: www.thieme.de/eref-registrierung.

CME-Fortbildung primäre oder sekundäre Deprivation (Trauma, multiple Verluste) unsichere Bindung (Erleben von Leere und Verlassenheit) in Abhängigkeit von Vulnerabilität/Resilienz unsicheres Selbstwertgefühl, überstarke Bedürftigkeit nach Zuwendung oder Bestätigung durch „idealen“ anderen, unbewussten Größenphantasien depressiver Grundkonflikt Wunsch nach Zuwendung Angst vor Alleingelassensein Unmöglichkeit/Verbot Zuwendung einzufordern (Autonomiestreben) Enttäuschung und destruktive Impulse gegenüber anderen maladaptive Interaktionen je nach Verarbeitungstypus verstrickte Verarbeitung: hohe Selbstanforderungen Ambivalenz Selbstentwertung Pseudoaltruismus vermeidende Verarbeitung: hohe Selbstanforderungen Kränkbarkeit Entwertung anderer Ärger und Distanz bei Anderen wachsende Bedürftigkeit/Depressivität ▶ Abb. 1 Der depressive Grundkonflikt und seine interaktionellen Folgen (nach [9]). rapie verknüpfen. Gegenpositionen warnen vor Ein- schränkungen der Therapieindikation im komplexen Feld der Psychotherapie und verweisen auf die Schutz- bedürftigkeit eines gewissen freien Rahmens innerhalb therapeutischer Prozesse. Der vorliegende Artikel soll die Verwobenheit von aku- ten und langfristigen Therapieaspekten bei psychody- namischen Therapieansätzen deutlich machen und möchte Argumente für die letztere Sicht liefern. Aktuelle Leitlinien zur Therapie der Depression Eine Orientierung in dem insgesamt eben sehr unüber- sichtlichen Feld der Indikation gibt heute die Nationale Versorgungsleitlinie „Unipolare Depression“ [1, 2]. Kursorisch zusammen gefasst empfehlen die Leitlinien bei leichten Depressionen zunächst ein vorsichtiges begleitendes Abwarten. Dies entspricht der Erfahrung, dass viele depressive Prozesse durch von den Betroffe- nen selbst ergriffene Gegenmaßnahmen mehr oder weniger spontan remittieren. Spätestens nach 14 Ta- gen andauernder deutlicher affektiver Herabgestimmt- heit werden jedoch therapeutische Maßnahmen emp- fohlen. Merke Bei leichten depressiven Episoden ist heute Psycho- therapie Mittel der ersten Wahl; Pharmakotherapie ist nicht indiziert. Ausnahmen zur zunächst nicht eingesetzten Pharma- kotherapie können sein: ▪ ein entsprechender Wunsch der Patienten nach Medikation ▪ diesbezüglich positive Vorerfahrungen 16 Schauenburg Henning. Psychodynamische Psychotherapie der … PSYCH up2date 2020; 14: 15–31

CME-Fortbildung Hinsichtlich der Rolle der Persönlichkeit für das Depres- sionsrisiko gibt es verschiedene Traditionslinien – im Sinne einer lebenslang gewachsenen Konstellation von Charaktermerkmalen, teilweise verbunden mit ange- borenen Temperamentsmerkmalen, teilweise als le- benslange Eigenschaften mit dem Ziel der Verarbei- tung und Bewältigung spezifischer Ängste. Diese wer- den im Folgenden dargestellt (vgl. [5]). Psychoanalytische Modelle Verlust und Kränkung Ganz im Sinne der Freudschen Vorstellung, dass inner- psychische Konflikterlebnisse zum Ausbruch depres- siver Erkrankungen führen können, gibt es in der Psy- choanalyse eine lange Tradition an Überlegungen, wel- che Persönlichkeitskonstellationen mit einem beson- ders hohen Risiko der depressiven Erkrankung unter Belastung einhergehen (siehe auch [6]). Verlust- und Kränkungserlebnisse sind dabei entscheidend für die Auslösung einer depressiven Erkrankung. Merke Die Psychoanalyse versteht den Beginn einer depres- siven Erkrankung als Ausdruck des Zusammenbruchs der Abwehr- und Kompensationsmöglichkeiten eines Individuums. In „Trauer und Melancholie“ beschreibt Freud, warum der Verlust einer wichtigen Bezugsperson oder eines lebensbestimmenden Ideals bei manchen Menschen zu Depressionen führt. Er zeigt, dass es vor allem inne- re Ambivalenzen (gegenüber der Person bzw. dem Ide- al) sind, die dazu führen, dass sie innerlich an dem Ver- lorenen festhalten müssen. Mit diesem „Festhalten“ geht ein Erleben von Ohnmacht und Hilflosigkeit einher [7]. In diesem Sinne konzipierte Freud erstmals den Un- terschied zwischen normalen Trauerreaktionen (in de- nen das Verlorene losgelassen werden kann) und der Depression, in der auf bestimmte Art und Weise am Verlorenen festgehalten wird. Letzteres ist verbunden mit einem Rückzug aus der Welt sowie, über die Verin- nerlichung abwertender Gefühlsanteile, einer Minde- rung des Selbstwertgefühls und zuletzt auch der Wen- dung aggressiver Impulse gegen das eigene Selbst. Dieser selbstbeschuldigende Zug wird mit der Verin- nerlichung enttäuschender (böser) Anteile des verlore- nen Objekts in Verbindung gebracht, die dann im Selbst attackiert werden können. Biografische Erlebnisse Das chronifizierte Vernachlässigungserleben von De- pressiven hat seine Wurzeln in entsprechenden, oft verdeckten, realen negativen Erfahrungen in der Bio- grafie. Die Betroffenen identifizieren sich unbeabsich- tigt mit den vermuteten oder tatsächlichen Entwertun- gen durch primäre Bezugspersonen bzw. mit deren phantasierten Leistungsanforderungen. Insofern wer- den Situationen des Scheiterns immer auch als eigenes Versagen interpretiert. Hinter den habituellen Selbst- anklagen und -entwertungen verbergen sich, oft kaum verhüllt, Anklagen gegen die ursprünglichen, aber auch die aktuellen Bezugspersonen. Neben allfälligen Ver- lusterlebnissen können auch Kränkungen, Desillusio- nierungen, Enttäuschungen, aber auch eigene Lebens- blockaden auslösend für depressives Hilflosigkeitserle- ben sein. Depression in der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik Auch später entstanden Persönlichkeitsmodelle, die auf der Annahme der Kompensation innerer Konflikt- spannungen und narzisstischen Verletzlichkeiten ba- sierten [8, 9]. Inzwischen wird meistens die in der psy- choanalytischen Tradition wurzelnde Konfliktachse der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik zur Persönlichkeitscharakterisierung von depressiven Pa- tienten herangezogen. Versorgungs-Autarkie-Konflikt Die häufigste Verarbeitungskonstellation ist nach vie- len Studien bei depressiven Erkrankungen der aktiv bzw. passiv verarbeitete Versorgungs-Autarkie-Kon- flikt. Dieser entsteht in der Folge eines überstarken bzw. fragilen Zuwendungsbedürfnisses (vor dem Hin- tergrund teilweise deprivierender Erfahrungen) und beschreibt im aktiven Verarbeitungsmodus Menschen mit einer Neigung zu übermäßiger Aufopferung und Fürsorge für andere (Helfersyndrom) und im passiven Modus ängstlich abhängige und unterwürfige Haltun- gen. Selbstwertkonflikt Eine weitere depressionsfördernde Konfiguration fin- det sich im passiven Modus des Selbstwertkonflikts, also bei Menschen mit besonders ausgeprägter narziss- tischer Verletzlichkeit, der diese mit „vorauseilender“ habitueller Selbstentwertung und perfektionistischer Selbstkritik begegnen (vulnerabler Narzissmus). Auch Menschen mit Zügen eines grandiosen Narzissmus (ak- tiver Verarbeitungsmodus) können unter bestimmten Umständen depressiv werden. Individuations-Abhängigkeits-Konflikt Bei niedrigem Strukturniveau finden sich oft Züge eines Individuations-Abhängigkeits-Konflikts, sowohl im ak- tiven als auch im passiven Modus. Dies sind Menschen, die im Rahmen zunehmender Vereinsamung depressiv erkranken, weil sie entweder ihren Näheängsten durch forcierte (Pseudo-)Autonomie begegnen oder aber sich in ihrer Individualität vollständig aufgeben, nur um nicht völlig allein zu sein. 18 Schauenburg Henning. Psychodynamische Psychotherapie der … PSYCH up2date 2020; 14: 15–31

CME-Fortbildung bremsen (z. B. Ärgerausdruck). Gleichzeitig behindern sie auf komplexen Wegen, dass Unterstützung, Fürsor- ge und Trost wirksam werden können. Sich unterstützt zu fühlen, löst unbewusst Angst vor dem Verlust dieser Unterstützung aus. Diese im Umgang mit Depressiven immer wieder beeindruckende Ambivalenz, die im Ge- genüber rasch zu hilfloser Reaktion führen kann, ist eine der größeren Herausforderungen im therapeuti- schen Prozess. Sie macht es nötig, über längere Zeit die stützenden, strukturierenden und Hilflosigkeit aus- haltenden Elemente der Therapie besonders zu beto- nen. Die Erfahrung zeigt, dass die hierfür empfohlenen Vorgehensweisen, die im Folgenden beschrieben wer- den, über alle therapeutischen Verfahren hinweg Gül- tigkeit haben. Psychotherapie der akuten Depression Allgemeine Interventionen Unaufdringliches Zuhören, das Angebot von Zeit, Raum und Präsenz sowie eine Perspektive weiterer Kontakte stellen für Patienten oft schon eine wesentli- che Beruhigung und Entlastung dar. Die quälende Star- re und Hilflosigkeit kann mit jemandem geteilt werden. Merke Der Umgang mit akut depressiven Patienten erfor- dert zunächst ein Eingehen auf die unmittelbare Notsituation. Ungeachtet dessen ist es dennoch sinnvoll, die Betref- fenden explizit darin zu bestätigen, dass sie sich Hilfe gesucht haben. Dies trägt der Ambivalenz und der Selbstentwertungsneigung der Patienten Rechnung („anderen geht es doch viel schlechter“). Entscheidend ist, dass rasch ein Verständnis der Persönlichkeit der Betroffenen gewonnen wird, um angemessen respon- siv auf mögliche konflikthafte Themen in der therapeu- tischen Beziehung antworten zu können. Vereinfacht gesagt meint dies für intensiv nach Stützung suchende Patienten, dass diese zunächst gewährt werden sollte, ohne dabei aber im Weiteren zu übersehen, welche eigenständigen Bewältigungsmöglichkeiten jeman- dem prinzipiell zur Verfügung stehen. Andererseits gilt es, abweisende und auf ihre Unabhängigkeit bestehen- de Patienten nicht zu sehr zu bedrängen und ihren Dis- tanzwünschen Respekt entgegenzubringen. Dies erfor- dert eine Flexibilität im Umgang, die zur Herstellung tragfähiger therapeutischer Arbeitsbeziehungen be- sonders hilfreich ist. PR A XISTIPP Der Therapeut sollte im Umgang flexibel reagie- ren können, um bei den Patienten einerseits die Suche nach Unterstützung zu erfüllen und sie andererseits in ihrer Selbstständigkeit zu fördern. Katz et al. fanden in einer neueren Arbeit, dass sich die- se Flexibilität auch in der Nutzung jeweils verschiede- nen therapeutischen Schulen entstammenden Inter- ventionen ausdrücken kann, z. B. der Benutzung typi- scherweise eher der kognitiven Therapie zugeordneten Interventionen durch psychodynamische Therapeuten [20], wie z. B. aktive Themengestaltung, Psychoeduka- tion, Ratschläge, Hausaufgaben. Diagnostik Die sorgfältige Erhebung depressiver Symptome dient nicht nur der klinischen Orientierung und der Bestim- mung des Schweregrades, sondern signalisiert den Pa- tienten Verständnis für ihre Situation und Interesse an ihrem Erleben. Deshalb gehört auch die Klärung kör- perlicher Erkrankungen als Verstärkungs- oder Auslö- sefaktor depressiver Symptomatik zum initialen diag- nostischen Prozess. Antrieb, Angstneigung, Schlafstö- rungen, Appetitstörungen und vor allem natürlich Sui- zidgedanken sind entscheidende Faktoren, über die auch Psychotherapeuten orientiert sein müssen. Es gehört auch zur Diagnostik, sich taktvoll nach Pha- sen guter Stimmung, nach psychischen Ressourcen und nach hilfreichen Kompetenzen zu erkundigen. Letztere werden von Patienten naturgemäß selten spontan angegeben. „Nichtdepressive“ Lebensberei- che und Aktivitäten zu kennen, hilft Therapeuten, die kompetenten Seiten ihrer Patienten nicht aus den Au- gen zu verlieren. Bestimmung des Behandlungsfokus Anamnese Die gründliche Erhebung der biografischen Anamnese ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil des frühen Pro- zesses und der Konstituierung der therapeutischen Ar- beitsbeziehung. Sie hilft bei der Bestimmung typischer Charaktermerkmale (Konfliktthemen und Verarbei- tungsmodi) sowie bei der Bestimmung struktureller Fä- higkeiten und Defizite. Beziehungsmuster erkennen All dies erleichtert die Festlegung eines Therapiefokus und die Ergründung typischer ungünstiger Beziehungs- muster. Zur Fokusbildung gehört aber auch die Festle- gung eines „Punktes der Dringlichkeit“, d. h. welche Le- bensbereiche sind besonders destabilisiert und brau- chen rasche Veränderung. Berücksichtigt werden müs- 20 Schauenburg Henning. Psychodynamische Psychotherapie der … PSYCH up2date 2020; 14: 15–31

CME-Fortbildung Therapie von großer Wichtigkeit sein kann. Diese soll- ten allerdings nur erfolgen, wenn dies von den betrof- fenen Patienten gewünscht wird bzw. nachdem even- tuell bestehende Ambivalenzen gründlich geklärt wer- den konnten. Medikation An dieser Stelle wird nicht ausführlich auf die Pharma- kotherapie der Depression eingegangen. Festgehalten werden muss, dass Patienten häufig eine Medikation eher ablehnen. Es ist im Übrigen gesichert, dass im Be- reich der milden Depressionen der Placeboeffekt den wesentlichen Wirkmechanismus darstellt. Insofern sind auch Noceboeffekte nicht selten (z. B. in Form un- angenehmer Nebenwirkungen!), wenn die Empfehlung einer Medikation auf den inneren Widerstand von Pa- tienten trifft. Insgesamt gehorcht die Verordnung bzw. die Einnahme (oder Nichteinnahme) von Antide- pressiva häufig einer eigenen Psychodynamik und kann im Rahmen der typischen Beziehungsmuster der Patienten verstanden werden. Merke Auf die Verordnung von Medikamenten reagieren Patienten mit einer eigenen Psychodynamik. Manche Patienten erleben das Verordnen von Medika- menten als Zurückweisung, andere als Zuwendung. Manche erleben sich durch die Medikation als fremdge- steuert, andere als beruhigt. Diese Dynamik führt dazu, dass viele Psychotherapeuten die Verordnung einer Medikation an begleitende Ärzte oder ärztliche Kolle- gen delegieren. Stützende Interventionen Nötig ist angesichts komplexer und verstrickter Le- benssituationen oft die unmittelbare – z. B. soziothera- peutische – Schadensminimierung, so z. B. bei Gewalt bzw. Elementen von Verwahrlosung, aber auch bei fi- nanziellen Notlagen und erheblich eingeschränkter Ar- beitsfähigkeit (vgl. [23]). Dies erfordert, im Sinne der genannten Flexibilität, aktivere Haltungen als sie tradi- tionell dem psychodynamischen und psychoanalyti- schen Ideal entsprechen. Hierzu gehört auch die Akti- vierung „antidepressiver und strukturierender Strate- gien im Alltag“. Zu Letzteren können sportliche Aktivi- täten ebenso gehören wie andere Formen aktiver Betä- tigung oder die (Wieder-)Aufnahme sozialer Kontakte. Selbstwertstabilisierung Die habituelle Neigung zur Selbstentwertung spielt meist schon im frühen therapeutischen Kontakt eine Rolle. Die therapeutische Arbeit besteht zunächst ein- mal darin, die dadurch auch im Therapeuten ausgelös- te Hilflosigkeit „auszuhalten“ und nicht vorschnell trös- tende und scheinbar die Selbstentwertung widerlegen- de Interventionen zu platzieren. Warum ist dies wich- tig? Tröstende Interventionen kennen alle Patienten aus ihrer sozialen Umgebung und haben insofern viel- fältig erlebt, dass diese sie nicht wirklich beruhigen und schon gar nicht längerfristig ihr Selbstwerterleben erhöhen konnten. Deshalb ist ein zu schneller Trost („aber das haben Sie doch eigentlich gut gemacht“) oder die Aufforderung, doch eigene Ansprüche zu re- duzieren, leicht als Zurückweisung zu verstehen. Merke Selbstentwertungen haben für den Patienten auch ein „bindendes“ und damit sicherndes Motiv. Nachfragen, empathische und auf Verstehen der Selbstentwertung ausgerichtete Interventionen, die natürlich auch Mut zusprechen dürfen und Lösungsop- tionen anbieten, sind eine Möglichkeit, sich vorsichtig der Selbstentwertung zu nähern. Eine andere ist die Be- förderung von Mentalisierung. Dies meint, dass Patien- ten anfangen, darüber zu reflektieren, auf welche Wei- se sie immer wieder in Selbstentwertung geraten. Gleichzeitig gehört zur Mentalisierung auch der Ver- such, ein Verständnis für die psychischen Vorgänge in anderen zu gewinnen („sehen die anderen mich wirk- lich so negativ wie ich mich selbst“). Merke Mentalisierung zu stärken, wird von vielen als zen- trales Element der Depressionstherapie gesehen. Im Sinne von Mentalisierung sind alle Interventionen produktiv, die darauf zielen, Patienten Distanz zu ihrem inneren Erleben und einen Blick von außen „auf sich selbst“ zu erleichtern. Dies erlaubt, aus dem Gefühl der Unabänderlichkeit herauszufinden. Eine bewährte Methode ist, die Beförderung der Selbstbeobachtung in Bezug auf (noch so kleine) Stimmungsschwankun- gen zu fördern, was dazu beitragen kann, dass Patien- ten einen Eindruck davon bekommen, wie sie ihre eige- ne Stimmung positiv, aber auch negativ beeinflussen können. Therapeutische Fallstricke Die komplexe und lähmende Lebenssituation depres- siver Patienten bedeutet meist eine Belastung auch des therapeutischen Kontaktes. Aus Hilflosigkeit ent- steht Handlungsdruck. Hier besteht die Gefahr, dass die vom Therapeuten erlebte Hilflosigkeit zu einer Ver- strickung in ungünstige Interaktionen mit dem Patien- ten führt. Es können Impulse zu vordergründigem Trost oder na- heliegenden Lösungsvorschlägen aufkommen. Hier ist das Risiko, dass dies von den Patienten als Bagatellisie- rung erlebt wird. Sie fühlen sich nicht verstanden, da zu Beginn einer therapeutischen Begegnung die Komple- 22 Schauenburg Henning. Psychodynamische Psychotherapie der … PSYCH up2date 2020; 14: 15–31

CME-Fortbildung durch die gezielte Förderung von Selbstwertstärkun- gen, hängt auch von den jeweiligen Patienten ab. Merke Regressive Prozesse (zu intensive Aktivierung von Affekten, zu lange Schweigepausen) sollten vermieden werden. Im späteren Verlauf von Therapien wird es dann stärker auch um das Zulassen negativer bzw. schmerzlicher Gefühle gehen, um das Erkennen „eigener Anteile“ so- wie um die Trauer um oft unwiederbringliche Verluste und persönliche Grenzen. Im gelingenden Fall findet eine Versöhnung mit solchen biografischen Erfahrun- gen statt. Merke Wichtig ist Patienten bei der Wahrnehmung und dem Umgang mit Gefühlen zu unterstützen. Ungünstige Muster im Sinne unterschiedlicher Verar- beitung des depressiven Grundkonfliktes sind in der Li- teratur vielfach beschrieben. In einer hilfreichen Psy- chotherapie geht es darum, diese Muster zu verstehen und zu bearbeiten bzw. zu überwinden – ggf. mithilfe der Merkmale der therapeutischen Interaktion. Im Fol- genden werden am Beispiel der oben beschriebenen bi- polaren bzw. bindungsbezogenen Typologie 2 beson- ders häufige Verarbeitungskonstellationen gegenüber- gestellt und an ihnen persönlichkeitsspezifische Aspek- te der Depressionstherapie erläutert. Psychotherapie bei regressiver („verstrickter“) Verarbeitung des depressiven Grundkonfliktes Übertragungs-Gegenübertragungs- Konstellation Merke Verstrickte Patienten haben unterschwellig eine hohe Erwartung an die Therapie. Daraus erwächst ein besonders hohes Risiko für Enttäuschung. Therapeuten erleben sich unter dieser Erwartung in der Gegenübertragung entweder so, wie die Patienten sich selbst, nämlich überfordert und schuldig (konkordante Gegenübertragung) oder aber so, dass sie sich inner- lich distanzieren und damit bekannte Muster von Zu- rückweisung reproduzieren (komplementäre Gegen- übertragung). Beides sind Ausdrucksformen einer ver- strickten Bindung. Depressive Menschen initiieren, wie erwähnt, bei ande- ren Hilfsangebote, Beschwichtigungen und Aufmunte- rungen, die dann häufig wirkungslos bleiben. Das (the- rapeutische) Gegenüber ist dann selber enttäuscht, ratlos und zieht sich evtl. zurück, was bei den Betroffe- nen zum Gefühl führt, alleine gelassen zu werden. Schuldgefühle bei Therapeuten können dann zu „hekti- schen Aktivitäten“, d. h. z. B. zum vorschnellen Wechsel der Therapiestrategie führen. Verstärktes Bemühen (Stunden überziehen!), statt gelassener Begleitung, kann aber zu Schulderleben beim Patienten führen, der sich quasi zur Besserung „verpflichtet“ fühlt. Ange- messener ist eine geduldige Strategie der kleinen Schritte und Erfolge. PR A XISTIPP Ein zentraler Wirkmechanismus in der Therapie Depressiver besteht vermutlich gerade in der Identifikation mit einer solchen ruhigen Gelas- senheit, aber auch der taktvollen Abgrenzungs- fähigkeit von Therapeuten (Modelllernen!). Typische „verstrickte“ Verarbeitungen: Altruismus, Ambivalenz, gehemmte Aggressivität, Wendung gegen das Selbst Das Verhaltensmuster der „altruistischen Abtretung", also der z. T. aufopferungsvollen Fürsorge für andere (vor dem Hintergrund eigener uneingestandener Be- dürftigkeit), ist bei vielen Patienten zu finden. In der „Aufopferung" auf der Suche nach „zuverlässiger“ Nähe liegt oft ein Wiedergutmachungsanspruch („wie ich dir, so du mir“), der den Keim für depressionstypi- sche Enttäuschungsreaktionen legt. Weiter fürchten viele Patienten, dass die Realisierung eigener Interessen, das Befolgen expansiver Wünsche oder auch aggressive Auseinandersetzungen zur Ab- wendung anderer Personen führt. Negative Gefühle Viele depressive Patienten erleben Enttäuschung und Wut bzw. Neid. Die bindungsunsichere Ambivalenz ge- genüber wichtigen Bindungspersonen (oft auch im Verborgenen gegenüber Therapeuten) und die mit ihr verbundene Aggression, die vordergründig v. a. in Selbstanklagen zum Ausdruck kommt, sollte vorsichtig thematisiert werden. Sinnvoll ist es, zunächst die posi- tiven Beziehungen und Gefühle hervorzuheben, um später ggf. die in jeder Beziehung unvermeidliche Ent- täuschung(saggression) zu bearbeiten. Geäußerte Vor- würfe an den Therapeuten sollten auf ihre „realisti- schen“ Anteile geprüft und ohne defensive Rechtferti- gung akzeptiert (aber natürlich nicht unbedingt bestä- tigt) werden. 24 Schauenburg Henning. Psychodynamische Psychotherapie der … PSYCH up2date 2020; 14: 15–31

CME-Fortbildung sind. Bei Patienten aus dieser Gruppe besteht also die Gefahr sie „zu früh“ ziehen zu lassen. Zu beachten ist die Affektvermeidung, weshalb versucht werden sollte, Trauer, Alleinsein und Enttäuschung anzusprechen. Die Wertschätzung von Verbundenheit und die fokussierte Betrachtung abgewehrter Trauerprozesse sind deshalb zum Behandlungsende besonders wichtig. Zu reflektie- ren ist, wann ein evtl. entwertender und unzugäng- licher Patient zum „Bleiben“ veranlasst werden sollte, auch wenn dies Therapeuten manchmal schwerfällt. Psychodynamische Psychotherapie bei strukturellen Störungen Diese Patienten – häufig mit Persönlichkeitsstörungen (Borderline, narzisstisch) – weisen, neben der bekannt reduzierten Reflexionsfähigkeit, Impulssteuerung und Frustrationstoleranz, oft zusätzlich folgende Probleme auf: ▪ Störung der Intentionalität (Lebensziele) ▪ Mangel an Fähigkeit zur interpersonellen Bezogenheit ▪ Schwierigkeit, therapeutisch einmal Erreichtes auch „halten“ zu können ▪ verminderte Fähigkeit zur therapeutischen Ich-Spaltung Je höher das Strukturniveau, desto stärker kann die Therapie im oben überwiegend beschriebenen Sinn konfliktorientiert, d. h. konfrontativ, regressionsför- dernd und aufdeckend durchgeführt werden. Je ausge- prägter diese genannten Schwächen (d. h. je niedriger das Strukturniveau), desto eher spielen stützende, strukturbezogene und psychoedukative Elemente eine Rolle (s. [25]). Strukturbezogene Interventionen sind neben dem Genannten charakterisiert durch Begren- zung von Regression, sie sind begleitend statt vor al- lem verstehensorientiert, abwehrstärkend statt schwä- chend und Selbstbeobachtung explizit fördernd. Über- tragungsbezogene Interventionen dienen hier vor al- lem der Klärung interpersoneller Prozesse, nicht der Aufdeckung verborgener Motive. Zur Vertiefung verweisen wir außerdem auf Arbeiten zur Übertragungsfokussierten Therapie [26] sowie zur Mentalisierungsbasierten Therapie (dt. [27, 28]), die beide wichtige Impulse für ein spezifisches Vorgehen mit strukturell schwerer gestörten Patienten im Rah- men der psychodynamischen Therapie gegeben haben. Behandlungsdauer, Rückfallrisiko, Erhaltungstherapie Insgesamt ist bei depressiven Patienten das Prinzip der adaptiven Indikation besonders wichtig, d. h. die An- passung des Settings und der Frequenz an die innere und äußere Situation der Patienten. Dies kann z. B. hei- ßen: etwas häufigere Termine (d. h. weniger verunsi- chernd) zu Beginn, andererseits geringere Häufigkeit der Sitzungen zum Ende, manchmal auch über lange Zeiträume im Sinne einer Begleitung. In Studien zeigt sich, dass die untersuchten typischer- weise eher kurz angelegten psychotherapeutischen In- terventionen (z. B. 24 Sitzungen nach neuer Richt- linienvorgabe) für etwa die Hälfte der Patienten nicht ausreichend sind; die Rückfallgefahr bleibt groß. Für bereits chronifizierte Verläufe und gehäufte Rezidive müssen ebenfalls längere Behandlungszeiträume ange- setzt werden. Merke Eine typische Behandlungsdauer ist angesichts der komplexen Ätiologie und der vielfältigen Interaktio- nen der Erkrankung mit körperlichen, innerpsy- chischen und sozialen Faktoren nicht festzulegen, sondern muss sich am Einzelfall orientieren. Kriterien für die Verkürzung oder Verlängerung einer Therapie ergeben sich zudem oftmals erst im Rahmen des therapeutischen Prozesses. Bedeutsam ist aller- dings die Veröffentlichung von Leichsenring und Ra- bung, die zeigt, dass längere Therapien insgesamt bes- sere Behandlungsergebnisse erzielen [29]. Die Bedin- gungen der Kassenfinanzierung im Rahmen der deut- schen Richtlinien-Psychotherapie tragen unseres Er- achtens im Moment noch den komplexen Verhältnis- sen angemessen Rechnung. Rückfälle nach Abschluss der Therapie einer akuten de- pressiven Episode sind häufig. Nach einer ersten Episo- de liegt das Rückfallrisiko bei 20 – 30 %. Mit jeder weite- ren Episode erhöht sich das Risiko um ca. 20 %, sodass es nach z. B. 4 Episoden bei etwa 70 – 80 % liegt. Gleich- zeitig gilt auch, dass je früher und schwerer die depres- siven Symptome bzw. je ausgeprägter „Restsymp- tome“ nach einer Episode, desto größer ist das Risiko von Rückfällen bzw. Chronifizierung. Weitere Risikofaktoren sind außerdem ausgeprägte Angst und Substanzmissbrauch. Außerdem begleiten- de Persönlichkeitsstörungen, ebenso höhere Neuroti- zismuswerte als Ausdruck von unterschwelliger Angst- neigung, Scham und interpersoneller Sensitivität. PR A XISTIPP Der Zusammenhang von Rückfallhäufigkeit und Persönlichkeitsmerkmalen hat vermutlich vor allem mit interpersonellen Schwierigkeiten zu tun: Diese führen zu einem Mangel an sozialer Unterstützung und innerer Stabilität und damit zu erhöhter Verletzlichkeit. 26 Schauenburg Henning. Psychodynamische Psychotherapie der … PSYCH up2date 2020; 14: 15–31

CME-Fortbildung Es gibt Hinweise, dass langfristig fortgeführte nieder- frequente Kontakte für eine bestimmte Risikogruppe die Gefahr einer erneuten Depression deutlich senken können (Übersicht bei [30]). Empfehlenswert ist ein solches Vorgehen besonders bei: ▪ erheblicher Restsymptomatik zu Therapieende ▪ raschen Rückfällen nach früheren Therapie- beendigungen ▪ mehr als 3 eindeutige depressive Episoden in der Vorgeschichte ▪ wenn die erste Episode sehr schwer und vor dem 20. Lebensjahr aufgetreten ist ▪ ausgeprägter Persönlichkeitsbeeinträchtigung ▪ schwerer (v. a. sozialer) Ängstlichkeit und Scham ▪ sozialer Isolierung bzw. Fortbestehen stark belas- tender Lebensumstände (Armut, Alleinerziehenden- Status, Gewalt, Krankheit etc.) ▪ wenn der Patient dies ausdrücklich wünscht KERNAUSSAGEN ▪ Psychodynamische Psychotherapie der Depression ist evidenzbasiert; es gibt vielfältige Wirksamkeitsnachweise. ▪ Psychodynamische Modelle der Depression betonen den Risikoaspekt bestimmter (neurotischer, d. h. konfliktbezo- gener bzw. bindungsunsicherer) Persönlichkeitsmuster. ▪ Der therapeutische Umgang mit akut Depressiven orientiert sich an allgemein klinisch bewährten Vorgehensweisen. ▪ Die weiterführende Therapie berücksichtigt spezifische Abwehrformationen und Übertragungsmuster („Enact- ments“), um ein vertieftes Verständnis unbewusster Befürchtungen, manifester Ängste und sozialer Blockaden zu erreichen. ▪ Ziel der Therapie ist u. a. eine Verbesserung der sozialen Kompetenz und Verbundenheit und eine Entlastung von neurotischen Selbstanforderungen. ▪ Es gilt die Maxime, dass Psychotherapie Menschen befähigen soll, die eigene soziale Umgebung (wieder) als Korrektiv und Konstituierende für die eigene Persönlichkeitsentwicklung zu nutzen. ▪ Die Herstellung einer Balance von zwischenmenschlicher Bezogenheit und frei gewählter Autonomie ist dabei der tragende Grundgedanke. Schlüsselwörter Psychodynamische Modelle, Persönlichkeitstypologien, Selbstentwertung, Bindungsmuster Interessenkonflikt Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma: nein. Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht Autorinnen/Autoren Henning Schauenburg Prof. Dr. med. Jahrgang 1954. Stellvertreter des ärztlichen Direktors der Klinik für Allge- meine Innere Medizin und Psychosomatik und apl. Professor für Psychosomatik und Psycho- therapie am Universitätsklinikum Heidelberg. Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Arzt für Psychosomatische Medizin (DGPM), Psychoanalytiker (DGPT), analytischer Familientherapeut. Ausbildungsleiter am Heidelberger Institut für Psychotherapie (HIP). For- schungsschwerpunkte: Psychotherapieergebnisse, Therapie der Depression und Anorexie, klinische Bindungsforschung, OPD. Mitglied der Steuerungsgruppe der Nationalen Versorgungsleitlinie „Unipolare Depression“. Präsident der Society for Psychotherapy Research, European Chapter 2013–2016. 2008–2017 Sachverständiger für Psycho- therapie im Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA). Korrespondenzadresse Prof. Dr. Henning Schauenburg Universitätsklinikum Heidelberg Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik Thibautstr. 4 69115 Heidelberg E-Mail: Henning.Schauenburg@med.uni-heidelberg.de Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbe- stimmungen für diesen Beitrag ist Prof. Dr. med. Henning Schauenburg, Heidelberg. 28 Schauenburg Henning. Psychodynamische Psychotherapie der … PSYCH up2date 2020; 14: 15–31

CME-Fortbildung Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Den genauen Einsendeschluss finden Sie unter https://eref.thieme.de/CXBVKGL. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführliche Anleitung. Wir wünschen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! Unter https://eref.thieme.de/CXBVKGL oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests. VNR 2760512020158722765 Frage 1 Welche Aussage über die Leitlinienempfehlungen zur Therapie der Depression ist richtig? Frage 4 Welche Aussage zur Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik bei depressiven Erkrankungen trifft zu? A Leichte Depressionen erfordern keine spezifische Therapie. B Psychotherapie zeigt keine Unterschiede in Adhärenz und nachhaltiger Wirkung im Vergleich zu Pharmakotherapie. C Nach erstem Kontakt mit kürzlich depressiv gewordenen Patienten muss sofort eine Therapie begonnen werden. D Eine Pharmakotherapie einer schweren Depression ohne E begleitende Psychotherapie ist nicht leitliniengerecht. Psychotherapie ist der Pharmakotherapie bei mittel- schweren Depressionen im Akutverlauf überlegen. Frage 2 Welche Aussage zu Wirksamkeit psychodynamischer Psychotherapie der Depression trifft zu? A Psychodynamische Psychotherapie ist deutlich wirksamer B C als Verhaltenstherapie. Bei psychischen Erkrankungen zeigen längere Psycho- therapien keine besseren Ergebnisse als kürzere. Eine niederfrequente Fortführung einer beendeten Psychotherapie ist keinesfalls sinnvoll. A Die häufigste Konfliktkonstellation nach OPD ist der Individuations-Abhängigkeits-Konflikt. B Das Strukturniveau ist bei Depressionen nicht von Bedeutung. C Die Konstellation des „Helfersyndroms“ schützt vor depressiven Erkrankungen. D Vulnerabler und grandioser Narzissmus (passive und aktive Verarbeitung des Selbstwertkonfliktes) können beide De- pressionen begünstigen. E Ödipale Themen und Strukturniveau hängen nicht zusam- men. Frage 5 Welche Aussage zu Bindungsaspekten der Depression trifft zu A Bindungsunsicherheit ist ein Risikofaktor der Depression. B Vermeidend gebundene Menschen haben ein höheres Depressionsrisiko als verstrickt gebundene. C Depressive Patienten leiden seltener unter ungelösten traumatischen Erfahrungen. D Psychodynamische Psychotherapie ist wirksamer als D Depressive Symptome weisen keine Bezüge zu Bindungs- E Abwarten und unspezifische Begleitung. In Metaanalysen finden sich fast immer Unterschiede in der Wirksamkeit von psychodynamischer und Verhaltens- therapie. Frage 3 Welche Aussage zu psychoanalytischen Modellen der Depression trifft zu? A Biografische Auslöser spielen keine Rolle. B Trauer und Depression sind häufig psychopathologisch nicht zu unterscheiden. Verluste wirken vor allem depressiogen, wenn bestimmte Persönlichkeitszüge vorliegen. C D Bipolare Persönlichkeitsmodelle weisen jeweils eine objektnahe und eine objektferne Orientierung auf. Äquifinalität und Multifinalität sind nicht Elemente der psychoanalytischen Krankheitslehre. E aspekten auf. Bindungsmuster haben keine physiologische Komponente. E Frage 6 Welche Aussage zur Therapie der akuten Depression ist richtig? A Depressive Pateinten sind fast immer sehr zur Therapie B C entschlossen. Eine Diagnostik depressiver Symptome ist zu Beginn eher zweitrangig. Stützende und sichernde Elemente sind gerade zu Beginn einer Psychotherapie der Depression besonders wichtig. D Nachfragen nach Suizidalität kann Patienten verunsichern. E Die Einbeziehung von Angehörigen gehört nicht zum Inventar psychodynamischer Therapien. 30 Schauenburg Henning. Psychodynamische Psychotherapie der … PSYCH up2date 2020; 14: 15–31

Was macht therapeutische Kompetenz aus? Mit einem Abo verpassen Sie keine Ausgabe und haben Online-Zugriff auf alle PiD-Hefte. Ein Thema viele Perspektiven Wie wirksam Psychotherapie ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab – auch von der behandelnden Person. Doch was macht eine gute TherapeutIn aus? Sind es persönliche Merkmale, die das Therapieergebnis beeinflussen, professionelle Eigenschaften oder erlernbare Kompetenzen? Und wie können wie diese Kompetenzen ggf. entwickelt und befördert werden? PiD fasst zusammen, was die Forschung auf diesem Gebiet in den vergangenen Jahrzehnten zu Tage gebracht hat, und liefert eine Bestandsaufnahme unterschiedlichster Facetten therapeutischer Kompetenz. Nutzen Sie die Vielfalt an Wissen und Erfahrung, um sich Anregungen für Ihre Praxis zu holen – u.a. zu den folgenden Themen: • Was macht einen guten Therapeuten aus? • Erfassung therapeutischer Kompetenzen in der Forschung und Praxis • Evidenzbasierte-personalisierte Psychotherapie: psychometrisches Feedback in der Praxis • Therapeutische Fertigkeiten – Relevanz für Ausbildung, Praxis und Forschung • Mit Spannungen und Krisen in der Therapiebeziehung kompetent(er) umgehen • Ethik als notwendige Basiskompetenz von Psychotherapeuten • Selbsteinschätzung von TherapeutInnen • Therapeutische Kompetenzen in der tiefenpsychologisch fundierten und psychoanalytischen Praxis • Kompetenzentwicklung in der Psychotherapieausbildung • Neue Lehrformen zur Förderung therapeutischer Kompetenzen • Videogestützte Supervision in der psychotherapeutischen Ausbildung • Manuale in der Psychotherapie – ein schillerndes Thema • Die unterschiedlichen Welten der Psychotherapie – ein DACH-Vergleich • Was ist psychotherapeutische Kompetenz? • Interview mit dem erfahrenen Lehrtherapeuten und Institutsleiter Prof. Michael Geyer Psychotherapie im Dialog Therapeutische Kompetenz 2019. 110 S., 25 Abb., kart. ISBN 978 3 13 243427 1 39,00 € [D] Jetzt zum Einstiegspreis abonnieren. www.thieme.de/pid . ff u a H . A . r D : G h p , 9 9 4 3 A R H , t r a g t t u t S r e t s i g e r s l e d n a H d n u - z t i S , n e t s o k d n a s r e V n e d n e l l i a f n a e d n e d r e w ] D l [ b a h r e ß u a n e g n u r e f e i L i e B . n e t l a h e b r o v r e m ü t r r I d n u n e g n u r e d n ä s i e r P G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . t e n h c e r e b r e t i e w

CME-Fortbildung Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen: Die generalisierte Angststörung – ein Update Jens Plag, Jürgen Hoyer Heft 3/2019 Angststörungen im Kindes- und Jugendalter S. Schneider, S. Seehagen Heft 6/2013 Nicht ohne Dich! – Störung mit Trennungsangst K. Sommer, M. W. Lippert, K. Schuck, S. Schneider Heft 1/2019 Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung R. Rosner, A. Nocon, M. Olff Heft 5/2013 Dissoziative Symptome und Störungen K. Priebe, C. Stiglmayr, C. Schmahl Heft 6/2018 Anpassungsstörungen: eine schwierige Diagnose S. Schroth, V. Köllner Heft 5/2018 Generalisierte Angststörung J. Hoyer, J. Plag Heft 2/2013 Pathologisches Horten und Sammeln als Erkrankung des Zwangsspektrums D. Schön, A. Wahl-Kordon, B. Zurowski Heft 1/2013 Evidenzbasierte Therapie somatoformer Störungen M. Depping, B. Löwe Heft 2/2018 Das Depersonalisations-Derealisationssyndrom M. Michal Heft 1/2013 Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter S. Walitza, C. Rütter, V. Brezinka Heft 5/2017 Emotionsbezogene Techniken in der Psychotherapie G. Jacob, C.-H. Lammers Heft 5/2012 Dermatillomanie (Skin-Picking-Störung): Diagnostik, Erklärung und Behandlung L. M. Mehrmann, A. L. Gerlach, A. Hunger Heft 4/2017 Zwangsspektrumerkrankungen M. Anlauf, A. Kordon Heft 3/2010 Spezifische Phobien A. Hamm Heft 3/2017 Diagnostik somatoformer Störungen C. Lahmann, C. Allwang, A. Dinkel Heft 5/2016 EMDR in der Psychotherapie: Einsatzmöglichkeiten, Wirksam- keit und Begrenzungen M. Stephan Heft 4/2016 Panikstörung und Agoraphobie P. Kindermann, M. Mühlberger, U. Voderholzer Heft 2/2016 Pharmakotherapie bei Angsterkrankungen P. Zwanzger Heft 2/2016 Die körperdysmorphe Störung: aktuelle Entwicklungen zu Diagnostik, Störungswissen und Therapie K. Schieber, A. Martin Heft 1/2016 Soziale Angststörung J. Lin, I. Struina, U. Stangier Heft 2/2014 Störungsspezifische Therapie der Zwangsstörungen U. Voderholzer, M. Müller, A. Külz Heft 1/2014 Anpassungsstörungen S. Elstner, A. Diefenbacher Heft 1/2009 Dissoziative Störungen K. Priebe, C. Schmahl Heft 4/2008 Somatoforme Störungen und Hypochondrie R. Mewes, W. Rief Heft 3/2008 Panikstörung und Agoraphobie N. Vriends, J. Margraf Heft 2/2008 Diagnostik der Generalisierten Angststörungen T. Bär, M. Linden Heft 1/2008 Soziale Phobien erkennen und behandeln K. Consbruch, U. Stangier Heft 4/2007 Zwangsstörungen U. Voderholzer, A. Külz Heft 3/2007 Posttraumatische Belastungsstörungen U. Schnyder Heft 1/2007 ALLES ONLINE LESEN JETZT FREISCHALTEN Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: online wie offline, am PC und mobil, alle bereits erschienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! https://eref.thieme.de/psych-u2d Sie haben Ihre Zeitschrift noch nicht freigeschaltet? Ein Klick genügt: www.thieme.de/eref-registrierung.

CME-Fortbildung ▶ Tab. 1 Vom Symptom zur Diagnose – Einordnung von Symptomen in funktionelle Cluster und Diagnosen sowie deren somatische Differenzialdiag- nosen. Einzel-Symptom (Bsp.) Kreuzschmerz Palpitation Diarrhö Kraftlosigkeit Häufige Symptom-Cluster Schmerzen Kardio-pulmonale Symptome Definierte Diagnose ICD-10 (Bsp.) Anhaltende somato- forme Schmerzstörung Somatoforme Funktionsstörung des kardiovaskulären und/oder respiratorischen Systems Gastrointestinale Symptome Fatigue Reizdarmsyndrom Fibromyalgie Syndrom Differenzialdiagnose soma- tisch bzw. abwendbar ge- fährlicher Verlauf (Bsp.) Wirbelkörperfraktur Vorhofflimmern Chronisch entzünd- liche Darmerkran- kung Hämatoonkologische Grunderkrankung FALLBEISPIEL Eine 22-jährige Jura Studentin berichtet von einer seit 2 Jahren bestehenden ausgeprägten Müdigkeit und Kraftlosigkeit, welche sie im Alltag sehr einschränke. Weiterhin habe sie Schmerzen „am ganzen Körper“, die in ihrer Lokalisation im- mer wieder wechseln würden. In ihrer Konzentration sei sie eingeschränkt und sie verspüre ein nicht näher beschreibbares Schwindel- und Benommenheitsgefühl, welches sowohl in Ruhe als auch in Bewegung auftrete. Sie habe große Schlaf- schwierigkeiten (Ein- und Durchschlafstörungen). Depressive oder andere psychische Symptome berichtet sie nicht. Diverse Abklärungen (cMRT, Lumbalpunktion, diverse Blutentnahmen, EEG, NLG, HNO-Untersuchungen etc.) hätten keinen weiter- führenden Befund erbracht. Symptome Klinisch präsentieren sich funktionelle Körperbe- schwerden primär als Symptome (z. B. Schmerzen, Fati- gue, Palpitationen), deren Einordnung in vielen Fällen ohne Krankheit bleibt (auch oftmals international als „Persistant physical Symptoms“ oder „Medically un- explained (physical) Symptoms“ beschrieben) (s. ▶ Tab. 1). Syndrome und Cluster Funktionelle Körperbeschwerden können auch in Clus- tern oder funktionellen somatischen Syndrom-Katego- rien (z. B. Reizdarmsyndrom, Fibromyalgie Syndrom) zusammengefasst werden. Häufige Cluster sind „Schmerz“, „kardiopulmonal“, „gastrointestinal“ und „Fatigue“-assoziiert [3] (s. ▶ Tab. 1). Somatoforme Störungen (ICD-10) Bei Erfüllung der Kriterien ist auch eine Einordnung der Symptomatik in eine definierte Diagnosekategorie der Somatoformen Störungen (ICD-10 Kapitel F45) mög- lich (s. ▶ Tab. 2). Hierbei ist in der aktuellen Klassifika- tion ICD-10 der Ausschluss einer die Symptomatik er- klärenden organischen Erkrankung obligat. Diese ge- forderte Ausschlussdiagnostik hat oftmals zur Folge, dass Patienten in eine Spirale der Überdiagnostik gera- ten, mit entsprechenden Folgen („iatrogene Chronifi- zierung“, Vermittlung der Nachrangigkeit psychosozia- ler Aspekte, Verstärkung dualistischer und hierar- chischer Erklärungsmodelle, Nebenwirkungen v. a. in- vasiver Diagnostik etc.). Die neuen „Somatischen Belastungs- störungen“ gemäß DSM-5 und ICD-11 Im DSM-5 (Somatic Symptom Disorder) als auch vo- raussichtlich im ICD-11 (Bodily Distress Disorder) ist der Ausschluss einer somatischen Erkrankung kein ob- ligates Kriterium für funktionelle Körperbeschwerden mehr (siehe Kasten „Bodily Distress Disorder). Anstatt eben dieser (bisher bei somatoformen Diagnosen obli- gaten) Forderung nach einer organischen Unerklärbar- keit der Beschwerden, sind bei diesen neuen Diagnosen vielmehr psychobehaviorale Kriterien für die Diagnose- stellung von Bedeutung: ▪ Fokussierung auf die Beschwerden, ▪ häufige Kontakte mit dem Gesundheitswesen, ▪ keine anhaltende Aus- bzw. Ablenkung von den Be- schwerden durch klinische Diagnostik und/oder durch adäquate Beruhigung etc. Merke In der neuen Klassifikation wird die vorliegende Be- lastung durch die Beschwerden mit den damit ein- hergehenden Folgen zum wichtigen Diagnose-Krite- rium (daher auch der Name „Somatische Belastungs- störung“). Die Konsequenz dieser neuen Diagnosekategorien ist, dass belastete Patienten frühzeitig eine adäquate Be- handlung erfahren können, ohne dass eine den Patien- ten (und z. T. auch den Behandler) weiter dysfunktional fixierende (und auch potenziell für den Patienten schä- digende) Ausschlussdiagnostik vorgenommen werden muss. 36 Roenneberg Casper et al. „Funktionelle Körperbeschwerden“ … Psychiatrie up2date 2020; 14: 35–53

CME-Fortbildung Häufigkeit, Verlauf und Prognose von Funktionellen Körperbeschwerden Die Prävalenz von funktionellen Körperbeschwerden in der Allgemeinbevölkerung wird mit etwa 10 % angege- ben [6]; sie kommen somit häufig vor. Merke In der ambulanten Versorgung, im nicht selektierten Patientengut, gehören funktionelle Körperbeschwer- den (zusammengenommen) zu den häufigsten Bera- tungsanlässen. Im hausärztlichen Bereich betragen die Prävalenzen 20–50 %. Ein internationaler Review von Haller et al. zeigte, dass bei 40–49 % aller Hausarztpatienten mehr als mindestens eine medizinisch unerklärte Beschwer- de vorlag. Ein Allgemeinarzt mit 40 Patienten am Tag sieht ca. 2 Patienten mit funktionellen Körperbe- schwerden pro Stunde. In spezialisierten Settings, wie beispielsweise rheuma- tologischen, gynäkologischen oder schmerzmedizini- schen Ambulanzen, lagen die Häufigkeiten zwischen 25 und 66 % [7–10]. PR A XISTIPP Es ist wichtig, den Patienten mit funktionellen Körperbeschwerden zu vermitteln, dass sie mit den Beschwerden nicht allein sind („Universalität des Leidens“). Der Verlauf funktioneller Körperbeschwerden ist im Hinblick auf Art, Lokalisation, Ausmaß, Schweregrad, Auswirkungen auf Lebensqualität und Leistungsfähig- keit sehr variabel. Erfüllen Patienten bereits Kriterien für eine „Somato- forme Störung“, eine „(multi)-somatoform Disorder“ oder eine „Bodily Distress Disorder“, so sind bei min- destens 20 %, eher 50 % der Patienten, die Beschwerden anhaltend [11–14]. Insgesamt berichten im Verlauf 50–75 % der Patienten über eine Besserung ihrer Be- schwerden, bei 10–30 % kommt es jedoch zu einer Ver- schlechterung [15]. Selbst bei ausgeprägter, belasten- der Beschwerdesymptomatik mit einhergehenden (psychosozialen) Belastungen ist durch einen adäqua- ten Umgang mit dem Patienten im Verlauf bei 50–75 % der Patienten eine Verbesserung der Beschwerden zu verzeichnen. PR A XISTIPP Die Vermittlung der prognostischen Information, dass eine Beschwerdeverbesserung bei der Mehrheit der Patienten möglich ist, kann für Pa- tienten mit funktionellen Körperbeschwerden eine bedeutende Entlastung darstellen. Beschwerdeanzahl und dysfunktionale Erwartungen (insbesondere katastrophisierende Interpretationen) sind die wichtigsten Prädiktoren für einen chronischen Verlauf. Ebenso geht ein polysymptomatischer Verlauf mit einer hohen psychiatrischen Komorbidität (v. a. De- pression, Angst, Sucht, Posttraumatische Belastungs- störung), einer hohen funktionellen Beeinträchtigung und hohen Inanspruchnahme von Gesundheitsleistun- gen einher. Disproportional zum fehlenden oder nicht hinreichend erklärbaren körperlichen Befund gehen funktionelle Körperbeschwerden häufig mit Einschrän- kungen von Leistungsfähigkeit und Lebensqualität so- wie hohen direkten und indirekten Gesundheitskosten einher [2, 16]. Die Lebenserwartung scheint, mit Ausnahme eines er- höhten Suizidrisikos, normal zu sein (einzelne Studien berichten sogar von einer niedrigeren Mortalität bei diesem oft besonders gut untersuchten Kollektiv) [16]. Ätiologische Modelle Die Ätiologie funktioneller Körperbeschwerden ist letztendlich ungeklärt. Man geht von einer multifakto- riellen Genese aus, die aus verschiedenen und unter- schiedlich gewichteten biopsychosozialen Faktoren be- steht. Didaktisch kann unterschieden werden zwi- schen: ▪ prädisponierende Faktoren – belastende Lebensum- stände, ungünstige Kindheitserfahrungen, (unter- schwellige) körperliche Erkrankungen, (epi-)geneti- sche Faktoren, kulturelle Grundannahmen ▪ auslösende Faktoren – akute Belastungen und Er- krankungen, Unfälle, u. a. ▪ aufrechterhaltende Faktoren – vorausgegangene (un)angemessene Behandlungen, Vermeidung und Dekonditionierung, Katastrophisieren, ständiges Überprüfen des Körpers auf Symptome jedweder Art („Body Checking Behaviour“), ungünstige Erfahrun- gen im Gesundheitswesen u. a. Dabei sind die einzelnen Faktoren nicht immer eindeu- tig voneinander zu trennen. 38 Roenneberg Casper et al. „Funktionelle Körperbeschwerden“ … Psychiatrie up2date 2020; 14: 35–53

CME-Fortbildung ▶ Abb. 2 Schutzfaktoren, Risikofaktoren für schweren Verlauf und Warnhinweise (Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie e. V. (DGPM), Deutsches Kollegium für Psychosomatische Medizin (DKPM), u. a. S3-Leitlinie „Funktionelle Körperbeschwerden“ In: Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) e. V.; 2018 [5]). [rerif] 40 Roenneberg Casper et al. „Funktionelle Körperbeschwerden“ … Psychiatrie up2date 2020; 14: 35–53

CME-Fortbildung Simultandiagnostik ▪ Entschleunigen und Behandlungssetting anpassen ▪ Aufmerksam zuhören und nachfragen ▪ Wohlüberlegt unter- suchen und anordnen ▪ Untersuchungen besprechen ▪ Krankheitswert und diagnostische Zuord- nung(en) klären Vom Erklärungsmodell zur Bewältigung ▪ Erklären und benennen ▪ An Erwartungen und Zielen arbeiten ▪ Beschwerden und Symptome lindern ▪ Selbstfürsorge und Selbstwirksamkeit stärken ▪ Zur körperlichen Aktivität ermutigen ▪ Zusammenarbeiten und Rat einholen Erweiterte Grundversorgung ▶ Abb. 4 Empfehlungen der erweiterten Grundversorgung – unterteilt in „Simultandiagnostik“ und „Vom Erklärungsmodell zur Bewältigung“. Beruhigen Falls aus Anamnese und Untersuchungsbefund keine Hinweise für abwendbar gefährliche Verläufe bekann- ter körperlicher oder psychischer Erkrankungen gefun- den wurden, sollte dies den Patienten mitgeteilt wer- den, um sie zu beruhigen. Hierbei sollte das Gefühl von Ernstgenommen-Werden, Sorgfalt und Sicherheit sowie insbesondere die Glaubwürdigkeit der Beschwer- den vermittelt werden, ohne dabei notwendigerweise bereits auf eine Diagnose zurückzugreifen, aber auch ohne die Beschwerden zu verharmlosen oder zu negie- ren. Beraten Schon frühzeitig im Behandlungsverlauf sind allgemei- ne Maßnahmen zu erfragen, welche geeignet sind, die Symptome günstig zu beeinflussen (im Sinne eines ge- sunden, körperlich aktiven Lebensstils), bzw. sollte den Patienten zunächst zu solchen gesundheitsfördernden Maßnahmen geraten werden, mit denen diese ggf. frü- her in vergleichbaren Situationen positive Erfahrungen gemacht haben („Patientenpräferenzen“). PR A XISTIPP Maßnahmen, welche geeignet sind, die Sympto- me günstig zu beeinflussen, sind z. B.: ▪ „Hausmittel“ wie einfache Rituale und Traditio- nen, die zu Entspannung, Wohlbefinden und Beschwerdelinderung führen ▪ körperliche Aktivierung durch genussvolle All- tagsbewegung und einfache Alltagssportarten ▪ soziale Aktivierung und Austausch im „Kleinen“ (Familie, enge Freunde) und „Großen“ (Be- kanntenkreis, Gruppenaktivitäten etc.) Abwartendes Offenhalten Im Sinne der Strategie des abwartenden Offenhaltens sollte man den Patienten bei Bedarf ein Wiedervorstel- lungstermin in 2–4 Wochen anbieten. Ausdrücklich ist zu betonen, dass sich die Beschwerden wahrscheinlich bessern und auch kein Grund zur Sorge besteht, falls sie persistieren. PR A XISTIPP Eine empathische, wachsame und von Zurück- haltung geprägte Haltung im Umgang mit dem Patienten wirkt sich positiv auf die beiderseitige Behandlungszufriedenheit und den Behand- lungsverlauf aus (z. B. Zeitersparnis bei Folge- kontakten, Schaffung von Ressourcen, Adhärenz, Lebensqualität). Erweiterte Grundversorgung Simultandiagnostik Die erweiterte Grundversorgung ist bei persistierend beeinträchtigenden Beschwerden angezeigt und be- zieht sich auf den bewussten weiteren Umgang, vor allem im Hinblick auf die Diagnostik im Verlauf (Simul- tandiagnostik) und die Entwicklung eines gemeinsa- men Erklärungsmodells (▶ Abb. 4). Entschleunigen und Behandlungssetting anpassen Der weitere Umgang mit Patienten mit funktionellen Körperbeschwerden sollte in einem klaren Setting mit festen, regelmäßigen, beschwerdeunabhängigen Ter- minen in ruhiger Atmosphäre etabliert werden. Um sich und den Patienten mehr Zeit zu widmen (z. B. Zeit zum Nachdenken, alte Befunde anzusehen, mit Vor- oder Mitbehandlern zu sprechen, evtl. einen Haus- besuch oder eine Fremdanamnese zu machen), sollte die Praxisorganisation und Abrechnung auf diese As- pekte hin überprüft werden. So kann zusammen mit 42 Roenneberg Casper et al. „Funktionelle Körperbeschwerden“ … Psychiatrie up2date 2020; 14: 35–53

CME-Fortbildung PR A XISTIPP Beispiel für tangentiale Gesprächsführung: „Letztes Mal erwähnten Sie Stress in der Ehe. Und wie wirkt sich dieser wiederum auf ihre Bauch- schmerzen aus?“ Wohlüberlegt untersuchen und anordnen Bei der weiteren apparativen und laborchemischen Di- agnostik sollte auch bei der erweiterten Grundversor- gung systematisch (im Hinblick auf Indikation, Nutzen und Risiken wohlüberlegt und gezielt), gestuft und nicht redundant vorgegangen werden. Merke Ziel ist nicht, für alle Beschwerden eindeutige Ursa- chen zu benennen (das kann auch die moderne Me- dizin nicht immer), sondern abwendbar gefährliche Verläufe (z. B. Karzinom, Suizidalität) auszuschließen und Handlungsbedarf zu erkennen (s. ▶ Abb. 2). Klinisch-körperliche Untersuchungen sollten ggf. in re- gelmäßigen Abständen wiederholt werden, auch um Warnzeichen für körperliche Erkrankungen oder evtl. Folgeschäden vorausgegangener Passivierung oder Fehlbehandlungen zu erkennen. Wiederholte, vor allem invasive technische Zusatzun- tersuchungen sollten vermieden werden, wenn sie hauptsächlich dazu dienen sollen, den Patienten oder auch den Behandler selbst zu beruhigen. Untersuchungen besprechen Sofern weitere Untersuchungen notwendig sind, soll- ten diese beruhigend angekündigt werden. Wenn an- gebracht, sollte schon im Vorfeld auf die hohe Wahr- scheinlichkeit eines altersentsprechenden Normalbe- fundes hingewiesen werden. Wichtig ist es auch, zu er- klären, warum bestimmte Untersuchungen nicht not- wendig sind. Frühere Befunde, Zufalls- oder Bagatellbefunde ohne weitere diagnostische oder therapeutische Bedeutung sollten normalisierend eingeordnet werden. PR A XISTIPP Bei mehreren Untersuchungen, die sich über län- gere Zeit erstrecken, können zwischenzeitliche „Bilanzierungsgespräche“ sinnvoll sein, die die bisherigen Untersuchungen zusammenfassen und bewerten. Erhaltene Befunde sollten in laiengerechter Sprache besprochen werden. Dies umfasst Formulierungen, die die Patienten beruhigen, informieren und motivieren, anstatt zu riskieren, sie zu verwirren und zu ängstigen. Durch Rückfragen ist sicherzustellen, dass die Informa- tionen korrekt verstanden wurden. Sowohl bei der Ankündigung als auch bei der Bespre- chung von Untersuchungen kann man geeignetes In- formationsmaterial verwenden (z. B. eine Darmspiege- lung in Bildern) und in einfacher Sprache, ggf. auch in einer Fremdsprache erklären. Krankheitswert und diagnostische Zuordnung(en) klären Wichtige Befunde sollten – auch zur Verlaufsbeobach- tung für sich selbst und andere Behandler – für ein möglichst klares Bild relevanter Problembereiche (ein- schließlich psychosozialer Kontextfaktoren) dokumen- tiert werden. Dabei ist insbesondere auf (neue) Hinwei- se für abwendbar gefährliche Verläufe oder ein Chroni- fizierungsrisiko zu achten und daraus eventueller Handlungsbedarf abzuleiten (s. ▶ Abb. 2). Merke Aus günstigen Prognosefaktoren lassen sich geeig- nete therapeutische Anknüpfungspunkte ableiten (s. ▶ Abb. 2). Das eigene Erklärungsmodell für die Beschwerden, z. B. in Form einer Verdachtsdiagnose, sollte geprüft wer- den und dabei sollte beobachtet werden, wo selbst noch diagnostische Bedenken oder Ängste bestehen, und wie begründet diese sind; dabei sollte an die hohe Wahrscheinlichkeit funktioneller Beschwerden und an die Möglichkeit des abwartenden Offenhaltens ge- dacht werden, ohne dass sofort Gefahr droht. Diagnos- tisch ist zu prüfen, inwiefern die Kriterien einer spezifi- schen funktionellen oder somatoformen Störung er- füllt sind und Krankheitswert und Handlungsbedarf be- steht (siehe ▶ Tab. 2). Hierbei sollte auf mögliche kör- perliche und psychische Komorbiditäten geachtet wer- den und ggf. sollten mehrere Diagnosen vergeben wer- den. PR A XISTIPP Falls keine eindeutige Diagnose besteht, kann man die Symptom („R“)- oder Inanspruchnahme („Z“)-Verschlüsselung (z. B. Kopfschmerzen, Übelkeit, psychosoziale Umstände) wählen, an- statt Verlegenheitsdiagnosen zu vergeben. 44 Roenneberg Casper et al. „Funktionelle Körperbeschwerden“ … Psychiatrie up2date 2020; 14: 35–53

CME-Fortbildung den Erhalt der Partnerschaft oder der Arbeits- und Er- werbsfähigkeit. Dabei sollte der Therapeut auf Patien- tenpräferenzen, aber auch mögliche widersprüchliche Ziele (z. B. zwischen Gesundungs- und Rentenwunsch) sowie innere (z. B. Ängste, Konfliktvermeidung) und äußere Behandlungshindernisse (z. B. Dagegen-Arbei- ten des Partners, laufende Schmerzensgeldverhand- lungen) achten. Merke Der Patient sollte bei der Umsetzung seiner Ziele be- gleitet, motiviert und für schon erreichte Fortschritte gelobt werden. Erwartungen an die Rollen von Arzt und Patient in der weiteren Behandlung sollten abgestimmt werden. An- gestrebt werden sollte eine partizipative Entschei- dungsfindung mit einer partnerschaftlichen Zusam- menarbeit. Beschwerden und Symptome lindern Der in der Regel vorübergehende und begleitende Cha- rakter von passiven, beschwerdelindernden Maßnah- men sollte im Vergleich zu nachhaltigeren aktiven Selbstwirksamkeitsstrategien erklärt werden und hier- bei Vor- und Nachteile dieser Maßnahmen mit dem Pa- tienten abgewogen werden. Der Patient sollte hinsicht- lich passiver symptomatischer Maßnahmen zur Be- schwerdelinderung beraten werden, z. B.: ▪ Analgetika ▪ Psychopharmaka ▪ physikalische und physiotherapeutische Anwendun- gen ▪ passive komplementärmedizinische Begleitthera- pien wie z. B. Akupunktur Für Details wird auf die Evidenztabellen mit der Angabe von Evidenzlevels zu einzelnen Therapiemaßnahmen bei konkreten Störungsbildern in der Langfassung der Leitlinie verwiesen (https://www.awmf.org/leitlinien/ detail/ll/051-001.html) [5]. Merke Aktive und nachhaltige Selbstwirksamkeitsstrategien (z. B. genussvolle Spaziergänge) sind passiven Maß- nahmen (z. B. Massagen) vorzuziehen – insbesondere eignen sich passive Maßnahmen nicht als Monothe- rapien. Selbstfürsorge und Selbstwirksamkeit stärken Wichtig ist die Vermittlung von aktiven, nachhaltigen Bewältigungsstrategien. Dem Patienten sollte zur (Wieder-)Aufnahme sozialer und körperlicher Aktivitäten und zur (Re-)Exposition bezüglich aktuell vermiedener Aktivitäten geraten wer- den. PR A XISTIPP Ermutigen Sie Patienten zur (Wieder-)Aufnahme sozialer und körperlicher Aktivitäten. Fragen Sie den Patienten, welche Aktivitäten er früher gerne gemacht hat und motivieren sie ihn, solche wie- derzuentdecken. FALLBEISPIEL Ein 56-jähriger Patient hat sich wegen diverser körperlicher Beschwerden (Palpitationen, Übel- keit, Oberbauchschmerzen, mehrfache weiche Stuhlgänge am Tag, Kopfschmerzen) ohne hin- reichende organische Erklärung im letzten Jahr immer weiter sozial zurückgezogen. Er ist seit über 6 Monaten krankgeschrieben und verlässt kaum noch das Haus. Der Hausarzt begleitet den Patienten. Im Rahmen von regelmäßigen Ge- sprächen ist es gemeinsam gelungen (shared decision making), dass der Patient seine „ver- lorengegangene“ Ressource – das Schwimmen – wiederentdeckt hat und diese Form der Bewe- gung trotz der Beschwerden wiederaufnimmt. Der Patient gibt an, wenn er im Wasser sei, ge- linge es ihm, die Beschwerden zu vergessen und durch die Wiederaufnahme dieses Sports bessere sich die Symptomatik deutlich. Zudem knüpfte der Patient wieder soziale Kontakte im Rahmen einer wöchentlich stattfindenden Aqua-Aerobic- Gruppe. Schonung und Vermeidung können zwar kurzfristig die Ängste des Patienten mindern und die Arzt-Patient-Be- ziehung stabilisieren, sollten allerdings – entsprechend begründet – auch nur kurzfristig unterstützt werden. Hilfreich ist es auch, auf geeignete Selbsthilfeliteratur und ggf. auf Selbsthilfegruppen zu verweisen. Insbe- sondere hilfreich sind auch Angebote außerhalb des Medizinsystems, z. B. an der Volkshochschule, die man nicht in einer Patientenrolle, sondern als Privatperson wahrnimmt. Zur körperlichen Aktivität ermutigen Körperliche Aktivierung ist eine zentrale Therapiemaß- nahme bei funktionellen Körperbeschwerden. Aktivie- rung kann in Form kleiner Verhaltensveränderungen beginnen, die individuell angepasst sein sollten. Dem Patienten sollte zu eigeninitiativer, genussvoller Bewegung geraten werden, egal in welchem Rahmen, mit welcher Methode oder Sportart. In diesem Zusam- menhang sollte dem Patienten ebenfalls geraten wer- den, Phasen der Bewegung und körperlichen Anstren- 46 Roenneberg Casper et al. „Funktionelle Körperbeschwerden“ … Psychiatrie up2date 2020; 14: 35–53

CME-Fortbildung lante psychiatrische Mitbehandlung, eine begleitende Physiotherapie oder weitere Therapieelemente einbe- zogen werden. Psychotherapie ist eine wichtige und bei einem breiten Spektrum funktioneller Körperbeschwerden nachweis- lich wirksame Behandlungsform, wenngleich nicht die einzige Option bei der Einbeziehung weiterer Behand- lungskomponenten. Die Vermittlung in ambulante Psy- chotherapie sollte insbesondere erwogen werden bei: ▪ relevanten psychosozialen Belastungsfaktoren und/ oder psychischer Komorbidität ▪ relevanten dysfunktionalen Krankheitsannahmen ▪ starker funktioneller Beeinträchtigung ▪ anhaltend schwierigen Behandler-Patient-Beziehun- gen Eventuell indizierte Über- oder Einweisungen, insbe- sondere zum Psychiater, Psychosomatiker und Psycho- therapeuten, sollten behutsam vorbereitet werden. Die Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens sollte dem Patienten erläutert werden und auch mögliche diesbezügliche Vorbehalte der Patienten sollten offen angesprochen werden. Bei der Auswahl des psychotherapeutischen Verfahrens ist ein wissenschaftlich gut fundiertes Verfahren zu wählen, dessen Wirksamkeit durch qualitativ hochwer- tige Studien gesichert ist. Dies sind vor allem: ▪ (kognitive) Verhaltenstherapie ▪ psychodynamische Psychotherapie ▪ Hypnotherapie Auch ergänzend zu einer Psychotherapie oder wenn diese trotz bestehender Indikation wegen lokaler Ge- gebenheiten, spezifischer/anders gerichteter Motivati- on von Patienten oder aus anderen Gründen nicht zu- stande kommt, sollten weitere Behandlungsformen er- wogen werden, die sich im Rahmen multimodaler Be- handlungsansätze bewährt haben: ▪ körperorientierte Verfahren wie beispielsweise Phy- siotherapie ▪ Entspannungsverfahren ▪ Bio-/Neuro-Feedback ▪ körpertherapeutische Verfahren (z. B. Feldenkrais, konzentrative Bewegungstherapie, Tanztherapie, Tai Chi, Qi-Gong) ▪ weitere nicht oder nur in weitem Sinne körperorien- tierte Verfahren (z. B. Gesundheitstraining, thera- peutisches Schreiben, Musiktherapie, Yoga). Keines dieser Verfahren ist als Monotherapie für eine adäquate Behandlung von chronischen und schweren Verläufen funktioneller Körperbeschwerden geeignet, sondern diese Therapieverfahren sind als Zusatzele- mente im Rahmen einer multimodalen Therapie anzu- wenden. PR A XISTIPP Auch in den spezifischen (Zusatz-)Behandlungen ist es wichtig, den Patienten in seiner Selbst- wirksamkeit und Aktivierung zu fördern und die aktive Tätigkeit außerhalb der Krankenrolle zu fördern. Eine möglichst zeitnahe Wiedervorstellung des Patien- ten beim Behandlungsführer sollte vereinbart werden, wenn eine Konsultation bei anderen Kollegen geplant oder bereits erfolgt ist. Psychotherapie beginnen Psychotherapien und psychiatrische Behandlungen verlassen das übliche, für viele Patienten vertraute Schema ärztlicher Konsultationen. Es sollte damit ge- rechnet werden, dass Patienten dieser ungewohnten Therapieform gegenüber zumindest ambivalent einge- stellt sind. Psychotherapie sollte als wissenschaftlich begründete „Therapie mit psychologischen Mitteln“ er- klärt werden, die auch bei körperlich definierten Be- schwerden und Erkrankungen helfen kann. Psychothe- rapeuten werden hierfür „mit ins Boot“ geholt, Patien- ten werden nicht an diese abgegeben. Merke Motivation zur Psychotherapie kann ein erstes The- rapieziel in der Psychotherapie sein („Motivations- aufbau“). Vorerfahrungen, Erwartungen, Ängste und Vorbehalte des Patienten in Bezug auf das Medizinsystem, speziell auf Psychotherapie sollten erfragt werden. Hierbei ist erneut auf die in der Initialphase wichtigsten Behand- lungselemente zu fokussieren: ▪ Vertrauensaufbau ▪ Psychoedukation ▪ Verbesserung konkreter Bewältigungsstrategien, wie z. B. Stress- und Schmerzbewältigung oder Akzeptanz Die in der Grundversorgung empfohlenen Maßnah- men, z. B. zu Gesprächsführung, Formulierung von Zie- len, Selbstwirksamkeit und Aktivierung, sollten eben- falls zum Aufbau einer stabilen therapeutischen Ar- beitsbeziehung genutzt werden. 48 Roenneberg Casper et al. „Funktionelle Körperbeschwerden“ … Psychiatrie up2date 2020; 14: 35–53

CME-Fortbildung KERNAUSSAGEN ▪ Körperbeschwerden sind häufig, präsentieren sich mit unter- schiedlichen Symptomen und sind in ihrer Ausprägung bzw. in ihrem Schweregrad verschiedenartig. ▪ Die Prävalenz von funktionellen Körperbeschwerden in der Allgemeinbevölkerung wird mit etwa 10 % angegeben; im hausärztlichen Bereich liegt diese bei 20–50 % und in spezia- lisierten Settings zwischen 25 und 66 %. ▪ Ätiologisch geht man bei funktionellen Körperbeschwerden von einer multifaktoriellen Genese aus, die aus verschiede- nen und unterschiedlich gewichteten biopsychosozialen Faktoren besteht. ▪ Die Einordnung „funktionell“ ist bei den ersten Präsentatio- nen oftmals eine Herausforderung; sie sollte jedoch von An- fang an – gleichwertig wie potenzielle abwendbar gefährliche Verläufe der Beschwerden – mitgedacht werden. ▪ Die initiale Grundversorgung besteht darin, funktionelle Körperbeschwerden zu bemerken und zu erkennen und den Patienten mit Zurückhaltung, Wachsamkeit und Empathie zu begegnen. ▪ Die erweiterte Grundversorgung bezieht sich anfangs auf den bewussten weiteren Umgang mit Patienten (Simultandiag- nostik sowohl somatischer als auch psychosozialer Anteile). ▪ Der weitere Behandlungsverlauf besteht im Wesentlichen aus der Vermittlung eines nachvollziehbaren, für den Patienten akzeptablen Erklärungsmodells und der Stärkung von Selbst- wirksamkeit. ▪ Im Rahmen der multimodalen Behandlung liegt der Schwer- punkt auf der Einbindung von psychotherapeutischen sowie (teil)stationären Behandlungsformen sowie ggf. von rehabili- tativen Maßnahmen. Schlüsselwörter Funktionelle Körperbeschwerden, Somatische Belastungs- störung, Somatoforme Störung Interessenkonflikt Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: ja; Bezahlter Bera- ter/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht-Sponsor der Veranstaltung): ja; Pa- tent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Sponsor der Veranstaltung): nein. Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Oberarzt der Station N1a der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München Bereichsleitender Oberarzt Psychosomatik im Zentrum für interdisziplinäre Schmerztherapie am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin Autorinnen/Autoren Casper J. Roenneberg Dr. med., MHBA. 2003–2009 Studium der Humanmedizin in Berlin und Chicago, USA. 2013–2015 berufsbegleitender Fernstudien- gang „Master of Health Business Administra- tion (MHBA)“ an der Friedrich-Alexander-Uni- versität Erlangen-Nürnberg. 2010–2015 Arzt in Weiterbildung Chirurgie, Innere Medizin und Allgemein- medizin. Facharzt für Allgemeinmedizin 2015. Seit 2015 Arzt und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Klinik für Psy- chosomatische Medizin und Psychotherapie des Klinikums rechts der Isar; seit 04/2018 Oberarzt der Klinik für Psycho- somatische Medizin und Psychotherapie und im Zentrum für Interdisziplinäre Schmerztherapie des Klinikums rechts der Isar der TU München. Constanze Hausteiner-Wiehle Prof. Dr. med. 1991–1997 Studium der Hu- manmedizin in München (LMU), Witten/Her- decke, Zürich, Cleveland und Wuppertal. 1998–1999 Ärztin im Praktikum Klinik für Neurologie Wuppertal; 1999–2007 Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie und Toxikologischen Abteilung der II. Medizinischen Klinik und Klinik der TU München. Seit 2007 Ärztin und wissen- schaftliche Mitarbeiterin der Klinik und Poliklinik für Psy- chosomatische Medizin und Psychotherapie der TU Mün- chen. Seit 2012 Psychosomatischer Konsil- und Liaison- dienst in der BG Unfallklinik Murnau. Peter Henningsen Professor Dr. med. 1977–1984 Studium der Humanmedizin in Stuttgart-Hohenheim, Freiburg, Berlin und Cambridge, UK. 1984– 1990 Oberarzt Kliniken der Neurologie der Freien Universität Berlin und der Universität Heidelberg. 1990–2005 Oberarzt und leiten- der Oberarzt der Psychosomatischen Klinik der Universität Heidelberg; Facharzt für Neurologie und Psychiatrie (1995), Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (1997). Seit 2005 Direktor und Lehrstuhlinhaber, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Dekan der Fakultät für Medizin der TU München. Korrespondenzadresse Dr. med. Casper J. Roenneberg, MHBA Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München Ismaninger Str. 22 81675 München E-Mail: Casper.Roenneberg@mri.tum.de 50 Roenneberg Casper et al. „Funktionelle Körperbeschwerden“ … Psychiatrie up2date 2020; 14: 35–53

CME-Fortbildung Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Den genauen Einsendeschluss finden Sie unter https://cmef.thieme.de/CXD1EK7. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführliche Anleitung. Wir wünschen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! Unter https://eref.thieme.de/CXD1EK7 oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests. VNR 2760512020158722773 Frage 1 Wie hoch ist die Prävalenz von Menschen mit funktionellen Körperbeschwerden in der Allgemeinbevölkerung? Frage 5 Welche Faktoren sind keine Schutzfaktoren für einen günstigen Verlauf von funktionellen Körperbeschwerden? A 1 % 5 % B C 10 % D 20 % 50 % E aktive Bewältigungsstrategien passives Patientenverhalten A funktionale Gedanken und Einstellungen B C D individuelle Ressourcen E tragfähige Arzt-Patient-Beziehung Frage 2 Wie hoch ist die Prävalenz von Patienten mit funktionellen Körperbeschwerden in hausärztlichen Primärversorgung? Frage 6 Welche Faktoren sind keine Indikatoren/Risikofaktoren für einen schweren Verlauf von funktionellen Körperbeschwerden? A zwischen 5 und 10 % zwischen 10 und 20 % B zwischen 15 und 30 % C D zwischen 25 und 40 % E zwischen20 und 50 % Frage 3 Wie hoch ist die Prävalenz von Patienten mit funktionellen Körperbeschwerden in spezialisierten Settings, wie beispiels- weise rheumatologischen, gynäkologischen oder schmerz- medizinischen Ambulanzen? A zwischen 15 und 30 % zwischen 20 und 40 % B C zwischen 25 und 50 % D zwischen 25 und 66 % E zwischen 30 und 72 % Frage 4 Wie hoch ist in etwa die Rate fälschlich als „funktionell“ eingeordneter Beschwerden? 0,2–5,5 % 0,5–8,8 % A 0,1–1 % B C D 1–10 % 5–25 % E häufige bzw. anhaltende Beschwerden dysfunktionale Gedanken und Einstellungen A mehrere Beschwerden (polysymptomatischer Verlauf) B C D psychische Komorbidität E biopsychosozialer Behandlungsansatz Frage 7 Welche Empfehlung zählt nicht zu der initialen Grundversor- gung von Patienten mit funktionellen Körperbeschwerden? A Integration eines störungsorientierten Psychotherapiever- fahrens Beruhigen Beraten B C D Abwartendes Offenhalten E Sorgfältig befragen und untersuchen Frage 8 Welchen Aspekt sollte ein gutes Erklärungsmodell für funktionelle Körperbeschwerden beinhalten? immer eine Diagnose beinhalten vor allem für den Behandler plausibel erscheinen A immer Ursachen der Beschwerden nennen können B C D keine Schwäche oder Schuld beim Patienten implizieren E ohne Rücksicht auf die therapeutische Beziehung ent- worfen werden 52 Roenneberg Casper et al. „Funktionelle Körperbeschwerden“ … Psychiatrie up2date 2020; 14: 35–53

Notizen

So vielseitig wie Ihr Beruf 8-MAL JÄHRLICH Einstiegspreis für Neuabonnenten Welche Entwicklungen zeichnen sich in der sozialpsychiatrischen Forschung ab und wie prägen diese die psychosoziale Versorgung? Die Zeitschrift Psychiatrische Praxis schlägt die Brücke zwischen Wissenschaft und psychiatrischem Alltag. Ausgewählte Original- und Übersichtsarbeiten informieren Sie zu den Themen Sozialpsychiatrie, Klinische Psychiatrie, Public Mental Health und Versorgungsforschung. Kasuistiken sowie Pro- und Kontra-Debatten beleuchten verschiedene Blickwinkel und geben Raum zur Diskussion. So sind Sie umfassend informiert und erhalten wertvolle Anregungen für die tägliche Arbeit. www.thieme.de/psychiatrische-praxis

CME-Fortbildung Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen: Pathologisches Horten Maria Rieger, Ulrich Voderholzer Heft 5/2019 Hochfunktionaler Autismus bei Erwachsenen L. Tebartz van Elst Heft 2/2019 Glücksspielabhängigkeit H.-J. Rumpf, A. Trachte, G. Bischof Heft 1/2019 Narzissmus und die narzisstische Persönlichkeitsstörung C.-H. Lammers, S. Doering Heft 4/2018 Dialektisch-behaviorale Therapie der PTBS bei Patientinnen mit schwerer Störung der Emotionsregulation R. Steil, C. Dittmann, S. Matulis, M. Müller-Engelmann, K. Priebe Heft 1/2015 Theorie und Praxis der mentalisierungsbasierten Therapie (MBT) bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung S. Euler, U. Schultz- Venrath Heft 6/2014 Pathologischer PC- und Internetgebrauch bei Kindern und Jugendlichen O. Bilke-Hentsch, A. Aden, T. Lemenager Heft 5/2014 Allgemeine Psychotherapie bei paraphiler Störung – ein Behandlungsvorschlag F. von Franqué, T. O. Nieder Heft 4/2018 Therapie der Essstörung durch Emotionsregulation U. Schweiger, V. Sipos Heft 4/2014 Borderline-Persönlichkeitsstörung A. Schaich, N. Erkens, U. Schweiger, E. Faßbinder Heft 2/2018 Geschlechtsinkongruenz und Genderdysphorie bei Kindern und Jugendlichen D. Pauli Heft 6/2017 Prävention sexuellen Kindesmissbrauchs im Dunkelfeld – das Hamburger Modell P. Briken, W. Berner, A. Flöter, V. Jückstock, F. von Franqué Heft 3/2017 Transgender, Transsexualität und Geschlechtsdysphorie: Aktuelle Entwicklungen in Diagnostik und Therapie T. Nieder, P. Briken, H. Richter-Appelt Heft 6/2013 Nichtsuizidale Selbstverletzung bei Kindern und Jugendlichen M. Kaess, R. Brunner, F. Resch Heft 2/2013 Aggressive Verhaltensstörungen C. Stadler, K. Schmeck Heft 1/2013 Die Dialektisch-Behaviorale Therapie bei der Borderline- Persönlichkeitsstörung C. Stiglmayr Heft 2/2017 Achtsamkeitsbasierte Therapie J. Michalak, S. Blaeser, T. Heidenreich Heft 4/2012 Diagnostik und Therapie der Internetabhängigkeit B. te Wildt Heft 1/2017 Body Integrity Identity Disorder – Körperidentität durch erwünschte Behinderung E. Kasten Heft 3/2012 Schematherapie bei Cluster-B- und ‑C-Persönlichkeits- störungen E. Fassbinder, N. Erkens, G. Jacob Heft 5/2016 Die Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP) der Border- line-Persönlichkeitsstörung S. Doering Heft 2/2012 Selbstunsichere und ängstlich-vermeidende Persönlichkeits- störungen P. Fiedler, M. Marwitz Heft 3/2016 Kaufsucht A. Müller Heft 6/2011 Skillstraining für Patienten mit Borderline-Störung M. Armbrust, C. Ehrig Heft 1/2016 Artifizielle Störungen und Münchhausen-Syndrome H. Freyberger Heft 5/2015 Störung des Sozialverhaltens mit fehlenden prosozialen Emotionen C. Stadler, L. Kersten, M. Prätzlich Heft 4/2015 Pathologisches Spielen R. Poespodihardjo, B. Laskowska, G. Wiesbeck Heft 5/2011 Soziopathie und „Psychopathy“ J. Müller Heft 4/2011 Kleptomanie M.-A. Edel, A. Rudel, G. Juckel Heft 5/2010 ALLES ONLINE LESEN JETZT FREISCHALTEN Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: online wie offline, am PC und mobil, alle bereits erschienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! https://eref.thieme.de/psych-u2d Sie haben Ihre Zeitschrift noch nicht freigeschaltet? Ein Klick genügt: www.thieme.de/eref-registrierung.

CME-Fortbildung der Kinder und Jugendlichen hielt. Die modernen epi- demiologischen Studien und auch systematische Ver- laufsuntersuchungen an Kohorten von Kindern, bei de- nen eine ADHS diagnostiziert wurde, haben schließlich die biografische Dimension des Verlaufes der ADHS sichtbar gemacht. Heute rechnet man bei 50–60 % der Betroffenen mit ADHS mit einer Fortdauer der Psycho- pathologie und funktionellen Einschränkungen bis ins Erwachsenenalter. Merke In Deutschland beträgt die Prävalenz für ADHS bis zum 64. Lebensjahr 4,7 % [3]. Selbst bei Senioren zwi- schen 60 und 94 Jahren kann ADHS in 2,8 % der Fälle nachgewiesen werden [4]. Vor diesem Hintergrund galt als gravierender Mangel der Umstand, dass in zahlreichen europäischen Län- dern – anders als in den USA, Kanada, Australien etc. – keine für die Verordnung bei Erwachsenen zugelasse- nen Medikamente verfügbar waren. In Deutschland wurde 2011 erstmals ein Methylphenidat-Präparat (MPH) mit verzögerter Wirkstofffreisetzung zur Be- handlung von Erwachsenen mit ADHS lizensiert. Es folgten weitere MPH-Präparate und Atomoxetin (ATX). Als neue therapeutische Option steht seit 2019 zusätz- lich Lisdexamphetamin (LDX) zur Verfügung. PHARMAKOTHER APIE Bei Erwachsenen sind derzeit 3 Wirkstoffe für die Pharmako- therapie zugelassen: ▪ Als Stimulanzien können retardierte Methylphenidat-Präpa- rate und Lisdexamfetamin verschrieben werden. Wirksamkeit und Verträglichkeit der Stimulanzien sind gut. ▪ Als Alternative kann Atomoxetin verordnet werden; es gehört nicht zu den Stimulanzien und hat ebenfalls eine gute Wirk- samkeit und Verträglichkeit. Man könnte im Lichte dieser Zusammenhänge anneh- men, bei der Therapie der ADHS handele es sich um eine Errungenschaft der jüngeren Zeit, indessen han- delt es sich besonders bei der Therapie mit Stimulan- zien um eine der ältesten psychopharmakologischen Behandlungen, die bis heute als etabliert gelten kön- nen. Der amerikanische Psychiater Bradley publizierte 1937 im American Journal of Psychiatry Beobachtun- gen an hyperkinetischen Kindern, die er erfolgreich mit Benzedrin behandelt hatte [5]. Diese Substanz ge- hört zu den Stimulanzien. Eine Übersicht zu den heute in Deutschland zugelasse- nen Medikamenten für die Behandlung der ADHS gibt ▶ Tab. 1. Unterschieden werden Stimulanzien und Nichtstimulanzien. Stimulanzien Obwohl Stimulanzien zur Behandlung der ADHS bei Kindern und Jugendlichen herausragende Bedeutung besitzen und ihr Einsatz außerhalb Europas auch bei Er- wachsenen mit ADHS bereits seit Langem etabliert ist, erhält in Deutschland bis heute nur ein geringer Anteil der Betroffenen eine adäquate medikamentöse Be- handlung. In einer Studie von Bachmann und Mitarbei- tern wurden Versicherte der AOK hinsichtlich der Häu- figkeit der Diagnose adulte ADHS von 2009 bis 2014 untersucht [6]. Dabei ergab sich eine administrative Prävalenz von 0,4 %. Die epidemiologische Prävalenz für ADHS in Deutschland liegt nach der Untersuchung von de Zwaan und Mitarbeitern mit 4,7 % deutlich darü- ber [3]. Demnach kommen viel weniger Erwachsene mit ADHS in die medizinische Versorgung als es ihrem Anteil in der Bevölkerung entspricht. Insofern sind trotz der steigenden medikamentösen Verordnungen noch erhebliche Versorgungsdefizite bei Erwachsenen mit ADHS ersichtlich. ▶ Tab. 1 In Deutschland zugelassenen Substanzen zur Therapie der ADHS in verschiedenen Lebensaltern (Stand 08/2019, ohne Gewähr). Wirkstoff Zulassungsstatus Handelsnamen von Präparaten mit Zulassung bei Erwachsenen Methylphenidat (MPH) sofortige Wirkstofffreisetzung Methylphenidat (MPH) verzögerte Wirkstofffreisetzung Erwachsene Kinder und Jugendliche nicht zugelassen zugelassen zugelassen zugelassen Lisdexamphetamin (LDX) zugelassen d-Amphetamin (AMP) nicht zugelassen Atomoxetin (ATX) Guanfacin XR zugelassen nicht zugelassen zugelassen zugelassen zugelassen zugelassen Medikinet® adult Ritalin® adult Nur bei Beginn der Behandlung vor dem 18.LJ: Concerta®, Kinecteen® Elvanse adult® Strattera® 60 Rösler Michael et al. Medikamentöse Therapie der … Psychiatrie up2date 2020; 14: 59–75

CME-Fortbildung ven Symptomatik. Verwendet man Selbstbeurteilun- gen der Patienten als Grundlage der Effektstärken- schätzung, liegen die Werte in der Regel etwas niedri- ger. Effekte auf die ADHS-Kernsymptomatik In Bezug auf Amphetamine finden sich in der Literatur Ergebnisse, die prinzipiell mit denen des MPH ver- gleichbar sind. Teilweise werden etwas höhere Effekt- stärken für Amphetamin im Vergleich zu MPH mitge- teilt [10, 11]. Auch eine aktuelle Metaanalyse [14] konnte im Vergleich von LDX und MPH zeigen, dass für die Reduktion der ADHS-Symptome LDX (Effektstärke −0,89; 95 %-KI: −1,09, −0,70) eine höhere Effektstärke zeigte als MPH (Effektstärke −0,50; 95 % KI: −0,58, −0,41). Vergleichbare Ergebnisse wurden jüngst auch von Cortese und Mitarbeitern berichtet [15]. In deren umfangreichen Metaanalyse der Eunethydis-Arbeits- gruppe, in die 51 Behandlungsstudien mit Erwachse- nen Eingang fanden, ergab sich in der Fremdbeurtei- lung des Therapieeffektes für Amphetamine eine Ef- fektstärke von –0,79 (95 % KI: –0,99, –0,58) und für MPH von –0,49, (95 % KI: –0,64, –0,35). In einer Coch- rane-Analyse berechneten Castells und Mitarbeiter für Amphetamine eine Effektstärke von −0,90 (95 % KI: −1,04; −0,75) bei Fremdbeurteilung des Therapie- effekts und von 0,51 (95 % KI: −0.75; −0.28) im Patien- tenurteil [16]. Merke LDX zeigte in Studien eine höhere Effektstärke als MPH. Weitere Behandlungseffekte Neben der Wirksamkeit von MPH auf die klassische ADHS-Psychopathologie mit Unaufmerksamkeit, Hy- peraktivität und Impulsivität ist in verschiedenen kon- trollierten Studien auch eine Reduktion emotionaler Regulationsstörungen nachgewiesen worden [17, 18]. Auf der Grundlage einer Metaanalyse von 9 Behand- lungsstudien wurde ein moderater Effekt auf Phäno- mene der emotionalen Dysregulation gezeigt (–0,41; 95 % KI: –0,57, –0,25). Merke Die Behandlung mit MPH führt bei Erwachsenen mit ADHS neben der Reduktion der Kernsymptomatik auch zu einer Verminderung der emotionalen Dys- regulation. Außerdem konnte in mehreren Studien nachgewiesen werden, dass die Behandlung mit Stimulanzien bei Er- wachsenen mit ADHS auch zu Verbesserungen der All- tagsfunktionen und der Lebensqualität führt [19–22]. Dies bedeutet, dass die Behandlung mit Stimulanzien nicht nur zu einer Symptomreduktion führt, sondern darüber hinaus auch positive Effekte auf die Lebensfüh- rung im Alltag und die Lebenszufriedenheit resultieren. Effekte auf das Unfallrisiko Neben der klassischen ADHS-Psychopathologie und den Anforderungen des Lebensalltags mit dem zusätz- lichen Aspekt der Lebensqualität gibt es weitere Ge- sichtspunkte, die als Ziel einer Veränderung durch die Therapie mit Stimulanzien adressiert werden können. Ein Beispiel sind die vielfach nachgewiesenen erhöhten Unfallrisiken für ADHS-Betroffene in den verschiede- nen Lebensfeldern wie Verkehrsunfälle, häusliche Unfälle, Sportunfälle etc. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, ob mit der Behandlung der ADHS-Psychopathologie und der zu erwartenden Bes- serung der Alltagsfunktionalität auch ein Rückgang der Unfallrisiken verbunden ist. Merke ADHS-Betroffene haben ein erhöhtes Risiko für Un- fälle und Verletzungen im Alltag. Bei Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahre wurde eine niedrigere Häufigkeit von Krankenhausaufnahmen nach Trauma bei behandelten im Vergleich zu nicht be- handelten ADHS Patienten gefunden [23]. In einer spä- teren Metaanalyse wurde die existierende Literatur zu dem Thema aufgegriffen [24]. Die metaanalytischen Auswertungen ergaben eine Erniedrigung des absolu- ten Risikos für körperliche Traumatisierungen zwischen 0,76 und 0,88 bei Patienten, die mit Stimulanzien oder Nichtstimulanzien behandelt wurden. Ein vergleich- bares Ergebnis erbrachte eine Studie aus Israel mit 682 110 Militärangehörigen, die zwischen 15 und 25 Jahre alt waren. Bei Männern wurde eine umso stärkere Abnahme der Häufigkeit von Knochenfrakturen gefun- den, je höher MPH dosiert worden war. Eine derartige Dosis-Wirkungs-Beziehung konnte bei Frauen nicht ge- sichert werden, aber unbehandelte hatten gegenüber behandelten Frauen ein signifikant erhöhtes Fraktur- risiko [25]. Mit der Absenkung der Unfallrisiken von ADHS-Patienten durch eine geeignete pharmakologi- sche Therapie verbindet sich die Hoffnung, die signifi- kant erhöhte Mortalität bei ADHS, die Frauen wie Män- ner betrifft, positiv beeinflussen zu können, denn am häufigsten tragen Unfälle zum erhöhten Todesrisiko bei ADHS Betroffenen bei [26]. Ein spezieller Aspekt ist dabei die Frage der Belastung von ADHS-Patienten mit Verkehrsunfällen und die da- mit in Verbindung stehende Frage, ob eine geeignete medikamentöse Therapie vorhandene Risiken absenken kann. Es mehren sich die Hinweise, dass Patienten mit ADHS in Phasen, in denen sie eine pharmakologische Behandlung erfahren, ein geringeres Unfallrisiko entwi- ckeln im Vergleich zu Phasen ohne Behandlung (Risiko- reduktion bei Männern 38 %, bei Frauen 42 %) [27]. 62 Rösler Michael et al. Medikamentöse Therapie der … Psychiatrie up2date 2020; 14: 59–75

CME-Fortbildung PR A XISTIPP Die Bedeutung einer aktiven und verlässlichen Mitwirkung des Patienten kann kaum über- schätzt werden. Ohne ausreichende Behand- lungsadhärenz gibt es keine befriedigenden The- rapieergebnisse. In einer klinischen Studie zeigte sich, dass bevorzugt Männer mit niedrigen Bildungsabschlüssen ein höheres Risiko für mangelhafte Mitwirkung in der Behandlung und für vorzeitige Therapieabbrüche tragen [30]. Merke Mit geeigneten psychoedukativen Interventionen kann man die Adhärenz der Patienten entscheidend fördern. Bei fehlendem Ansprechen auf die Medikation sollte auch der Frage nachgegangen werden, ob bei dem Pa- tienten andere psychische Störungen vorliegen, etwa eine affektive Störung, Angst- oder Suchterkrankung, die eine erfolgreiche Therapie der ADHS behindern und primär behandlungsbedürftig sein können. Die oben erwähnte Metaanalyse von Koesters und Mitar- beitern zeigte, dass Betroffene mit ADHS und komorbi- der Abhängigkeitserkrankung weniger von der Stimu- lanzientherapie profitieren als ADHS-Patienten ohne Suchtkrankheit [9]. Die deutschen Behandlungsleitlinien empfehlen bei unbefriedigendem therapeutischem Ansprechen und beim Vorliegen typischer komorbider Störungen fol- gende Präparate (s. ▶ Tab. 2). Dauer der Pharmakotherapie Die Dauer der medikamentösen Behandlung muss sich an den individuellen Bedürfnissen des Patienten orien- tieren. Veränderungen der Lebensumstände, die zu re- levanten funktionellen Beeinträchtigungen im Rahmen der ADHS führen, können eine zeitlich begrenzte medi- kamentöse Behandlung sinnvoll machen, beispielswei- se bei Prüfungssituationen in der Ausbildung, neuen beruflichen oder familiären Anforderungen. Um eine ausreichende Symptomkontrolle erzielen und die da- raus resultierenden Veränderungen der Alltagsfunktio- nen und der Lebensqualität beurteilen zu können, ist eine kurzfristige und diskontinuierliche Behandlung je- doch kaum als sinnvoll zu erachten. Merke Die Behandlung sollte bei Ansprechen auf die Thera- pie in der Regel kontinuierlich über 12 Monate fort- geführt werden. Aus Verlaufsuntersuchungen wird ersichtlich, dass eine Therapie über mehrere Jahre zu einer stärkeren Symp- tomreduktion und Verbesserung des Funktionsniveaus im Alltag führt als eine Therapie mit kürzerer Zeitdauer [31]. Auch bei einer Langzeitbehandlung sind jedoch Therapiepausen im Sinne von Auslassversuchen ange- zeigt, um das Fortbestehen der Indikation zur Stimu- lanzienbehandlung bei anhaltender Symptomfreiheit zu überprüfen. Da die Wirkdauer von Stimulanzienprä- paraten kurz ist, sind hierfür in der Regel keine langen Zeiträume erforderlich. Die Dauer des Auslassversuchs sollte zeitlich aber so bemessen werden, dass eine Be- urteilung von psychopathologischen Veränderungen und der Alltagsfunktionen ohne Medikation möglich ist. ▶ Tab. 2 Individuelle Präparateauswahl bei ADHS mit komorbiden Leiden und bei mangelhafter Therapieresponse gemäß S3-Leitlinie [1]. Symptomatik Empfehlung Patienten ohne relevante Komorbiditäten Stimulanzien zur initialen Behandlung Patienten mit ADHS und komorbiden Störungen des Sozialverhaltens oder Persönlichkeitsstörungen Stimulanzien Patienten mit ADHS und komorbiden Tic-Störungen Stimulanzien oder Atomoxetin Patienten mit ADHS und Angststörungen MPH oder alternativ Atomoxetin Patienten mit ADHS und Substanzkonsum und erhöhtem Risiko für nicht- bestimmungsgemäßen Gebrauch der Medikation langwirksame Stimulanzien oder Atomoxetin Patienten, bei denen die Behandlung trotz Aufdosierung auf die maximale Stimulanziendosis ineffektiv ist anderes Stimulans oder mit Atomoxetin 64 Rösler Michael et al. Medikamentöse Therapie der … Psychiatrie up2date 2020; 14: 59–75

CME-Fortbildung Kontraindikationen für eine Behandlung mit Stimulan- zien sind eine bekannte Überempfindlichkeit gegen- über diesen Wirkstoffen oder die gleichzeitige Verab- reichung von Monoaminoxidase-Hemmern (MAO- Hemmer). Cave Ein zeitlicher Abstand von 2 Wochen sollte nach Ein- nahme von MAO-Hemmern eingehalten werden, um nicht das Risiko einer hypertensiven Krise einzuge- hen. Weitere Kontraindikationen sind Psychosen, schwere Depressionen, akute kardiovaskuläre Erkrankungen wie Herzrhythmusstörungen, mittelschwere bis schwe- re Hypertonie, Angina pectoris sowie eine Hyperthy- reose und Glaukom. Puls- und Blutdruck kontrollieren Bei der Stimulanzienbehandlung von erwachsenen Pa- tienten mit ADHS ist wegen der mit steigendem Alter anwachsenden Inzidenz kardiovaskulärer Erkrankun- gen noch mehr als bei Kindern und Jugendlichen auf eine mögliche Puls- und Blutdruckerhöhung zu achten. Nach gegenwärtigem Wissensstand ist zwar davon aus- zugehen, dass die Rate kardial bedingter Todesfälle un- ter Stimulanzientherapie gegenüber der unbehandel- ten Bevölkerung nicht erhöht ist [36, 37]. In diesen me- taanalytischen Untersuchungen wurde jedoch auch ge- zeigt, dass es zu einem leichten Anstieg der Herzfre- quenz und des Blutdrucks unter Stimulanzienbehand- lung kommen kann. Bei Erwachsenen zeigte sich in der Metaanalyse von Mick und Mitarbeitern ein Anstieg der Herzfrequenz unter Therapie mit Methylphenidat oder Amphetamin um durchschnittlich 5,7 Herzschläge pro Minute [37]. Dabei waren in 6 der eingeschlossenen Studien auch Fälle, bei denen es zu einem klinisch rele- vanten Anstieg der Herzfrequenz (> 90/Min) unter Sti- mulanzientherapie gekommen war (OR = 2,75). Zu be- rücksichtigen ist dabei, dass die Patienten der Meta- analyse relativ jung waren (Median 42 Jahre) und bei älteren Personen mit höheren kardiovaskulären Risiken gerechnet werden muss. Cave Psychostimulanzien können zu einer Erhöhung des Blutdrucks und des Pulses führen und müssen vor und während der Behandlung regelmäßig geprüft wer- den. Vor dem Beginn einer medikamentösen Therapie mit Stimulanzien sollten daher eine körperliche Untersu- chung durchgeführt, in jedem Fall aber Puls und Blut- druck sowie das Körpergewicht bestimmt und beson- ders auf Hinweise für eine Herz-Kreislauferkrankung des Patienten geachtet werden. Bei Hinweisen auf eine kardiovaskuläre Erkrankung ist die Beratung durch einen Kardiologen zu empfehlen. Nach jeder Dosiser- höhung sollten Puls, Blutdruck und Körpergewicht bzw. Body-Mass-Index bestimmt und bei längerfristi- ger Behandlung in 6-monatigen Abständen regelmäßig kontrolliert werden. Bei einer klinisch relevanten, wie- derholten und nicht nur vorübergehend auftretenden Blutdruckerhöhung sollte eine Dosisreduktion vorge- nommen und eine kardiologische Abklärung erfolgen. Schwangerschaft Eine Behandlung mit Stimulanzien während einer Schwangerschaft wird nicht empfohlen, es sei denn, dass der Fetus durch das Unterlassen einer Behandlung stärker gefährdet erscheint, als durch die Medikamen- tengabe. Die Studienlage hierzu ist unzureichend, es gibt aber Hinweise für ein erhöhtes Risiko kardialer oder zentralnervöser Schädigungen durch Stimulan- zien beim Neugeborenen [38]. Senioren Eine medikamentöse Behandlung mit Stimulanzien kann auch bei Senioren indiziert sein. In dieser Alters- gruppe muss grundsätzlich bei jeder Medikamenten- gabe auf Interaktionen mit anderen Krankheiten und Medikamenten geachtet werden und eine besonders gewissenhafte Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen. Merke Bei Senioren ist die Dosis von Stimulanzien mit be- sonderer Sorgfalt zu titrieren. In den Arzneimittelinformationen von Methylphenidat- Produkten findet sich der Hinweis, dass eine Verschrei- bung bei älteren Menschen nicht vorgenommen wer- den soll, bezüglich Lisdexamphetamin existiert ein sol- cher Hinweis trotz unzureichender Datenlage nicht. Suchterkrankungen Bei der Erörterung möglicher Gefahren einer Stimulan- zientherapie ist immer wieder die Möglichkeit von nicht bestimmungsgemäßem Gebrauch und Sucht- krankheiten erwogen worden. Dabei belegen Daten aus Nordamerika, dass ca. 25 % der pharmakologisch Behandelten ihre Medikation verkaufen und 17 % der Collegestudenten Stimulanzen missbräuchlich verwen- den [39, 40]. Merke Patienten mit ADHS haben ein erhöhtes Risiko der Entwicklung von Suchtkrankheiten. 66 Rösler Michael et al. Medikamentöse Therapie der … Psychiatrie up2date 2020; 14: 59–75

CME-Fortbildung nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch von Stimulan- zien vorzubeugen. Des Weiteren ist die Behandlung mit ATX bei Komorbidität mit einer Angst- oder Tic-Stö- rung als Alternative zu einer Stimulanzienbehandlung zu erwägen. Wirksamkeit Bezüglich der Wirksamkeit von ATX auf die Symptoma- tik von Erwachsenen mit ADHS ergibt sich aus einer Metaanalyse von Cunill und Mitarbeitern [45], dass ATX bei der Reduktion der ADHS-Symptome im Ver- gleich zu Placebo überlegen ist. Die Effektstärken lagen im mittleren Bereich (Fremdbeurteilung: –0,40, Selbst- beurteilung: –0,33) und somit niedriger als bei Stimu- lanzien. In einer aktuellen Metaanalyse wurde für ATX eine im Vergleich zu Amphetaminen und MPH niedrige- re Effektstärke gefunden (–0,45; 95 % KI: –0,58, –0,32) [15]. In den Studien zeigte sich ein signifikanter Effekt von ATX auch auf die häufig bei ADHS-Patienten vorhande- nen Störungen der Emotionsregulation. Dieser ist je- doch weniger stark ausgeprägt als der auf die Kern- symptomatik [46]. Wie oben bereits erwähnt, wirkt sich ATX auch günstig auf die Alltagsfunktionalität und die Lebensqualität aus. Durchführung der Behandlung Gemäß Fachinformation kann die Behandlung bei einem Gewicht von über 70 kg mit einer Initialdosis von 40 mg begonnen werden. Zur Vermeidung von un- erwünschten Arzneimittelwirkungen empfiehlt es sich jedoch, mit einer geringeren Dosis (18 oder 25 mg) initial zu beginnen. Die empfohlene Tagesdosis bei dauerhafter Behandlung liegt laut Fachinformation bei 1,2 mg/kg, die maximale Tagesdosis beträgt 100 mg. Die Einnahme von ATX erfolgt in der Regel morgens, kann aber auch durch eine zweite Gabe am Nachmittag ergänzt werden. Falls als Nebenwirkung Müdigkeit auf- tritt, kann ATX auch abends eingenommen werden [47]. PR A XISTIPP Die Wirksamkeit von ATX lässt sich erst nach mehreren Wochen vollständig abschätzen. Dies sollte mit dem Patienten besprochen werden, um einen vorschnellen Abbruch der Behandlung zu vermeiden. Unerwünschte Wirkungen und Kontra- indikationen Atomoxetin ist insgesamt gut verträglich [48]. Die un- erwünschten Arzneimittelwirkungen bei Erwachsenen entsprechen im Wesentlichen denen, die auch bei Kin- dern und Jugendlichen auftreten. Sie sind in der Regel nicht schwerwiegend und treten meist passager, insbe- sondere in den ersten Wochen der Behandlung oder nach einer Dosiserhöhung auf. Häufig werden Kopfschmerzen, Appetitminderung mit der Folge der Gewichtsabnahme, abdominelle Be- schwerden, Übelkeit, sowie Stimmungsschwankungen beobachtet. Bei Jugendlichen und Erwachsenen, die mit ATX behandelt werden, muss auch auf sexuelle Funktionsstörungen wie Erektions- bzw. Ejakulations- störungen sowie Dysmenorrhö geachtet werden. Zu- dem wurden bei Personen unter 30 Jahren zu Beginn der Behandlung Suizidgedanken berichtet. Wie bei den Stimulanzien kann es auch bei Gabe von ATX zu einer Herzfrequenzerhöhung oder einem Blut- druckanstieg kommen, die meist aber ohne klinische Relevanz ist (▶ Tab. 4). Dementsprechend sollten vor Therapiebeginn mit ATX wie bei der Stimulanzienbe- handlung auf kardiovaskuläre Erkrankungen geachtet, Puls, Blutdruck und Körpergewicht bestimmt und im Verlauf der Behandlung regelmäßig kontrolliert wer- den. ▶ Tab. 4 Wichtige Nebenwirkungen der pharmakologischen Therapie der ADHS nach S3-Leitlinien [1]. Symptom Stimulanzien (Methylphenidat und Lisdexamphetamin) Atomoxetin Anstieg der Herzfrequenz Anstieg des systolischen Blutdruckes Appetitminderung Gewichtsabnahme Schlafstörungen Bauch-und Kopfschmerzen Dysphorie, Ängstlichkeit, Irritabilität Obstipation, Mundtrockenheit, Schwindel Erektile Dysfunktion X X X X X X X – – X X X X X X X X X 68 Rösler Michael et al. Medikamentöse Therapie der … Psychiatrie up2date 2020; 14: 59–75

CME-Fortbildung FALLBEISPIEL Ein 30-jähriger Mann kam erstmals in die ADHS- Sprechstunde und berichtete, er leide seit seiner Kindheit an Unruhezuständen, Durchhaltemängeln und mangelhafter affektiver Steuerung. Diese Symptomatik habe schon seinen schulischen Erfolg negativ beeinflusst. Bei offensichtlich guter Bega- bung hatte er einen Hauptschulabschluss erreicht und danach eine Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker im zweiten Anlauf erfolgreich abgeschlossen. Von seinem Lehrherrn wurde er nicht in eine Dauerstel- lung übernommen. Er galt am Arbeitsplatz als nicht völlig verlässlich, hatte immer wieder Fehlzeiten. Ein wechselnder Konsum von THC führte den sportlich begabten Mann in soziale Probleme. Er verlor den Führerschein wegen Fahrens unter Drogeneinfluss und hat ihn bisher auch nicht mehr zurückbekom- men können. Wegen Verstößen gegen das Betäu- bungsmittelgesetz wurden ihm richterliche Weisun- gen erteilt. Als er 13 Jahre alt war, wurde er erstmals einem Kin- der- und Jugendpsychiater wegen „Depressionen“ vorgestellt. Dieser äußerte den Verdacht auf eine ADHS mit komorbider affektiver Störung. Eine phar- makologische Behandlung wurde empfohlen. Der Patient und seine Angehörigen wollten der angebo- tenen Therapie aber nicht folgen. Als Erwachsener arbeitete er als Hilfskraft bei regelmäßig wechseln- den Arbeitgebern, ohne seine berufliche Qualifika- tion adäquat zu nutzen. Er konsumierte sporadisch THC und lebte bei seinen Eltern im Haushalt. Dabei kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen mit den Eltern, die ihn zu einer autonomen Lebensfüh- rung aufforderten. Als er eine etwa gleichaltrige Frau kennenlernte, zog er nach kurzer Zeit mit ihr zusammen. Das Zusammenleben verlief nicht ohne Spannungen. Schließlich verlangte seine Lebensge- fährtin, er möge seine psychischen Probleme ab- stellen, andernfalls werde sie die Beziehung been- den. Diese Situation veranlasste ihn, sich in unserer Sprechstunde vorzustellen. Als veränderungswürdi- ge Probleme bezeichnete er sein mangelhaftes Durchhaltevermögen, die begrenzte Fähigkeit fo- kussiert zu arbeiten, seine ständige motorische Un- ruhe und seine affektive Unausgeglichenheit. Bei den Untersuchungen erreichte er auf der Wender- Utah-Rating Scale (WURS-k [43]) einen deutlich er- höhten Wert von 38 Punkten (Cut-off 30). Sowohl die DSM-IV Kriterien für eine kombinierte ADHS als auch die Utah-Kriterien für eine adulte ADHS waren nachzuweisen. In einer toxikologischen Analyse des Blutes wurden THC mit Metaboliten in einer Konzen- tration angetroffen, die für einen niedrigdosierten THC Konsum sprachen. In Abstimmung mit dem Patienten wurde zunächst ein psychoedukatives Programm mit 8 Sitzungen zum Thema ADHS begonnen und planmäßig durch- laufen. Während der Psychoedukation wurde eine Behandlung mit 18 mg ATX begonnen und über 4 Wochen bis auf 72 mg/d gesteigert. Überdauernde unerwünschte Begleitwirkungen wurden nicht re- gistriert bis auf eine marginale Erhöhung der Herz- frequenz von 78 auf 80 Schläge/Min. Passager klagte der Patient über eine gewisse Übelkeit. Initial redu- zierte sich der Score im diagnostischen Interview IDA-R, welches die ADHS Kernsymptomatik (Auf- merksamkeitsstörungen, Hyperaktivität/Impulsivi- tät) erfasst und quantifiziert von 38 (von 54 mögli- chen Punkten) auf 31 Punkte. Nach 5 Wochen wurde ein Wert von 24 und nach 10 Wochen von 19 Punk- ten ermittelt. Subjektiv fühlte sich der Patient in der Symptomatik ausreichend entlastet. Eine Endaktua- lisierung der häuslichen Spannungen wurde von der Lebensgefährtin, die ihn zur Therapie begleitete, bestätigt. Die Behandlung wird derzeit mit 80 mg/d fortgeführt. Der Patient verträgt seine Medikation ohne belastende Begleitwirkungen und erscheint in 3-monatigen Abständen in der Sprechstunde. könnten. Eine Behandlungsempfehlung für Erwachsene mit ADHS konnte im Hinblick auf die fehlende Evidenz für diese Substanzen nicht formuliert werden. Dies gilt auch für den Einsatz von medizinischen Cannabinoi- den. Ausblick Für die Behandlung der adulten ADHS stehen mit den Stimulanzien MPH und LDX gut wirksame Substanzen zur Verfügung. Im Falle einer unbefriedigenden Wir- kung empfiehlt sich das Nichtstimulans ATX als eine wichtige Behandlungsalternative. Andere Substanzen, die vielversprechende Behandlungsalternativen wer- den könnten, sind aktuell nicht in Sicht. Die interindividuelle Variabilität der therapeutischen Effekte bezüglich der oben beschriebenen Substanzen ist erheblich. Deswegen konzentrieren sich aktuelle psychiatrische Forschungsansätze, wie in anderen me- dizinischen Teilgebieten, auf das Ziel, im Individualfall therapeutische Wirkungen präzise vorherzusagen und optimale individuelle Therapiekonstellationen zu defi- nieren. Zu diesem Zweck werden verschiedene Marker des klinischen Bildes, psychosozialer, genetischer oder anderer biologischer Faktoren hinsichtlich ihrer Aus- 70 Rösler Michael et al. Medikamentöse Therapie der … Psychiatrie up2date 2020; 14: 59–75

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Amfetamines for at- tention deficit hyperactivity disorder (ADHD) in adults. Cochrane Database Syst Rev 2018; 9: CD007813 and persistence in adult ADHD: results from a twenty-four week controlled clinical trial with extended release me- thylphenidate. Eur Psychiatry 2014; 29: 324–330 [31] Fredriksen M, Halmøy A, Faraone SV et al. Longterm efficacy and safety of treatment with stimulants and atomoxetine in adult ADHD: A review of controlled and naturalistic studies. Eur Neuropsychopharmacol 2013; 23: 508–527 [32] Retz W, Retz-Junginger P, Römer K et al. Standardisierte Skalen zur strukturierten Diagnostik der ADHS im Erwach- senenalter. Fortschr Neurol Psychiatr 2013; 81: 381–389 72 Rösler Michael et al. Medikamentöse Therapie der … Psychiatrie up2date 2020; 14: 59–75

CME-Fortbildung Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Den genauen Einsendeschluss finden Sie unter https://cmef.thieme.de/CXCXSCZ. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführliche Anleitung. Wir wünschen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! Unter https://eref.thieme.de/CXCXSCZ oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests. VNR 2760512020158722781 Frage 1 Was ist Grundlage einer angemessenen therapeutischen Intervention bei adulter ADHS? Frage 4 Welche Aussage zur medikamentösen Behandlung mit Methylphenidat (MPH) ist falsch? A Psychoedukation Konfrontationstherapie B C Aggressionstraining D Autogenes Training E Entspannungsübungen nach Jacobsen Frage 2 Wie hoch ist die maximale empfohlene Tagesdosis von Methylphenidat? A 130 mg/Tag 20 mg/Tag B 30 mg/Tag C D 60 mg/Tag E 80 mg/Tag Frage 3 Welche Aussage ist richtig? A Psychotherapie hat keinen Effekt auf die ADHS-Sympto- matik; es sollten ausschließlich Medikamente eingesetzt werden. B Die Leitlinien empfehlen, entweder eine medikamentöse Behandlung oder eine Psychotherapie durchzuführen. C Medikamente sind für Behandlung von ADHS im Erwach- senenalter generell ungeeignet. D Die Leitlinien empfehlen eine Kombinationsbehandlung aus medikamentöser und psychotherapeutischer Therapie. E Mit einer Psychotherapie können lediglich komorbide Störungen behandelt werden, die Symptome der ADHS bessern sich nicht. A Nach Leitlinienempfehlung stellt MPH die Medikation der ersten Wahl dar. B Die Initialdosis für MPH-Präparate sollte nicht mehr als 10 mg/d betragen. C MPH hat ein hohes Interaktionspotenzial; es wird haupt- sächlich von der Leber abgebaut. D Bei leitliniengerechter Behandlung kommt es bei ca. 60 % der Fälle zu einer deutlichen Symptomreduktion von über 30 %. Ein Auslassversuch sollte einmal jährlich erfolgen. E Frage 5 Welches Medikament kann bei adulter ADHS zum Einsatz kom- men, wenn der Patient auf Methylphenidat nicht anspricht? A Promethazin B Atomoxetin C Valproat D Olanzapin E Risperidon Frage 6 Welches ist keine typische Nebenwirkung von Stimulanzien? A Appetitlosigkeit B Bradykardie C Erhöhter Blutdruck D Gewichtsreduktion E Kopfschmerzen 74 Rösler Michael et al. Medikamentöse Therapie der … Psychiatrie up2date 2020; 14: 59–75

Richtig diagnostizieren und leitliniengerecht behandeln Im komplexen Gebiet den Überblick behalten Mit diesem Buch verstehen Sie die psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter ganzheitlich. Es bietet Ihnen die Voraussetzungen für alle diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen – orientiert an den verschiedenen Lebenswelten der Kinder- und Jugendlichen. Neben einem interdisziplinären Ansatz bezieht es die Familie in alle diagnostischen und therapeutischen Interventionen ein. Von der Behandlung bis hin zu Prävention sowie rechtlichen und organisatorischen Themen. Mit präzisen Hinweisen und praktischen Anleitungen für den Umgang mit psychisch kranken Kindern und Jugendlichen. Buch + Online-Version in der eRef ISBN 978 3 13 241122 7 99,99 € [D] www.thieme.de/shop . ff u a H . A . r D : G h p n e t s o k d n a s r e V n e d n e l l i a f n a e d n e d r e w ] D l [ b a h r e ß u a n e g n u r e f e i L i , 9 9 4 3 A R H , t r a g t t u t S r e t s i g e r s l e d n a H d n u - z t i S , e B . n e t l a h e b r o v r e m ü t r r I d n u n e g n u r e d n ä s i e r P G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . t e n h c e r e b r e t i e w

CME-Fortbildung Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen: False Memory: Die Fehlbarkeit von Gedächtnisleistungen in Gerichtsprozessen Petra Retz-Junginger, Wolfgang Retz Heft 6/2019 Internet-Interventionen in der Psychotherapie T. Berger, O. Bur, T. Krieger Heft 5/2019 Psychiatrische Begutachtung in asyl- bzw. ausländerrechtlichen Verfahren F. Schneider, S. Weber-Papen, H. Dreßing Heft 4/2019 Effekte, Bedingungen und Anwendung von Placebos C. Werner, S. Hasler, J. Birkhäuer, J. Gaab Heft 2/2016 Angstbedingte Schulvermeidung S. Melfsen, J. Beyer, S. Walitza Heft 6/2015 Probleme bei Arbeitsplatzerhalt und Wiedereingliederung – Grundlagen und Interventionsmöglichkeiten in der Behandlung N. Baer Heft 6/2015 Psychiatrie im Nationalsozialismus: Historische Kenntnisse, aktuelle Implikationen V. Roelcke Heft 3/2019 Akzeptanz- und Commitment-Therapie: ein transdiagnostischer Ansatz C. Benoy, K. Bader, I. Schumann Heft 4/2015 Psychiatrische Aspekte von Stalking H. Dreßing Heft 2/2019 Diagnostik mit bildgebenden Verfahren in der Psychiatrie A. Gaebler, F. Schneider Heft 6/2018 Gesundheitsförderung und Resilienz D. A. Gilan, A. Kunzler, K. Lieb Heft 2/2018 Sexueller Missbrauch von Kindern H. Dreßing, D. Dölling, D. Hermann, A. Kruse, E. Schmitt, B. Bannenberg, H. J. Salize Heft 1/2018 Suizid und Suizidprävention im psychiatrischen Krankenhaus B. Schneider, M. Wolfersdorf, F. M. Wurst Heft 5/2017 Prinzipien und Methoden der Beschwerdenvalidierung R. Dohrenbusch, R. Allstadt Torras Heft 4/2017 Tic-Störungen im Kindes- und Jugendalter F. Tagwerker Gloor Heft 3/2015 Versorgung von Migranten M. Schouler-Ocak, M. Aichberger Heft 3/2015 Gemeindepsychiatrische Versorgung K. Stengler, S. Riedel- Heller, U. Gühne, T. Becker Heft 2/2015 Krieg und Krankenmord 1939 – 1945 G. Hohendorf Heft 1/2015 Berufsbezogene Psychotherapie: Konzepte, Indikationsstellung und Behandlung beruflichen Überlastungserlebens S. Koch, D. Lehr, A. Hillert Heft 5/2014 Klinische Praxis der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts- störungen und hyperkinetischen Störungen A. Werling, R. Drechsler, S. Walitza Heft 4/2014 Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen,Wirksamkeit, Methoden, Techniken J. Ehrenthal Heft 3/2017 Aktuelle Entwicklungen in der Psychotherapie: Zeit für eine neue Welle? G. Meinlschmidt, M. Tegethoff Heft 2/2017 Lese- und/oder Rechtschreibstörung: leitlinienbasierte Diagnostik und Therapie S. Brem, C. Kuhn, H. Mehringer Heft 6/2016 Konfrontationsverfahren in der Behandlung psychischer Störungen U. Voderholzer, M. Hauer, E. Reisenzein-Hirsch Heft 3/2014 Unterbringung und Betreuung: formale Grundlagen und aktuelle Praxis H. Dressing, M. Zink Heft 3/2014 Epidemiologie psychischer Störungen R. Lieb Heft 5/2013 Prinzipien der psychodynamischen Gruppenpsychotherapie B. Strauß Heft 5/2016 Aufsuchende Hilfen C. Koßmann, G. Juckel Heft 3/2016 Zwangsbehandlung T. Steinert, R. Borbé Heft 3/2013 Therapie chronischer Schmerzen B. Timmer, J. Heuser Heft 2/2013 ALLES ONLINE LESEN JETZT FREISCHALTEN Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: online wie offline, am PC und mobil, alle bereits erschienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! https://eref.thieme.de/psych-u2d Sie haben Ihre Zeitschrift noch nicht freigeschaltet? Ein Klick genügt: www.thieme.de/eref-registrierung.

CME-Fortbildung Merke Insbesondere den von chronischen Paarkonflikten betroffenen Kindern sollte auch aus präventiven Überlegungen heraus wesentlich mehr Aufmerksam- keit gewidmet werden. PR A XISTIPP Bodenmann postuliert, dass psychische und phy- sische Störungen in Partnerschaften als gemein- sames Problem (We-disease) angesehen werden müssen [2]. Beide Partner sind in hohem Maße davon betroffen. Krankheiten sollten gemeinsam bewältigt (dyadisches Coping) und beide Partner – sofern möglich – in den Therapieprozess ein- bezogen werden. Partnerschaftliche und familiäre Variablen sollten deshalb im Rahmen individueller Psychotherapie bei Anamnese, Verhaltens- und Problemanalyse, Zielbestimmung und Therapieplanung verstärkt berücksichtigt werden. Dies betrifft auch den Einsatz von diagnostischen Instrumenten, um die Ausprägung von z. B. Beziehungskonflikten, familiärer Gewalt und kindlichen Verhaltens- störungen dimensional erfassen zu können. Familie in Deutschland 2019 In Deutschland ist die Familienform der verheirateten Eltern mit Kindern nach wie vor am weitesten verbrei- tet (69 % aller Paare). Dabei hat jede 3. Familie mit min- derjährigen Kindern einen Migrationshintergrund. Ca. 26 % der Verheirateten sind kinderlos. Deutlich zuge- nommen haben die nichtehelichen Lebensgemein- schaften („Lebensabschnittspartner“). Die Anzahl der Alleinerziehenden liegt bei 2,6 Millionen (20 % aller El- tern mit Kindern). Das mittlere Heiratsalter in Deutsch- land ist kontinuierlich gestiegen. Betrug es 1990 noch 29 Jahre für Männer und 26 Jahre für Frauen, lag es 2015 bei 34 bzw. 31 Jahren [5]. Trennung und Scheidung Studien an frisch verheirateten Paaren zeigen, dass 80– 85 % der Befragten sehr zufrieden mit ihrer aktuellen Beziehung sind. Allerdings tendieren zufriedene Paare dazu, die Zukunft ihrer Beziehung unrealistisch positiv zu beurteilen („rosarote Brille“). Mit zunehmender Partnerschaftsdauer zeigen viele Paare jedoch eine deutliche Abnahme ihrer Beziehungszufriedenheit [3]. In der Bundesrepublik Deutschland (wie auch in Öster- reich und der Schweiz) ist die Scheidungsquote seit den 1960er-Jahren deutlich gestiegen. Im Jahr 2017 ende- ten bei 408 000 neuen Eheschließungen 153 000 Ehen durch Scheidung (Quote 38 %), wobei prozentual die meisten Ehen im 6. Ehejahr geschieden wurden [5]. Ca. 75 % der Geschiedenen heiraten erneut, drei Viertel davon innerhalb von 3 Jahren. Leider ist eine Scheidung in der Vergangenheit kein Garant dafür, dass die nächs- te Ehe gelingt. Ganz im Gegenteil ist die Scheidungs- rate bei solchen Paaren noch höher als bei Erstverheira- teten. Unabhängig von der offiziellen Scheidungsquote wird die Trennungsrate unverheiratet zusammenlebender Paare noch höher geschätzt. In England waren nach 5 Jahren Partnerschaftsdauer nur noch ca. 20 % der Paare zusammen, nach 10 Jahren nur noch ca. 10 %. Daten zeigen, dass sich 35 % der unverheirateten Eltern vor dem 5. Geburtstag ihres Kindes trennten – im Ver- gleich zu 9 % bei verheirateten Paaren [3]. Merke Die Trennungsrate ist bei unverheirateten Paaren deutlich höher als bei verheirateten. Folgen von Trennung und Scheidung Die Daten zu Scheidung und Scheidungsfolgen sind nicht so zu interpretieren, dass Scheidung generell ver- mieden werden sollte. Chronische Partnerschaftskon- flikte können häufig sogar stärkere Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit der Familien- mitglieder als eine Scheidung haben. Kindern, deren Eltern zu Hause starke Konflikte austragen, geht es bereits vor der Scheidung schlechter als Kindern in in- takten Familien. Scheidung gehört zu den am meisten belastenden Ereignissen im menschlichen Leben. Wer in seiner Beziehung scheitert, erlebt einen schmerzli- chen und schwer zu bewältigenden Trennungsprozess, der leider oftmals nie ganz zu Ende gebracht werden kann [2]. Psychische Störungen Geschiedene Partner im Vergleich mit zusammen- lebenden Partnern/Verheirateten berichten eine signi- fikant niedrigere Lebenszufriedenheit, höhere Depres- sionsraten, häufigere Suizide, höheren Alkoholkonsum, mehr sexuelle Funktionsstörungen, Schlafstörungen, soziale Isolation und häufigere stationäre psychiatri- sche Aufnahmen. Scheidung geht mit einem erhöhten Gewaltrisiko (körperliche Angriffe, Verletzungen, Tö- tungsdelikte, „Stalking“) einher [2, 3]. Physische Störungen Geschiedene wiesen mehr chronische somatische Be- schwerden auf (z. B. Diabetes, Krebs, Herz- und Lun- generkrankungen) und hatten mehr Mobilitätsein- schränkungen als Verheiratete. Geschiedene Frauen hatten schlechtere qualitative Immunparameter, sie wiesen höhere Blutdruckwerte sowie mehr koronare 80 Hahlweg Kurt. Paartherapie . Psychiatrie up2date 2020; 14: 79–94

CME-Fortbildung Fülle von empirischen Untersuchungen zur Folge hat- ten. Danach spielen bei der Verschlechterung einer Be- ziehung folgende Faktoren eine Rolle [2, 3]: ▪ Kompetenzdefizite ▪ Verstärkererosion ▪ Alltagsstress Kompetenzdefizite Da die meisten Partnerschaften mit einer hohen Zufrie- denheit beginnen und demnach zu Beginn gekenn- zeichnet sind von positiver Reziprozität und adäquater Konfliktlösung, stellt sich die Frage, wie sich der (häufig relativ rasche) Zusammenbruch dieser positiven Cha- rakteristika und das Aufschaukeln der negativen Eskala- tion in einer Beziehung erklären lassen. Die erste Erklä- rungsmöglichkeit wäre, dass ein oder beide Partner starke Defizite im Verhaltensrepertoire aufweisen, was bedeuten würde, dass sie keine adäquaten Fertigkeiten für die Beziehungsgestaltung und die Konfliktlösung in der Beziehung gelernt haben. Dies mag auf einen ge- wissen Prozentsatz zutreffen; bei der Mehrheit der un- zufriedenen Paare scheint es hingegen so zu sein, dass die Fertigkeiten durchaus im Repertoire vorhanden sind, dass sie auch in frühen Phasen der Beziehung ein- gesetzt wurden, jedoch im weiteren Verlauf seltener oder gar nicht mehr dem Partner gegenüber gezeigt werden [2, 3]. Merke Positive Rückmeldung und adäquate Konfliktlösung kommen bei unzufriedenen Paaren weniger häufig vor als in stabilen Beziehungen. Verstärkererosion Bei vielen Paaren kommt es im Verlauf ihrer Beziehung zunehmend zu negativen Interaktionen beider Partner. Zugleich wird die Wahrnehmung der Partnerschaft kri- tischer, während gleichzeitig die Positivität abnimmt, indem gegenseitige Verstärker aufgrund der Habitua- tion ihre Wirksamkeit verlieren. Zu Beginn als attraktiv und verstärkend erlebte Verhaltensweisen oder Attri- bute des Partners (z. B. physische Attraktivität, Status, Großzügigkeit) erodieren mit der Zeit. Was man an- fangs als faszinierend und reizvoll erlebte, wird als ab- gedroschen, alltäglich und vertraut erlebt; die ur- sprüngliche Faszination und Begeisterung weicht der Eintönigkeit. Je länger ein Paar zusammen ist, desto stärker wirkt sich die Gewöhnung aus, sodass Monoto- nie, Langeweile und Leere die Partnerschaft bestim- men [2]. Alltagsstress Besonders Bodenmann hat auf die Bedeutung des paar- externen chronischen Alltagsstresses als häufigen Aus- löser für paarinterne Spannungen und Konflikte hinge- wiesen [2]. Individuelle Konflikte außerhalb der Bezie- hung (tägliche Widrigkeiten) werden nach Hause ge- bracht und involvieren dann beide Partner, da ihnen oft die Fähigkeit zu dyadischem Coping fehlt. Der chro- nische paarexterne Stress unterminiert die Partner- schaftsqualität schleichend und häufig lange Zeit un- bemerkt, unterhöhlt die Tragfähigkeit der Beziehung und führt schließlich zur emotionalen Entfremdung zwischen den Partnern. Scheidungserleichternde Bedingungen Wird die Partnerschaft als unbefriedigend erlebt, kann ein einzelner Auslöser oder die Kombination mehrerer Ereignisse (Kennenlernen eines neuen Partners, Be- kanntwerden der Affäre des Partners, Auszug der Kin- der, Umzug) die labil gewordene Partnerschaft in eine Krise stürzen. Vor diesem Hintergrund ziehen die Part- ner nun Bilanz und die verschiedenen Nutzen- und Kos- tenaspekte werden gegeneinander abgewogen. Determinanten der Partnerschaftsqualität Will man Paaren dabei helfen, eine zufriedenstellende Beziehung leben zu können, so stellt sich die Frage nach den dafür notwendigen Bedingungen – vor allem solchen, die prinzipiell veränderbar sind. In einer Metaanalyse von 115 prospektiven Longitudinalstudien mit ca. 45 000 Paaren bestimmten Karney und Brad- bury die prädiktive Validität verschiedener Determi- nanten der ehelichen Stabilität, gemessen zum Prä- Zeitpunkt [10]. EFFEK TSTÄRKE Die Effektstärke wird durch den Korrelationsko- effizienten r dargestellt und erlaubt die Abschät- zung der durch die Variable erklärten Varianz. Betrachtet man die Ergebnisse, so ist offensichtlich, dass die meisten der untersuchten Variablen nur wenig Varianz der Ehestabilität erklären (r < 0,14); dies gilt be- sonders für sozioökonomische (z. B. Alter, Schulbil- dung) und individuelle Variablen (z. B. Extraversion, De- pression, Stress) oder Ähnlichkeit der Persönlichkeit. Die Studien, in denen gezielt die Transaktionen der Partner untersucht wurden, ergaben die klarsten Er- gebnisse: Deutliche Risikofaktoren sind eine hohe Rezi- prozität beim Austausch negativer Kommunikationsva- riablen (r = –0,44), d. h. in einer Diskussion werden neg- ative Äußerungen wie Kritik oder Abwertung des einen Partners sofort mit Gegenkritik des anderen Partners beantwortet. Generell ist eine hohe Rate negativen kommunikativen Verhaltens (r = – 0,40) ein Risikofak- tor, während eine hohe Rate positiver Kommunikation (r = 0,40) ein Schutzfaktor ist. Dies hat wichtige Impli- kationen für den therapeutischen Ansatz. 82 Hahlweg Kurt. Paartherapie . Psychiatrie up2date 2020; 14: 79–94

CME-Fortbildung Merke Die Balance-Theorie beschreibt ein ideales Verhältnis von 5:1 zwischen positiven und negativen Interaktio- nen in der Partnerschaft. Unter Wahrnehmung versteht Gottman die kognitiven Einstellungen und Erwartungen, mit denen ein Partner dem anderen begegnet und seine Handlungen bewer- tet. Das Konzept ist dichotom: Der Partner wird entwe- der als positiv und wohlwollend eingestuft oder als ne- gativ und abgewandt erlebt. Im Verlauf einer Bezie- hung kann die positive Wahrnehmung wie ein Kipp- schalter umschlagen – daher kann eine Grundeinstel- lung wie „Ich fühle mich in der Beziehung wohl“ relativ plötzlich in eine Position wie „Ich leide in meiner Bezie- hung“ umkippen – das Fass ist übergelaufen. KVPT: Therapeutisches Vorgehen Ziele und Ansatzpunkte in der Therapie Nach den lerntheoretischen Annahmen wird die Ver- schlechterung einer Beziehung damit erklärt, dass Ge- wöhnungsprozesse, Enttäuschungen und Krisen den Zwangsprozess in Gang setzen. Wie beschrieben, bre- chen im Rahmen dieses Prozesses der positive Aus- tausch und die offene Kommunikation zusammen. Konflikte werden nicht mehr gelöst, unerfüllte Wün- sche und Streit werden zunehmend mehr. Somit ist eine unglückliche Beziehung gekennzeichnet durch ein hohes Maß an aversivem Verhalten, gegenseitigen negativen Zuschreibungen und Vorhersagen, abneh- mender Attraktion, Zärtlichkeit und Sexualität sowie zunehmender Vermeidung des Anderen. Der 3. wichtige Aspekt ist die psychophysiologische Re- aktion des Partners auf den anderen. Zu Beginn einer Partnerschaft geht eine angenehm stimulierende Wir- kung vom Partner aus. Er oder sie „tut gut“. Kommt es auf lange Sicht zu einem dauerhaften Unterschreiten des 5:1 Verhältnisses, kippt die Wahrnehmung und man verspürt körperliches Unwohlsein. Eine Spirale von Kampf und/oder Rückzug setzt ein und es kommt bei den Partnern zu Unmut und weiteren negativen At- tributionen: Der Partner wird zum Schuldigen für alles. Trotz dieses aversiven Charakters der Beziehung fühlen sich jedoch die meisten Paare noch aneinander gebun- den. Die gemeinsamen Erlebnisse und Erinnerungen an gute Phasen bleiben zunächst bestehen. Der andere ist zu einem Teil der eigenen Lebensgeschichte geworden, von dem man sich nur sehr schwer trennt. Dies wird von den Paaren häufig mit dem Satz beschrieben: „Es geht nicht miteinander und es geht nicht ohne einan- der“. Aus diesem Konflikt entsteht die Motivation, sich therapeutische Hilfe zu holen. Um dem Beziehungsstress zu entgehen, muss man sich voneinander distanzieren oder isolieren. Zudem wird nicht nur die Gegenwart und Zukunft als negativ be- trachtet, sondern auch die gemeinsame Beziehungs- geschichte in einem anderen Licht gesehen. Positive Aspekte und gemeinsame, freudige Ereignisse werden schlechter erinnert. Die Vergangenheit kann uminter- pretiert werden und aus dem ehemals umworbenen Traummann wird ein Zufallsprodukt naiver Kinderei. Die letzte Stufe dieses Prozesses mag dann die Tren- nung bzw. Scheidung sein. GENERELLE ZIELE VON K VPT Es gilt, die Interaktionsmuster zu etablieren, die kennzeichnend für eine zufriedenstellende Part- nerschaft sind; d. h. es wird angestrebt, ▪ positive Reziprozität aufzubauen, ▪ offene Kommunikation (wieder) herzustellen, ▪ Wahrnehmung und Kognition konstruktiv zu verändern sowie ▪ Attraktion, Zärtlichkeit und Sexualität wieder- zubeleben. PR A XISTIPP Mangelnde Kommunikations- und Problemlöse- fertigkeiten beider Partner sind aus lerntheore- tischer Sicht vor allem verantwortlich für das Scheitern einer Partnerschaft. Verschlechtert sich eine Beziehung, so ist die „Schuld“ nicht beim Einzelnen zu suchen, sondern in der ge- meinsamen Unfähigkeit zur Konfliktlösung. Die Therapie setzt entsprechend bei der aktuellen Be- ziehungsgestaltung an. Emotionen und Kognitionen sollen verändert werden, indem aktuell neues Verhal- ten entwickelt wird und damit neue positive Erlebnisse geschaffen werden, die den alten negativen Erfahrun- gen entgegengesetzt werden. Dabei wird an den Res- sourcen angeknüpft, die jedes Paar besitzt, das zusam- menbleiben will [3]. 84 Hahlweg Kurt. Paartherapie . Psychiatrie up2date 2020; 14: 79–94

CME-Fortbildung So etabliert sich in diesen ersten Sitzungen bereits die Form der therapeutischen Beziehung. Es bildet sich ein bestimmter Interaktionsstil heraus, der dazu tendiert, im weiteren Verlauf der Behandlung stabil zu bleiben. In der 4. Sitzung werden die Ergebnisse der Diagnostik rückgemeldet. Anschließend werden die gemeinsamen Therapieziele spezifiziert. Ressourcenausbau: Steigerung der positiven Reziprozität Positive und negative Reaktionen in einer Beziehung treten unkorreliert voneinander auf. Für die Therapie bedeutet dies, dass eine mögliche Verringerung nega- tiver Verhaltensweisen nicht notwendigerweise eine Erhöhung positiver Reaktionen mit sich bringt. Umge- kehrt heißt dies, dass der positive Umgang miteinander ausgebaut werden kann, obwohl noch Streit und Eska- lation stattfindet. Jedes Paar, das noch Interesse an einem Zusammenleben hat, verfügt über einen Rest an positivem Austausch. Merke Ein Ziel jeder therapeutischen Intervention muss die systematische Steigerung der allgemeinen positiven Reziprozität zwischen den Partnern sein, wobei ver- schiedene Ansatzpunkte zu berücksichtigen sind. Ressourcenaktivierung Zunächst wird an den vorhan- denen Ressourcen angeknüpft. Die Wahrnehmung bei- der Partner muss für diese vorhandenen Verstärker sensibilisiert werden. Verwöhnungstage Ein wesentlicher Baustein bei der Steigerung der positiven Reziprozität sind die sog. „Verwöhnungstage“. Dabei werden die Partner dahin- gehend instruiert, an einem Tag in der Woche dem anderen die zur Verfügung stehenden „Verwöhner“ zu zeigen und zwar unabhängig davon, wie der andere Partner sich verhält. Jeder Partner wählt dazu einen Tag oder Abend aus, an dem er den anderen verwöh- nen will, d. h. ihm besondere Zuneigung und Aufmerk- samkeit entgegenbringen möchte. Jeweils zu Beginn jeder Sitzung berichten die Partner dann über die wahr- genommenen Aufmerksamkeiten und deren Auswir- kung auf Gefühl und Stimmung. Merke Wichtig sind affektive Reaktionen (streicheln, an- lächeln, loben); instrumentelle (etwas Gutes kochen, einkaufen gehen, staubsaugen) sollten nicht über- wiegen. Sexualität Im Rahmen des Zwangsprozesses leidet meist auch die sexuelle Anziehung zwischen den Part- nern. Ca. 70 % der Partner in Paarberatung geben an, dass sie mit ihrer sexuellen Beziehung unzufrieden sind. Wird das Zusammenleben in der Beziehung als zu- nehmend aversiv erlebt, so führt dies häufig dazu, dass die Sexualität über längere Zeit völlig brachliegt. Ge- lingt im Verlauf der Therapie die Steigerung der positi- ven Reziprozität, kann sich Zärtlichkeit und eine eroti- sche Atmosphäre wieder von selbst einstellen. Je länger dieser Bereich der Beziehung jedoch nicht mehr gelebt wurde, desto größer wird die Hemmschwelle bei einem oder beiden Partnern. In diesem Fall sind therapeuti- sche Maßnahmen zur weiteren Förderung von Zärtlich- keit und Sexualität erforderlich. Dies sind dann Inter- ventionen, wie sie auch bei sexuellen Funktionsstörun- gen eingesetzt werden („sensate focus“, Streichel- übungen, „Koitus-Verbot“ u. a. [13]). Ein solches syste- matisches Vorgehen sollte eher an das Ende der Be- handlung gelegt werden, wenn sich die Beziehung in den anderen Bereichen des Zusammenlebens bereits verbessert hat. Kommunikationstraining Offene partnerschaftliche Kommunikation ist nicht nur die Grundlage für effektives Problemlösen, sondern auch die Basis für eine gute affektive Beziehung. Vo- raussetzung für ein gutes Verständnis ist, dass beide Partner bereit sind, offen über sich selbst zu sprechen und dass sie versuchen, dem anderen ihre Empfindun- gen und Überlegungen, gerade wenn sie negative Ge- fühle haben, möglichst eindeutig mitzuteilen. KOMMUNIK ATIONSPROBLEME Die 4 häufigsten Kommunikationsschwierigkei- ten in der Partnerschaft: ▪ Die Partner beklagen, dass sie zu wenig mit- einander sprechen. ▪ Die Partner vermitteln einander nicht das Ge- fühl, den anderen zu verstehen und zu unter- stützen. ▪ Die Partner haben Schwierigkeiten, positive Gefühle auszudrücken. Zeichen von Anerken- nung, Wertschätzung und Zuneigung sind zen- trale Verstärker in einer Partnerschaft, stellen aber in vielen Beziehungen eher seltene Ereig- nisse dar. ▪ Die Partner haben Schwierigkeiten, negative Gefühle auszudrücken. Gefühle wie Wut, Ärger oder Angst werden häufig nicht direkt, sondern entweder gar nicht oder in indirekter Weise als Beschimpfung, Drohung oder Beleidigung aus- gedrückt. 86 Hahlweg Kurt. Paartherapie . Psychiatrie up2date 2020; 14: 79–94

CME-Fortbildung 4. Schritt: Entscheidung über die besten Lösungs- möglichkeiten Auf der Basis der systematischen Be- wertung erfolgt nun die Auswahl der besten Möglich- keiten. Dies werden in der Regel die Vorschläge sein, welche am meisten Vorteile aufweisen. 5. Schritt: Planung der Umsetzung Um die Umset- zung der Absprachen möglichst wahrscheinlich zu ma- chen, ist es notwendig, diese so detailliert wie möglich zu operationalisieren. Ziel ist es, dass sich beide Partner zu einer Reihe von Änderungen bzw. Maßnahmen be- reit erklären, wobei auf Ausgewogenheit zu achten ist, d. h. beide Partner sollten in etwa gleich viel zur Kon- fliktlösung beitragen. 6. Schritt: Bewertung der Lösungsversuche In der folgenden Sitzung exploriert die Therapeutin mit dem Paar zunächst detailliert die Umsetzung der Abspra- chen. Wurden die vereinbarten Schritte erfolgreich verwirklicht, so hebt sie die positiven Konsequenzen und deren Stellenwert für das Paar hervor. Ist die Um- setzung noch nicht geglückt, so wird von der Thera- peutin zumindest jeder Versuch des einzelnen Partners positiv beachtet, auch wenn das Ergebnis noch enttäu- schend war. Während des Trainings kommen die übli- chen therapeutischen Techniken zum Einsatz wie ▪ Modeling, ▪ Rollenspiel, ▪ Coaching und ▪ positive Rückmeldung. Es wird nicht in allen Fällen gelingen, für die Konflikte Lösungen zu finden. Mithilfe der Struktur kann aber zu- mindest erreicht werden, dass die Partner ihre Gegen- sätzlichkeiten bewusster erfahren und besser abwägen können, ob es möglich ist, auch Unvereinbarkeiten zu akzeptieren. Kognitive Interventionen Die Art und Weise, wie Paare über ihre Beziehung und ihr Verhalten denken, wird in den bisher geschilderten Therapiekomponenten, insbesondere beim Problem- lösen, mehr oder weniger implizit mit einbezogen. Es gibt jedoch Fälle, bei denen die Paare zwar ihr negati- ves Verhalten ändern, aber trotzdem weiterhin negativ über ihren Partner denken und bei denen diese Inter- ventionen somit keine Beziehungsverbesserung erbrin- gen. Bei anderen Paaren ist es sehr schwer, die Partner überhaupt zu einer Veränderung zu bewegen, wenn sie solch negative Einstellungen und Gedanken über ihren Partner und ihre Beziehung hegen. In diesen Fällen kann versucht werden, Kognitionen direkt zu verän- dern. Vor allem für 3 kognitive Fehler wurden solche kognitiven Interventionen entwickelt: KOGNITIVE FEHLER Attributionen Partner führen negativ bewertete Handlungen des anderen auf interne Persönlichkeitsmerk- male zurück, die stabil bleiben und globaler Natur sind. Externe, spezifische und variable Ursachen werden nicht zur Erklärung herange- zogen. Für negative Ereignisse ist demnach der Partner, für positive nur man selbst oder externe Gründe verantwortlich. Damit sinkt die subjektiv wahrgenommene Möglichkeit, etwas in der Be- ziehung zu verändern. Irrationale, extreme Erwartungen Viele Partner haben unrealistische Erwartungen an die Partnerschaft. Auch irrationale individuelle Überzeugungen können sich negativ auf die Partnerschaft auswirken. Vorhersage zukünftigen Verhaltens Aufgrund von Annahmen und Zuschreibungen werden Vorhersagen über das zu erwartende Verhalten des anderen getroffen, die wiederum das eigene Verhalten bestimmen. Manche Part- ner sind überzeugt, dass die Änderung des eige- nen Verhaltens unmöglich die des Partners be- einflussen könnte. Diese Art des negativistischen Denkens wirkt meist als selbst erfüllende Pro- phezeiung, verhindert eigene Verhaltensände- rung und vermittelt das subjektive Gefühl von Hilflosigkeit, z. B.: ▪ Wenn ich ihn um einen Gefallen bitte, wird er/sie sowieso nein sagen. ▪ Wenn ich meine Meinung sage, macht er/sie sich lustig über mich. Solche negativen Vorhersagen sollen durch eine Experimentierhaltung ersetzt werden, z. B.: ▪ Früher war sie/er auch anders. ▪ Neulich hat sie/er positiv reagiert. ▪ Auch wenn von ihrer/seiner Seite nichts kommt, ich mache jetzt den Anfang. Merke Als kognitive Interventionen kommen rationale Um- strukturierung, logische Analyse, sokratischer Dialog und kognitives Krisenmanagement zum Einsatz [14]. Steigerung von Akzeptanz und Toleranz Die traditionellen verhaltens- und kognitionsorientier- ten Interventionstechniken setzen voraus, dass ein Paar nicht nur in der Lage ist, sich zu ändern, sondern dass es dies auch möchte. Die Voraussetzungen dafür sind aber nicht bei allen Therapie-Paaren gegeben. Ausgehend von der Beobachtung, dass einige Paare 88 Hahlweg Kurt. Paartherapie . Psychiatrie up2date 2020; 14: 79–94

CME-Fortbildung und unveröffentlichte Studien einbezogen wurden. Ins- gesamt kann davon ausgegangen werden, dass sich nach KVPT 40–50 % der Paare erheblich und ca. 30 % nur leicht und kurzfristig verbessern werden. Etwa 15% der Paare lösen die Beziehung im Anschluss an die Paartherapie durch Scheidung oder Trennung auf, wo- bei schwer zu bestimmen ist, ob dieses Ergebnis als Er- folg oder Misserfolg zu werten ist. Prävention von Partnerschafts- problemen und Scheidung Aktuelle Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass für eine erfolgreiche Prävention von Partnerschaftspro- blemen insbesondere dem aktiven, handlungsorien- tierten Training partnerschaftlicher Kompetenzen (Kommunikation, Problemlösung, dyadisches Coping) große Bedeutung zukommt [2, 3]. Frühzeitige Präventi- on (wenn das Paar noch glücklich ist oder sich in einem frühen Konfliktstadium befindet) kann eine Möglich- keit sein, den ungünstigen Entwicklungen effektiv vor- zubeugen. Basierend auf den beschriebenen Ergebnis- sen aus der Risiko- und Schutzfaktorenforschung ist es das Ziel vieler Präventionsangebote, die Häufigkeit ne- gativer Kommunikation während partnerschaftlichen Konfliktdiskussionen zu verringern und die Positivität zu erhöhen, um eine Problemlösung zu erleichtern. Merke Partnerschaftskonflikte stellen einen wichtigen Be- standteil des Zusammenseins dar. Ziel von Präven- tionsprogrammen ist nicht, diese zu verhindern, son- dern vielmehr die Kompetenzen des Paares für den Umgang mit zukünftigen Konflikten zu steigern. In der Bundesrepublik Deutschland verbreitet ist vor al- lem das EPL – Ein Partnerschaftliches Lernprogramm [18]. Während des Trainings lernen Paare, aktiv anhand von Sprecher- und Zuhörer-Regeln Gefühle offen anzu- sprechen, Erwartungen verständlich auszudrücken, einander zuzuhören und sich zu verstehen (Traineraus- bildungen siehe www.institut.com). Ein weiteres Pro- gramm ist das von Bodenmann in der Schweiz entwi- ckelte „Paarlife“, das neben einer Förderung der part- nerschaftlichen Kommunikation und Problemlösung zum Ziel hat, das dyadische Coping der Partner zu ver- bessern [2]. Diese Programme können sowohl in der Gruppe als auch mit einem Paar einzeln in 6 wöchentlichen Sitzun- gen mit 2–2,5 Stunden Dauer oder an einem Wochen- ende (Samstag bis Sonntagnachmittag) durchgeführt werden. Die Gruppengrößen variieren zwischen 3–8 Paaren mit einem Trainer für je 2 Paare. Die theoreti- schen Inhalte erarbeiten die Paare in der Großgruppe, um die vermittelten Fertigkeiten anschließend einzeln in separaten Räumen mit einem Trainer einzuüben. Langzeiteffekte präventiver Interventionen Nur in Deutschland wurden bisher längere Katamnesen durchgeführt. Im Jahr 1988 wurden N = 96 Paare für eine quasi-experimentelle Studie rekrutiert, n = 64 Paa- re entschieden sich für eine Teilnahme am Ehevorbe- reitungsprogramm EPL; n = 32 Paare wurden der Kon- trollgruppe zugeteilt, die entweder eine andere, zeit- lich ähnlich aufwendige oder keine Intervention erhiel- ten. Nach 5 und 25 Jahren hatten die EPL-Paare eine signifikant niedrigere Scheidungsrate (5 %) als die Paa- re der Vergleichsgruppe (26 %). In einer anderen Studie im Sinne indizierter Prävention wurden N = 67 Paare mit einer Partnerschaftsdauer von mindestens 3 Jahren, von denen 70 % unzufrieden mit ihrer Beziehung waren, zufällig der Teilnahme am EPL oder einer Kontrollgrup- pe ohne Intervention zugeordnet. In einem 11-Jahres- Follow-up zeigte sich, dass die EPL-Paare eine Schei- dungsrate von 26 % aufwiesen, im Unterschied zu 56 % in der Vergleichsgruppe, die die Teilnahme am EPL aus verschiedenen Gründen abgelehnt hatten. In allen Stu- dien berichteten die Paare eine große Zufriedenheit mit dem EPL-Programm [19]. Selbsthilfematerialien und Web-basierte Interventionen Trotz dieser positiven Ergebnisse erscheint es illuso- risch, sich nur auf personalintensive Fertigkeitstrai- nings zu verlassen, um die Trennungs- und Scheidungs- rate zu reduzieren, da solche Trainings nicht in ausrei- chenden Maße angeboten werden können. Es bedarf deshalb weiterer Angebote und Interventionen. Bücher und DVDs Hierunter fallen Selbsthilfematerialien wie Bücher (z. B. [20]) und DVDs, z B. die Reihe Gelungene Kommunika- tion … damit die Liebe bleibt für junge Paare, Eltern und Paare im (Un-) Ruhestand. Diese Reihe kostet je DVD mit umfangreicher Begleitbroschüre 10.– € (erhältlich über www.institutkom.de). Internetbasierte Selbsthilfe-Programme Einen wesentlich komplexeren Ansatz stellen die soge- nannten internetbasierten Selbsthilfeprogramme dar, die vom Klienten alleine am PC (bzw. Notebook, Tablet oder Smartphone) bearbeitet werden. PaarBalance In Deutschland liegt seit 2016 das von Schindler, Gast- ner und Metz auf der Basis des aktuellen KVPT Konzep- tes entwickelte „PaarBalance“-Programm vor, ein inter- aktives Online Selbsthilfeprogramm für mehr Zufrie- denheit in der Paarbeziehung (https://www.paarbalan- ce.de/). 90 Hahlweg Kurt. Paartherapie . Psychiatrie up2date 2020; 14: 79–94

CME-Fortbildung [8] Wille N, Bettge S, Ravens-Sieberer U. the BELLA study [14] Hautzinger M, Pössel P. Kognitive Interventionen. Standards group. Risk and protective factors for children’s and ado- lescents’ mental health: Results from the BELLA study. Eur Child Adolescent Psychiatry 2008; 17: 133–147 [9] Garbuszus JM, Ott N, Pehle S, Werding M. Wie hat sich die Einkommenssituation von Familien entwickelt? Ein neues Messkonzept Gütersloh: Bertelsmann Stiftung; 2018 [10] Karney BR, Bradbury TN. The longitudinal course of marital quality and stability: A review of theory, method, and re- search. Psychological Bulletin 1995; 118: 3–34 [11] Gottman JM. What predicts divorce? The relationship bet- ween marital processes and marital outcomes Hillsdale, N.J.: Lawrence Erlbaum; 1994 [12] Hahlweg K. Fragebogen zur Partnerschaftsdiagnostik (FPD). Partnerschaftsfragebogen PFB, Partnerschaftsfragebogen Kurzform PFB-K, Problemliste PL & Fragebogen zur Lebens- geschichte und Partnerschaft – Revision (FLP-R). Handan- weisung. 2. Aufl. Göttingen: Hogrefe; 2016 [13] Velten J. Sexuelle Funktionsstörungen bei Frauen. Fort- schritte der Psychotherapie, Band 68. Göttingen: Hogrefe; 2018 der Psychotherapie, Band 1. Göttingen: Hogrefe; 2017 [15] Jacobson NS, Christensen A. Integrative behavioural couple therapy. Norton, New York: Norton; 1996 [16] von Tiedemann F. Versöhnungsprozesse in der Paartherapie. Ein Handbuch für die Praxis. Paderborn: Junfermann; 2017 [17] Gurman AS, Lebow JL, Snyder DK. Clinical handbook of cou- ple therapy. 5. Aufl. New York: Guilford; 2015 [18] Job A-K, Heinrichs N, Engl J. Das Kommunikationstraining „Ein Partnerschaftliches Lernprogramm EPL“ für Paare – Überblick über den Praxis- und Forschungsstand. Report Psychologie 2014; 39: 56–66 [19] Engl J, Thurmaier F, Hahlweg K. Prävention von Scheidung: Ergebnisse einer 25-Jahres Follow-up Studie. Verhaltens- therapie 2019; 29: 85–96 [20] Schindler L, Hahlweg K, Revenstorf D. Partnerschaftspro- bleme? So gelingt Ihre Beziehung. Handbuch für Paare 5. Aufl. Heidelberg: Springer; 2017 Bibliografie DOI https://doi.org/10.1055/a-0931-1327 Psychiatrie up2date 2020; 14: 79–94 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 2194-8895 92 Hahlweg Kurt. Paartherapie . Psychiatrie up2date 2020; 14: 79–94

CME-Fortbildung Punkte sammeln auf CME.thieme.de Fortsetzung ... Frage 9 Welche Variable gilt empirisch abgesichert als Risikofaktor, d. h. korreliert mit Scheidung? Frage 10 Die Struktur des Problemlöseschemas besteht aus 6 Schritten. Welcher Schritt ist falsch? negative kommunikative Reziprozität negative Beurteilung durch die Schwiegereltern A ähnliche Persönlichkeitsstruktur der Partner B C D höhere Schulbildung E großer Altersunterschied zwischen den Partnern Planung der Umsetzung von Lösungsalternativen A Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten B C Hilfe bei Freunden suchen D Bewertung der Lösungsversuche E Problem- und Zieldefinition 94 Hahlweg Kurt. Paartherapie . Psychiatrie up2date 2020; 14: 79–94

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