Suchttherapie Prävention, Behandlung, wissenschaftliche Grundlagen 1 Februar 2022 Seite 1–54 23. Jahrgang Topthema Sucht und Gewalt ▪ Substanzen und Gewalt ▪ Frauen als Opfer und Täterinnen ▪ Emotionsarbeit in der niedrigschwelligen Drogenhilfe

Editorial Board Suchttherapie Prävention, Behandlung, wissenschaftliche Grundlagen Organschaften Offi zielles Organ der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin e.V. (DGS) Offi zielles Organ der Deutschen Gesellschaft für Suchtpsychologie e.V. (dg sps) Verlag Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14 70469 Stuttgart www.thieme.de/suchttherapie www.thieme-connect.de/products Listungen EMBASE/Excerpta Medica SCOPUS Science Citation Index Expanded PSYNDEX Aktueller Impact Factor: 0,463 Editor-in-Chief Jens Reimer, Hamburg/Itzehoe Herausgeber/Editors Gallus Bischof, Lübeck Michael Klein, Köln Thomas Kuhlmann, Bergisch Gladbach Diana Moesgen, Paderborn Ulrich W. Preuss, Ludwigsburg Klaus Wölfl ing, Mainz Friedrich M. Wurst, Basel Redaktion Silke Kuhn, Hamburg Elke Rühling, Hamburg Gründungsherausgeber Joachim Körkel, Nürnberg Michael Krausz, Vancouver Beirat Hans-Joerg Albrecht, Freiburg i. Br. Markus Backmund, München Klaus Behrendt, Hamburg Martin Beutel, Kraichtal Oliver Bilke-Hentsch, Luzern Sonja Bröning, Hamburg Ursula Buchner, Ismaning Peter Degkwitz, Hamburg Daniel Deimel, Aachen Luis Falcato, Zürich Gabriele Fischer, Wien Heribert Fleischmann, Wöllershof Ingo Flenker, Münster Jürgen Gallinat, Hamburg Markus Gastpar, Berlin Arthur Günthner, Speyer Christian Haasen, Hamburg Iver Hand, Hamburg Dieter Henkel, Frankfurt/Main Thomas Hillemacher, Nürnberg Eva Hoch, München Tanja Hoff , Köln Rüdiger Holzbach, Arnsberg Klaus Hurrelmann, Berlin Ulrich John, Greifswald Ludwig Kraus, München Gerhard Längle, Reutlingen Johannes Lindenmeyer, Berlin Klaus Püschel, Hamburg Jürgen Rehm, Zürich Wulf Rössler, Zürich Tobias Rüther, München Hans-Jürgen Rumpf, Lübeck Norbert Scherbaum, Essen Udo Schneider, Lübbecke Dirk R. Schwoon, Hamburg Alfred Springer, Wien Renate Soellner, Hildesheim Heino Stöver, Frankfurt/Main Felix Tretter, Wien Ambros Uchtenhagen, Zürich Alfred Uhl, Wien Rainer Ullmann, Hamburg Albrecht Ulmer, Stuttgart Wim van den Brink, Amsterdam Uwe Verthein, Hamburg Irmgard Vogt, Frankfurt/Main Marc Walter, Basel Hans-Ulrich Wittchen, Dresden George E. Woody, Philadelphia, USA Suchttherapie 2022; 23 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 1

Inhalt Suchttherapie Prävention, Behandlung, wissenschaftliche Grundlagen Februar 2022 · 23. Jahrgang · Seite 1–54 33 Originalarbeit | Relevanz und Auswirkungen der 3. BtMVVÄndV für die Opioidsubstitutionstherapie: Ergebnisse einer qualitativen Befragung von substituierenden Ärztinnen und Ärzten Kirsten Lehmann, Silke Kuhn, Bernd Schulte, Uwe Verthein Original Article | Relevance and Eff ects of the 3rd Revision of the Narcotic Drugs Prescription Ordinance on routine OST care: Results of a Qualitative Survey of Substituting Physicians Kasuistik | Patientin mit Schwangerschaft, Borderline- Organisation und schwerer Polytoxikomanie: Stufenprogramm mit stationären, teilstationären und ambulanten Elementen Stefan Brokatzky Case Report | Patient with Pregnancy, Borderline Organization and Severe Polytoxikomanie: Step Program with Inpatient, Semi-stationery and Outpatient Elements 44 52 Mitteilungen aus den Gesellschaften | Deutsche Gesellschaft für Suchtpsychologie e. V. 53 Termine Impressum auf der letzten Seite Covergestaltung: ©Thieme Bildnachweis Cover: ©Thieme/Sarah Segsa 5 5 6 6 Neues & Trends | Gemeinsamer Konsum von Nikotin und Cannabis: eindeutige Eff ekte fehlen Neues & Trends | Nikotin- und Alkohol entwöhnung: Pharmakotherapie mit Vareniclin und Naltrexon? Neues & Trends | Vielen Dank! Neues & Trends | Forschungspreis und Nachwuchswissenschaftlerpreis 2022 des NSF e. V. 7 Drogen-Steckbrief | Opium 10 Editorial | Sucht und Gewalt Gallus Bischof 11 18 25 Schwerpunktthema | Substanzkonsum – Sucht – Gewalt: Zusammenhänge, Risiken, Prävention Michael Klein Main Topic | Substance Abuse – Addiction – Violence: Interconnections, Risks, Prevention Schwerpunktthema | Gewalttätigkeiten in Partnerschaften – Männer und Frauen mit Suchtproblemen als Opfer und Täter/Täterinnen Irmgard Vogt Main Topic | Intimate Partner Violence – Men and Women with Substance Use Problems as Victims and Perpetators Schwerpunktthema | Emotionsarbeit im Arbeitsfeld der niedrigschwelligen Drogenhilfe: Bedeutung und Gestaltung von Emotionsregulation in eskalativen Interaktionsprozessen mit der Einrichtungsklientel Jürgen Fais Main Topic | Emotional Labor in the Field of Low- Threshold Drug Work: Meaning and Design of Emotion Regulation in Escalative Interaction Processes with the Facility Clientele Suchttherapie 2022; 23: 3 | © 2022. Thieme. All r ig hts r es er ve d. 3

Neues & Trends Gemeinsamer Konsum von Nikotin und Cannabis: eindeutige Eff ekte fehlen Hernandez Mejia M et al. The infl uence of Cannabis and Nicotine Co-use on Neuromaturation: A Systematic Review of Adolescent and Young Adult Studies . Biol Psychiatry 2021 ; 89 : 162 – 171 Der Konsum mehrerer Suchtmittel birgt immer Gefahren, etwa durch Wechsel- wirkungen und eine erhöhte Suchtge- fahr. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf Jugendliche gelegt. Häufi g bil- den sich Abhängigkeiten in diesem Alter aus; außerdem wirken hier Sucht- mittel auf das Gehirn als System in Umbau und Entwicklung. Die Autoren stellen in diesem Review die Frage nach Effekten von gemeinsamem Konsum von Nikotin und Cannabis auf das ju- gendliche Gehirn. Während der Anteil an Jugendlichen stetig sinkt, die Zigaretten rauchen, steigt in der Altersgruppe der Konsum von Cannabis weiter an. Innerhalb der beiden Gruppen ist auch ein Konsum beider Substanzen keine Seltenheit. Unter der Fragestellung, wie eine Substanz wie Nikotin oder Cannabis auf das sich entwickelnde Gehirn wirkt, fan- den Forscher bislang für beide zumindest Hinweise auf neurotoxische Eff ekte mit ne- gativen Auswirkungen auf die morphologi- sche Entwicklung und die Kognition. Aller- dings sind diese Eff ekte komplex und hän- gen maßgeblich von Risikofaktoren der Person und des Konsummusters ab. Was passiert nun bei einem längerfristigen ge- meinsamen Konsum von Nikotin und Can- nabis? In der Theorie kann man in Bezug auf die Transmitterwirkung zumindest Wech- selwirkungen erwarten angesichts einer Überlappung an Endocannabinoid-Rezep- toren und nikotinischen Acetylcholinrezep- toren im corticolimbischen System. Neurokognitive Eff ekte In Bezug auf Eff ekte von Nikotin und Can- nabis auf kognitive Parameter gibt es bis dato nur eine sehr geringe Anzahl empiri- scher Evidenzen. Die vorhandenen Studien teilten typischerweise Jugendliche in Grup- pen ein anhand der Quantität des Konsums und des Zeitpunktes des letzten Konsums. Was Forscher dabei in mehreren Verglei- chen fanden: Je mehr Cannabis in der Ver- gangenheit konsumiert wurde, desto schlechter schnitten die Probanden in kog- nitiven Tests ab, aber: Nikotinkonsum konn- te diesen Effekt zum Teil kompensieren, heißt: bei regelmäßigem oder kürzlich zu- rückliegenden Zigarettenkonsum war kaum mehr eine schlechtere Leistung von Cannabis-Konsumenten zu beobachten. Dieses Muster fanden die Autoren für meh- rere Domänen des Arbeitsgedächtnisses und sprechen von einer „maskierenden“ Wirkung von Nikotin. Probanden mit ge- wohnheitsmäßigem gemeinsamem Kon- sum von Cannabis und Nikotin, die bis un- mittelbar zum Versuchsbeginn rauchen durften, zeigten ähnliche Leistungen wie die Kontrollgruppe und bessere Leistungen als die Cannabis-Konsumenten. Morphologische Eff ekte Im strukturellen MRI berichten Forscher von reduzierten Volumina des Hippocam- pus von jugendlichen Konsumenten von Ni- kotin und Cannabis sowie Cannabis alleine im Vergleich zu Konsumenten von nur Ni- kotin. Eindeutige Eff ekte auf kognitive Leis- tung konnten sie allerdings nicht zeigen. Auch in Studien mit funktioneller Bildge- bung zeigt sich bislang kein klares Muster an Ergebnissen, wobei es zumindest Hin- weise gibt, dass ein regelmäßiger Konsum Areale des Belohnungssystems (v. a. Nuc- leus accumbens) beeinfl ussen könnte. FA ZIT Die Autoren fanden unter den wenigen Studien kein eindeutiges Ergebnis. Einige beschreiben einen kompensatorischen Eff ekt von Nikotin auf die negativen Auswirkun- gen von Cannabis, aber letztendlich zeigt sich: Eff ekte müssen weiter untersucht werden, allerdings mit großen Sichtproben, auch längs- schnittlichem Design und unter besonderer Berücksichtigung von sozioökonomischen, sozialen, konsumbezogenen und zeitlichen Mediator- und Moderatorvariablen. David Eckert, Ravensburg Nikotin- und Alkohol- entwöhnung: Pharmako- therapie mit Vareniclin und Naltrexon? Ray L A et al. Effi cacy of Combining Varenicline and Naltrexone for Smoking Cessation and Drinking Reduction: A Randomized Clinical Trial . Am J Psychiatry 2021 . doi: 10.1176/appi. ajp.2020.20070993 Nikotinabusus kommt selten allein – ein regelmäßiger Alkoholkonsum zählt zu den häufi gsten Komorbiditäten. Da Be- troff ene heute zunehmend mit unter- stützender Pharmakotherapie behan- delt werden, stellt sich die Frage nach Sicherheit und Wirksamkeit verschie- dener Wirkstoff e und -Kombinationen bei beiden Suchterkrankungen. Ray und ihre Arbeitsgruppe haben hier ange- setzt und Phase 2 Studie für Vareniclin und Naltrexon durchgeführt. Nikotinabusus und Alkoholmissbrauch zäh- len weltweit zu den häufi gsten Ursachen von Morbidität und Mortalität. Obgleich beide Suchterkrankungen alleine einen großen sozioökonomischen Schaden ver- ursachen, stellt die Komorbidität ein beson- ders hohes Risiko dar. Zur Steigerung der Abstinenz bei starkem Nikotinkonsum und zur Entwöhnung von Menschen mit Alko- holabhängigkeit kommen daher heute immer häufi ger pharmakotherapeutische Ansätze zum Einsatz. Ob es in diesem Zusammenhang Wirkstof- fe gibt, die Betroff ene mit beiden Suchter- krankungen bei einer nachhaltigen Ent- wöhnung unterstützen könnten, bleibt Ge- genstand aktueller Forschung. Lara Ray und ihrer Arbeitsgruppe wollten nun wissen, wie sich die Kombination der Wirkstoff e Va- reniclin und Naltrexon im Vergleich mit einer Vareniclin-Monotherapie auf Nikotin- abstinenz und Reduktion der Trinkmenge bei Personen mit Nikotin- und Alkoholmiss- brauch auswirken könnte, und haben eine randomisierte Phase-2-Studie zum Thema durchgeführt. Die Untersuchung fand über 26 Wochen statt, geeignete Probandinnen/Probanden sollten die folgenden Kriterien erfüllen: Suchttherapie 2022 ; 23 : 5–6 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 5

Drogen-Steckbrief Opium ▶ Abb. 1 zeigt die Strukturformel des Morphins, dem wichtigsten Wirkstoff des Opiums, sowie die Anwendungsarten und handelsüblichen Formen von im Opium enthaltenen Morphinen. Substanz Rohopium wird aus dem Saft, der durch Rit- zen aus den unreifen Kapseln des Schlaf- mohns (Papaver somniferum) hervortritt, gewonnen ( ▶ Abb. 2 ). Opium war im alten Ägypten und im alten Orient bereits be- kannt. In der griechisch-römischen Antike wurde es medizinisch angewendet. Mögli- cherweise enthielt ein in der Odyssee von Homer beschriebener Saft („Nepenthes“), mit dessen Hilfe Trauer und Angst gelindert werden, unter anderem auch Opium. Opi- umpfeifen wurden schon 1200 v. Chr. ab- gebildet und in früheren Kulturen lassen sich eine Menge Referenzen über die An- Opium CH3 N HO O OH Morphin Anwendungsarten: oral Rauchen Handelsübliche Formen: Rohmasse Synonyme: Opi, Gartenmohn, Magan wendungsmöglichkeiten und Heilwirkun- gen von Opium fi nden. Verwendung in der Medizin In der griechisch-römischen Antike wurde Opium medizinisch, z.B. zur Schmerzstil- lung und als Einschlafhilfe verwendet. Diese Tradition wurde dann in Europa durch die Wirren der Völkerwanderung unterbro- chen. Hier wurde Opium erst wieder popu- lär, als die Kreuzritter es zusammen mit Sei- denstoff en, Gewürzen und Seife aus dem Orient mitbrachten. In der Renaissance wurde Opium sehr viel benutzt. Paracelsus (1493–1541), ein Arzt der frühen Neuzeit, entwickelte Laudanum, eine Trink-Mixtur unter anderem aus Opium. Insgesamt wurde Opium als Heilmittel wie auch zur Beeinfl ussung der Stimmung seit historisch fassbaren Zeitaltern verwendet. Verwendung als Droge 1773 führten englische Kaufl eute erstmals Opium, das in Indien, einer englischen Ko- lonie, produziert wurde, nach China ein. Von dem Ertrag kauften die Engländer insbesondere chinesischen Tee und andere in Europa beliebte Luxuswaren. In der Fol- gezeit entwickelte sich eine epidemische Opium abhängigkeit in China. Als die chine- sische Regierung versuchte, mit Einfuhrbe- schränkungen für Opium des Problems ▶ Abb. 1 Strukturformel des Morphins, dem wichtigsten psychotropen Wirkstoff des Opiums, Anwendungsarten und handelsübliche Formen. ▶ Abb. 2 Getrocknete Samenkapseln des Schlafmohns (Mitte), Rohopium im Block (links) und Rauchopium in Stäbchenform (rechts). Herr zu werden, erzwangen die Engländer in den sogenannten Opiumkriegen mit Waffengewalt die fortgesetzte Lieferung nach China (Erster Opiumkrieg 1839–42). Bei Machtantritt der Kommunisten in China (1949) sollen 10–20 Mio. Chinesen opium- abhängig gewesen sein. Parallel nahm allerdings auch in Europa der Konsum von Opium bzw. Laudanum deut- lich zu. Dies betraf insbesondere den mas- senhaften Konsum in England, das als Ko- lonialmacht einfachen Zugang zu Opium hatte. Für englische Arbeiter soll im 19. Jahrhundert Laudanum preiswerter gewe- sen sein als Gin. Diente der Opiumkonsum in der Arbeiterschaft der Linderung der Mühsal schwer erträglicher Lebens- und Ar- beitsverhältnisse, wurde Opium von der höheren Gesellschaft als Heilmittel mit breiter Indikation eingenommen. Wie bei der heutigen Einnahme von opiathaltigen Schmerzmitteln dürften hierbei zum einen nachvollziehbare medizinische Indika- tionen bestanden haben, zum anderen dürfte die Manipulation des seelischen Befi ndens der eigentliche Grund der Ein- nahme gewesen sein. Im 19. Jahrhundert wurde zudem die Opiumkur zur Behand- lung depressiver Erkrankungen entwickelt, eine der ersten systematisch beschriebe- nen psychopharmakologischen Therapien. Unter den bedeutenden Schriftstellern des 19. und 20. Jahrhunderts finden sich Opium konsumenten und -abhängige, wie z.B. Edgar Allan Poe, Samuel Coleridge, Klaus Mann und Jean Cocteau. Lesenswert bis heute sind die „Bekenntnisse eines eng- lischen Opiumessers“ von Thomas de Quincey (1785–1859). Dieser beschreibt darin eindrücklich die Entwicklung seiner Opiumabhängigkeit, die z. T. überwältigen- den psychotropen Wirkungen des Opiums und seine verzweifelten Versuche, den Opi- umkonsum wieder unter Kontrolle zu be- kommen. Übrigens gehören in seiner Be- schreibung zu den psychotropen Wirkun- Suchttherapie 2022 ; 22 : 7 – 9 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 7

(verkehrsfähige, aber nicht verschreibungs- fähige Betäubungsmittel). Autorinnen/Autoren Prof. Dr. med. Norbert Scherbaum Korrespondenzadresse LVR-Klinikum Essen Kliniken und Institut der Universität Duisburg-Essen Klinik für abhängiges Verhalten und Suchtmedizin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Virchowstraße 174 45147 Essen norbert.scherbaum@lvr.de Zitierweise für diesen Artikel Dieses Buchkapitel wurde erstveröff entlicht in: Scherbaum N. Das Drogentaschenbuch. 6. Aufl . Stuttgart: Thieme; 2019: 146 − 151. Bibliografie Suchttherapie 2022 ; 23 : 7 – 9 DOI 10.1055/a-1295-7145 ISSN 1439-9903 © 2022. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Wussten Sie schon? Sie können Thieme Fach- wissen auch online lesen. Ein Online-Regal für alle Thieme Bücher und Zeitschriften Lesen Sie mehr als 1500 Fachbücher und Informationen rund um die Uhr Nutzen Sie Thieme Fachwissen wo und wann Bequeme Recherche Gelangen Sie dank Volltext- indizierung, Suchmaschinen- optimierung und Verlink- ungen schnell an relevante BUCHEMPFEHLUNG Diesen Beitrag sowie eine ausführli- che Darstellung weiterer psychotro- per Substanzen inklusive zusätzlicher Informationen zu gesetzlichen Grundlagen erhalten Sie in „Das Drogentaschenbuch“ von Norbert Scherbaum. Das Drogentaschenbuch Norbert Scherbaum 6. unveränderte Aufl age 2019 232 S., 69 Abb. ISBN: 9783132431829 Interessenkonflikt N. Scherbaum hat für Tätigkeiten in Advisory Boards, Vortragstätigkeiten und die Erstellung von Manuskripten und Weiterbildungsmaterial Honorare von den Firmen Abbvie, Camurus, Hexal, Janssen- Cilag, Lundback, MSD, Medice, Mundiphar- ma, Reckitt-Benckiser/Indivior und Sanofi -Aventis erhalten. Er hat außerdem an Medikamentenprüfungen teilgenom- men, die von der pharmazeutischen Industrie fi nanziert wurden. www.thieme-connect.de Suchttherapie 2022 ; 22 : 7 – 9 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 9

Schwerpunktthema Substanzkonsum – Sucht – Gewalt: Zusammenhänge, Risiken, Prävention Substance Abuse – Addiction – Violence: Interconnections, Risks, Prevention Autor Michael Klein Institut Deutsches Institut für Sucht- und Präventionsforschung (DISuP) der Katholischen Hochschule NRW, Köln Schlüsselwörter Sucht , Substanzmissbrauch , Alkohol , Drogen , Gewalt , Prävention , Behandlung Key words addiction , substance abuse , alcohol , violence , prevention , treatment 10.1055/a-1726-0157 1439-9903 Bibliografi e Suchttherapie 2022 ; 23 : 11 – 17 DOI ISSN © 2022 . Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag , Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Korrespondenzadresse Prof. Dr. Michael Klein Katholische Hochschule NRW (Katho) Deutsches Institut für Sucht- und Präventionsforschung (DISuP) Wörthstraße 10 D-50668 Köln Mikle@katho-nrw.de ZUSAMMENFASSUNG Zwischen Substanzkonsum und Gewaltverhalten besteht ein enger Zusammenhang, der durch Schlüsselsituationen, verän- derte Risikowahrnehmung und -beurteilung sowie verminder- te Aggressionshemmungen gekennzeichnet ist. Zu den aktu- ellen Konzepten zur Einschätzung des Zusammenhangs zwischen Substanzkonsum und Gewalt zählt das I3-Modell, das die Faktoren Anstiftung, Schlagkraft und Hemmung in einen Zusammenhang zwischen der konsumierenden Person und der Risikosituation bringt. Inzwischen liegen Programme zur Prä- vention und Intervention bei suchtmittelassoziierter Gewalt vor, wie z. B. TAVIM, die im Behandlungssystem stärkere Ver- ankerung erfahren sollten. ABSTR AC T There is a close relationship between substance abuse and vio- lent behavior that is characterized by cue situations, enhanced risk perception and evaluation, and reduced aggression inhibi- tion. One of the most inspiring models concerning the inter- connection of substance abuse and violence is the I3-model. Hereby the factors instigation, impellance, and inhibition are considered concerning the interconnection between the sub- stance user and the risk situation. Until today, there are fi rst promising programs for the prevention and treatment of sub- stance induced violent behavior. These programs, e. g. TAVIM, should be regularly integrated in substance abuse treatment programs. Sozialhistorische Einleitung Es ist schon lange bekannt, dass Alkohol- und Drogenkonsum eng mit Gewaltverhalten, aber auch mit dem Erleiden von Gewalt zu- sammenhängen [ 1 , 2 ] . Übermäßiger Alkoholkonsum stellt einen gewichtigen potentiellen Risikofaktor für hyperaggressives Verhal- ten dar [ 3 ] . Der enge räumliche und zeitliche Zusammenhang zwi- schen Alkoholtrinken, insbesondere Alkoholintoxikation, und ag- gressivem Verhalten im Sinne einer Risikoerhöhung und -verdich- tung hat sich in einer Vielzahl von experimentellen Studien und Felduntersuchungen bestätigen lassen (siehe zusammenfassend [ 3 , 4 ] ). Magnus Huss schrieb schon 1852 in seinem Standardwerk „al- coholismus chronicus“: „Der Mordtrieb …, in welchem eine unwi- derstehliche Begierde zu morden den Säufer dergestalt ergreift, dass er gegen das bessere Wissen die Handlung begeht, nach Voll- bringung derselben aber die grösste Betrübnis über die That an den Tag legt. Mitunter ist es ihm ganz gleichgültig wen er angreift, mit- unter ist es aber eine gewisse Person, welche er zu morden beab- sichtigt. Man hat Beispiele von Säufern, welche auf diese Weise ihre Frauen, Kinder, Eltern u.s.w. mordeten; oft behaupten sie, wenn sie wieder zur Besinnung gekommen sind, dass eine Hallucination, eine Vision, gewöhnlich ein böser Geist sie zu der That gezwungen oder Klein M. Substanzkonsum – Sucht –... Suchttherapie 2022 ; 23 : 11 – 17 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 11

gewaltigung und sexuelle Nötigung 26,0 %; gefährliche und schwe- re Körperverletzung 30,1 %; Totschlag 31,3 % und Körperverletzung mit Todesfolge 34,3 %. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) zeigt regelhaft eine Zunahme der Alkoholintoxikation mit zunehmender Gewaltdeliktschwere. Von allen Tatverdächtigen unter Alkoholein- fl uss ist bei Männern zwischen 18 und 24 Jahren die Alkoholintoxi- kationsquote mit 14,6 % in Bezug auf alle Delikte am höchsten. Bei Straßenverkehrsunfällen sinkt die Alkoholisierungsquote zwar seit Jahren, ist aber mit 4,3 % von allen Unfällen mit Personenschäden und 7,4 % aller tödlichen Unfälle im Straßenverkehr immer noch hoch (Stand: 2015 [ 16 ] ). Reviews der empirischen Befunde zu den Zusammenhängen zwischen Alkoholkonsum und interpersonaler Gewalt zeigen, dass sowohl Täter als auch Opfer von Gewaltdelikten häufi ger zum Tat- zeitpunkt unter Alkoholeinfl uss stehen [ 17 , 18 ] . Auch ergeben sich immer wieder Hinweise auf die Bedeutung zunehmender Intoxika- tion für die Schwere der Delikte und ihrer Auswirkungen, wenigs- tens bis zu einem bestimmten Intoxikationsgrad, der bei Alkohol meist – je nach erworbener Toleranz auf Täterseite – bis zu ca. 3 Promille BAK betragen kann [ 19 ] . Die einschlägigen Arbeiten be- ziehen sich dabei auf häusliche Gewalt und Gewalt im öff entlichen Raum [ 20 ] , zunehmend aber auch auf sexuelle Gewalt in beiden Kontexten [ 21 ] . Der Alkohol- und Drogenkonsum auf Täter- und Opferseite kann dabei auf Selbstauskünften oder objektiven Messungen, falls es zu einer Deliktverfolgung im polizeilichen Kontext kommt, beruhen. Studien, die selbstberichteten Konsum mit Gewaltverhalten in Zu- sammenhang bringen, gelangen typischerweise zu dem Ergebnis, dass diejenigen Personen, die für einen defi nierten Zeitraum (meist im letzten Jahr) starken Alkoholkonsum berichten, auch in stärke- rem Maße in Gewaltvorkommnisse verwickelt sind. Und dies als Täter wie auch als Opfer. Dabei kommt Episoden sehr starken Alko- holkonsums eine besondere Bedeutung für das Auftreten von Ge- walterfahrungen zu [vgl. [ 17 , 22 ] ]. Das Gewaltrisiko steigt auch mit der Berauschungshäufi gkeit [ 23 – 25 ] . assoziierter Gewalt hingearbeitet werden, zumal eine entsprechen- de Befragung von Einrichtungsleitern ergab, dass interpersonelle Gewalt bislang nur unzureichend thematisiert wird [ 28 ] . Gewaltverhalten als Form antisozialen Verhaltens Merksatz Bei Suchtkranken ist die Komorbidität mit antisozialen Störungen besonders hoch. Der Missbrauch psychotroper Substanzen ist in hohem Maße mit antisozialem Verhalten insgesamt verquickt, so dass neben physi- scher Gewalt auch andere Formen dysfunktionalen Interaktions- verhaltens berücksichtigt werden sollten. Hierzu zählen vor allem emotionale Gewalt, psychische Misshandlung, chronisches Schrei- en und Formen sexueller Nötigung und Gewalt. Von allen Substan- zen hat dabei Alkohol sowohl in quantitativer als auch in qualita- tiver Hinsicht die größte Bedeutung. Gerade bei männlichen Alko- holabhängigen sind immer wieder hohe Komorbiditätsraten mit antisozialen Störungen gefunden worden. Repräsentative epide- miologische Studien zeigen eine Komorbidität zwischen Alkohol- abhängigkeit und Antisozialer Persönlichkeitsstörung (ASP) von 38 % [ 29 ] . Funktionalität des Alkoholkonsums Der funktionale Einfl uss psychoaktiver Substanzen auf das Gewalt- verhalten kann als auslösender oder erleichternder Faktor („trig- ger“) angesehen werden. Alkohol weist dabei über verschiedene Wirkkonsequenzen entscheidende Funktionalitäten zur Auslösung antisozialen Verhaltens auf. Dazu gehören insbesondere die Hem- mung von Ängsten, die Einschränkung der Wahrnehmung und die Stimulation psychomotorischer Funktionen [ 30 ] . Merksatz Starke Trinker und Suchtkranke weisen das höchste Risiko für Gewaltverhalten auf. Merksatz Substanzwirkungen sind Auslöser und Trigger für Gewaltverhalten Das Gewaltrisiko ist unter starken und häufi gen Trinkern und Alko- holabhängigen am höchsten. Sie machen jedoch nur einen kleine- ren Anteil an allen Alkoholkonsumenten aus. Dies bedeutet auch, dass starke Trinker einen überproportionalen Anteil an allen Ge- waltdelikten begehen. Dennoch sind, auf die Gesamtbevölkerung bezogen, mit Alkohol in Verbindung stehende Gewaltdelikte mehr- heitlich nicht auf Extremkonsumenten, sondern auf gemäßigte Trinker zurückzuführen [vgl. [ 26 , 27 ] . Dieser Umstand hat Implika- tionen für die praktische Prävention, die – auch unter Gesichts- punkten der Reduktion von Gewaltvorkommnissen insgesamt – daher nicht alleine auf starke Trinker ausgerichtet werden sollte. Dies bedeutet, dass sich alkoholassoziierte Prävention smaßnahmen vor allem an die Gesamtbevölkerung und nicht nur an die Alkoho- labhängigen richten müssen. Andererseits sollte im Suchtbehand- lungskontext stärker auf die Prävention und Behandlung alkohol- Die kriminologische Analyse von Gewaltakten bei Vorliegen einer Alkoholintoxikation zeigt, dass oft ein verbaler Streit – bestehend aus Beschimpfungen, Drohungen und Einschüchterungen – der Ausübung physischer Gewalt vorausgeht. Dem folgt eine mehr oder weniger schnelle Eskalation, die dann über körperliche Enthem- mung schließlich zu physischer Gewalt führen kann. Entscheidend ist oft, dass die alkoholisierte Person sich provoziert fühlt, was ge- rade als ein Resultat der veränderten kognitiven Funktionen unter dem Substanzeinfl uss anzusehen ist. Höhere Alkoholdosen gehen dabei mit einem stärker aggressiven Reagieren auf Provokationen einher [ 4 ] . Das Opfer beginnt die verbale Auseinandersetzung ebenso oft wie der alkoholintoxikierte Täter oder die Täterin. Aller- dings ist es die alkoholintoxikierte Person, die häufi ger eine Eska- lation der Auseinandersetzung beschleunigt [ 31 ] . Klein M. Substanzkonsum – Sucht –... Suchttherapie 2022 ; 23 : 11 – 17 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 13

Therapieansätze für Gewaltprobleme bei Alkoholabhängigen Um die Eff ektivität von Suchttherapien weiter zu verbessern, ist die obligatorische Integration des Themas Gewaltverhalten bzw. ge- nereller Formen und Risiken antisozialen Verhaltens in entspre- chende Therapiekonzepte unerlässlich. Während schon seit Jahren die Rolle der Opfer von Gewalttaten (z. B. im Bereich des sexuellen Missbrauchs bzw. der sexuellen Misshandlung) zu Recht themati- siert wird, stellt die Behandlung des Gewalttäters oder der Gewalt- täterin ein anscheinend viel größeres Tabu für die Praxis dar. Dabei sind viele Gewalttäter selbst in ihrer Kindheit Opfer von Misshand- lung und Vernachlässigung geworden. Erste Therapieansätze, die auf den Zusammenhang zwischen Alkoholabhängigkeit und Ge- waltverhalten fokussieren, liegen inzwischen vor [ 36 , 37 ] . Die ent- sprechenden Behandlungen geschehen in Deutschland vereinzelt in Entwöhnungseinrichtungen, aber auch im Rahmen des Straf- und Maßregelvollzugs. Merksatz Gewohnheitsmäßiges Gewaltverhalten unter Substanzeinfl uss sollte in jeder Suchttherapie thematisiert und behandelt werden. Aus bisher vorliegenden fremdanamnestischen Daten lässt sich schlussfolgern, dass in jeder dritten alkoholbelasteten Familie ein schwerwiegendes Gewaltproblem vorliegt [ 38 ] . Selbstauskünfte der Gewalttäter mit Alkoholproblem sind dagegen seltener zu fi n- den. Suchthilfeeinrichtungen sollten routinemäßig Gewalterfah- rungen in Anamnese und Behandlung der Suchtkranken erheben und berücksichtigen. Über Selbst- und Fremdauskünfte kann eine valide Einschätzung zum Umfang des Problems gewonnen werden. Die klinische Beschäftigung mit dem Thema soll eine größere Be- reitschaft und Motivierung bei Therapeuten und Patienten zur Be- rücksichtigung des Tabuthemas „Gewaltverhalten im Kontext von Alkohol- und Drogenabhängigkeit“ erzeugen. Hintergrund und An- lass der Beschäftigung mit dem Thema ist auch das Streben, Ver- haltensrückfälle im aggressiven Bereich – alleine oder in Kombina- tion mit Alkoholrückfällen – unwahrscheinlicher zu machen. Als Folgewirkung einer eff ektiveren Bearbeitung von Gewaltproble- men bei Alkoholabhängigen kann davon ausgegangen werden, dass weniger Personen im Umfeld – Partner und Kinder insbeson- dere – schwere Traumatisierungen erleiden, die sie wiederum be- sonders vulnerabel für Suchtstörungen machen [ 39 ] . Suchtkranke sind je nach Persönlichkeit und Entwicklung oft ag- gressiv über- bzw. unterkontrolliert und brauchen dementspre- chend unterschiedliche Hilfeangebote. Die Überkontrollierten sol- len die Fähigkeit erlernen, sich ohne Alkohol- und Drogeneinfl uss angemessen zu behaupten, während sich die Unterkontrollierten mehr Impuls- und Verhaltenskontrolle in frustrierenden Situatio- nen aneignen sollen. Die Selbstbehauptung der Überkontrollierten kann verbal und nonverbal geschehen, so dass sie sich ohne aggres- siv – gewalttätige Durchbrüche Respekt verschaff en. Nolting [ 40 ] listet folgende verhaltenspsychologische Methoden der eff ektiven Aggressionskontrolle auf: 1. Die Veränderung der Anreger bzw. Auslöser für Aggressionen. 2. Eine alternative Bewertung der Anreger für aggressives Ver- halten (z. B. durch kognitive Umstrukturierung). 3. Die Förderung der Aggressionshemmungen. 4. Die Förderung der Alternativen zu aggressivem Verhalten. Zu allen Ansätzen liegen Evidenzen zur Wirksamkeit bei Probanden mit Aggressionskontrollproblemen vor. Die Übertragbarkeit auf al- koholintoxikierte Personen muss jedoch noch experimentell und klinisch überprüft werden. Schließlich sind seit den 1990er-Jahren integrative Ansätze unter dem Stichwort „Anti-Aggressivitäts-Training“ (AAT) für Ge- walttäter [ 41 ] in den USA entwickelt und in Deutschland adaptiert worden. Inzwischen sind diese an vielen Standorten in Deutschland etabliert. Mit dem AAT werden Gewalttäter im Strafvollzug behan- delt. Dass diese häufi g auch unter Alkoholeinfl uss straff ällig wur- den, liegt leider nicht im Fokus des Programms. Im Zentrum des multimethodalen Trainings stehen konfrontative, erlebnisaktivie- rende und kognitive Verfahren. Das europäische TAVIM-Behandlungsprogramm für alkoholabhängige, gewalttätige Männer Zu den wenigen, speziell für Männer mit Gewaltproblemen, entwi- ckelten Behandlungsprogrammen zählt das europäische TAVIM- Programm („Treatment of Alcoholic Violent Men“), das zwischen 2006 und 2010 in vier EU-Staaten (Deutschland, Großbritannien, Österreich und Lettland) entwickelt und evaluiert wurde [ 37 ] . TAVIM umfasst Elemente aus dem Bereich der Psychoedukation, der kognitiven Verhaltenstherapie, dem Motivational Interviewing sowie aus dem Psychodrama und der Familientherapie. Der Schwer- punkt der Behandlung liegt darauf, dem Suchtkranken die Verant- wortlichkeit für sein Verhalten zu verdeutlichen und ihm Möglich- keiten der Kontrolle gegenüber Rückfälligkeit bzw. des alternativen Verhaltens nahe zu bringen. Merksatz Für die Behandlung suchtkranker Gewalttäter empfehlen sich integrative verhaltenstherapeutische Programme. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die Struktur des TAVIM- Behandlungsprogramms sowie über den Aufbau und die wichtigs- ten Inhalte der einzelnen Sitzungen gegeben werden. Das Pro- gramm besteht aus zehn Gruppen- und vier Einzelsitzungen. Jede der zehn Gruppensitzungen umfasst folgende Elemente: 1. Begrüßung und „Konfl iktlösungscheck“ Der Konfl iktlösungscheck wird zu Beginn jeder Sitzung durchgeführt, indem die Teilneh- mer darum gebeten werden, Beispiele für relevante Konfl ikte zu nennen, die sich seit der letzten Sitzung ereignet haben. Diese Bespiele sollen von den Teilnehmern (detailliert) hinsichtlich Gefühlen, Gedanken, Copingverhalten und auch dysfunktiona- len Copingstrategien beschrieben werden. Das wichtigste Ziel des Konfl iktlösungschecks ist es, einen Einblick in das Selbstma- nagement-Verhalten des Teilnehmers zu erlangen, wobei der Schwerpunkt auf der Identifi kation von erfolgreichen Kontroll- methoden liegt, um die Selbstwirksamkeit der Patienten zu erhöhen. 2. Evaluation der letzten Wochenaufgabe 3. Vorstellung und Behandlung der neuen Sitzungsinhalte Klein M. Substanzkonsum – Sucht –... Suchttherapie 2022 ; 23 : 11 – 17 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 15

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Einleitung In der westlichen Welt hat sich in den letzten 50 Jahren der gesell- schaftliche Diskurs über Gewalt in Beziehungen bzw. häusliche Ge- walt ebenso verändert wie der über den Umgang der Geschlechter mit Alkohol und anderen psychoaktiven Substanzen. Gewalt in Partnerschaften, also von Menschen, die miteinander leben oder gelebt haben, steht heute unter Strafandrohung. Damit verbunden ist die Erwartung, dass diese Menschen Konfl ikte und Streitereien ohne die Drohung mit Gewalt und ohne körperliche Angriff e lösen. Verändert haben sich auch die Normen, die den Umgang von Män- nern und Frauen mit Alkohol und anderen psychoaktiven Substan- zen regeln: der Konsum von Frauen z. B. von Alkohol ist in gewissen Grenzen heute akzeptiert. Erwartet wird jedoch auch, dass sie sich im Unterschied zu Männern deutlich mehr zurückhalten. Sie soll- ten also weniger konsumieren, weil sie sonst die Kontrolle über sich verlieren und sich „unpassend“ verhalten könnten. Werden sie be- trunken, können sie leicht zu Opfern von sexuellen Übergriff en wer- den [ 1 , 2 ] . Zudem werden sie meist noch für das, was ihnen im an- getrunkenen oder auch betrunkenen Zustand geschehen ist, ver- antwortlich gemacht, und das auch dann, wenn es dabei gewaltsam zugegangen ist („blaming the victim“ [ 3 ] ). Am Beispiel Alkoholkon- sum und Alkoholrausch zeigt sich besonders deutlich, dass für Män- ner noch immer etwas andere Normen und Regeln gelten als für Frauen. Die Forschung belegt mittlerweile sehr gut, dass das Risiko von Ge- walttätigkeiten in Gruppen und in Partnerschaften 1 zunimmt, wenn Personen unter dem Einfl uss von Alkohol und anderen (stimulie- renden) psychoaktiven Substanzen stehen oder unter akuten Ent- zugserscheinungen leiden (exemplarisch [ 4 ] ). Es liegt daher nahe, die Daten zu Gewalttätigkeiten in Partnerschaften genauer zu un- tersuchen, ebenso die Verknüpfungen mit riskanten und abhängi- gen Mustern des Konsums von Alkohol und anderen psychoaktiven Substanzen. Darüber hinaus soll kurz auf die Angebote der Sucht- hilfe für Opfer von Partnerschaftsgewalt und für Täter:innen ein- gegangen werden. Gewalttätigkeiten in Partnerschaften – komplexe Zusammenhänge Konfl ikte in Partnerschaften sind normal; wir sind gehalten, zu ler- nen, diese verbal zu lösen. Daran halten sich auch viele Menschen, aber nicht alle. Darüber geben Daten zur Partnerschaftsgewalt Aus- kunft, die die Polizei aufgrund von Anzeigen sammelt. Es handelt sich dabei um Hellfelddaten, also um solche, die öff entlich verhan- delt werden. Wie man weiß, werden jedoch nicht alle Gewalttätig- keiten, die zwischen Partnern, die aktuell zusammenleben oder die früher eine Partnerschaft gebildet haben, angezeigt. Es gibt also ein Dunkelfeld, das nur durch Befragungsstudien aufzudecken ist. Sowohl bei der Ermittlung der Hellfeld- wie der Dunkelfelddaten kann zusätzlich erhoben werden, ob eine oder mehrere Parteien, die in die Gewalttätigkeiten verwickelt waren, unter dem Einfl uss von Alkohol oder anderen Drogen gestanden haben. Auf die Ergeb- 1 Der Begriff : Partnerschaftsgewalt bezieht sich auf aktuelle und frühere Partnerschaften. Gewalt in Partnerschaften wird synonym mit dem Be- griff häusliche Gewalt verwendet. nisse einer Reihe von Studien zur Partnerschaftsgewalt wird im Fol- genden genauer eingegangen. Die Hellfelddaten, die vom Bundeskriminalamt gesammelt, ausge- wertet und veröff entlicht werden [ 5 , S. 1], beziehen sich auf fol- gende Straftatbestände: Mord und Totschlag (ohne Tötung auf Ver- langen); gefährliche Körperverletzung; schwere Körperverletzung; Körperverletzung mit Todesfolge; vorsätzliche einfache Körperver- letzung; (angepasst) sexueller Übergriff , sexuelle Nötigung, Verge- waltigung; (ab Berichtsjahr 2017) Bedrohung, Stalking, Nötigung (psychische Gewalt); (ab Berichtsjahr 2017) Freiheitsberaubung; (ab Berichtsjahr 2017) Zuhälterei; (ab Berichtsjahr 2017) Zwangs- prostitution. ▶ Tab. 1 weist für das Jahr 2019 aus, dass der Polizei 118 176 Täter:innen im Zusammenhang mit Partnerschaftsgewalt bekannt geworden sind. In 79 % der Fälle ist die Gewalt von einem Mann ausgegangen, in 21 % der Fälle von einer Frau. Nicht ausgewiesen ist, ob es sich um Gewalttätigkeiten in heterosexuellen oder in homosexuelle Part- nerschaften gehandelt hat. Die Zahl der Opfer von Partnerschafts- gewalt ist mit 141 792 Fällen höher als die Zahl der männlichen und weiblichen Täter. Gewalttätigkeiten in Partnerschaften beginnen im Jugendalter und ziehen sich über das ganze Leben hin. Die An- zeigen bei der Polizei erreichen im Alter von 30 bis 39 Jahren einen Höhepunkt, fl achen zwischen 40 und 49 Jahren etwas ab und sin- ken ab dem 60. Lebensjahr stark ab. Das gilt sowohl für Täter:innen als auch für Opfer. Die Hellfelddaten weisen also darauf hin, dass in der Altersspanne zwischen 30 und 50 Jahren die Anzeigenbereit- schaft besonders hoch ist. Das legt den Schluss nahe, dass in dieser Altersspanne auch die Partnerschaftsgewalt besonders hoch ist. Bezogen auf die Gesamtzahl der Täter:innen (N = 118 176) liegt der Anteil derjenigen, die unter dem Einfl uss von Alkohol standen, bei 24 %. Betrachtet man diese Untergruppe genauer (N = 27 915), dann stehen 82 % der Männer und nur 18 % der Frauen unter dem Einfl uss von Alkohol, wenn sie zuschlagen. Daten zu anderen Dro- gen liegen hier nicht vor. Bezogen auf die Zahl der Männer als Täter (N = 93 873) stehen ca. ¼ unter dem Einfl uss von Alkohol und bei den Frauen (N = 24 303) ca. 1/5. Bei den Opfern fi nden sich andere Verteilungen. Nach den BKA-Daten stehen nur 1924 Opfer unter dem Einfl uss von Alkohol oder anderen Drogen, also nur 1,4 % aller Opfer. Von diesen sind nur 489 (25 %) männlich, aber 1435 (75 %) weiblich. Bezogen auf die Zahl der Männer als Opfer (N = 26 889) stehen nur 1,8 % und bei den Frauen sogar nur 1,2 % unter dem Ein- fl uss von Alkohol oder anderen Drogen. Die Hellfelddaten weisen darauf hin, dass die Opfer von Partnerschaftsgewalt überwiegend „nüchtern“ sind und in ihrer Mehrzahl zum Zeitpunkt der Meldung bei der Polizei wohl kein Suchtproblem hat. In Fällen von Partnerschaftsgewalt, die der Polizei bekannt werden, stehen demnach manche Täter und einige Täterinnen unter dem Einfl uss von Alkohol und einige wenige männliche und etwas mehr weibliche Opfer ebenfalls unter dem Einfl uss von Alkohol oder an- deren Drogen, die allermeisten Täter:innen und Opfer aber nicht. Zudem gibt es Deliktbereiche wie sexuelle Nötigung, Vergewalti- gung usw., die fast ausschließlich Frauen als Opfer treff en. „In den Deliktsbereichen Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, bei der Freiheitsberaubung oder im Bereich Bedrohung, Stalking, Nötigung ist der prozentuale Anteil weiblicher Opfer an allen Opfern von Part- nerschaftsgewalt besonders hoch. Bei Zuhälterei und Zwangspro- Vogt I. Gewalttätigkeiten in Partnerschaften –… Suchttherapie 2022 ; 23 : 18 – 24 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 19

ich mir als Frau eher das Recht genommen habe, ne Ohrfeige zu geben, wahrscheinlich…“. „Ich war halt früher total aggressiv, da ging auch früher nix mit normal reden oder so. Wenn mir da irgendjemand blöd, wenn mir da irgendjemand auf den Keks gegangen ist, dann war es direkt vorbei. Also, vier Anzeigen wegen Körperverletzung, zwei Anzeigen wegen schwerer Körperverletzung. Eine Gerichtsver- handlung wegen schwerer Körperverletzung. Zwei Gerichtsver- handlungen wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Zwei Wochen U-Haft“. Geht es jedoch um sexuelle Gewalt, ergeben sich in allen Studien Geschlechterdiff erenzen: Danach triff t sexualisierte Gewalt in ers- ter Linie Frauen und Menschen, die sich als Frauen identifi zieren [z. B. 11 , 12 ] . Sie geht zudem in erster Linie von Männern und Men- schen aus, die sich als Männer identifi zieren. Fasst man die Ergebnisse der Hell- und Dunkelfeldstudien zusam- men, dann kommt man zu folgendem Ergebnis: Empirische Studi- en zeigen, dass es aggressives und gewalttätiges Verhalten gibt, das sowohl von Männern wie von Frauen ohne und mit Suchtprob- lemen ausgeübt wird wie z. B. den anderen schubsen, kneifen und knuff en oder eine leichte Ohrfeige austeilen usw. Auch hinsichtlich leichten verbalen Beschimpfungen und Demütigungen fi ndet man nur wenige Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Davon unterscheidet sich schwere körperliche Gewalt in Partner- schaften, die von manchen Männern und einer kleinen Gruppe von Frauen ohne und mit Suchtproblemen ausgeübt wird. Merke Sexualisierte Gewalt wird in der Regel von Männern ohne und mit Suchtproblemen in Partnerschaften (und auch außerhalb von Partnerschaften) ausgeübt. Opfer sind in erster Linie Frauen, aber auch andere Geschlechter. Im englischen Sprachraum ist gut belegt, dass das Risiko für häus- liche Gewalt steigt, wenn eine Person - in diesen Fällen der Aggres- sor, der häufi g männlich, aber in manchen Fällen auch weiblich sein kann - unter dem Einfl uss von Alkohol und anderen (stimulieren- den) Drogen steht [4, 10, S. 27ff , 13]. Zudem weisen mehrere Stu- dien darauf hin, dass die Schwere der Gewalt mit der Menge des Konsums bzw. mit der Stärke des Rausches zunimmt [ 13 ] . Sie zei- gen darüber hinaus, dass dies vor allem dann der Fall ist, wenn so- wohl Täter:innen und Opfer alkoholisiert sind oder andere Drogen genommen haben [ 14 ] . Da jedoch Menschen, insbesondere Frau- en, die Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind, zur schnellen Bewältigung ihrer (psychischen) Verletzungen oft psychoaktive Substanzen einsetzen [ 15 , 16 ] , sind sie besonders gefährdet, er- neut Opfer von häuslicher Gewalt zu werden [ 17 ] . Die Studie von Fazel et al. [ 18 ] zeigt, dass der Substanzkonsum bzw. die Substanz- abhängigkeit von Täter:innen wie von Opfern der wichtigste Risiko- faktor für häusliche Gewalt ist. Besonders gefährdet sind zudem Menschen, die in der Kindheit und Jugend vernachlässigt bzw. Opfer von psychischer, körperlicher und sexualisierter Gewalt geworden sind. Erst danach folgen Belastungen von Opfern und Täter:innen durch weitere psychische Störungen. Daten zu Frauen mit Suchtproblemen als Opfer von Partnerschaftsgewalt In Deutschland gibt es zurzeit keine repräsentative Studie zu Frau- en mit Suchtproblemen, die aktiv als Täterinnen Partnerschaftsge- walt ausgeübt haben oder Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind. Das liegt u. a. daran, dass die Thematik in der deutschen Suchtforschung bislang wenig berücksichtigt worden ist. Wohl auch darum wird z. B. im Deutschen Kerndatensatz 3.0 [ 19 ] , einem Instrument, mit dem Daten über Menschen erhoben werden, die ambulante, halbstationäre und stationäre Angebote der Suchthil- fe in Anspruch nehmen, nur unverbindlich nach Gewalterfahrun- gen gefragt. Einrichtungen, die sich an diesen Datenerhebungen beteiligen, sind also nicht gehalten, ihre Klientel danach zu fragen, ob es in ihren Partnerschaften zu Gewalttätigkeiten gekommen ist, wie häufi g das vorgekommen ist, wer wen angegriff en und verletzt hat und welche Folgen das für das weitere Zusammenleben hatte. Es liegen daher nur Ergebnisse von Einzelstudien aus einigen statio- nären Einrichtungen [z. B. 20 ] und von qualitativen Befragungen [ 10 ] vor. Die Einzelstudien zu Gewalterfahrungen im Leben von Frauen mit Suchtproblemen konzentrieren sich auf die Opferperspektive. Die Daten in ▶ Tab. 2 beruhen daher auf groben Schätzungen des An- teils von Frauen ohne und mit Suchtproblemen, die Opfer von Part- nerschaftsgewalt geworden sind. Die Schätzungen weisen darauf hin, dass die Belastungen von Frau- en mit Suchtproblemen mit häuslicher Gewalt im Vergleich mit Frauen, die keine Suchtprobleme haben, sehr hoch sind. Das hat zusätzliche negative Folgen für ihre Gesundheit, denn Gewalttä- tigkeiten in Partnerschaften haben neben körperlichen Verletzun- gen mit zum Teil dauerhaften Beeinträchtigungen auch psychische Auswirkungen. Zunächst handelt es sich dabei um akute Belas- tungsstörungen, oft gekoppelt mit Ängsten vor erneuten Gewalt- tätigkeiten [ 22 ] . In vielen Fällen entwickeln sich daraus Posttrau- matische Belastungsstörungen allein oder in Kombination mit an- deren psychischen Störungen wie Ängsten, Depressionen und Persönlichkeitsstörungen (z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörun- gen). Auf die Gefahr eines darauf folgenden exzessiven und schließ- ▶ Tab. 2 (18 Jahre und älter). Frauen als Opfer von Gewalttätigkeiten in Partnerschaften Gewalttätigkeiten Frauen ohne Suchtprobleme 1 Frauen mit Suchtproblemen 2 Schwere 3 körperliche Gewalt Sexuelle Gewalt 4 37 % 13 % 50–60 % 30–60 % 1 Ergebnisse der repräsentativen Studie von Müller und Schröttle [ 15]; 2 Klinische Stichproben [ 10 , 20 , 21 ] ; 3 als schwere körperliche Gewalt gelten u. a. folgende Handlungen: verprügelt und zusam- mengeschlagen, gewürgt bis zum Ersticken, mit Messer oder Waff e bedroht [für Einzelheiten vgl. 7, 15]; 4 Strafrechtlich relevante sexuelle Gewalt [ 5 ] . Vogt I. Gewalttätigkeiten in Partnerschaften –… Suchttherapie 2022 ; 23 : 18 – 24 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 21

Angebote in Einrichtungen nur für Frauen In einer Reihe von Einrichtungen nur für Frauen haben neben Fra- gen nach den allgemeinen Lebensumständen, nach der Entwick- lung der Suchtproblematik usw. auch Fragen nach Gewalttätigkei- ten in Partnerschaften ihren festen Platz. In den gut 30 Jahren, in denen es diese Einrichtungen gibt, hat sich ein immenser Erfah- rungsschatz angesammelt hinsichtlich der Ansprachen und der Hil- fen, die sich in der Behandlung von Frauen mit Suchtproblemen bewährt haben [z. B. 31 ] . Da es jedoch kaum empirische Studien zu der Arbeit in diesen Einrichtungen gibt, bleibt vieles auf der nar- rativen Ebene stehen. Wie verschiedentlich betont wird, haben sich die Einrichtungen für betreutes Einzelwohnen und vor allem die therapeutischen Wohngemeinschaften nur für Frauen bewährt. Frauen lernen dort, Vertrauen zu den Helferinnen und über diese hinaus zu ihren Mitbewohnerinnen aufzubauen. Sie lernen, dass es hilfreich ist, wenn man Regeln aufstellt und diese einhält. Sie er- fahren, dass ihre psychischen Probleme wahrgenommen und ernst genommen werden, dass sie über ihr eigenes Leid sprechen kön- nen und dass sie anderen zuhören können, wenn diese ihre Leidens- geschichten ausbreiten. Zur Arbeit an der Psyche kommt die Arbeit am Haushalt mit allen seinen schönen und weniger schönen Sei- ten. Eine kleine Studie belegt, dass die Arbeit in den Wohngemein- schaften nur für Frauen sehr erfolgreich sein kann [ 32 ] . Damit wei- tere Erfolge erzielt werden können, müssen die Projekte und Hil- fen, die von Einrichtungen nur für Frauen mit Suchtproblemen angeboten werden, wissenschaftlich untersucht werden. Nur auf diesem Wege können die Erfolge, die mit den Frauenprojekten er- reicht worden sind, sichtbar und nachvollziehbar gemacht werden. Vernetzungen der Suchthilfe mit der Frauenhausbewegung Neuere Aktivitäten setzen auf eine Vernetzung der Suchthilfe mit Frauenprojekten (Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen, Runde Tische, Arbeitskreise zur Einschränkung und Kontrolle von häusli- cher Gewalt usw.). Arbeitskreise bzw. „Runde Tische“ (im Internet z. B. unter Runde Tische gegen häusliche Gewalt oder über das BMFSFJ „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen) zur Prävention bzw. der Hilfen bei häuslicher Gewalt haben sich bereits etabliert, aller- dings sind die Fachkräfte der Suchthilfe bislang nur sporadisch ein- gebunden. Es ist geplant, die Runden Tische auf Länderebene fest zu etablieren und sie auf Bundesebene verbindlich zu vernetzen. Das bietet sich schon darum an, weil die Expertinnen und Experten verschiedener Berufsgruppen wie Mitarbeiterinnen von Frauen- häusern und Frauenberatungsstellen, Rechtsanwält:innen und Familienrichter:innen, Fachkräfte der Jugendhilfe sowie der Polizei usw. bereits viele Erfahrungen gesammelt haben. Dazu gehört die Entwicklung von eff ektiven Informationsweitergaben und von ers- ten Hilfen in Fällen von Partnerschaftsgewalt. Wenn die Fachkräfte der Suchthilfe in diese Arbeitskreise aktiv eingebunden wären, könnten weitergehende Konzepte zur Prävention von Sucht und häuslicher Gewalt entwickelt werden, ebenso für Hilfen für Frauen (und Männer) mit Suchtproblemen, die Opfer oder Täter:innen sind. In diese Richtung gehen regional angesiedelte Projekte zur Ver- netzung von Angeboten für gewaltbetroff ene Frauen (exempla- risch: Mitarbeiterinnen von Frauenhäusern) und Einrichtungen der Suchthilfe. Das Modellprojekt «Gewalt – Sucht – Ausweg» (GeSA) wurde in Mecklenburg-Vorpommern in der Zeit von 2015 bis 2018/2019 durchgeführt. Im Rahmen des Projekts haben sich 22 Partnerorganisationen aus der Stadt und dem Landkreis Rostock, dem Landkreis Vorpommern-Rügen und der Stadt Stralsund zu- sammengeschlossenen. Es ging und geht darum, vor Ort für Frau- en, die von häuslicher Gewalt und Sucht betroff en sind, ein Hilfe- netz aufzubauen bzw. das bestehende Hilfenetz entsprechend zu verbessern [ 33 , 34 ] . Auch sollen Leitlinien zu den Hilfen entwickelt werden, die für diese Frauen in der stationären Suchttherapie be- reitgestellt werden sollen. Ein ähnlich strukturiertes „Modellpro- jekt zur Verbesserung der Versorgung suchtkranker Frauen mit Ge- walterfahrungen“ wird gerade in Rheinland-Pfalz etabliert. Die Zu- kunft wird zeigen, welche Ergebnisse man mit den Modellprojekten erzielen kann. FA ZIT FÜR DIE PR A XIS Menschen mit Suchtproblemen sind überdurchschnittlich häufi g in Gewalttätigkeiten in Partnerschaften verwickelt. Die Suchthilfe sollte Täter:innen mit dem Thema Gewalt in Partnerschaften konfrontieren und edukative und andere Programme vorhalten, die zur Behandlung dysfunktionaler Verhaltensweisen und der zugrundeliegenden Störungen geeignet sind. Die Suchthilfe sollte für Opfer (alle Geschlechter) von Partnerschaftsgewalt Gruppen-Programme zur Behandlung von PTBS (z. B. „Sicherheit fi nden“) vorhalten. Darüber hinaus sollten für Menschen, die nicht mehr in gewalttäti- gen Partnerschaften leben, direkte Interventionen angebo- ten werden (z. B. Imaginations- und in-vivo-Konfrontations- Verfahren, ausführlich dazu das Programm COPE, vgl. [ 25 ] ). Zudem sollten die psychotherapeutischen Hilfen für die Opfer breiter angelegt sein und auch Ängste und Depressio- nen berücksichtigen [ 27 ] , die ebenfalls durch das Erleiden von Partnerschaftsgewalt ausgelöst bzw. verstärkt werden können. Die Suchthilfe sollte Menschen, die sich aus gewalttätigen Partnerschaften befreien wollen, gezielte Unterstützung und u.U. langdauernde Begleitung anbieten. Autorinnen/Autor Irmgard Vogt, PD, Dr. phil. Psychologin, bis 2009 Professorin an der Frankfurt University of Applied Sciences, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Drogenpolitik/Sucht/Gender/Behandlung; Frauengesund- heitsforschung; Beratung in der Sozialen Arbeit. Interessenkonflikt Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonfl ikt besteht. Vogt I. Gewalttätigkeiten in Partnerschaften –… Suchttherapie 2022 ; 23 : 18 – 24 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 23

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Schwerpunktthema Emotionsarbeit im Arbeitsfeld der niedrigschwelligen Drogenhilfe: Bedeutung und Gestaltung von Emotionsregulation in eskalativen Interaktionsprozessen mit der Einrichtungsklientel Emotional Labor in the Field of Low-Threshold Drug Work: Meaning and Design of Emotion Regulation in Escalative Interaction Processes with the Facility Clientele Autor Jürgen Fais Institut ParaVida – Institut für angewandte Gewaltprävention Schlüsselwörter Emotionsarbeit , niedrigschwellige Drogenhilfe , Emotions-Regulations-Modell Key words emotional labor , low-threshold drug work , emotion regulation model online publiziert 6.12.2021 10.1055/a-1694-1794 1439-9903 Bibliografi e Suchttherapie 2022 ; 23 : 25 – 32 DOI ISSN © 2021. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Korrespondenzadresse Jürgen Fais Mommsenstraße 4 50935 Köln fais@paravida.de www.juergenfais.de ZUSAMMENFASSUNG Die vorliegende Publikation befasst sich mit der Emotionsarbeit im Kontext der niedrigschwelligen Drogenhilfe. Zunächst wird das Emotions-Regulations-Modell nach Alicia Grandey vorgestellt, um dieses dann auf das Arbeitsfeld der nied- rigschwelligen Drogenhilfe zu übertragen. Zwei praktische Fall- beispiele veranschaulichen diese theoretischen Ausführungen. Dabei wird deutlich, dass sowohl die Klientel als auch die Mit- arbeiter in den Einrichtungen der niedrigschwelligen Drogen- hilfe Emotionsarbeit betreiben und dabei so manchen Widrig- keiten entgegenarbeiten müssen. So hat die Klientel unter anderem mit Traumata und deren Folgen oder dem Einfl uss psychoaktiver Substanzen zu kämpfen, während die Mitarbei- ter Emotionsanforderungen ( display rules ) der Organisation zu erfüllen haben sowie durch die permanente Konfrontation mit Leid und Elend häufi g Überforderungsreaktionen zeigen. Die entstehende kommunikative und emotionale Dysbalance muss durch Emotionsregulation von beiden Parteien immer wieder konfi guriert werden, um sich sicher und erfolgreich miteinander verständigen zu können. ABSTR AC T This paper is concerned with emotional labor in the context of low-threshold drug work. First, the emotion regulation model according to Alicia Grandey is presented, in order to transfer it to the fi eld of low-threshold drug work. Two practical case studies illustrate these theoreti- cal explanations. That makes clear that both the clientele and the employees in the facilities of low-threshold drug work have to do emotional labor and face many adversities. Among other things, the cli- ents have to cope with trauma and its consequences or the infl uence of psychoactive substances, while the employees have to fulfi ll the emotional requirements (display rules) of the organization and often show excessive reactions due to the permanent confrontation with suff ering and misery. The resulting communicative and emotional dysbalance must be configured over and over again by both parties through emotional labor in order to be able to communicate with each other safely and successfully. Fais J. Emotionsarbeit im Arbeitsfeld der … Suchttherapie 2022 ; 23 : 25 – 32 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 25

Hochschilds beschreibt insbesondere die berufsspezifi schen Anforde- rungen der Beschäftigten, wogegen die Herstellung eines bestimmten emotionalen Ausdrucks im Interesse der Betriebswirtschaftslehre liegt, da dieser im Dienstleistungssektor Einfl uss nimmt auf den ökonomi- schen Erfolg. Akteure aus der Psychologie beschreiben und analysieren die intrapsychischen Prozesse der Selbst- und Emotionsregulation und die personalen und organisationalen Bedingungen im Kontext von Leis- tung und gesundheitlichen Auswirkungen [ 9 ] . Die Synthese dieser drei Perspektiven lässt eine sogenannte „trifo- kale“ Defi nition von Emotionsarbeit entstehen [ 9 ] . Demzufolge handelt es sich dann um Emotionsarbeit, wenn Emotionsregulation als Reaktion auf berufsbezogene emotionale Anforderungen durch- geführt wird, um Emotionen gegenüber einer anderen Person zu erzeugen und Emotionen von diesen hervorzurufen, um die „Krite- rien Kundenzufriedenheit und Kundenbindung, die in den Diensten der Profi tsteigerung stehen zu erfüllen“ [ 11 , S.11]. Die Emotionen wer- den somit in den Dienst der Arbeit gestellt. Das psychosoziale Arbeitsfeld ist ein personenbezogener Dienst- leistungsberuf, zu dem auch ein konstruktiver Umgang mit den ei- genen Emotionen und denen der Klientel gehört. Emotionsarbeit ist der Teil professionellen Handelns, der verdeutlicht, dass es in der Zusammenarbeit zwischen Fachkräften und den Hilfesuchenden immer auch um Gefühle geht. Das bedeutet, dass die Mitarbeiten- den durch die Zusammenarbeit mit Menschen, die sich in schwie- rigen Lebenssituationen befi nden, regelmäßig mit positiven wie auch negativen Emotionen konfrontiert werden. Bestimmte Ge- fühle der Klient:innen, wie z. B. existenzielle Angst und Unsicher- heit, Wut und Verzweifl ung, sind subjektive Momentaufnahmen. Deren Bearbeitung wird dann zur Aufgabe, sofern die Gefühle die Entwicklung positiver Lebensmöglichkeiten verhindern [ 12 ] . Auch bei den Fachkräften kommt es im Arbeitsfeld zu hohen emotiona- len Belastungen, welche in einer ungenügenden Regulierung zu einer emotionaler Erschöpfung und Burnout führen können [ 13 ] . Das Grundmodell der Emotionsarbeit nach Alicia Grandey [ 2 ] Grandey integrierte verschiedene Perspektiven der Emotionsregu- lation in ein prozesshaft dargestelltes Modell der Emotionsarbeit. Ausgangspunkt des Modells ist die Situation des Kundenkontaktes, welche zum einen über Aspekte der Interaktion und zum anderen über emotionale Ereignisse dargestellt wird. Auf die Emotions arbeit bzw. deren zugrundeliegende Emotionsregulation nehmen indivi- duelle und organisationale Faktoren Einfl uss. Das Ergebnis des Re- gulationsprozesses kann wiederum zu längerfristigen persönlichen und organisationalen Konsequenzen führen. Kennzeichen der Situation Emotionsarbeit ist insbesondere dann von den Mitarbeitenden gefor- dert, wenn vom Arbeitgeber die Einhaltung eines bestimmten emo- tionalen Ausdrucksverhaltens, insbesondere im Kund:innenkontakt, erwartet wird. Diese Vorschriften für das Zeigen bestimmter Emotio- nen ( display rules ) gelten als Soll-Wert und können sehr vielfältig sein [ 2 ] . Die Anzahl der Kund:innenkontakte an einem Arbeitstag sowie die Zeit, die für einen einzelnen Kunden oder einer Kundin aufgewen- det werden muss, sind weitere Faktoren, die die Befi ndlichkeit der Mit- arbeitenden beeinfl ussen. Die zweite Komponente, welche die Anfor- derungsseite von Emotionsarbeit beschreibt, sind die emotionalen Ereignisse. Das heißt, solche Situationen, die aufgrund von Bewer- tungsprozessen vor dem Hintergrund eigener Wertvorstellungen, so- zialer Normen etc. eine positive oder negative emotionale Reaktion hervorrufen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Interaktion durch die Tagesbefi ndlichkeit und Stimmung des Mitarbeiters bzw. der Mit- arbeiterin sowie durch die Gefühlslage bei Arbeitsantritt beeinfl usst wird. Innerhalb der weitgehend konstanten Rahmenbedingungen einer Arbeitssituation können jederzeit emotionale Ereignisse eintre- ten. Die dadurch ausgelösten Gefühle können den erforderlichen dis- play rules , entsprechen, diesen jedoch im Extremfall diametral entge- genstehen. Das Ausmaß der Emotionsarbeit wird bestimmt von der Diskrepanz des Soll-Ist-Wertes der zu zeigenden Gefühle. Kennzeichen der Situation im Arbeitsfeld der niedrigschwelligen Drogenhilfe Neben den ausgebildeten Fachkräften der Sozialarbeit und der Kran- kenpfl ege wird ein Großteil der Arbeit mit Besucherkontakt durch stu- dentische und ehrenamtliche Kräfte, Zivildienstleistende und Mitar- beitende mit einem befristeten Arbeitsvertrag verrichtet. Die Anzahl der Besucher der Kontakt- und Notschlafstellen der niedrigschwelli- gen Drogenhilfe ist sehr heterogen und abhängig von der aktuellen Versorgungssituation in der Region, der Lage der Einrichtung und den Bedingungen der Drogenszene. Das Kontaktcafé der Drogenhilfe Köln in der Nähe des Hauptbahnhofs gab eine jährliche Besucherzahl von ca. 18 000 Personen bzw. 50 Besuchern pro Tag an (Telefonat vom 18. Mai 2021). Die Zeit, die die Mitarbeitenden mit dem einzelnen Besu- cher bzw. der einzelnen Besucherin verbringen, lässt sich nicht vorher- sagen. Manchmal sind es kurze (Versorgungs-)Begegnungen, ein an- deres Mal bedarf es einer (un-)erwünschten, höheren Zuwendung. Das folgende Beispiel aus einer Supervisionssitzung illustriert die strukturellen Belastungsfaktoren des Arbeitsfeldes. Kurzbeschreibung und Fragestellung eines Mitarbeiters in einer Kontakt- und Notschlafstelle der Drogenhilfe: FALLBESPRECHUNG : HERR B. (43), ABHÄNGIG SEIT SEINEM 18. LEBENSJAHR „Im Kontakt ist Herr B. gegenüber den Mitarbeitenden raumfordernd, was Betreuung und Versorgung angeht. In der Notschlafstelle bis zu 2 Stunden am Stück, jeden Abend. In dieser Zeit ist er fordernd, anmaßend, drohend und beschuldi- gend, wenn er seine Ziele nicht erreicht. Von anderen Klienten wird Herr B. eher gemieden, um nicht selbst in den Fokus seiner Beschuldigung zu kommen. Sanktionen und Ermahnungen brachten kein Umdenken bei Herrn B. Gespräche bzgl. seines Verhaltens kommen nicht an. Frage: ▪ Wie viel sollten wir (in der Sozialen Arbeit) ertragen. Was ist professionell? ▪ Wie kann die Empathiefähigkeit der Mitarbeiter erhalten bleiben?“ Fais J. Emotionsarbeit im Arbeitsfeld der … Suchttherapie 2022 ; 23 : 25 – 32 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 27

tonomie am Arbeitsplatz und Emotionsregulation liegen keine ein- deutigen Ergebnisse vor. Jedoch stellten Morris und Feldman [ 21 ] fest, dass Autonomie im negativen Zusammenhang mit emotiona- ler Dissonanz und emotionaler Erschöpfung stehen. Individuelle und organisationale Faktoren im Arbeitsfeld der niedrigschwelligen Drogenhilfe Für viele Mitarbeiter erweist es sich als schwierig, die Lebensentwür- fe der Klientel tatsächlich und konsequent als gleichwertig anzuse- hen, vor allem dann, wenn diese stark vom eigenen Lebensstil und den eigenen Wertevorstellungen abweichen. Besonders erschwe- rend ist auch die dauerhafte Konfrontation mit Problemlagen wie Krankheit, Elend und Tod. Das heißt, ein Umgang mit Ohnmachts- erfahrungen muss immer wieder neu gelernt und gestärkt werden. Belastend kommt hinzu, dass die Mitarbeitenden regelmäßig mit den negativen Dynamiken der Drogenszene konfrontiert werden. Gera- de im Kontext von psychischer und körperlicher Gewalt ist es notwen- dig, klare Grenzen zu setzen, um die anderen Besucher:innen und Mitarbeitenden sowie sich selbst zu schützen [ 22 ] . Zur Wahrung der sozialen Ordnung bedarf es klarer und verstehbarer institutioneller Regeln. Die geltenden Normen geben den Akteuren im Arbeitsfeld eine Sicherheit durch Berechenbarkeit. Aber diese konsequent durch- zusetzen, bringt die Mitarbeitenden in manchen Situationen in emo- tionale Ausnahmezustände und in eskalative Dynamiken [ 23 ] . Emotionsarbeit durch Emotionsregulation Das grundsätzliche Ziel der Emotionsregulation gilt der Herstellung einer handlungsförderlichen Emotionslage bzw. der Unterbindung beeinträchtigender Emotionen. Dabei wird versucht, den aktuel- len emotionalen Zustand an einen gewünschten Zielzustand anzu- passen. Bei der Emotionsregulation kann es sich dabei sowohl um eine internale und/oder externale Regulation handeln, aber auch um „eine Regulation von Emotionen oder Regulation durch Emotio- nen“ [ 10 ] . Die Prozesse der Emotionsgenese und der Emotionsre- gulation sind dabei eng miteinander verwoben. Grandey verknüpft in ihrem Modell der Emotionsregulation das Prozessmodell der Emotionsregulation und Emotionsgenese (Modal-Modell) nach Gross [ 24 , 25 ] mit Hochschilds [ 18 ] Konzepten von „ deep acting “ und „ surface acting “. Wenn im Arbeitskontext bestimmte Gefühle, entsprechend der Emotionsnorm, dargestellt werden sollen, die jedoch die betref- fende Person in diesem Moment gar nicht fühlt, beschreibt Hoch- schild [ 1 ] im Umgang damit zwei Strategien: Tiefenhandeln und Oberfl ächenhandeln [ 26 ] . Beim Tiefenhandeln wird das am Arbeitsplatz gewünschte und er- wartete Gefühl mit Hilfe kognitiver Techniken imaginiert. Im Rah- men der antezedenz-fokussierten Regulation kann die Aufmerk- samkeit so ausgerichtet werden, dass das erwünschte Gefühl indu- ziert wird. Das kann z. B. eine Erinnerung an Ereignisse sein, die dieses Gefühl hervorruft [ 25 ] . Andererseits ist es auch möglich, die Situation durch eine kognitive Veränderung neu zu bewerten. Hochschild [ 1 ] beschreibt etwa, dass Flugbegleiter in einem Trai- ning dazu angehalten wurden, sich Passagiere als Kinder vorzustel- len, um auf deren potenziell infantiles Verhalten nicht ärgerlich zu reagieren. Bei dieser Strategie wird also am Gefühl selbst angesetzt. Das Ausagieren der entsprechend manipulierten Emotion ist dann ein Selbstläufer [ 26 ] . Diese Emotionsregulationsstrategien betref- fend bezieht sich Hochschild auf die Expertise von Stanislawski. Dieser zählt zu den einfl ussreichsten Schauspieltheoretikern der neueren Theatergeschichte. Stanislawski setzt oberfl ächlichem Schauspiel, das Emotionen unabhängig vom eigenen Befi nden rein äußerlich durch Mimik und Gestik zeigt ( surface acting ), die soge- nannte Psychotechnik entgegen. Dabei werden, im Bestreben nach einer authentischen und glaubwürdigen Darstellung, die für die Rolle erforderlichen Gefühle durch die Aktivierung des emotiona- len Gedächtnisses hergestellt ( deep acting ) [ 27 ] . Eine weitere Me- thode umfasst all die Techniken, die auf eine körperliche (Muskel-) Entspannung zielen. Dazu gehören u. a. Atemtechniken, meditati- ve Verfahren und auch die progressive Muskelentspannung. Beim Oberfl ächenhandeln wird im Rahmen einer reaktions-fokus- sierten Regulation an der Gefühlsdarstellung angesetzt. Oberfl ä- chenhandeln beinhaltet die Anpassung des Emotionsausdrucks an die geltende bzw. angenommene Emotionsnorm. Das situativ erfor- derliche Gefühl wird lediglich gezeigt, jedoch nicht zwangsläufi g ge- fühlt [ 25 ] . So könnte ein Flugbegleiter, der dem unverschämten Pas- sagier den Tomatensaft am liebsten ins Gesicht schütten möchte, tief durchatmen und sich seinen Ärger nicht anmerken lassen. Das unangenehme Gefühl nimmt er wahr, unterdrückt dieses jedoch be- wusst und „macht gute Miene zum fragwürdigen Spiel“ [ 26 , S. 4]. Emotionsregulation im Arbeitsfeld der niedrigschwelligen Drogenhilfe Im Arbeitsfeld der akzeptierenden Drogenhilfe ist Emotionsregula- tion auf unterschiedlichen Ebenen gefordert. Bei sich, beim Besu- cher sowie in der Unterstützung oder im Tandem beim und mit den Kolleg:innen. So sind in vielen Fällen die Klient:innen die Adressaten der Emotionsregulationsbemühungen, die jedoch ein emotionales Gleichgewicht beim Mitarbeitenden voraussetzen. So richtet sich Emotionsarbeit im Wechselspiel nach innen, als Selbstregulation, und nach außen (extrinsisch) in Bezug auf die Klientel. Die Dynamik und Stärke der Emotion sowie die Selbstregulationskompetenz der Einrichtungsklientel unterscheiden sich grundsätzlich sehr von einem unzufriedenen Kunden nach einem misslungenen Beratungsge- spräch beim Einkauf einer Waschmaschine. So sind die Mitarbeiten- den der niedrigschwelligen Hilfen viel stärker dazu aufgerufen, früh- zeitig aversive Stimulationen wahrzunehmen und darauf zu reagie- ren. Deutlich wird, dass die durch die Tätigkeit erzeugte Dissonanz zur Belastung wird und nicht die unabhängige Variable Emotionsar- beit. Mit Emotionsregulation wird versucht, Belastungsreduktion zu erzielen. Von einigen Autoren wird Emotionsarbeit auch als nichts anderes als emotionale Stressbewältigung bzw. als emotionales Co- ping bezeichnet [ 11 , S. 38]. Handlungsfähigkeit zu bewahren durch Emotionsregulation . Emotionsregulation beginnt schon im Eingangs- und Empfangs- bereich, wenn die Besucher:innen zur Notübernachtung aufgenom- men werden oder in den Kontaktladen eintreten und dabei auch Fais J. Emotionsarbeit im Arbeitsfeld der … Suchttherapie 2022 ; 23 : 25 – 32 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 29

beitsalltag [ 37 ] . Kenntnis von Emotionsarbeit und Regulationskom- petenz wird vorausgesetzt und wenig diskutiert. Beides wird nicht nur aus Gründen der Selbst-Fürsorge gefordert, sondern auch zum Schutz der physischen und psychischen Integrität. Refl exionsangebote und Rückzugsräume ermöglichen eine gelungene Emotionsregulation. Die Tätigkeit mit hoch traumatisierten Menschen fordert eine emo- tionale Robustheit, die es auch erlaubt „einen inneren Regenmantel überzuziehen, an dem schon mal etwas ‚abperlen‘ darf, ohne die Sorge zu haben hartleibig zu werden“ [ 6 , S. 42]. Organisationale Regeln und Vorgaben beziehen sich auf den Ge- fühlsausdruck. Die eigentlichen Gefühle selbst bleiben Privatsache, fi nden jedoch Raum in kollegialen Gesprächen und in der Super- vision. Wenn diese Refl exionsräume genutzt werden, scheint ziel- gerichtetes Oberfl ächenhandeln eine hilfreiche Strategie zu sein , um den Emotionsanforderungen gerecht zu werden und die eigene Fühlfähigkeit nicht zu verlieren [ 26 , S. 7]. Die Bewahrung der Fühlfähigkeit ist umso wichtiger, weil diese die Voraussetzung ist für die Wahrnehmung der eigenen Belastungs- grenze. Am Ende eines Arbeitstages stehen die Mitarbeiter mit den Erlebnissen und Geschichten sowie mit den Nachwirkungen ihrer erlebten und unterdrückten Emotionen da. Das Mitteilen von Er- lebnissen schaff t Klärung und fördert die institutionelle Solidarität. Bleibt dies aus, droht eine emotionale Erschöpfung [ 26 ] . Schlussgedanken Das Grundmodell der Emotionsarbeit nach Grandey lädt dazu ein, die Emotionsgenese, die Regulation sowie die individuellen und or- ganisationalen Folgen im Arbeitsfeld der niedrigschwelligen Dro- genhilfe zu analysieren und zu bewerten. Die Arbeit mit Abhängi- gen psychotroper Substanzen bedeutet einen „permanenten Ritt auf der emotionalen Rasierklinge“. Aufkommende Gefühle von Mit- Leid, Zorn, Angst, Ekel gilt es in ein aushaltbares Maß zu regulieren, um eine unterstützende Begegnung zu ermöglichen. Erst die Kon- frontation mit der Lebenswirklichkeit der Klientel und die heraus- fordernden Arbeitsbedingungen schaff en die emotionalen Disso- nanzen, die es durch Emotionsarbeit zu korrigieren gilt. Gebietet es sich nicht grundsätzlich, Menschen in einem authenti- schen Maße mit Freundlichkeit und Respekt zu begegnen oder ver- kommen dadurch ethische Prinzipien zu einem überbordenden mo- ralischen Imperativ? Emotionen entstehen und fragen nicht nach situativer Angemessenheit bzw. ökonomischer Verwertbarkeit. Dies tun Menschen in einer z. T. beeindruckenden Bewertungs- heterogenität. Ein bestimmtes Maß an Regulationskompetenz ist jedoch unerlässlich für ein sozial verträgliches Miteinander in der privaten und berufl ichen Begegnung. Die aus der praktischen Ethik bekannte Goldene Regel „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“ sowie das Handeln nach dem kategori- schen Imperativ von Kant [ 38 ] können als Erinnerungen dienen, um emotionales Gleichgewicht zu bewahren bzw. wieder herzustellen. In der intersubjektiven Begegnung ist die Emotionsarbeit/Regula- tion keine Einbahnstraße. Auch die Klientel ist permanent heraus- gefordert, einen Umgang mit Traumata, Kränkungen und überbor- denden Gefühlen zu fi nden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Wirkung der psychoaktiven Substanzen großen Einfl uss auf die Re- gulation nimmt und ein Großteil der Besucher:innen nur ein sehr begrenztes Wissen von Emotionsregulationsstrategien hat. Auf der Mitarbeiterseite führt die permanente Konfrontation mit Leid und Elend zu Überforderungsreaktionen. Das Ausgesproche- ne wird nicht gehört bzw. das Gehörte nicht verstanden. Und so zeigt sich im „betrieblichen“ Alltagsmiteinander eine kommunika- tive und emotionale Dysbalance, die es immer wieder auszuglei- chen gilt, um Verständigung zu ermöglichen, die Anliegen zu ver- stehen und einen sicheren Umgang im Miteinander zu wahren. Das Thema Emotionsarbeit im Sinne Hochschilds ist im Arbeitsfeld der niedrigschwelligen Drogenhilfe kaum präsent. Vielmehr wird Emotionsarbeit mit gegenwärtiger Emotionsregulation gleichge- setzt und insbesondere im Sinne Lazarus [ 39 ] als Stressregulation verstanden. Die unterschiedlichen Rollen und die befremdlichen Lebenswelten dürfen nicht den Blick verstellen für den Mensch in seiner Ganzheitlichkeit. In diesem Sinne wird das Herz im kommerziellen Streben nach Ge- winnmaximierung nicht verkauft, sondern Herzlichkeit in altruis- tischer Bedeutung der Zugewandtheit zur Verfügung gestellt. Viel- leicht würde Hochschild an dieser Stelle fragen, ob dies wohl immer freiwillig geschieht. Autorinnen/Autoren Jürgen Fais ist Kriminologe (M.A.) und Dipl. Sozialpädagoge, Systemischer Therapeut/Familientherapeut (DGSF), Systemischer Kinder- und Jugendlichentherapeut (DGSF), Systemischer Traumatherapeut (ifs), Supervisor (DGSv), Mediator (FH), Fachkraft Kriminalprävention sowie (M.A.) Arbeits- und Organisationspsychologe (i.A.). Er ist Geselleschafter des in Köln ansässigen Instituts ParaVida - Institut für angewandte Gewaltprä- vention. Sein Tätigkeitsschwerpunkt liegt im Themenbereich „Konfl iktfeld Arbeitsplatz“. Seit 1991 ist er mit dem Arbeitsfeld der Suchthilfe verbun- den. Mit Dr. Bernd Westermann (Notdienst für suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin e.V.) entwickelte er ein Trainingsmanual zum gesünderen Umgang mit aggressiven Impulsen. Die Zielgruppe sind Menschen in Suchtbehandlung/in Substitution die durch massive impulsive Aggressivi- tätshandlungen gegen Dritte und/oder durch selbstverletzendes Verhalten aufgefallen sind. Interessenkonflikt Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonfl ikt besteht. Literatur [1] Hochschild A R . Das gekaufte Herz. Zur Kommerzialisierung der Gefühle . Frankfurt a.M. : Campus Verlag ; 2006 [2] Grandey A A . Emotion regulation in the workplace: A new way to conceptualize emotional labor . J Occup Health Psychol 2000 ; 5 : 95 – 110 Fais J. Emotionsarbeit im Arbeitsfeld der … Suchttherapie 2022 ; 23 : 25 – 32 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 31

Originalarbeit Relevanz und Auswirkungen der 3. BtMVVÄndV für die Opioidsubstitutionstherapie Ergebnisse einer qualitativen Befragung von substituierenden Ärztinnen und Ärzten Relevance and Eff ects of the 3 rd Revision of the Narcotic Drugs Prescription Ordinance on routine OST care Results of a Qualitative Survey of Substituting Physicians Autoren Kirsten Lehmann , Silke Kuhn , Bernd Schulte , Uwe Verthein Institut Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) Schlüsselwörter BtMVV , BtMVVÄndV , Evaluation , Opioidabhängigkeit , Opioidsubstitutionstherapie Key words Narcotic Drugs Prescription Ordinance , evaluation , opioid dependence , opioid substitution therapy , OST online publiziert 24.2.2021 10.1055/a-1330-6349 1439-9903 Bibliografi e Suchttherapie 2022 ; 23 : 33 – 43 DOI ISSN © 2021. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commecial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons. org/licenses/by-nc-nd/4.0/) Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Korrespondenzadresse Kirsten Lehmann Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Martinistraße 52 20246 Hamburg Deutschland k.lehmann@uke.de ZUSAMMENFASSUNG Hintergrund Die Opioidsubstitutionstherapie (OST) ist in Deutschland die wichtigste Therapieoption zur Behandlung der Opioidabhängigkeit. Trotz ihrer Eff ektivität limitieren struktu- relle Rahmenbedingungen und die Zurückhaltung v. a. jünge- rer ÄrztInnen, die Substitution anzubieten oder fortzuführen, die Ausweitung dieser Behandlung. Mit der 3. Verordnung zur Änderung der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (3. BtMVVÄndV) wurden 2017 umfassende Reformen der Rah- menbedingungen der Opioidsubstitutionstherapie verabschie- det. In dem vorliegenden Artikel werden die Ergebnisse leitfa- dengestützter Interviews mit substituierenden ÄrztInnen als ein Bestandteil einer umfassenden Evaluation dieser Änderun- gen vorgestellt. Methode Im Zeitraum zwischen Dezember 2019 bis April 2020 wurden in den deutschen Bundesländern Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Bayern insgesamt 31 qua- litative Interviews mit substituierenden ÄrztInnen geführt. Der Interviewleitfaden beinhaltete Fragen zu den in der 3. BtMV- VÄndV beschlossenen Neuerungen, zu strukturellen Voraus- setzungen sowie Vorstellungen für eine zukünftige Gestaltung der Opioidsubstitutionstherapie. Ergebnisse Das Durchschnittsalter der interviewten ÄrztInnen lag bei 58,5 Jahren, 77,4 % waren männlich und 54,8 % konsili- arisch tätig. Die Veränderungen der Substitutionsrichtlinie werden überwiegend positiv bewertet; bezogen auf die prak- tische Relevanz bestehen jedoch bundeslandbezogene Unter- schiede. Eine hohe praktische Relevanz wird der Ausdehnung der Take-Home-Verordnung auf 30 Tage, der Ausnahme vom Sichtbezug auf 5 Tage sowie dem veränderten Umgang mit Beikonsum zugeschrieben. Von untergeordneter Bedeutung ist die Möglichkeit, nunmehr 10 anstatt 3 PatientInnen unter der Konsiliarregelung behandeln zu dürfen. Schlussfolgerungen Die veränderten Vorschriften dürften nicht ausreichen, um neue ÄrztInnen für die Opioidsubstitu- tionstherapie zu gewinnen. Kooperationen mit Apotheken, Pfl egeeinrichtungen und staatlichen Institutionen werden zu- Lehmann K et al. Relevanz und Auswirkungen der … Suchttherapie 2022 ; 23 : 33 – 43 | © 2021. The Author(s). 33

▶ Tab. 1 Alte und neue Richtlinien zur Durchführung der Substitutionsbehandlung. Alte Substitutionsrichtlinien Rechtssicherheit Alle Regelungen nur im Rahmen der Betäubungsmittel- Verschreibungsverordnung (BtMVV). Neue Substitutionsrichtlinien nach Inkrafttreten der 3. BtMVVÄndV am 02.10.2017 Regelungen, die ärztlich-therapeutische Bewertungen betreff en, werden aus dem Rahmen der BtMVV in die Richtlinienkompetenz der BÄK überführt. Verfolgungsmög- lichkeiten durch die Justiz sind dadurch eingeschränkt. Konsum weiterer psychotroper Substanzen (Beikonsum) Take-Home, Ausnahme vom Sichtbezug Abstinenz Psychosoziale Begleitung (PSB) Konsiliararztmodell Synthetische Opioide Abgabe des Substitutionsmittels Es dürfen keine Substanzen gebraucht werden, deren Konsum nach Art und Menge den Zweck der Substitution gefährden. Der Beikonsum anderer psychotroper Substanzen und Alkohol soll kontrolliert und während der Substitution berücksichtigt und ggf. therapiert werden. Eine Take-Home-Verordnung von bis zu 7 Tagen ist möglich und bis zu 2 Tagen zur Überbrückung bei grundsätzlichem Sichtbezug. Eine Take-Home-Verordnung von bis zu 30 Tagen ist möglich und bis zu 5 Tagen zur Überbrückung bei grundsätzlichem Sichtbezug. Ziel der Substitutionstherapie ist die schrittweise Wiederherstellung der Betäubungsmittelabstinenz. Eine Opioidabstinenz ist anzustreben, muss aber nicht erreicht werden. Zeitliche Vorgaben bestehen nicht. Substitution nur unter der Voraussetzung, dass eine erforderliche PSB einbezogen wird. PSB soll weiterhin regelhaft empfohlen werden, ist aber keine Voraussetzung mehr für die Substitutionsbehandlung. Suchtmedizinisch nicht qualifi zierte ÄrztInnen dürfen bis zu 3 PatientInnen mit Substitutionsmitteln unter der Aufsicht suchtmedizinisch qualifi zierter ÄrztInnen (Konsiliarii) behandeln. Suchtmedizinisch nicht qualifi zierte ÄrztInnen dürfen bis zu 10 PatientInnen mit Substitutionsmitteln unter der Aufsicht suchtmedizinisch qualifi zierter ÄrztInnen (Konsiliarii) behandeln. Substitution ist die Anwendung eines ärztlich verschriebe- nen Betäubungsmittels bei einer opiatabhängigen PatientIn. PatientInnen, die ausschließlich von synthetischen Opioiden (z. B. Tilidin oder Tramadol) abhängig sind, können in die Substitutionsbehandlung aufgenommen werden. Das Substitutionsmittel ist PatientInnen in einem Krankenhaus oder in einer Apotheke oder in einer hierfür von der zuständigen Landesbehörde anerkannten anderen geeigneten Einrichtung oder, im Falle einer ärztlich bescheinigten Pfl egebedürftigkeit, bei einem Hausbesuch zum unmittelbaren Verbrauch zu überlassen. Das Substitutionsmittel darf durch medizinisches, pharmazeu- tisches oder pfl egerisches Personal in einer stationären Einrichtung der medizinischen Rehabilitation, einem Gesundheitsamt, einem Alten- oder Pfl egeheim, einem Hospiz oder einer anderen geeigneten Einrichtung, die zu diesem Zweck von der zuständigen Landesbehörde anerkannt sein muss, abgegeben werden. bewertet und angenommen wird, wurde von der Gesundheitsmi- nisterkonferenz der Länder einstimmig deren Evaluation beschlos- sen [ 20 ] . In diesem Artikel werden die Ergebnisse leitfadengestütz- ter Interviews mit substituierenden ÄrztInnen in 4 deutschen Bun- desländern vorgestellt. Die Bewertung und praktische Umsetzung der neuen Richtlinien zur Substitution, strukturelle Voraussetzun- gen der Substitutionsbehandlung sowie Vorstellungen für deren zukünftige Gestaltung standen im Fokus der Befragung. Methodik Studiendesign Die vorliegende Untersuchung fand als Teilprojekt im Rahmen der vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderten Evalua- tion der 3. Verordnung zur Änderung der BtMVV vom 22.5.2017 („Substitutions-Novelle“) – EVASUNO im Zeitraum von Dezember 2019 bis April 2020 statt. Das Evaluationskonzept der Gesamtstu- die umfasst modular aufgebaute quantitative und qualitative Er- hebungsstrategien sowie Sekundärdatenanalysen über einen Zeit- raum von 3 Jahren. Hierbei werden mögliche Eff ekte aus Sicht der PatientInnen sowie VersorgerInnen (ÄrztInnen, ApothekerInnen) untersucht. Ergänzend zu einer bundesweiten schriftlichen Befra- gung substituierender ÄrztInnen wurden in 4 ausgewählten Mo- dellregionen vertiefende leitfadengestützte Interviews mit substi- tuierenden ÄrztInnen geführt. Die Auswahl dieser Regionen erfolg- te einerseits geografi sch (städtisch versus ländlich) sowie gezielt nach besser und schlechter bzw. unterversorgten Gebieten. Als Mo- dellregionen wurden Hamburg, Nordrhein-Westfalen (Kassenärzt- licher Vereinigungs (KV)-Bezirk Nordrhein und KV-Bezirk Westfa- len-Lippe), Sachsen und Bayern ausgewählt. Die Interviews wurden vor Ort in den Praxen der Teilnehmenden geführt. Die ÄrztInnen wurden über die Studie aufgeklärt, gaben ihr schriftliches Einver- ständnis zur Audioaufnahme und erhielten eine Aufwandsentschä- digung. Ein positives Ethikvotum der Lokalen Psychologischen Ethikkommission am Zentrum für Psychosoziale Medizin (LPEK) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf liegt vor (LPEK-0084). Erhebungsinstrument Die Inhalte des Interviewleitfadens bezogen sich auf strukturelle Merkmale (ärztliches Fachgebiet, Qualifi kation und Erfahrung, An- zahl Substituierter, Art der Praxis) sowie auf die in der 3. BtMVV- Lehmann K et al. Relevanz und Auswirkungen der … Suchttherapie 2022 ; 23 : 33 – 43 | © 2021. The Author(s). 35

▶ Tab. 2 Charakteristika der in den Modellregionen interviewten ÄrztInnen (N = 31). Männlich , N ( %) Alter in Jahren , M (SD) Jahre in Substitution tätig , M (SD) Anzahl substituierter PatientInnen , M (SD) Facharztrichtung , N ( %) Allgemeinmedizin und/oder Innere Medizin Psychiatrie und Psychotherapie/Neurologie Art der Praxis , N ( %) Einzelpraxis/Gemeinschaftspraxis/Praxisgemeinschaft Substitutionsambulanz PIA MVZ Praxisorganisation , N ( %) Praxisbetrieb und Substitution räumlich getrennt Praxisbetrieb und Substitution räumlich nicht getrennt kein weiterer Praxisbetrieb, ausschließlich Substitution Größe des Einzugsgebietes in km , M (SD) Konsiliarisch tätig , N ( %) 24 (77,4 %) 58,5 (8,1) (39–72 Jahre) 20,4 (8,4) (3–30 Jahre) 209,2 (191,6) (35–800 PatientInnen) 25 (80,6 %) 6 (29,4 %) 23 (74,2 %) 3 (9,7 %) 2 (6,4 %) 3 (9,7 %) 8 (25,8 %) 16 (51,6 %) 7 (22,6 %) 57,3 (45,8) (10–170 km) 17 (54,8 %) ▶ Tab. 3 und Bayern (BY). Bewertung und praktische Relevanz der 3. BtMVVÄndV in den Bundesländern Hamburg (HH), Sachsen (SN), Nordrhein-Westfalen (NRW) Bewertung * Praktische Relevanz * NRW SN Neuerungen der 3. BtMV- VÄndV Größere Rechtssicherheit, Bewertung durch BÄK Neue Bewertung Beikonsum Take-Home: max. 30 Tage/ Ausnahme vom Sichtbezug: 5 Tage Keine zeitliche Vorgabe für das Erreichen einer Opioidabstinenz Herausnahme der Erforderlichkeit von PSB Konsiliarbehandlung von 10 PatientInnen möglich Substitution von PatientInnen mit Abhängigkeit von synthetischen Opioiden HH + + + + + + + + + + -- + + + + + + + + + + -- + BY + + + + + + + + /- - + + + + + + + + + /- - + /- + + HH + /- - + + - + + -- -- NRW SN + + /o + -- - -- + /- + /- + + -- + /- - -- BY + + + + + - -- -- * + + Zustimmung 100–90 %, + Zustimmung 89–61 %, + /- Zustimmung 60–40 %, Ablehnung 61–89 %, -- Ablehnung 90–100 %. Lehmann K et al. Relevanz und Auswirkungen der … Suchttherapie 2022 ; 23 : 33 – 43 | © 2021. The Author(s). 37

nicht gewährleistet ist. Anzunehmen ist auch, dass die Lage der Praxen, ihre Erreichbarkeit sowie ihre Hoch- bzw. Niedrigschwel- ligkeit dabei eine große Rolle spielt. PsychiaterInnen In allen Modellregionen besteht ein Mangel an psychiatrischen Pra- xen, die substituierte PatientInnen (mit-)behandeln. Substituieren- de somatische ÄrztInnen verfügen i. d. R. über eine Expertise in der Behandlung psychischer Störungen, die auf viel Erfahrung beruht. Die Situation wird dann als zufriedenstellend erlebt, wenn wenigs- tens eine psychiatrische Praxis oder psychiatrische Ambulanz vor Ort zur Mitbehandlung bzw. Kooperation bereit ist. Für substituie- rende ÄrztInnen ist es außerordentlich wichtig, dass psychiatrische Abteilungen der Bezirkskrankenhäuser/Universitätskliniken bereit sind, psychiatrische Notfälle aufzunehmen und zeitnah Teilentgif- tungen durchführen. Dies ist nicht überall gegeben und teilweise rückläufi g. PsychotherapeutInnen stehen fast durchgehend nicht für diese Klientel zur Verfügung. Eine bessere Kooperation wird an- gemahnt. Eine hausärztliche Betreuung somatischer Erkrankun- gen, auch im Hinblick auf die zunehmend älter werdenden Patien- tInnen, solle stets gewährleistet sein. Apotheken Die Zusammenarbeit mit Apotheken wird in einem unterschiedli- chen Ausmaß benötigt und ist für Praxen mit einer eigenen Verga- be der Substitutionsmittel nicht vorrangig. Die Zusammenarbeit wird durchgehend als sehr gut bewertet und die Apotheken seien motiviert und verantwortungsvoll im Umgang mit den PatientIn- nen. Praxen mit einem großen Einzugsgebiet, wie in Sachsen oder Bayern, sind in einem hohen Maße auf die Zusammenarbeit mit Apotheken, welche die Sichtvergabe durchführen, angewiesen. Oftmals ist von den substituierenden ÄrztInnen Überzeugungs- arbeit zu leisten, was auch eine persönliche Kontaktaufnahme mit den ApothekerInnen in der Apotheke vor Ort einschließen kann. Es gibt aber weiterhin Gebiete, in denen keine einzige Apotheke zur Substitutionsvergabe unter Sicht bereit ist. Die Apotheken kämen ihrer monatlichen Informationspfl icht über die Nachweisführung der Sichtvergabe sehr gut nach und ge- naue Informationen über die Vergabe können bei Bedarf abgeru- fen werden. Die neuen Apothekenverträge der Bundesapotheker- kammer (ABDA) 1 zur Überlassung von Substitutionsmitteln zum unmittelbaren Gebrauch werden jedoch selten angewandt und als zu umfangreich eingestuft. Zur Anwendung kommen eigene Ver- träge, was aber als unbefriedigend bewertet wird. Weitgehend einig sind sich die substituierenden ÄrztInnen dahingehend, dass Apotheken für die Sichtvergabe der Substitutionsmittel entlohnt werden sollten, da auch Hygienevorschriften, Geräte, Vergabetre- sen usw. fi nanziert werden müssten. Kooperationen und Vernetzungen Es wurden in der Vergangenheit viele formale Netzwerke aufge- baut, dazu gehören ‚Runde Tische‘ und Qualitätszirkel, teilweise über Bezirksgrenzen oder Bundeslandgrenzen hinaus. Hier kom- 1 https://www.abda.de/fuer-apotheker/qualitaetssicherung/leitlinien/leit- linien-und-arbeitshilfen/ men unterschiedliche Professionen zusammen; neben den substi- tuierenden ÄrztInnen auch ApothekerInnen, VertreterInnen von KVen, Krankenkassen, Polizei, Staatsanwaltschaft, PSB, Vertrete- rInnen von Kliniken, Gesundheitsämtern, Justizvollzugsanstalten, Bewährungshilfen und Pfl egediensten. ÄrztInnen, die unter konsi- liarischer Betreuung arbeiten, sind zur Teilnahme nur sehr einge- schränkt zu motivieren. Im Laufe der Zeit sind auch stabile infor- melle Netzwerke entstanden. Übereinstimmung besteht darin, dass niedergelassene ÄrztInnen nicht alle opioidabhängigen Pa- tientInnen substituieren können. Es kommt immer wieder vor, dass einzelne PatientInnen in einer Hausarztpraxis nicht mehr tragbar sind. Hierfür bietet es sich an und wird auch praktiziert, sehr prob- lematische PatientInnen an Substitutionsambulanzen oder Schwer- punktpraxen abzugeben und dafür von diesen stabile PatientInnen aufzunehmen. Wenn keine Ambulanzen oder Schwerpunktpraxen vorhanden sind, müssten diese PatientInnen auf große Städte aus- weichen, teilweise auch über Bundeslandgrenzen hinweg (z. B. fah- ren PatientInnen aus Unterfranken nach Off enbach oder Frankfurt am Main). Durchaus häufi g sind Netzwerke in NRW und Bayern, in denen sich substituierende ÄrztInnen zu einer zentralen Wochen- endvergabe zusammengeschlossen haben. In ländlichen Gebieten ist dies allerdings nicht möglich, da die PatientInnen dann unter Umständen am Wochenende noch größere Enfernungen bewälti- gen müssten. Merksatz Für substituierende ÄrztInnen können Qualitätszirkel ein guter Ausgangpunkt für weitere Vernetzungstätigkeiten wie eine gemeinsame Wochenendvergabe sein. Finanzen Die fi nanzielle Vergütung wird von den meisten ÄrztInnen mit Ein- schränkungen als ausreichend bis gut eingeschätzt. Allerdings wird der Aufwand für ‚schwierige‘ PatientInnen nicht entsprechend ab- gebildet. Gespräche mit den PatientInnen würden weiterhin nicht ausreichend honoriert. Die Interviewten gehen davon aus, dass die fi nanziellen Regelungen die Take-Home-Vergabe nicht ermutigen und somit die Teilhabemöglichkeit der PatientInnen erschweren. Nach wie vor ist der Verdienst am höchsten, wenn die Vergabe des Substitutionsmittels täglich in den Praxen stattfi ndet. Auch bei län- geren Take-Home-Zeiten bleiben der grundsätzliche Substitutions- aufwand und die Verantwortung hoch. Ob über eine bessere Finan- zierung der Substitutionsbehandlung weitere ÄrztInnen gewonnen werden können, wird unterschiedlich eingeschätzt und mehrheit- lich mit Skepsis betrachtet. Einzelne Gebiete könnten aber durch- aus profi tieren. Sicherung der Substitution Die Substitution brauche weitere, kontinuierliche politische Auf- merksamkeit. Die 3. BtMVVÄndV sei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, werde aber ohne fl ankierende Maßnahmen an der drohenden Unterversorgung mit niedergelassenen ÄrztInnen grundlegend wenig ändern. Ohne den Rückhalt von Bezirksklini- ken und angegliederten Substitutionsambulanzen bei der Versor- gung von PatientInnen mit einer gravierenden psychiatrischen Ko- Lehmann K et al. Relevanz und Auswirkungen der … Suchttherapie 2022 ; 23 : 33 – 43 | © 2021. The Author(s). 39

Der Wert einer gegenseitigen Vernetzung wurde in der vorliegen- den Untersuchung sehr häufi g betont, wie schon in der Studie von Schulte et al. dargestellt [ 19 ] . Eine praxisnahe Weiterbildung und die kollegiale Unterstützung bei ‚schwierigen‘ PatientInnen trägt dazu bei, dass ÄrztInnen eine Substitu tionsbehandlung beginnen oder laufende Behandlungen nicht vorzeitig beenden [ 26 ] . Viele der interviewten substituierenden ÄrztInnen berichten über gut funktionierende lokale Verbünde zur gegenseitigen Unterstützung. Gute Kooperationen mit weiteren, an der Substitution beteiligten Professionen werden als hilfreich und unterstützend erlebt. Her- vorzuheben ist die durchgehend gute Zusammenarbeit mit Apo- theken, ohne deren Unterstützung eine annähernd fl ächendecken- de Versorgung von substituierten PatientInnen nicht gegeben wäre. Auch die PSB wird weiter als ein unverzichtbarer Bestandteil der Substitutionsbehandlung betrachtet. Eine erhöhte Prävalenz psychischer Komorbidität bei substi- tuierten Opioidabhängigen ist hinlänglich bekannt [ 14 , 15 , 27 ] . In der PREMOS-Studie waren mit 38,4 % Depressionen die häufi gsten Einzeldiagnosen gefolgt von Persönlichkeitsstörungen, Angststö- rungen und Schlafstörungen [ 28 ] . Die Studie von Lieb und Kolle- gInnen konnte zudem zeigen, dass Substituierte in größeren Be- handlungseinrichtungen mit mehr PatientInnenkontakten deutlich mehr psychische Erkrankungen aufwiesen [ 29 ] . Psychisch stark auf- fällige substituierte PatientInnen können oftmals nur unzureichend in niedergelassenen Hausarztpraxen versorgt werden. Die inter- viewten niedergelassenen ÄrztInnen wünschen sich daher die Mög- lichkeit, diese PatientInnen an Schwerpunktpraxen oder Ambulan- zen ‚im Tausch‘ gegen stabilere Substituierte überweisen zu kön- nen. Der Mangel an PsychiaterInnen unter den substituierenden FachärztInnen in Deutschland ist off ensichtlich [ 19 , 21 ] . Substitu- ierte Opioidabhängige weisen jedoch nicht nur psychische Komor- biditäten auf, sondern sind häufi g auch somatisch hoch belastet und Erkrankungen werden mit dem steigenden Alter der Substitu- ierten zunehmen. Um diese PatientInnen ganzheitlich medizinisch versorgen zu können, ist die Zusammenarbeit unterschiedlicher medizinischer Fachrichtungen notwendig. Die mangelnde Bereit- schaft von PsychiaterInnen, diese Patientenklientel (mit) zu behan- deln sowie lange Wartelisten, aber auch die Vorbehalte in Kranken- häusern und psychiatrischen Kliniken gegenüber diesen PatientIn- nen, erschwert die Arbeit der substituierenden ÄrztInnen. In ihrem Positionspapier hat die Deutsche Suchtgesellschaft den Abbau von Zugangsschwellen für substituierte OpioidpatientInnen in Ange- boten ambulanter, teilstationärer und stationärer Rehabilitations- einrichtungen gefordert [ 30 ] . Älter werdende Substitutionspatien- tInnen erfordern eine zunehmende Zusammenarbeit von substitu- ierenden ÄrztInnen mit ambulanten und stationären Pfl egediensten sowie Hospizen. Es bietet es sich an, Schulungsmaterialien zentral zu erarbeiten und gezielte Fortbildungsangebote vorzuhalten. Die Stigmatisierung von Opioidabhängigen, aber auch von Men- schen mit anderen Abhängigkeitserkrankungen, ist gesellschaft- lich nicht überwunden und das allgemeine Krankheitsverständnis von Abhängigkeit hat moralische Zuschreibungen und Schuldzu- weisungen (‚schwacher Wille‘) nicht gänzlich ersetzt. MedizinerIn- nen außerhalb der Substitution treten abhängigen Menschen allzu häufi g mit einem Laienverständnis von Sucht und weniger mit pro- fessionellem Wissen gegenüber. Dies mag u. a. der Tatsache ge- schuldet sein, dass gut integrierte, unauff ällige Opioidsubstituier- te nicht wahrgenommen werden, wohingegen ‚schwierige Patien- tInnen‘ auff ällig sind und den alltäglichen Medizinbetrieb belasten oder sogar dominieren können. Der Zeitpunkt der durchgeführten Interviews fi el, mit Ausnah- me eines telefonischen Gesprächs im April, knapp vor den Beginn der von der Bundesregierung beschlossenen Beschränkungen so- zialer Kontakte aufgrund der COVID-19-Pandemie. Substitutions- patientInnen gehören aufgrund ihrer häufi g bestehenden Komor- biditäten der COVID-19-Risikogruppe an. Gleichzeitig muss die (tägliche) Versorgung mit Substitutionsmedikamenten gewähr- leistet bleiben. Im Falle von Schließungen von Substitutionseinrich- tungen stünden alternative Vergabestellen und Behandlungszen- tren kaum zur Verfügung [ 31 ] . Das im März erlassene ‚Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationa- ler Tragweite‘ ermächtigte das BMG Ausnahmen von Regelungen des BtMG und der BtMVV in der Vergabe- und Verordnungspraxis von Substitutionsmitteln zuzulassen (SARS-CoV-2-Arzneimittel- versorgungsverordnung), mit dem Ziel, Kontakte zu reduzieren, aber gleichzeitig die Versorgung der PatientInnen zu sichern und Drogenbeschaff ung sowie -konsum vorzubeugen [ 32 ] . Während der epidemischen Lage dürfen bspw. konsiliarisch tätige ÄrztInnen ohne suchtmedizinische Qualifi kation mehr als 10 Pa tientInnen be- handeln, die Ausnahme vom Sichtbezug wurde auf 7 Tage ausge- dehnt und Take-Home-Verordnungen können ohne persönlichen ärztlichen Kontakt via Postweg oder Botendienst ausgegeben wer- den [ 33 ] . Die zu diesem Zeitpunkt seit zweieinhalb Jahren in Kraft getretenen Neuerungen der 3. BtMVVÄndV stellten eine hilfreiche Grundlage für die COVID-19-bedingten Änderungen der BtMVV dar, die sowohl BehandlerInnen als auch PatientInnen den Umgang mit der Verschreibung und Abgabe von Substitutionsmitteln in die- sen Zeiten deutlich erleichtern. Ohne die 3. BtMVVÄndV wären die Ausnahmeregelungen zur Substitution während der Coronapan- demie vermutlich nicht möglich gewesen. Limitationen Die Auswahl der Interviewteilnehmenden erfolgte nicht durch eine Zufallsauswahl und ist – wie bei qualitativen Studien überwiegend der Fall – nicht als repräsentativ anzusehen. ÄrztInnen ohne eine suchtmedizinische Weiterbildung, die im Rahmen des Konsiliarver- fahrens tätig sind, wurden nicht interviewt, da sie lediglich rund 1 % der SubstitutionspatientInnen behandeln [ 25 ] . Lediglich 5 an- gefragte substituierende ÄrztInnen haben die Interviewanfrage abgelehnt, 2 aus Zeitgründen und 3 aus mangelndem Interesse an einem Interview. Auch wenn die Interviews in ausgewählten KV- Regionen mit einer geografi sch unterschiedlich guten Versorgung von SubstitutionspatientInnen stattfanden, ist die Studie nicht re- präsentativ für das gesamte Bundesgebiet. Lehmann K et al. Relevanz und Auswirkungen der … Suchttherapie 2022 ; 23 : 33 – 43 | © 2021. The Author(s). 41

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professionellen Team zeigte und dadurch zu Konfl ikten führte, die passager das Verlassen der Neutralität verlangten. Ferner waren für diese Art der Behandlung enorme Ressourcen not- wendig sowohl zeitlich als auch personell. ABSTR AC T Aim Aim of this work was to present the complexity of preg- nancy and addiction through a case study of a patient with severe polytoxikomanie, borderline organization, as well as the course of pregnancy and the early phase after birth. The main issue was what a long-term treatment with a multi-stage, multi-professional and multimodal setting could look like. The work also shows confl icts at interfaces, how important com- munication was within the team and across disciplines. Intervention Qualifi ed inpatient detoxifi cation treatment of benzodiazepines, phenothiazine, pregabalin, venlafaxine and reduction of methadone with subsequent conversion to bu- prenorphine as well as complementary combined medical, psychodynamic individual and group therapy and a nursing DBT-S individual and group setting. In addition to the inpatient treatment team, interdisciplinary treatment teams of gyneco- logists, pediatricians and psychiatrists as well as the Child, Adult Protection Authority (KESB) were put together during preg- nancy and a long-term treatment with inpatient, semi-statio- nary, and outpatient interval was planned at the beginning. Result During the nearly 3 years of treatment, an abstinence of illegal substances was achieved with daily dose of eight mg buprenorphine. Later on, the patient has been achieving abs- tinence without any kind of substitution. A present interview and drug screening on June 2020 confi rmed this. In addition, interdisciplinary work has enabled a stable social environment and a return to working life. Discussion Despite the initially frequent relapses, the mainte- nance of the therapeutic relationship (e. g. by time-out to the acute ward, extension of a weekend leave or renegotiation of the treatment agreement) with continuation of individual psycho therapy and reference care with the inclusion of relap- ses, a mutual trust and appreciation was created. However, this required a lot of work within the team, but also across discipli- nes, as the patient’s extreme inner world often showed itself in diff erent ways in the multi-professional team, leading to confl icts that required temporarily leaving neutrality. In addi- tion, this type of treatment required enormous resources, both in terms of time and in terms of personnel. Einleitung In Europa werden etwa 30 000 Frauen, die Opioide konsumieren, schwanger [ 1 ] . Die Guidelines zum Thema Schwangerschaft und Substanzkonsum wurden von der WHO durch eine multiprofessio- nelle Expertengruppe (GDG) 2012 in Washington eingeleitet [ 2 ] . Neben möglicher Wirksamkeit unterschiedlicher Behandlungen wie Entgiftung, Substitution, spezifi sche Medikation, aufsuchende Angebote und kombinierte Angebote sowie Screening-Untersu- chungen wurden v. a. die Bedürfnisse der entsprechenden Patien- tengruppe und des dazugehörigen Helfersystem berücksichtigt [ 2 – 4 ] . Es gab zu dieser Zeit nur wenige randomisierte Studien und Metanalysen, insbesondere keine Therapie-Studien. Die für die Guide- line herangezogenen Studien wiesen Mängel, wie hohe Hetero- genität der Patientengruppe, fehlende Verblindung, fehlende Er- fassung von Komorbiditäten, usw. auf. Die wenigen Therapie-Stu- dien zu diesem Thema beschreiben ein stationäres Setting [ 5 – 7 ] . Bei der Wahl des entsprechenden Substituts weißt Buprenorphin das etwas günstigere Profi l auf [ 8 – 13 ] . Die Dosis alleine scheint nicht das einzige Kriterium für die Intensität und Dauer des neona- talen Entzugssyndrom (NAS) zu sein. Vielmehr haben Nikotinent- zug, Gen-Polymorphismus, Kindsgewicht und andere individuelle interferierenden Parameter einen entscheidenden Einfl uss auf das NAS [ 14 – 20 ] . Die Komplexität der Erkrankung macht den Einsatz eines multiprofessionellen Teams notwendig und einen diff eren- zierten Einsatz von Medikamenten. Zusätzlich sollten die Patien- tinnen vor Stigmatisierung geschützt und die Beziehungskonstanz wird als wichtiger Faktor benannt [ 2 ] . Eine psychopharmakologi- sche Behandlung im Rahmen eines Entzugssyndroms im Bereich von illegalen Substanzen konnte nur bei Opiaten und Benzodiaze- pinen gerechtfertigt werden [ 2 ] . Diese Interventionen sollten sta- tionär in dafür spezialisierten Einrichtungen durchgeführt werden [ 2 – 4 ] . Aufsuchende Angebote hatten keinen Einfl uss auf den Kon- sum der Mütter nach der Geburt [ 2 ] . Intervention In unserer Planung berücksichtigten wir ein multiprofessionelles Team, welches je nach Behandlungsphase unterschiedlich zusam- mengesetzt war und unterschiedliche Aufgaben hatte, immer je- doch einen regen Austausch pfl egte. Wir stellten Überlegungen an, die die Wichtigkeit der Kommunikation innerhalb der unterschied- lichen Professionen und Fachgebiete – mit ihren jeweils sehr unter- schiedlichen Herangehens- und Sichtweisen – mit einbezogen. Da Konfl ikte im Verlauf in unterschiedlicher Art und Weise auftraten und Spaltungsprozesse verhindert werden sollten, mussten wir im Prozess immer wieder re-evaluieren und unsere Strategie nachjustie- ren. Ähnlich wie in einer gut organisierten Notaufnahme koordiniert der Fallführer, wann welche Professionen hinzugezogen werden, um so Kompetenzstreitigkeiten und daraus resultierende Reibungsver- luste zu verhindern. Moderne, diversifi zierte Suchtbehandlungsan- geboten, die individuell auf den Patienten abgestimmt werden kön- nen, erfordern ein multiprofessionelles Denken, das über den eigenen Fachbereich hinausgeht und der Komplexität des Problems gerecht wird und immer das Beste „Outcome“ für den Patienten, in diesem speziellen Fall aber auch für das Kind, berücksichtigen. Die Kran- kenkassen zeigten sich mit Case Managern sehr interessiert an mit- tel- bis langfristigen Lösungen und waren deshalb bereit, das notwen- dige Geld zu investieren. Behandlungsdauern über mehrere Mona- te oder wie im vorliegenden Fall fast eine ganze Schwangerschaft lang stationär/teilstationär/ambulant und insgesamt 3 Jahre waren damals möglich. Brokatzky S. Patientin mit Schwangerschaft, Borderline-Organisation … Suchttherapie 2022 ; 23 : 44 – 51 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 45

passager auch umständlich in den Erläuterungen, immer bemüht, beim Untersucher gut dazustehen bzw. manchmal die Antworten an das vermeintlich Gewünschte anzupassen. Stets um situative Kontrolle bemüht, auch über ihr Leben und gleichzeitig Scham, Angst und Schuld das Kind zu verlieren. Sie habe kaum Gefühle sich selber gegenüber bzw. könne diese aktuell kaum unterscheiden. Die Patientin imponierte dabei psychomotorisch passager sehr an- gespannt und war kaum von ihren negativen, scham- und schuld- zentrierten Gedanken abzubringen. Im Kontakt wirkte sie einer- seits zurückhaltend, manchmal unsicher und dann wiederum er- schien sie äußerst klar. In der Gegenübertragung war einerseits Ärger spürbar, v. a., wenn sie sich ständig entschuldigte und man dadurch praktisch verbal entwaff net wurde bzw. sich kaum traute, schwierige Themen anzusprechen. Das inhaltliche Denken war im Wesentlichen unauff ällig. Unter der Medikation waren keine klas- sischen Angstattacken bzw. Zwänge aber deutliche Überforde- rungsgefühle, v. a. bei dem Thema Mutter werden, zu sehen. Dis- soziatives Erleben oder andere Phänomene mit Realitätsverlust waren auch in der Folgeuntersuchung nicht feststellbar. Allerdings bestand zum Gesprächszeitpunkt weiterhin eine noch über den Maßen bestehende Polypharmazie, sodass der Befund zunächst kritisch gesehen und im Verlauf geprüft werden musste, inwiefern Trauma oder Manipulation bestanden. Darüber hinaus war der klas- sische psychopathologische Befund bezüglich Orientierung sowie höheren exekutiven Funktionen bei bildungsgerechter Intelligenz unauff ällig, insbesondere fand sich aktuell keine akute Suizidalität, wobei dies v. a. der Schwangerschaft und weniger dem eigenen Le- benswunsch zuzuschreiben war. Ein Verlust des Kindes hätte schlagartig massive und v. a. negative Gedanken hervorrufen und zu einem Suizidversuch führen können. Aufgrund der hohen Dosis von Medikamenten erschien sie mnestisch eingeschränkt, was sich jedoch im Verlauf als Widerstand und nicht als direktes, drogen- induziertes hirnorganisches Korrelat herauskristallisierte. Die Psy- chodynamik erklärte sich gemäß OPD-2 aus einer Ergänzungsrei- he von strukturellen Einschränkungen und Konfl iktaktualisierun- gen: Bei der mäßig bis gut strukturierten Patientin fanden sich v. a. Einschränkungen im Bereich der Selbst- und Objektwahrnehmung in Form von einer masochistischen, unterwürfi gen Seite sowie fra- gilem Selbstbild, Störungen der Impuls- und Aff ektkontrolle und eingeschränkter aff ektiver Kommunikation nach Innen und Außen. Auf der Konfl iktebene mischten sich ein Autonomie- vs. Abhängig- keitskonfl ikt, vorwiegend passiv verarbeitet, ein passiver Schuld- konfl ikt und ein vermeintlich gemischter ödipaler Konfl ikt mit viel Scham und Angst einerseits und Zerstörungswut andererseits. Sie präsentierte das Bild einer selbstunsicheren, wehrlosen Frau, hatte jedoch auch eine Seite, mit der sie andere massiv manipulierte und diese dadurch selbst in große Schwierigkeiten hätte bringen kön- nen. Es war zu vermuten, dass hinter der Unsicherheit eine deut- lich agierende Seite lag, die maligne narzisstische Züge aufwies. Diagnostische Beurteilung Diagnostisch gingen wir von einer Opiat- und Benzodiazepinabhän- gigkeit in Verbindung mit einer depressiv-ängstlichen Symptoma- tik auf dem Boden einer masochistischen-melancholischen und emotional-instabilen Primärpersönlichkeit aus ▶ Tab. 1 und verein- barten mit der Patientin folgende Behandlungsziele: Reduktion und Umstellung von Methadon/Dormicum auf Oxacepam/Buprenor- phin und Abbau nicht suchtbezogener Psychopharmaka (Venlafa- xin, Phenothiazin und Zolpidem). Durcharbeiten von repetitiven dysfunktionalen Beziehungsmustern, Verbesserung der Aff ektre- gulation, Planung einer stabilen Mutter-Kind-Umgebung, inklusi- ve einer langfristigen Behandlung und Aufbau eines Netzwerkes. Diff erentialdiagnostisch dachten wir anfänglich auch an eine dro- geninduzierte Psychose bzw. aufgrund der erheblichen Intoxikati- on an ein neuronales Geschehen, was jedoch mittels MRI ausge- schlossen werden konnte. Den Konsum sahen wir als eine narziss- tische Plombe, die die Defizite ausglich und gleichzeitig einer Selbstkasteiung glich ebenso wie ihre destruktiven Beziehungen, die etwas Morbides, Nekrophiles hatten. Mit Partnern, die wie alte, verwahrloste Männer erschienen, zahnlos, ungepfl egt und multi- morbide, als ob sie den Zerfall genießen würde oder sie dadurch trotz des eigenen Zerfalls immer noch besser dastand. Verlauf der Behandlung Wir indizierten die Patientin für eine multimodale bio-psychosozi- al orientierte Teambehandlung für die Zielsymptome Substanz- abusus bei Schwangerschaft, Aff ektregulationsstörung, Identitäts- diff usion mit fragilem Selbstbild sowie Schuldgefühlen, Unsicher- heit und Selbstzerstörungswut mit Zerstörung des noch jungen Lebens, aber auch passiv-aggressiven Impulsen. Wir orientierten uns dabei an einem Setting für Doppeldiagnosen [ 15 ] . Je nachdem ob die Sucht oder Persönlichkeitsstörung/Trauma im Vordergrund standen, haben wir die Behandlung entsprechend angepasst, um so einen Therapieabbruch zu verhindern. Außerdem wurde unse- rerseits festgelegt, die Behandlung nicht institutionell zu beenden, sondern mit Time-outs auf der Akutstation zu arbeiten, um Bezie- hungskonstanz zu gewährleisten ▶ Tab. 1 . Merksatz Die Krux liegt darin, auf destruktives Verhalten zu reagieren, ohne dabei die therapeutische Beziehung abzubrechen. Pharmakologisch wurde gleich zu Beginn eine Umstellung von Mi- dazolam sowie Zolpidem auf Oxacepam als Monotherapie vorgenom- men. Im Verlauf Methadon durch Buprenorphin ersetzt ( ▶ Tab. 2 ). In der Einzeltherapie wurden die Sehnsucht gegenüber älteren Männern und später die sado-masochistische Beziehungsgestal- tung im Kontext eines ungelösten ödipalen Konfl iktes, bei verzerr- tem oder fast fehlenden väterlichen Objektes, gesehen und aufge- arbeitet. Selbst bei der Gesprächen mit der Familie waren immer nur die Mutter und die Schwestern zugegen. Der Vater entzog sich den Gesprächen komplett. Einerseits ersetzte sie das Fehlen des Vaters durch die eigene Fantasie eines inneren Väterlichen Objek- tes und andererseits zentrierte sich die Wut fast ausschließlich auf die Mutter. Dies wurde Stück für Stück durchgearbeitet und konn- te weitestgehend aufgedeckt und zumindest stabilisiert werden. Außerdem wurde in der Einzeltherapie übertragungs-fokussiert nach Kernberg gearbeitet und durch Elemente der DBT-Sucht von M. Linehan ergänzt . Brokatzky S. Patientin mit Schwangerschaft, Borderline-Organisation … Suchttherapie 2022 ; 23 : 44 – 51 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 47

sprochen. Ferner wurde gleich zu Beginn mit einer psychodynami- schen Einzel- und Gruppentherapie begonnen, ergänzend dazu nahm sie an der DBT-Skillsgruppe, Achtsamkeits- und Sozialkom- petenzgruppe und dem freien Atelier teil. Ferner erhielt sie bei Be- darf NADA-Akupunktur sowie ein auf sie angepasstes Sportpro- gramm und Yoga. Nachuntersuchung (5 Jahre später) Die Patientin präsentierte sich während des Interviews völlig un- auff ällig. Sie wies weder depressive noch ängstliche Beschwerden auf. Ein Toxscreen auf die gängigen Substanzen war völlig blande. Sie habe sich während der vergangenen 5 Jahren als Selbstständi- ge etablieren können und zwischenzeitlich ein zweites Kind gebo- ren. Sie sei weiterhin in der gleichen Beziehung wie damals. Bis auf einen gelegentlichen Nikotingebrauch verneinte sie jegliche Sub- stanzen. Die Kinder, die Partnerschaft und der Beruf seien für sie derart erfüllend, dass sie kaum Gedanken an die Vergangenheit verschwende. Sie sei auch seither nicht mehr in Behandlung gewe- sen. Allerdings habe sie sich ihre Demut und Dankbarkeit für den damaligen Vertrauensvorschuss durch das Team bewahrt. Sie selbst hätte dieses Vertrauen damals nicht in sich gehabt. Kontakte in die Szene habe sie schon damals alle abgebrochen und sich auch sozi- al eine neue Existenz aufgebaut. Das Verhältnis zur Mutter, aber auch zum Vater, welches damals immer wieder schwierig gewesen sei, habe sich zwischenzeitlich zum Positiven gewendet. Ihre Eltern würden ihr auch mehr zutrauen und sie nicht mehr in Watte pa- cken. Ihre Eltern unterstützen sie aufgrund ihrer selbstständigen Tätigkeit in der Kinderbetreuung. Zu ihren Schwestern bestehe nun ein regelmäßiger Kontakt. Insgesamt führte die Familie eine off e- nere Kommunikation. Natürlich gibt es vermutlich weiterhin The- men, die bisher noch nicht angesprochen wurden. Aufgrund fehlender, objektivierbarer Beschwerden wurde eine weitere Testdiagnostik verzichtet. Erstaunlich war v. a. die Verän- derung ihrer Internetseite, die 2012 sehr düster gefärbt war und v. a. sadomasochistische Motive aufwies und aktuell sehr bunt und familienorientiert erschien. Dieses Erleben durch den Untersucher wurde bei Vertiefung der Thematik während des Interviews von der Patientin bestätigt. Es beschreibe ganz gut ihren Lebenswandel und ihr generelles Gefühl dem Leben gegenüber. Voraussetzung dafür war jedoch die erste Schwangerschaft und die lange Therapie. Sie gibt an: „Alleine wäre ich da nicht rausgekommen!“. Diskussion und Schlussfolgerungen Die aktuellen Empfehlungen sehen von einer Umstellung von Me- thadon auf Buprenorphin ab [ 3 ] . Allerdings weist Buprenorphin ein etwas besseres Profi l gegenüber Methadon auf, wobei das Entschei- dende sicherlich darin besteht, inwiefern eine Patientin die Substi- tution verträgt und Rückfälle ein Thema sind [ 6 , 8 – 11 ] . Im klini- schen Alltag, insbesondere bei Berufstätigen und auch im vorlie- genden Fall, haben wir gute Erfahrungen mit der Umstellung gemacht. Neben der stabilen Substitution war das NAS des Kindes innerhalb weniger Tage abgeschlossen. Der komplette Abbau der Benzodiazepine vor Beginn des dritten Trimenons hatte sicher einen Einfl uss darauf, wobei Studien zeigen, dass die Intensität des NAS nicht nur von der konsumierten Substanz, sondern von vielen anderen Faktoren abhängig ist [ 14 – 20 ] . Der nahezu komplette Abbau der anfänglichen Polypharmakotherapie auf eine Erhal- tungsdosis von 8mg Buprenorphin wurde vom Team und den ex- ternen Behandlern als herausragende Leistung der Patientin gese- hen. Dies hatten wir am Anfang nicht für möglich gehalten, bestä- tigte uns jedoch darin, Überzeugungen und Vorstellungen ständig zu überprüfen, eigene Klischees selbst abzubauen und den Patien- ten vorbehaltlos entgegen zu treten und sich selbst ein Bild zu ma- chen. Das Bild von der Patientin kippte während der Behandlung auch bei den Kritikern und man honorierte ihre Anstrengung und ihren Willen. Die Zweifel wurden jedoch nur in den multidisziplinä- ren Teamsitzungen angesprochen und soweit es ging ausgeräumt. Erst dann kommunizierte der Fallführer mit der Patientin. Es wurde gleich am Anfang festgelegt und der Patientin auch mitgeteilt, dass es unsererseits keinen Behandlungsabbruch geben werde, ledig- lich kurzzeitige Verlegungen auf die Akutstation – festgelegt durch die Behandlungsvereinbarung – bei durchgehender Betreuung durch uns. Rückblickend sah sie dies im Rahmen der katamnesti- schen Nachuntersuchung als den Vertrauensbeweis, der ihr die Si- cherheit gab. Dieser sichere Raum ermöglichte es ihr, biografi sche Konfl ikte, die sich reinszenierten, neu zu bewerten. Innerhalb der Herkunftsfamilie gelang ihr es nicht aus der Täter-Opfer-Rolle zu kommen, sodass sie diese Beziehungskonstellation immer wieder- holte. Die Reinszenierung hingegen führte zur Integration der ab- gespaltenen Anteile und ermöglichte es ihr ihre Gefühle besser ein- zuordnen und so aus dem pathologischen Muster einer sadomaso- chistischen Beziehungsdynamik aussteigen zu können. Danach konnte sie dies in die Herkunftsfamilie und ihre neue eigene Fami- lie transponieren. Beispielhaft für diese innerpsychische Verände- rung war auch die Veränderung ihrer Internetseite. Diese war an- fänglich schwarz-weiß mit v. a. sadomasochistischen Motiven und veränderte sich hin zu einem bunten eher hysterisch-neurotischem Organisationniveau. In den wichtigen Momenten konnte durch klare Absprachen ein sicherer Raum geschaff en werden, der nicht wertend, sondern kritisch-loyal war. Für die Einzeltherapie war es wichtig, welche Gesprächsthemen mit dem Helfersystem geteilt und welche nur für die Einzel-Therapie bestimmt waren. Grenzen bestehen generell bei Suizidalität, unangenehmen aber wichtigen sozialen Themen, die rasch geklärt und für die Informationen ge- teilt werden müssen. Der „Non-Entlassungsvertrag“ muss natür- lich kritisch gesehen werden, genauso hätte es zu einem niemals endenden Katz und Maus-Spiel kommen können. Auf der anderen Seite war unsere Haltung, dass der Rückfall ein Symptom der Grunderkrankung ist und jemand aus unserer Sicht deswegen nicht entlassen werden kann. Es ist zudem sehr erstaunlich, dass wenn der Rückfall nicht das Ende der Therapie darstellt, diese Patientin sowie die meisten Patienten unserer Station ehrlich mit Rückfällen umgehen und so die Dynamik des Rückfalls in die Therapie ge- bracht wird, wo er verstanden, und wie in diesem Fall korrigiert werden kann. Kritisch sind natürlich der fi nanzielle Aufwand und die Dauer der Behandlung zu sehen. Allerdings zeigt sich, wenn man ihre gesamten Vorbehandlungskosten als Vergleichswert he- ranzieht - dies entspricht circa 100 Wochen stationäre und 5 Jahre ambulante Vorbehandlung – dass die aktuelle Behandlung mit 27 Wochen stationär/teilstationär und 2 Jahren ambulanter Behand- lung, deutlich billiger ist und man die Haltung vertreten kann, dass eine zunächst intensive sowie längerfristige Behandlung auf den Brokatzky S. Patientin mit Schwangerschaft, Borderline-Organisation … Suchttherapie 2022 ; 23 : 44 – 51 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 49

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Termine Termine Aufgrund der Covid-19 Entwicklungen gab es bereits einige Kongressabsagen und/oder Verschiebungen. Mögli- cherweise werden Veranstaltungen digital, als Hybridveranstaltung und nicht reine Präsenzveranstaltungen stattfi nden. Bitte informieren Sie sich daher auf der jeweiligen Kongresshomepage über den aktuellen Stand. Jahrestagung der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) Zürich, verschoben auf 2023 „Trauma in der digitalen Welt“ Kontakt: Anja Kutzer, Simone Mollenhauer, Kerstin Stahl Tel.: 040/7410–54203 Fax: 040/7410–55121 a.kutzer@uke.de www.jahrestagungdegpt.org/ Wissenschaftliche Jahrestagung buss 22.–23.3.2022, Berlin Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. Kontakt: buss, Wilhelmshöher Allee 273, 34131 Kassel Tel.: 0561/779351 Fax: 0561/102883 buss@suchthilfe.de www.suchthilfe.de 26. Tübinger Suchttherapietage 30.3.–1.4.2022, Tübingen Präsenzveranstaltung mit 2-G Regelung Kontakt: Matthias Pforr Sektion Suchtmedizin und Suchtforschung Calwerstraße 14, 72076 Tübingen Tel.: 0172/5809819 Fax: 07071/29–5384 tst@med.uni-tuebingen.de www.tuebinger-suchttherapietage.de 27. Wissenschaftliches Symposium des Norddeutschen Suchtforschungsver- bundes (NSF e.V.) 1.6. oder 15.6.2022, Hannover https://www.nsfev.de/wissenschaftliche- symposien/ The ASAM 53 rd Annual Conference – Innovations in Addiction Medicine and Science 31.3.–3.4.2022, Hollywood, Florida, USA https://www.asam.org/education/2022-an- nual-conference EPA 2022, 30 th European Congress of Psychiatry 2.–5.4. 2022, Budapest, Ungarn European Psychiatric Association EPA 2022 www.epa-congress.org 26. Suchttherapietage 7.–9.6.2022, Hamburg „Warum erreichen wir die Zielgruppen nicht: Unpassende Angebote oder Krankheitsimma- nent?“ Kongressbüro der Suchttherapietage Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung ZIS UKE, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Martinistraße 52, 20246 Hamburg Tel.: 040/7410–54203 Fax: 040/7410–55121 kontakt@suchttherapietage.de www.suchttherapietage.de 7 th International Conference on Behavioral Addictions (ICBA) 20.–22.6.2022, Nottingham, UK „Behavioral addictions – from past to present” http://icba.mat.org.hu/2022/ 45 th Annual RSA Scientifi c Meeting – Research Society on Alcoholism 25.–29.6.2022, Orlando, Florida, USA http://www.rsoa.org/ 22. Interdisziplinärer Kongress für Suchtmedizin 30.6.–2.7.2022, München Holiday Inn Munich – City Centre Hochstraße 3, 81669 München Kontakt: Mike Aschenbrenner Tel.: 08191/125–136 Fax: 08191/125–97136 mike.aschenbrenner@sv-veranstaltungen.de Deutscher Suchtkongress 2022 7.–9.9.2022, München Details folgen Kontakt: Prof. Dr. Ludwig Kraus (IFT München) www.deutschersuchtkongress.de/ www.suchtkongress.org ISBRA/ESBRA Joint Congress 17.–20.9.2022, Krakau, Polen https://www.isbra.com/conferences/ ISAM 2022 – Annual conference of International Society of Addiction Medicine (ISAM) 4.–7.10.2022, Valletta, Malta https://isamweb.org 10 th INHSU International Conference on Hepatitis Care in Substance Users 19.–21.10.2022, Glasgow Kontakt: info@inhsu2020.com https://www.inhsu.org/2021-conference/ Suchttherapie 2022 ; 23 : 53 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 53

Impressum Impressum Suchttherapie 23. Jahrgang Die Suchttherapie erscheint 4-mal jährlich. ISSN (Print): 1439-9903, eISSN: 1439-989X Copyright & Ownership Wenn nicht anders angegeben: © 2022. Thieme. All rights reserved. Die Zeitschrift Suchttherapie ist Eigentum von Thieme. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Herausgebergremium Dr. phil. Dipl.-Psych. Gallus Bischof, Universität zu Lübeck, Zentrum für Integrative Psychiatrie ZIP, Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck; Prof. Dr. Michael Klein, Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Wörthstr. 10, 50668 Köln; Dr. Thomas Kuhlmann, Psychosomatische Klinik Ber- gisch Gladbach, Schlodderdicher Weg 23a, 51469 Bergisch Gladbach; Prof. Dr. Diana Moesgen, Katholische Hochschu- le Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Leostraße 19, 33098 Paderborn; Prof. Dr. Jens Reimer (Editor-in- Chief), Zentrum für Interdis ziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) c/o Zentrum für Psychosoziale Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie im UKE, Martini- straße 52, 20246 Hamburg; Prof. Dr. med. Ulrich W. Preuss, Klinikum Ludwigsburg, Klinik für Psychiatrie, Psychothera- pie und Psychosomatische Medizin, Posilipostraße 4, 71640 Ludwigsburg; Dr. Klaus Wölfl ing Psychologische Leitung – Ambulanz für Spielsucht Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universi- tätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Untere Zahlbacher Str. 8, 55131 Mainz; PD Dr. Friedrich M. Wurst, Medical Park Chiemseeblick, Rasthaus straße 25, 83233 Bernau Die Herausgebenden sind nicht verantwortlich für in der Zeitschrift enthaltene Anzeigen und Beilagen. Redaktion Silke Kuhn und Elke Rühling, Zentrum für Interdis ziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) c/o Zentrum für Psychosoziale Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie im UKE, Martinistraße 52, 20246 Hamburg Tel.: +49 40/741057905; Fax: +49 40/741058351 E-Mail: skuhn@uke.de Verlag Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 301120, 70451 Stuttgart Tel.: +49 711 8931-0, Fax: +49 711 8931-298 www.thieme.de, www.thieme.de/suchttherapie www.thieme-connect.de/products Web-App: www.thieme.de/eref-app Redaktion im Verlag Sie erreichen die Redaktion unter: st.impressum@thieme.de V.i.S.d.P.: Dörte Jensen, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart Verantwortlich für den Anzeigenteil Thieme Media Pharmedia Anzeigen- und Verlagsservice GmbH Andreas Schweiger, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 300880, 70448 Stuttgart Tel.: +49 711 8931-245, Fax: +49 711 8931-470 E-Mail: andreas.schweiger@thieme-media.de Produktionsmanagement Tel.: +49 711 8931-248, Fax: +49 711 8931-393 E-Mail: Andrea.Schwaegler@thieme.de Abonnentenservice Wir bitten unsere Abonnent*innen, Adressänderungen dem Abonnentenservice mitzuteilen, um eine reibungslose Zustellung der Zeitschrift zu gewährleisten. 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Grundsätzlich werden nur solche Manuskripte ange- nommen, die noch nicht anderweitig veröff entlicht oder zur Veröff entlichung eingereicht worden sind. Bitte beachten Sie: Wir können keine Abbildungen annehmen, die bereits in Büchern, Zeitschriften oder elek- tronischen Produkten anderer Anbieter*innen publiziert worden sind oder an denen ein Dritter Nutzungsrechte hat (z.B. Arbeitgeber). Der Grund: Auch gegen Lizenzgebühr ist es kaum noch möglich, die Nutzungsrechte in dem für uns erforderlichen Umfang zu erhalten. Bitte zahlen Sie deshalb keine Lizenzgebühren (z.B. bei „RightsLink“ / Co- pyright Clearance Center) – auch die Standard-Lizenzver- träge von „Creative Commons“ sind für eine Publikation leider nicht ausreichend. Diese Zeitschrift bietet AutorInnen die Möglichkeit, ihre Artikel gegen Gebühr in Thieme connect für die all gemeine Nutzung frei zugänglich zu machen. 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Suchttherapie 2018; 19 Suchttherapie 2022; 23 | © 2022. Thieme. All rights reserved. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikati- onsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr über- nommen werden. Jede*r Benutzende ist angehalten, durch sorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Präparate und ggf. nach Konsulta tion eines Spezialisten oder einer Spezialistin festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung für Dosierungen oder die Beachtung von Kon- traindikationen gegenüber der Angabe in dieser Zeitschrift abweicht. Eine solche Prüfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Präparaten oder solchen, die neu auf den Markt gebracht worden sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzenden. Autor*innen und Verlag appellieren an alle Benutzenden, ihm etwa auff allende Ungenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind für die Dauer des Urheberrechts ge- schützt. 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