Sprache · Stimme · Gehör Zeitschrift für Kommunikationsstörungen 1 März 2024 Seite 1–72 47 . Jahrgang Indexed in SCOPUS, Emerging Sources Citation Index (ESCI), PSYNDEX Schwerpunkt Cochlea-Im- plantation – State of the Art ▪ Indikationen zur CI-Versorgung bei Kindern: Wohin geht die Reise? ▪ Aktuelle Trends und Entwicklungen bei der CI-Versorgung ▪ Single-Sided Deafness – mit dem Zweiten hört man besser ▪ Musikerleben mit CI – Aktuelle neurowissenschaftliche Befunde ▪ Die Rolle von Ultra-Power- Hörsystemen in der Versorgung von hochgradig schwerhörigen Personen ▪ Zukunftstrends in der Förderung und Therapie hochgradig schwerhöriger Personen

Editorial Sprache · Stimme · Gehör Zeitschrift für Kommunikationsstörungen Prof. Dr. Annette Leonhardt, Heraus- geberin Liebe Leserinnen und Leser, unser aktuelles Heft widmet sich dem Schwerpunktthema „CI – State of the Art“. Das Thema „CI“ begleitet die Leserschaft unserer Zeitschrift schon seit den 1980er-Jahren. Obwohl das Wissen um und über das Cochlea-Implantat inzwischen für uns Fachleute zum Grundwissen gehört und uns das CI nahezu täglich im beruflichen Alltag begegnet, gilt es „auf dem Laufenden zu bleiben“. Nur so wird eine langfristige Weiterentwicklung des Implantats im Sinne der Betroffenen gewährleitet. Betreut wurde das aktuelle Schwerpunktthema von Rainer Schönweiler, der durch das Einwerben der einzelnen Beiträge und die Wahl der Autoren das Thema aus sehr unterschiedlicher Perspektive beleuchten lässt (Single-Sided Deafness, Musikerleben, Ultra-Power-Hörsysteme, Indi- kation für die CI-Versorgung von Kindern oder die Förderung und Therapie hochgradig schwerhöriger Patientinnen und Patienten) und uns so zu aktualisiertem Wissen ver- hilft. Das von Rainer Schönweiler mit Tobias Moser geführte Interview bietet weitere und zugleich ergänzende Informationen und Erkenntnisse. Daneben präsentiert das Heft bekannte und gewohnte Rubriken wie „Der kleine Repe- titor“ (diesmal mit „Joint Attention“ von Christiane Kiese-Himmel), der „Patienteninfor- mation“ (mit „Minimale Hörschäden bei Kindern – Auswirkungen auf schulisches Ler- nen“ erörtert von Annette Leonhardt), „Hören und Verstehen“ (mit „Dysarthrie bei Glu- kosetransporter1-Defekt“ von der Autorengruppe Anne Jurkutat, Martina Barthold und Jörg Klepper), „Kommunikationsstörungen und Genetik“ (mit dem Thema „Fragiles-X- Syndrom“, dargestellt von Jana Spoddig), „Effekt – Evaluation – Evidenz“ (diesmal mit „Signifikanzniveau, p-Wert“ von Stephan Sallat) oder „Neue Impulse“ (mit „Entwick- lung eines UK-Videocoachings für Eltern von Kindern im Autismus-Spektrum“ durch Sandra Guggenberger mit einer Kommentierung von Dana Gaigulo). Diese Einheiten sind gewohnt kurz, prägnant informierend und sollen zum Nachdenken anregen. Auch das neue Heft enthält eine Originalarbeit, im vorliegendem zum Thema „Entwick- lung der Verbstellung im Deutschen – eine Studie zu typischen und atypischen Verläu- fen anhand elizitierter Sprachproduktion“ von Kim Lawatsch und Christina Kauschke, Marburg. Im Beitrag wird die Entwicklung der Verbstellung im Haupt- und Nebensatz unter Beachtung der Subjekt-Verb-Kongruenz und der Verwendung von Konjunktionen bei monolingual deutschsprachigen Kindern im Alter zwischen 3;0 und 6;11 Jahren an- hand elizitierter Sprachproduktion untersucht. Am Ende ihrer Ausführungen heben die Autorinnen zusammenfassend hervor, welches Wissen sich bestätigt hat und was die neuen Erkenntnisse der Studie sind. Wir hoffen und wünschen auch mit diesem Heft die vielfältigen und unterschiedlichen Interessen unserer Leserschaft zu entsprechen. Es erwartet Sie im Heft 1 ein breitge- fächertes und für Sie hoffentlich interessantes und anregendes Programm! Viel Freude beim Lesen wünscht Ihre Annette Leonhardt Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 1

Inhalt Sprache · Stimme · Gehör März 2024 · 48. Jahrgang · Seite 1–72 4 Der kleine Repetitor | Joint Attention 6 Gutachter*innen 2023 6 Für Sie gelesen, für Sie gehört | Zytomegalievirus- infektion 8 Für Sie gelesen, für Sie gehört | Internationale Leitlinie „Kognitive Kommunikationsstörungen nach Schädel- Hirn-Trauma“ 9 Hören – Erkennen – Verstehen | Dysarthrie bei Glukose- 44 Schwerpunktthema | Die Rolle von Ultra-Power-Hörsys- temen in der Versorgung von hochgradig schwerhörigen Personen Siegrid Meier, Armin Herbertz Main Topic | The Role of Ultra-Power Hearing Systems for the Fitting of Profoundly Hearing Impaired Individuals 49 Schwerpunktthema | Zukunftstrends in der Förderung und Therapie hochgradig schwerhöriger Patient*in- nen Vanessa Hoffmann Main Topic | Future Trends in the Support and Therapy of Profoundly Deaf Patients transporter-1-Defekt (Glut1-Defekt) 54 Interview | Hörvermögen wiederherstellen mit Opto- genetik Interview mit Professor Tobias Moser 57 Neue Impulse | Entwicklung eines UK-Videocoachings für Eltern von Kindern im Autismus-Spektrum Sandra Guggenberger 60 Originalarbeit | Entwicklung der Verbstellung im Deut- schen – eine Studie zu typischen und atypischen Verläu- fen anhand elizitierter Sprachproduktion Kim Lawatsch, Christina Kauschke Original Article | Development of Verb Placement in Ger- man – Typical and Atypical Trajectories Based on Elicited Speech Production 71 Patienteninformation | Minimale Hörschäden bei Kin- dern – Auswirkungen auf schulisches Lernen Annette Leonhardt Impressum nach letzter Seite Covergestaltung: © Thieme Bildnachweis Cover: © Thieme Restliche Bestandteile und Composing: © Thieme 11 Kommunikationsstörungen & Genetik | Fragiles-X-Syn- drom 13 Effekt – Evaluation – Evidenz | Signifikanzniveau, p-Wert 15 Editorial | Cochlea-Implantation – State of the Art Rainer Schönweiler, Dirk Mürbe Editorial | Cochlea Implant – State of the Art 16 Schwerpunktthema | Indikationen zur Cochlea-Implan- tat Versorgung bei Kindern: Wohin geht die Reise? Anke Hirschfelder, Dirk Mürbe Main Topic | Indications for Cochlear Implants in Chil- dren: Where is the Journey Heading? 22 Schwerpunktthema | Aktuelle Trends und Entwicklun- gen bei der Cochlea-Implantat-Versorgung Joachim Müller, Carmen Molenda, Daniel Polterauer Main Topic | Current Trends and Developments in Coch- lear Implantation 32 Schwerpunktthema | Single-Sided Deafness – Mit dem „Zweiten“ hört man besser Till F. Jakob, Antje Aschen- dorff, Susan Arndt Main Topic | Single-Sided Deafness (SSD) – With the „Second“ You Hear Better 38 Schwerpunktthema | Musikerleben mit Kochleaimplan- tat: aktuelle neurowissenschaftliche Erkenntnisse Laura Elisabeth Hahn, Claudia Männel, Dirk Mürbe Main Topic | Experiencing Music With a Cochlear Implant – Current Neuroscientific Evidence Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

FAZIT Joint Attention (JA; gemeinsame Aufmerksamkeitsfokussierung) ist ein wichtiges Phänomen in der frühen humanen Entwicklung. Es steht in Verbindung mit dem spä- teren Erwerb komplexer sozial- kognitiver Fähigkeiten, z. B. der Fähigkeit, mentale Inhalte anderer Personen aufgrund von Informa- tionen über deren Absichten/Ziele einerseits und deren Überzeugun- gen und Glauben andererseits vor- herzusagen (Theory of Mind), mit kooperativem Verhalten, mit Spra- che. JA, ein basales Merkmal frühkind- licher sozialer Interaktion und Kommunikation, beeinflusst in westlichen Kulturen den Beginn der Sprachentwicklung, trägt nachweislich zu den sprachlichen Leistungen eines Kindes bei und vermag spätere Sprachleistungen zu prognostizieren. Prof. Dr. Dipl.-Psych. Christiane Kiese- Himmel, Medizinische Fakultät der WWU Münster, UKM und Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität hin, dass JA-Episoden während der Inter- aktion mit Vätern die expressive Sprach- entwicklung von Kleinkindern ebenso fördern. Das Ausmaß, in dem ein Kind von JA-Episoden sprachlich profitiert, hängt aber davon ab, wie stimulierend die Bezugsperson solche gestaltet, d. h. ist auch abhängig von deren kognitiven und motivationalen Skills. Kinder, die JA weder erzeugen noch ver- stehen können, haben Probleme mit dem Wortlernen. Die Beobachtung der Kontinuität von JA als präverbalen Vor- läufer und Vorläufer der Wortschatzent- wicklung wurde überwiegend in Kinder- populationen mit atypischer Entwick- lung bestätigt, z. B. bei Kindern mit Mor- bus Down oder solchen mit einer Autis- mus-Spektrum-Störung (ASS). Kindern mit Intelligenzminderung fällt es schwer, ihre Aufmerksamkeit zwischen Referen- ten zu verlagern, wenn die Situation hoch kognitiv ist, etwa bei der sozialen Referenzierung. Ein von der Bezugsper- son genannter Objektname wird dann nicht mit dem Objekt in Beziehung ge- bracht, weswegen kein stetiger Aufbau des Lexikons erfolgt. Bei Kindern mit ASS wurden in den ersten Lebensjahren Unterschiede in Häufigkeit und Qualität von JA festgestellt, weil sie sich weniger sozialen Reizen zuwenden; ihre Entwick- lung von JA war verzögert oder gar ein- geschränkt. Allerdings können einige Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung Sprache auch unabhängig von JA erwer- ben. Die Reaktion auf JA ist bei ihnen ein robuster Prädiktor für rezeptive und ex- pressive Sprache, ebenso die Initiierung, wenngleich deren prädiktive Beziehung zum sprachlichen Output in der Regel eher schwach ist. Die Ausgangsfähigkei- ten in einer heterogenen Stichprobe von ASS-Kindern bzgl. der Reaktion auf JA sagten in einer empirischen Studie ein- deutig die expressive (nicht die rezepti- ve) Sprachwachstumsrate im Laufe der Zeit voraus. nation visueller und taktiler statt audi- tiver Aufmerksamkeitshinweise. Dyaden von hörenden Eltern mit hörbehinderten Kindern erreichen weniger und kürzere Momente von JA im Vergleich zu Dyaden von gehörlosen Eltern mit gehörlosen Kindern oder Dyaden von hörenden El- tern mit hörenden Kindern. Gehörlose Kinder hörender Eltern, die keine Zei- chensprache nutzen, haben größere De- fizite in der JA. Blinde Kinder können keinen Aufmerksamkeitsfokus erkennen und müssen sich mehr auf auditive und taktile Reize verlassen. Daher brauchen sie länger, um JA initiieren zu können. Verzögerungen in der Entwicklung von JA zeigen sich in der Regel zwischen dem 12. und 24. Lebensmonat und schränken damit oft entscheidende In- teraktionen mit anderen ein, die für die Sprachentwicklung notwendig sind. Joint Attention und Sprachentwicklung Reaktion auf wie auch Initiierung von JA spielen eine wichtige Rolle im primären Spracherwerb. So gehören Zeigewörter wie „da“ zu den ersten Wörtern; sie sind untrennbar mit Gesten verbunden und dienen der JA-Initiierung. Dabei scheint eine vom Kind initiierte JA in der Eltern- Kind-Interaktion zu einem größeren Wortlernen zu führen, weil Eltern dann nahezu automatisch beginnen, ein Ob- jekt im gemeinsamen Aufmerksamkeits- fokus zu benennen. Beim Spiel mit nicht- elektronischem Spielzeug bieten sie einen reichhaltigeren Sprachinput an und zeigen mehr responsives, instrukti- ves und unterstützendes Verhalten als beim Spiel mit elektronischem Spiel- zeug. JA-Episoden mit der Mutter korrelieren positiv mit dem Wortschatzwachstum. Die Zeit, die ein Kind im Alter von 11 Mo- naten in Mutter-Kind-Dyaden mit JA ver- bringt, konnte den vier Monate später gemessenen rezeptiven Wortschatz vor- hersagen. Darüber hinaus erlaubte die Qualität der gemeinsamen Aufmerksam- keitsinteraktionen im Alter von 15 Mona- ten eine Vorhersage expressiver Sprach- leistungen im Alter von 21 Monaten. Em- pirische Ergebnisse deuten weiter darauf Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 4–5 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 5

Klinische Studien zeigten, dass bei früher Diagnose der ZMV-Infektion bei einer Schwangeren durch antivirale Chemo- oder Immunglobulintherapie die trans- plazentare Übertragung und die Infekti- on des Fetus verhindert werden können. Die pränatale Verabreichung des Medi- kaments Valacyclovir bei Schwanger- schaften mit mütterlicher ZMV-Infektion verringert das Risiko einer kongenitalen ZMV-Infektion des Neugeborenen. Wei- tere Erkenntnisse sind jedoch erforder- lich, um zu erfahren, ob Valacyclovir den Verlauf der Infektion beim Fetus sowie das Risiko einer symptomatischen feta- len oder neonatalen Infektion beeinflus- sen kann. Ebenso ist es möglich, die Er- krankung der ZMV-infizierten Neugebo- ren nach Diagnose während der ersten Lebenswochen durch antivirale Medika- mente zu behandeln bzw. positiv zu be- einflussen. Letztlich bleibt es eine He- rausforderung vorauszusehen, welche Kinder mit kongenitaler ZMV einen Hör- verlust erleiden werden. Daher sind re- gelmäßige Hörtest-Kontrollen ratsam. Wenn ein Hörverlust in den ersten Le- bensmonaten auftritt und diagnostisch bestätigt ist, muss eine Intervention stattfinden, um dauerhafte negative Auswirkungen auf die Lautsprachent- wicklung eines betroffenen Kindes zu vermeiden. Daher sind hörverstärkende Maßnahmen einzuleiten (in Einzelfällen auch Versorgung mit Cochlea-Implanta- ten [CI], sofern die CI-Kriterien erfüllt werden), unterstützt durch andere The- rapien, wenn erforderlich. Kinder mit kongenitaler ZMV-Infektion müssen langfristig genau beobachtet werden, denn wenn ein Kind eine Hörschädigung hat, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese mit der Zeit verschlimmert. Antivirale Medikamente wie z. B. Ganci- clovir oder Valganciclovir zur Bekämp- fung der Infektion haben einen beschei- denen Einfluss auf den bereits eingetre- tenen Hörverlust. Bei kritischer Betrach- tung der Daten sind auch die Benefits der langfristigen antiviralen Therapie be- scheiden. Die Verschreibung von Viro- statika ist ohnehin ein heikles Thema, weil mehr Diagnosen im Neugeborenen- und Säuglingsalter zu einer übermäßigen Verschreibung führen. Zudem impliziert e g i e z n A die Verschreibung dieser Antivirenmittel ethische Fragen, weil solch eine Behand- lung ein „falsches Gefühl der Sicherheit“ vermittelt; es entsteht der Eindruck, dass durch die Medikation Behinderungen oder Gesundheitsprobleme gemildert bzw. rückgängig gemacht werden, was nicht der Fall ist. Antivirale Medikamente können Komplikationen nach sich zie- hen, wie z. B. eine Neutropenie. FAZIT Derzeit gibt es keinen akzeptierten Standard für die Therapie einer kon- genitalen ZMV-Infektion, wenngleich einige Fachorganisationen/For- scher*innen Empfehlungen veröf- fentlichten, darunter Albert Park, MD, Chief of Pediatric Otolaryngolo- gy, University of Utah. Die American Academy of Audiology hat im vergan- genen Frühjahr eine Stellungnahme publiziert: https://www.audiology. org/the-american-academy-of-audio logy-releases-position-statement-on- early-identification-of-cytomegalo virus-in-newborns/ Werdende Mütter sollten möglichst vor Schwangerschaftsbeginn ihren ZMV-Antikörperstatus bestimmen lassen. Sind in der Frühschwanger- schaft keine Antikörper nachweisbar, ist der Test alle 6–8 Wochen in der Schwangerschaft zu wiederholen. Anmerkung der Autorin: In Deutschland sehen die derzeitig gültigen Mutter- schaftsrichtlinien keine solche Untersu- chung bei Schwangeren oder Frauen mit Kinderwunsch vor („IGeL-Leistung“). Die Gesellschaft für Virologie e. V. (GfV) hat Anfang 2023 die S2k-Leitlinie „Diag- nostisches und therapeutisches Manage- ment der ZMV-Primär- und ZMV-Nicht- primärinfektion bei Schwangeren und der Folgen von kongenitalen ZMV-Infek- tionen bei Neugeborenen und Kindern“ angemeldet, die 2024 fertiggestellt sein soll. Prof. Dr. Dipl.-Psych. Christiane Kiese- Himmel, Medizinische Fakultät der WWU Münster, UKM und UM Göttingen Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 6–8 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 7

Hören – Erkennen – Verstehen Dysarthrie bei Glukosetransporter-1-Defekt (Glut1-Defekt) Erscheinungsbild Der Glut1-Defekt (engl. Glucose Transporter Deficiency Syndrome, Glut1DS) ist eine genetische Stoff- wechselerkrankung, die 1991 erst- mals beschrieben wurde [1]. Das phä- notypische ist durch eine globale psychomotorische Entwicklungsstörung mit unter- schiedlichen Schweregraden, epilep- tische Krampfanfälle sowie komplexe Bewegungsstörungen charakterisiert [2]. Bei der Mehrzahl der Betroffenen wird im Rahmen der zunehmenden motorischen Beeinträchtigungen von sprechmotorischen Symptomen in Form einer Dysarthrie berichtet [3, 4]. Epidemiologie Aktuell beträgt die prognostizierte In- zidenz der Erkrankung 1,65–2,22 pro 100 000 Geburten [5]. Damit zählt der Glut1-Defekt zu den seltenen Erkrankun- gen. Aufgrund der wachsenden Möglich- keiten der molekularen Diagnostik ist in den letzten Jahren ein kontinuierlicher Anstieg der Fallzahlen zu verzeichnen [2]. Ätiologie und Therapie Der Transport von Glukose aus dem Blut über die Blut-Hirn-Schranke in das Gehirn wird durch den Glukosetransporter Type 1 (Glut1) ermöglicht. Eine Mutation im SLC2A1 Gen bewirkt einen Defekt dieses Transporters, woraus eine energetische Unterversorgung des wachsenden Ge- hirns und infolgedessen das komplexe Erscheinungsbild der Erkrankung resul- tieren [2]. Goldstandard der Behandlung des Glut1-Defekts ist die Verabreichung einer speziellen ketogenen Diät (KD). Die Therapie mit der KD erweist sich in Bezug auf die epileptischen Anfälle über- einstimmend als hoch wirksam [2]. Hin- sichtlich der motorischen Beeinträchti- gungen zeigen sich geringere und indivi- duell heterogene Therapieeffekte [4, 6]. Im Kontext der sprachlich-kommunika- tiven Förderung ist der Glut1-Defekt bis- lang weitgehend unbekannt. Sprachliche und dys- arthrische Symptomatik Globale Entwicklungsstörungen ziehen allgemein eine Verlangsamung der Ge- samtentwicklung nach sich, die in der Regel auch Einschränkungen der sprach- lichen Entwicklung umfasst [7]. Dement- sprechend entwickeln sich sprachsyste- matische Fähigkeiten bei Glut1-Patien- ten proportional zur kognitiven Kompe- tenz, wobei sich Sprachverständnisleis- tungen im Vergleich zu expressiven Leis- tungen als besser erhalten zeigen [8, 9]. Einschränkungen Sprechmotorik sind, sowohl in Bezug auf den Schwere- grad als auch auf die Art der Störungs- merkmale, von einer starken Heterogeni- tät geprägt und können die valide Beur- teilung expressiver sprachlicher Kompe- tenzen erschweren [10]. In einschlägi- gen Forschungsarbeiten erfolgte bisher keine differenzierte, psycholinguistisch begründete Ableitung der sprechmotori- schen Einschränkungen bei Glut1-Defekt mit validen Untersuchungsinstrumen- ten. Vielmehr fußt die Diagnose „Dys- arthrie“ auf informellen Angaben, sub- jektiven Einschätzungen und fragmen- tarischen Angaben aus wenigen Einzel- fallberichten [3, 1, 11, 12]. Die einge- der schränkte Lebensqualität der Betroffe- nen lässt sich insbesondere auf die (sprech)motorischen Defiziten zurück- führen [2]. Da die dysarthrische Sympto- matik im Entwicklungsverlauf zuneh- mend das Störungsbild dominiert und die Effekte diättherapeutischer Maßnah- men auf die motorischen Komponenten der Krankheit begrenzt sind [13], ist die Konzentration auf die dysarthrische Komponente der Erkrankung unverzicht- bar [10]. Hörbeispiele Bei den Hörbeispielen handelt es sich um Pilotierungsdaten, die im Rahmen des Forschungsprojektes „Sprechmotorische Störungen bei Glut1-Defekt“ (https:// www.sonderpaedagogik.uni-wuerzburg. de/s/forschung/glut1/) erhoben wurden. Die Gegenüberstellung der Symptomatik zeigt die Variabilität der dysarthrischen Störungsausprägung. ▶ Tab.1 Dysarthrische Symptomatik (erhoben mit den Bogenhausener Dysarthrieskalen, BoDyS [14]) Pat. 1 (▶ Audio 1) Pat. 2 (▶ Audio 2) BoDyS-Gesamtschwergrad: leichte Dysarth- rie (τ – normierter T-Wert: 52,4) BoDyS-Gesamtschweregrad: mittelschwere Dysarthrie (τ – normierter T-Wert: 43,6) Die Funktionsbereiche Stimmlage und Reso- nanz sind unbeeinträchtigt. Die Störungsschwerpunkte der Patientin liegen auf den Skalen: Stimmqualität (durch- gängig behaucht, eher leise, eingeschränkt tragfähig), Artikulationstempo (erniedrigt) und Modulation (monoton). Alle Funktionsbereiche sind betroffen. Die Störungsschwerpunkte der Patientin liegen auf den Skalen: Stimmlage (am Äußerungsanfang stark erhöht, am Ende von Phrasen/Sätzen abfallend), Stimmqualität (durchgehend gepresster, harter und kehlig rückverlagerter Stimmklang), Modulation (eingeschränkt, silbisch-abgehackte, mono- tone, unnatürliche Sprechweise) und Arti- kulation (deutlich reduzierte Artikulations- schärfe mit weiter Kieferöffnung, verringerte Lautkontraste, Aussprachefehler). Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 9–10 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 9

Kommunikationsstörungen & Genetik Fragiles-X-Syndrom Das Fragile-X-Syndrom (kurz: FraX) gilt als die häufigste Ursache erblich bedingter Intelligenzminderung [1, 2]. Es wird durch eine Veränderung im FMR1-Gen auf dem X-Chromosom verursacht. Neben der Intelligenz- minderung als Leitsymptom des FraX, kann die Genmutation bei Betroffe- nen u. a. zu sprachlichen Auffälligkei- ten, einer verzögerten motorischen Entwicklung, Verhaltensauffälligkei- ten und zu Lernschwierigkeiten füh- ren [2, 3]. bung tritt es bei Männern häufiger als bei Frauen auf. Da das zweite X-Chromo- som bei Frauen kompensatorisch wirken kann, sind die Symptome des FraX bei Frauen außerdem meist schwächer aus- geprägt [5]. Ursächlich für das Syndrom ist eine übermäßige Anzahl von CGG-Se- quenzwiederholungen (> 200) im FMR1- Gen [2]. Infolgedessen kann das RNA- Bindungsprotein FMR-1, das für die Ent- wicklung des Gehirns von großer Bedeu- tung ist, nicht oder nur reduziert synthe- tisiert werden [1]. Ätiologie Die geschätzte Prävalenz für das FraX liegt bei etwa 1: 6000 bei Frauen und 1: 4000 bei Männern [4]. Aufgrund seiner X-chromosomalen (rezessiven) Verer- Symptome Das Syndrom geht mit einer Vielzahl möglicher Symptome einher, die in ihrer Ausprägung individuell variieren. Bei den meisten männlichen Betroffenen besteht eine moderat bis stark ausgeprägte In- telligenzminderung, wohingegen nur etwa 25 % der weiblichen Betroffenen eine Form von Intelligenzminderung auf- weisen [3]. Häufig besteht eine verzö- gerte motorische und sprachliche Ent- wicklung. Sprachliche Beeinträchtigun- gen können dabei im expressiven, rezep- tiven, kommunikativ-pragmatischen und schriftsprachlichen Bereich auftreten [3, 4]. Möglich sind außerdem Verhaltens- auffälligkeiten wie Hyperaktivität, Auf- merksamkeitsstörungen und Ängstlich- Anzeige

Effekt – Evalution – Evidenz Signifikanzniveau, p-Wert p-Werte und Signifikanzangaben sind die Grundlage für viele klinische Schlussfolgerungen in Bezug auf The- rapien oder Medikamentengaben. Studienergebnisse werden mit Bezug zu erreichten oder eben nicht er- reichten Signifikanzen berichtet und daraus Schlussfolgerungen für die medizinisch-therapeutische Praxis oder für wissenschaftlichen Folgestu- dien abgeleitet. Der p-Wert oder die Angabe eines Signi- fikanzniveaus kann dabei nicht für sich allein stehen, sondern ist abhängig von der zu prüfenden Aussage oder Frage. Formal ist die Betrachtung von p-Werten die Kurzdarstellung der Prüfung der Wahrscheinlichkeit von im Vorfeld for- mulierten Hypothesen. Unterschieden werden die „Nullhypothese“ (H0 – in der Regel gleichbedeutend mit „kein Effekt“) und die „Alternativhypothese“ (H1 – Vorliegen eines Unterschieds/Effekts be- züglich der interessierenden Fragestel- lung. Der p-Wert kann dabei zwischen 0 und 1 liegen. Je kleiner der Wert, desto unwahrscheinlicher ist die H0. Die Prüfung der Hypothesen erfolgt mit statistischen Signifikanztests entweder zweiseitig (Gleichheit vs. Unterschied – H0 trifft zu oder nicht zu) oder einseitig (Gleichheit vs. positiver/negativer Ef- ▶ Tab. 1 Übersetzung wichtiger Begriffe. Englisch p-value Deutsch p-Wert significance test Signifikanztest significance level Signifikanzniveau null (alternative) hypothesis Null- (Alternativ-) hypothese random sample Zufallsstichprobe test statistic Teststatistik confidence interval Konfidenzintervall mean median Mittelwert Median fekt). Zweiseitig würde man beispiels- weise testen, wenn man für eine Prü- fungssituation das Erreichen des Punkte- wertes 100 vorhersagen möchte (H0 = Punktwert 100 wird erreicht, H1 = Punkt- wert 100 wird nicht erreicht). Da das „Nicht erreichen“ in H1 sowohl die Mög- lichkeit von mehr Punkten als auch die Möglichkeit von weniger Punkten zu- lässt, müsste man zweiseitig prüfen. Wenn die H0 so formuliert wird, dass maximal 100 Punkte erreicht werden, wäre für die H1 die Richtung klar (weni- ger als 100 Punkte). Demzufolge kann man einseitig testen. Bereits im Vorfeld wird festgelegt, mit welcher maximalen Irrtumswahrschein- lichkeit man den Fehler 1. Art zulässt be- vor man die die Nullhypothese ablehnt. Ein Fehler 1. Art entsteht, wenn die Null- hypothese abgelehnt wird, obwohl sie wahr ist. Diese Festlegung betrifft das Signifikanzniveau α. Werte die größer sind, als das Signifikanzniveau (α ≥ 0,05) bedeuten, das Ergebnis der Hypothesen- prüfung ist „nicht signifikant“. Wenn der p-Wert kleiner als das Signifikanzniveau ist, dann gilt das Ergebnis als statistisch signifikant. Die am häufigsten gewählten oder berichteten Niveaus sind α = 0,05 „signifikant“ und α = 0,01 „hoch signifi- kant“. HÄUFIG GEWÄHLTE SIGNIFIK ANZNIVEAUS ▪ Signifikanzniveau 5 %: α = 0,05 „signifikant“, p ≤ 0,05 ▪ Signifikanzniveau 1 %: α = 0,01 „hoch signifikant“, p ≤ 0,01 Mit Hilfe des Signifikanztests lässt sich auf diese Weise ein beobachtetes Ergeb- nis statistisch vom Zufall abgrenzen. Ist das Ergebnis nicht signifikant, bedeutet es allerdings nicht, dass man nachgewie- sen hätte, dass kein Unterschied da ist. Man hat lediglich keinen Beleg für einen Effekt gefunden (absence of proof), al- lerdings auch keinen Beleg dafür, dass es keinen Effekt gibt (proof of absence). Hierfür müsste man einen Äquivalenz- test durchführen. Dieser testet nicht mehr, ob ein Effekt exakt gleich Null ist, sondern ob der Effekt so klein ist, dass er hinreichend nahe bei Null ist. Ebenfalls sollte man statistische Signifikanz nicht mit klinischer oder praktischer Relevanz beziehungsweise einer wissenschaftli- chen Bedeutsamkeit gleichsetzen. Es ist letztlich die Fragestellung und Hypothe- se, die ggf. bei entsprechender Ausrich- tung eine solche Relevanz oder Bedeut- samkeit nach sich ziehen kann. In einer Studie oder Analyse muss zu- nächst das für die Fragestellung relevan- te Effektmaß bestimmt werden (zum Beispiel der Mittelwert, die Differenz zweier Mittelwerte, die Differenz zweier Wahrscheinlichkeiten, der Median, der Regressionskoeffizient, etc.). In Abhän- gigkeit vom Vorliegen oder Nicht-Vorlie- gen einer Normalverteilung der erhobe- nen Daten wird dann eine geeignete Teststatistik gewählt und die Wahr- scheinlichkeit für jede Hypothese (Null- hypothese und ggf. Alternativhypothese) geprüft. Mit dem p-Wert wird diese Wahrscheinlichkeit berichtet und die Hy- pothese beibehalten oder die Aussage der Alternativhypothese übernommen. Ist die Wahrscheinlichkeit für die Wirk- lichkeit der Nullhypothese größer als der Signifikanzwert 0,05 wird diese Hypo- these beibehalten. Wenn diese Wahr- scheinlichkeit kleiner als das gewählte Signifikanzniveau ist, so spricht das Er- gebnis gegen die Nullhypothese und die Alternativhypothese wird bestätigt. Prof. Dr. Stephan Sallat, Halle (Saale) Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 13 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 13

Editorial Cochlea-Implantation – State of the Art Cochlea Implant – State of the Art Rainer Schönweiler Dirk Mürbe Bibliografie Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 15 DOI 10.1055/a-1988-7379 ISSN 0342-0477 © 2024. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler, Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie, UKSH, Campus Lübeck, Ratzeburger Allee 160, Haus D2, 23538 Lübeck, Deutschland phoniatrie@uksh.de Liebe Leserinnen und Leser, fallen wir mit der Tür ins Haus: warum so ein „abgehobenes“ Schwerpunktthema? Und warum gerade jetzt? Die fast schon tagespolitischen Gründe liegen auf der Hand: es sind die aktu- ellen neuen Leitlinien der AWMF zu den Themen „Cochlea-Im- plantat-Versorgung“ und „Therapie von Sprachentwicklungs- störungen“, die zunehmenden Zertifizierungen der implantie- renden Kliniken und zu guter (?) Letzt – Sie ahnen es – die ge- plante Krankenhausreform in Deutschland. Für implantierende Kliniken werden die Qualitätsanforderungen immer höher, und eine „Zentralisierung“ der Behandlung hat längst eingesetzt hat und wird sich weiter fortsetzen. Wenn Cochlea-Implantationen nur noch an spezialisierten und zertifizierten Kliniken (meist der Maximalversorgung) an- geboten werden, die für die Mehrheit der Patienten mit langen und teuren Anfahrtswegen verbunden sind: wie kann dann die Versorgung „auf dem Lande“ und „in der Fläche“ gelingen? Auch dafür wurden längst die Weichen gestellt: Hörakustiker werden schon seit einigen Jahren zu „CI-Akustikern“ fortge- bildet und Logopäden und verwandte Berufe übernehmen längst schon die Fortführung von Sprachtherapien der sog. Folgetherapie. implantierende Kliniken ohne eigene Rehabilitationsstrukturen bleiben außer den Voruntersuchun- gen und dem stationären Aufenthalt für die Operation „nur noch“ die Termine der sog. Basistherapie, einige Termine der Folgetherapie und die Anbindung im Rahmen der lebenslangen Nachsorge. Für Nun sind Sie als Leserinnen und Leser der Sprache Stimme Gehör gefragt, seien Sie nun im therapeutischen oder psycho- logischen Bereich, oder als Fachärztinnen und Fachärzte für Phoniatrie und Pädaudiologie oder für HNO-Heilkunde tätig. Das CI-Thema kommt „in der Fläche“ an, und das auf den ersten Blick geradezu paradox, gerade wegen der „Zentralisierung“. Daher geht es in diesem Themenheft um die gerade für Sie als Leserinnen und Leser aktuell wichtigen Fragen: Wie hat sich die Indikation für Cochlea-Implantate in den vergangenen Jah- ren ausgeweitet? Wie konnten Erfolge derart gesteigert und die Risiken und Nebenwirkungen derart minimiert werden, dass diese Ausweitung gerechtfertigt ist? Welche Entwicklun- gen gibt es für Jugendliche und Erwachsene mit Cochlea-Im- plantaten beim Sprachverstehen, welche für Säuglinge und Kleinkinder für die Sprachentwicklung? Wie sollten sich das Hörtraining und die Sprachtherapie auf diese Klientele einstel- len? Kann man mit Cochlea-Implantaten auch Musik genießen und vielleicht sogar musizieren? Und wie fusioniert man den Klang des Hörens auf einem gesunden Ohr mit einem tauben und mit Cochlea-Implantat versorgten Ohr? Und welche Im- plantatformen wird es in der Zukunft geben? Und was ist mit Patienten, bei denen keine Cochlea-Implantate machbar sind – ja, auch diese Patienten dürfen wir nicht vergessen: Welche Resthörigkeiten kann man vielleicht doch noch mit konventio- nellen Hörsystemen der Leistungsklasse Ultra-Power behan- deln? Lesen Sie die Antworten auf diese spannenden Fragen und zeigen Sie Ihren Patientinnen und Patienten: Sie sind auf dem Laufenden und können die Behandlung übernehmen! Ihre Gastherausgeber Rainer Schönweiler, Lübeck, und Dirk Mürbe, Berlin Interessenkonflikt Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler erhielt 2019 und 2020 als medizini- scher Kooperationspartner in einem psychologischen Forschungspro- jekt Fördergelder eines Cochlear-Implantat-Herstellers für die Univer- sität zu Lübeck. Prof. Dr. med. Dirk Mürbe erhielt innerhalb der ver- gangenen 3 Jahre Forschungs- und Reisekostenunterstützung eines Cochlea-Implantat-Herstellers. Schönweiler Rainer et al. Cochlea Implant – State of the Art … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 15 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 15

▶ Tab. 1 Entwicklung der Indikationsgrenzen bei CI-Versorgung von Kindern: Alter bei Implantation und Grad der Hörstörung (in Anlehnung an [2]). Jahr 1990 1998 2000 2013 2019 2020 Alter bei Im- plantation Ab 2 Jahre (FDA-Zulassung) Ab 18 Monate (FDA-Zulassung) Ab 12 Monate (FDA-Zulassung) Grad der Hörstörung/ audiologi- sche Indika- tion ▪ An Taubheit ▪ In USA: un- verändert zu 1990 ▪ USA: Sprach- verstehen mit HG < 20 % grenzende Schwerhörig- keit bis Taub- heit (PTA ≥ 90 dB HL) ▪ USA: Sprach- verstehen mit HG 0 % ▪ USA 12–23 Monate: An Taubheit grenzende Schwer- hörigkeit bis Taubheit (PTA ≥ 90 dB HL) ▪ USA ab 2 Jah- re: hochgra- dige bis an Taubheit grenzende Schwerhörig- keit ▪ USA: Sprach- verstehen mit HG < 30 % In Deutschland ab 6 Monate (2. Hälfte 1. Lebens- jahr [3]) ▪ Deutschland: wenn mit CI ein besseres Hör- vermögen und Sprachverste- hen als mit kon- ventionellen Hörsystemen zu erwarten ist (PTA > 70 dB HL) ▪ Asymmetrischer Hörverlust (PTA > 70 dB HL) bis SSD (CE-Zerti- fizierung) ▪ Sprachver- stehen mit HG kein Ausschluss- kriterium [1] Unilateraler Hör- verlust/SSD ab 5 Jahre, Ertau- bungsdauer ≤ 10 Jahre (FDA-Zulassung) ▪ USA: An Taubheit grenzende Schwerhörig- keit bis Taub- heit auf dem schlechter hörenden Ohr (PTA > 80 dB HL, ≤ 30 dB HL auf dem nahezu normalhö- renden Ohr) ▪ USA: Einsil- berverstehen mit HG bei SSD < 10 % Ab 9 Monate (FDA-Zulas- sung für einen Implantattyp) ▪ USA 9–23 Monate: An Taub- heit gren- zende Schwer- hörigkeit bis Taub- heit (PTA ≥ 90 dB HL) ▪ USA ab 2 Jahre: un- verändert zu 2000 Sozio-fami- liäre Aspekte Erwartbare Verbesserung der Lebensqualität und der Teilhabe an der Gesellschaft, lautsprachliche Intention der Eltern, Realisier- barkeit der Hör-/ Sprachhabilitation, Verfügbarkeit der lebenslange Nachsorge (zukünftig vermehrtes telemedizinisches Ange- bot) FDA: U.S. Food and Drug Administration; PTA: pure tone average, Mittelwert der Hörschwelle in dB; SSD: single sided deafness, einseitige Taubheit Nach derzeitigem Wissensstand sollte die Versorgung von Kindern mit kongenitaler, an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit bis Taubheit mit einem oder zwei CI frühestmöglich nach Abschluss der pädaudiologischen Bestätigungsdiagnostik nach auffälligem Neugebore- nen-Hörscreening erfolgen [4, 5, 6]. Voraussetzung ist, dass die Ergebnisse der frequenzspezifischen, objekti- ven Diagnostik verlässlich sind und in Zusammenschau mit altersangepassten, subjektiven Tests hinsichtlich ihrer Plausibilität überprüft werden sowie soziofamiliä- re Aspekte berücksichtigt werden. Trageversuch mit konventionellen Hörsystemen Allgemein soll bei Kindern mit evtl. vorhandenem Rest- hörvermögen vor der Entscheidung hinsichtlich einer CI-Versorgung ein suffizienter Trageversuch mit kon- ventionellen Hörsystemen abgeschlossen werden, um die Hörbahnreifung zu stimulieren und um sicher zu prüfen, ob dieser Versorgungsweg für eine adäquate Hör-/Sprachentwicklung ausreichend ist [1, 7]. Dies gilt auch für die auditorische Neuropathie, die unter- schiedlich verlaufen kann. Je nach Ausprägung kann sich mit oder ohne konventionelle Hörsysteme anfäng- lich eine nahezu altersentsprechende vorsprachliche und sprachliche Entwicklung zeigen, die im weiteren Verlauf möglicherweise langsamer wird oder stagniert [8]. Wird bei einer Grenzindikation zur CI-Versorgung der Abstand des sprachlichen Entwicklungstandes eines Kindes zu seiner Altersgruppe trotz optimierter konventioneller Versorgung mit Hörsystemen größer, sollte zeitnah eine bimodale oder bilaterale CI-Versor- gung eingeleitet werden. Merke Bei kongenitaler Taubheit sollte nach auffälligem Neugeborenen-Hörscreening die pädaudiologische Bestätigungsdiagnostik schnellstmöglich durchge- führt werden und nach suffizientem Hörgeräte- Trageversuch und Diagnosebestätigung unter Ein- beziehung subjektiver und objektiver diagnostischer Verfahren eine CI-Versorgung in der 2. Hälfte des 1. Lebensjahres erfolgen. Seltene Verbesserung der Hörschwelle nach Initialdiagnostik im sehr jungen Kindesalter Eventuelle Reifungsverzögerungen des Hörnervs oder der zentralen Hörbahn müssen bei sehr jungen Kindern berücksichtigt werden, z. B. bei Frühgeburtlichkeit Hirschfelder Anke et al. Indikationen zur Cochlea-Implantat … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 16–21 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 17

des monauralen Hörens aufgeklärt werden. Die unila- terale CI-Versorgung sollte als Behandlungsoption an- geboten werden werden [1]. Dabei sind auch die mög- liche Stigmatisierung durch das Gerät und die Notwen- digkeit lebenslanger Nachsorge und der Inanspruch- nahme medizinischer Einrichtungen zu thematisieren, zudem das Problem der umgrenzten Signalauslö- schung im cMRT, sollte dies einmal erforderlich wer- den. Weiterhin sollte über das sensible Zeitfenster des Spracherwerbs im Säuglings- bis Kleinkindalter für eine adäquate kortikale Repräsentanz von Sprache aufge- klärt werden. Es ist davon auszugehen, dass ein Kind den größten Vorteil für seine Hör-Sprachentwicklung aus der einseitigen Versorgung ziehen kann, wenn die- ses Zeitfenster für die Versorgung genutzt wird, analog zur beidseitigen Versorgung [17]. Neben dem Nutzen des binauralen Hörens stellt die Versorgung aber auch eine Investition in die Zukunft dar: Im Falle einer Hör- störung im Verlauf auf der Gegenseite kann ein Kind auf das bereits versorgte Ohr zurückgreifen und durch- gehend hörend an seiner Umwelt teilhaben. Dadurch, dass die Hörbahn auch bei Stimulation über die CI-ver- sorgte Seite differenziert ausreifen kann, könnte das Kind von möglichen zukünftigen Therapien zur Wieder- herstellung der Innenohrfunktion auf dieser Seite bes- ser profitieren und größeren individuellen Nutzen aus dem medizinischen Fortschritt ziehen. Merke Die CI-Indikation wird für jedes Ohr separat gestellt. Die CI-Versorgung bei Kindern mit unilateraler hoch- gradiger Schwerhörigkeit bis Taubheit könnte den Erfolg zukünftiger Therapien verbessern. Alternative Versorgung mittels Elektroakustischer Stimulation Bei Kindern und Jugendlichen mit stabilem Restgehör im Tieftonbereich und Hochtonhörverlust, der durch ein konventionelles Hörgerät auch mit Frequenzernied- rigungsverfahren nicht hinreichend ausgeglichen wer- den kann, kommen wie bei Erwachsenen spezielle Im- plantatsysteme mit verkürzten Elektrodenträgern in Kombination mit einem Hörgerät zum Einsatz (Hybrid- versorgung, Elektroakustische Stimulation [EAS]). Mit diesen können gleichzeitig der Tieftonbereich der Cochlea akustisch und der Mittel- und Hochtonbereich elektrisch stimuliert werden. Zwar profitieren die Kin- der mit gutem Restgehör im Tieftonbereich oftmals zu- nächst von der initialen konventionellen Hörsystemver- sorgung. Wenn aber der Spracherwerb stagniert und Aussprachestörungen persistieren, sollte eine Versor- gung mittels EAS zeitnah erwogen werden. Sollte der Hörverlust im Verlauf progredient sein, kann ggf. auch der Tieftonbereich elektrisch stimuliert werden [18]. Fehlbildungen des Innenohres und Pathologie des Hörnervs Innenohrfehlbildungen stellen eine besondere Heraus- forderung an Diagnostik und Indikationsstellung, die Operation und den nachfolgenden Anpassungsprozess dar. Durch eine möglichst genaue Bildgebung (hoch- auflösende Computertomographie der Felsenbeine oder digitale Volumentomographie und hochauflösen- de Magnetresonanztomographie von Innenohr und Hörbahn) sowie eine Hörnervenfunktionsdiagnostik (subjektiv und durch Registrierung elektrisch evozier- ter Hirnstammpotentiale) kann die Indikationsstellung dennoch mit größtmöglicher Sicherheit erfolgen [19]. Verschiedene Fehlbildungen können Unterschiede im erreichbaren Sprachverstehen mit einem CI mitbedin- gen. Z. B. kann bei einer Mondini-Dysplasie, die häufig mit einem erweiterten Aquaeductus vestibuli verbun- den ist und dann mit einer progredienten Hörstörung durch Bagatelltraumata des Kopfes einhergeht, häufig eine gute sprachliche Entwicklung erreicht werden, während bei einer Common cavity als gemeinsamer Anlage von Cochlea und Vestibularorgan die Ergebnis- se in der Regel schlechter als bei Kindern mit normal angelegtem Innenohr sind [20]. Auch bei Kindern und Jugendlichen mit einer Hörnervenhypoplasie oder einer Neurofibromatose Typ II mit Ertaubung im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter kann eine CI-Versor- gung – im letzteren Fall vorübergehend – ein Sprach- gehör ermöglichen und ist der Versorgung mit einem Hirnstammimplantat meist überlegen. Eine Kontraindi- kation für die CI-Versorgung stellen die Aplasie der Cochlea und des inneren Gehörganges bzw. des Hör- nervs dar [1]. Kinder mit Mehrfachbehinderung Bei ca. 30 bis 40 % der Kinder mit audiologischer CI-In- dikation liegen Komorbiditäten vor oder sind im Laufe der kindlichen Entwicklung zu erwarten [21]. Bei Kin- dern mit Mehrfachbehinderung orientiert sich das Ziel einer CI-Versorgung an den individuellen Entwick- lungsvoraussetzungen und wird im interdisziplinären Konsens modifiziert formuliert. Wenn wahrscheinlich ist, dass ein Kind eine erfolgreiche Lautsprachentwick- lung mit offenem Sprachverstehen nicht erreichen kann, steht die Verbesserung seiner sozial-adaptiven Fähigkeiten im Vordergrund mit dem Ziel, die Lebens- qualität und gesellschaftliche Teilhabe positiv zu be- einflussen. Im Falle komplexer syndromaler Erkrankun- gen mit gravierenden Komorbiditäten, z. B. ausgepräg- ter Epilepsie oder zentral-neurologischen Veränderun- gen, die regelmäßige cMRTs erfordern, schweren Im- mundefekten oder Angststörungen, welche das Gelin- gen der Rehabilitation einschränken können, muss die Indikation fächerübergreifend unter Einbeziehen spezi- Hirschfelder Anke et al. Indikationen zur Cochlea-Implantat … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 16–21 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 19

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Bilateral cochlear Implants CI for SSD High Rate CIS „Fine Structure“ speech coding CI for adults CI for children CI for infants and toddlers Cochlear implants for complete deafness CI for residual hearing EAS Partial deafness CI Music Intracochlear –extracochlear Deep insertion Hearing preservation „Atraumatic“ electrodes Robotic TICI 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 ▶ Abb. 1 Zeitstrahl der Cochlea Implantat Versorgung in verschiedenen Ebenen. Untere Reihe: chirurgische Zugangswege und Details, darüber Indikationserweiterungen und Weiterentwicklungen bei der Sprachkodierung sowie Versorgungsformen. in Australien, Belgien, Deutschland, Frankreich, Öster- reich und USA seit dem ersten CI von William House, dem ersten modernen Mehrkanal CI von Kurt Burian im Dezember 1977 [5] und der Einführung der CIS- Sprachkodierungsstrategie von Blake Wilson 1991, erstmals realisiert im MED-EL Combi 40 Implantat, an- gestoßen und erarbeitet wurden [5–7]. Die Möglich- keit, ein taubes Ohr, also ein Sinnesorgan, durch eine implantierbare elektronische Prothese brauchbar und alltagstauglich zu ersetzen stellt die wohl wichtigste Entwicklung zur Verbesserung der Kommunikation taub geborener Kinder sowie ertaubter Kinder, Jugend- licher und Erwachsener in den letzten 200 Jahren dar, wenn man als Bezugspunkt die Gründung der Gehör- losenschulen in Paris (1750) und in Leipzig (1778) wählt [7]. Unter dem Einfluss innovativer Ohrchirurgen ist in den letzten Jahrzehnten ein interdisziplinäres Forschungs- feld entstanden, in dem u. a. spezialisierte Ohrchirur- gen, Ingenieure, Physiker, Techniker, Audiologen & Pä- daudiologen, Elektrophysiologen, Logopäden, Psycho- logen und Pädagogen und nicht zuletzt die CI-Träger selbst zu rasanten Weiterentwicklungen beigetragen haben (▶ Abb. 1). Gerade die Entwicklungen, dass bei der Cochlea-Implantation ein vorhandenes Restgehör zu erhalten ist, um es ggf. zusammen mit der elektri- schen Stimulation akustisch als sog. Elektro-Akustische Stimulation (EAS) [8–10] zu nutzen, hat das Bewusst- sein für besonders schonende OP-Techniken geprägt, aber auch die präoperative Diagnostik und die post- operativen Anpassalgorithmen beeinflusst. Präoperative Diagnostik Vor dem Hintergrund erweiterter Indikationen und den daraus resultierenden, vielfältigen Versorgungsmög- lichkeiten wächst in Ergänzung zur standardisierten, leitlinienadaptierten [2, 11] Diagnostik das Bewusst- sein um die individuellen Variationen der jeweiligen Pa- tientensituationen, sowohl im Hinblick auf ein vorhan- denes Restgehör, die klinische und anatomische Situa- tion des Ohres aber auch im Hinblick auf die Erwar- tungshaltung des Patienten. Individuelle Anatomie und Elektrodenauswahl Mit verbesserten diagnostischen Möglichkeiten, insbe- sondere durch verbesserte Bildgebungen mit Compu- tertomografie (CT) und Magnetresonanztomografie (MRT) finden, neben den erwähnten standardisierten Voruntersuchungen zur Operationsvorbereitung, zu- nehmend auch individualisierte Prozesse Eingang in die präoperative Diagnostik, wie beispielsweise, eine individuelle Analyse der anatomischen Implantations- voraussetzungen. Dazu kann das Felsenbein, die Coch- lea sowie den Ductus cochlearis präoperativ ausgemes- sen werden, um durch die Bestimmung der „Cochlear Duct Length“ (CDL), die CI-Elektrode nach den anato- mischen Gegebenheiten und in Abstimmung mit einem z. B. vorhandenen und ggf. erhaltenswerten Restgehör auszuwählen [12, 13]. Dabei ist die inter- individuelle Streubreite erheblich, im eigenen Kranken- gut variierte die CDL zwischen 30,4–40,2 mm mit im Mittel 36,2 ± 1,8 mm [12]. In der Vergangenheit sind hier unterschiedliche Messverfahren zum Einsatz ge- kommen, heutzutage ist es möglich über die Software „OTOPLAN“ von CAScination [14], basierend auf den Untersuchungen von Alexiades [15], relativ einfach die Felsenbeinanatomie präoperativ anhand von CT-/MRT- Bildern dreidimensional darzustellen, einzelne Param- eter auszumessen und damit die Größe der Cochlea ab- zuschätzen sowie einzelne operationsrelevante Details zu betrachten. OTOPLAN bietet, z. Zt. in der Version 4, die Möglichkeit standardisiert die Anatomie der Coch- lea in ihren individuellen Proportionen dreidimensional Müller Joachim et al. Aktuelle Trends und … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 45: 22–31 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 23

[29, 30]. In Vollnarkose können Muskelrelaxantien zu einer Artefaktreduktion beitragen [29, 31–33]. Zur präoperativen Diagnostik ist die Methode wegen der erforderlichen Vollnarkose als nicht zielführend einzu- ordnen, auch weil eine subjektive, u. U. skalierbare [6, 34] Hörempfindung nach elektrischer Reizung vom Patienten als zusätzliches nützliches Bewertungskrite- rium nicht abgefragt werden kann. Bei einer Messung in Lokalanästhesie [25] hingegen sind die Nachteile der Vollnarkose nicht vorhanden und Hörempfindun- gen vom Patienten abfragbar, allerdings ist die Wahr- scheinlichkeit für Artefakte entsprechend höher, was aber nach unserer Erfahrung beherrschbar ist. Nur in einem solchem Setup in lokaler Betäubung kann letzt- lich von einer wirklichen präoperativen Messung ge- sprochen werden [25]. Genetik Genetische Störungen sind bekanntermaßen eine häu- fige Ursache für eine angeborene oder früh einsetzen- de Schallempfindungsschwerhörigkeit oder Taubheit. Genetische Ursachen sind auch bei zahlreichen progre- dient verlaufenden, später einsetzenden Hörverlusten beteiligt. Eine genaue Diagnose einer erblich beding- ten Schwerhörigkeit kann aufgrund der extremen He- terogenität der Erkrankung schwierig sein, auch wenn in den letzten zwei Jahrzehnten erhebliche Fortschritte bei der Identifizierung von Taubheitsgenen erzielt wur- den. Derzeit sind mehr als 100 Gene für nicht-syndro- malen Hörverlust bekannt. Etwa 60 % der angeborenen Schwerhörigkeiten und ca. 36 % der progredienten Schwerhörigkeiten sind mit genetischen Störungen as- soziiert [35, 36]. Die häufigste Ursache einer erblichen Form einer Hörstörung beruht auf Mutationen im sog. GJB2-Gen (Gen für Connexin 26). Das konventionelle Einzelscreening auf Basis der San- ger-Sequenzierung ist eine genaue und zuverlässige Methode aber auch zeitaufwändig und nur begrenzt auf umfassende Screening-Programme anwendbar. Weiterentwickelte DNA-Sequenzierungsmethoden mit einem Sequenzierer der nächsten Generation haben die Identifizierung seltener Mutationen in seltenen für eine Schwerhörigkeit ursächlichen Genen ermöglicht und dadurch die Diagnoserate verbessert [35]. Bei einer mit einer genetischen Störung assoziierten Schwerhörigkeit trägt die genetische Abklärung nicht nur zur Diagnostik, sondern auch u. U. zur Beurteilung und Abschätzung des zukünftigen Verlaufs sowie zur Prognose der Entwicklung einer Schwerhörigkeit bei, was insbes. bei der Entscheidung für eine kombinierte elektrisch-akustische Stimulation bedeutsam und ent- scheidungsrelevant sein kann [36, 37]. Intraoperative Maßnahmen Für die CI-Operation hat sich im Lauf der Jahrzehnte eine in vielen Schritten standardisierte, sichere OP- Technik etabliert. Auch ein Restgehör kann dabei grundsätzlich durch eine möglichst wenig traumati- sche OP-Technik erhalten werden. Schonende OP-Techniken: „Hearing and Structure Preservation Techniques“ Mit dem gewachsenen Wissen und mit zunehmender Erfahrung mit der elektrisch-akustischen Stimulation (EAS) wurde einer schonenden OP-Technik in den letz- ten 10 Jahren, auch im Denkprozess und im Bewusst- sein der (chirurgischen) Experten, zunehmend Bedeu- tung beigemessen [38]. Überlegungen zu Detailver- besserungen beeinflussten und modifizierten die OP- Technik. Dabei sind sich heutzutage [38], im Gegen- satz zu 2010 [39] die Experten weitgehend einig, dass, und wie, das intra- und perioperative Trauma, welches während einer Cochlea-Implantat-Operation durch die Elektrodeneinführung naturgemäß auftritt, zu mini- mieren sei, um möglichst eine Restfunktion oder zu- mindest die Innenohrstrukturen morphologisch zu er- halten [40, 41]. Nachdem die Ergebnisse der Implantation naturgemäß auch von der Erfahrung und dem Geschick des Opera- teurs abhängen, finden auch Trainingsprogramme mit „Virtual Reality Simulationen“ Eingang in die Ausbil- dungs- und Trainingsprogramme, um die Lernkurven günstig zu beeinflussen [42]. Für eine optimale Stimulation des Hörnervs ist die Aus- wahl des jeweils für den einzelnen Patienten geeignets- ten Elektrodensystems von Bedeutung. Entscheidend ist dabei, dass eine möglichst große Zahl der Spiralgan- glienzellen und der noch vorhandenen Dendriten durch die elektrische Stimulation gereizt wird. Neben der Elektrodenauswahl bezüglich ihrer Länge [43] und ihrer mechanischen Charakteristik als Grundlage ihrer kon- struktionsbedingten Steifigkeit und damit ihrer Trau- matizität [44–47] spielt die Insertionsgeschwindigkeit bei der Elektrodeneinführung eine bedeutsame Rolle für einen eventuellen postoperativen Hörverlust oder das Auftreten einer postoperativen vestibulären Stö- rung. Eine möglichst langsame Insertion ist einem Hö- rerhalt förderlich [50]. Zu Bedenken ist ferner, dass die verschiedenen zur Anwendung kommenden Elektro- dentypen zudem ein unterschiedliches Potential für Fehllagen, die intraoperativ beim Einführen der Elek- troden auftreten können, aufweisen [49]. Diese Fehl- lagen gehen naturgemäß mit einem nicht erwünschten intracochleären Trauma einher. Müller Joachim et al. Aktuelle Trends und … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 45: 22–31 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 25

pediusreflexe (ESR) gehören, kann ein s.g. cochleäres Monitoring eingesetzt werden. Im Rahmen der Routinemessungen reflektiert die Im- pedanzmessung den Kontakt zum Gewebe in der Coch- lea entlang des Elektrodenträgers. Abweichend von der normalen Messung kann bspw. bei einer Ossifikation eine erhöhte Impedanz beobachtet werden. Unregel- mäßigkeiten äußern sich bei einem Abknicken des Elektrodenträgers, was gerade bei vorgebogenen Elek- trodenträgern als sog. „Tip Fold-over“ häufiger zu be- obachten ist [49], in einer Verringerung der Impedan- zen zwischen den sich angenäherten Elektroden. Der Grad der Insertion kann über die Elektrodenimpedan- zen an basal hohen Widerständen erkannt werden [74]. Die Referenzelektrode spiegelt den Kontakt des Im- plantatgehäuses zum Hautlappen darüber wider, wel- cher bspw. bei Luft über der Referenzelektrode zu ei- nem Anstieg der Referenz- als auch Elektrodenträger- widerstände führt. ECAP stellen das elektrische Äquiva- lent des Summenaktionspotentials der ECochG dar und damit die Antwort des Hörnervs auf eine elektrische Reizung durch das CI. Nachteilig für die Interpretation ist hier, dass bei Fehlinsertionen vestibuläre und audi- torische Antworten ähnlich aussehen können. Zudem sind bei Malformationen ECAP oft nicht messbar [75]. Die Kontrolle des ESR setzt die visuelle Beobachtung des Stapediusmuskelreflexes bei elektrischer Stimulati- on, welcher die Reflexbahn bis zum Hirnstamm prüft, voraus. Probleme treten z. B. dann auf, wenn die Sicht erschwert ist [76]. Bei Fehlbildungen kann ein Reflex oft nicht ausgelöst werden [77]. Beim oben angesprochenen cochleären Monitoring zur Überwachung des präoperativen Restgehörs erlaubt die Ableitung der durch akustische Reizung evozierten Antworten der Haarzellen des Innenohres in Form der cochleären Mikrofonpotentiale eine Online-Funktions- kontrolle während der Elektrodeneinführung [78]. Kommt es zu Amplitudenabnahmen beim Vorschieben der Elektrode, ist von einer Beeinflussung der cochleä- ren Mechanik durch die eingeführte Elektrode auszu- gehen [19, 21, 27, 28]. Um ein Monitoring des Restge- hörs während der Einführung des Elektrodenträgers in die Cochlea bei CI-Patienten durchzuführen ist ein aus- reichendes Restgehör Voraussetzung [79–81]. Je nach CI-Hersteller ist eine solche Messmethode entweder zugelassen und implementiert oder im Rahmen einer Forschungssoftware verfügbar [1, 82, 83]. Es besteht weiterer Evaluationsbedarf, u. a. ist hier noch eine Mul- tifrequenzmessung zu evaluieren und optimieren, da je nach Insertionsgrad ein anderer spezifischer akusti- scher Stimulus auszuwählen ist [84]. Eine Konsensbil- dung, was bei einem Abfall der im Zuge des kontinuier- lichen Monitorings gemessenen CM-Antwortamplitude zu tun ist, steht aktuell noch aus [85]. Neben dem wei- teren Inserieren, könnte ein Pausieren der Insertion oder gar ein Zurückziehen des Elektrodenträgers eine Option darstellen. In der klinischen Praxis hat es sich bei uns als nützlich erwiesen, die Messergebnisse, ob eine CM-Antwort vorhanden und ggf. stabil ist, als akustische Mitteilung im OP-Saal dem OP-Team mitzu- teilen. Darüber hinaus kann, wie auch bei anderen Mo- nitoringmethoden, eine Videoeinblendung im Mikro- skop realisiert werden. Gleichwohl lässt sich das OP- Bild als Video im Monitor des CI-Technikers in Echtzeit einblenden, sodass eine Mitbeobachtung der Insertion und eine Zuordnung zu Signalveränderungen möglich ist. All diese Methoden sind klinisch potenziell nützlich, bedürfen aber, wie erwähnt, einer weiteren Evaluation an einer ausreichend großen Fallzahl. Bei der gelegentlich zur Anwendung kommenden (in- traoperativen elektrisch evozierte Hirnstammpotenti- almessung (EBERA) bei Stimulation durch das CI (CI- EBERA) handelt es sich um das elektrische Äquivalent der akustischen BERA bei Stimulation durch das CI. Bei Tumorresektionen stellt es eine zuverlässige Methode zum Monitoring von Änderungen entlang der Hörbahn vom Hörnerv bis zum Hirnstamm dar. Bei Malformatio- nen oder Hypoplasie kann mit dieser Messung eine prä- operativ unsichere Situation elektrophysiologisch ge- prüft werden und die Messung zur Entscheidung für oder gegen eine Implantation beitragen [20, 86]. Eine solche Messung ist mit zahlreichen Systemen und allen aktuell in Deutschland verfügbaren CI-Herstellern durchführbar [86]. Alternativ zu EBERA, bei der das CI als Stimulator ge- nutzt wird, kann auch eine temporäre Testelektrode, wie bspw. die intracochleäre Testelektrode im „Audito- ry Nerve Test System“ (= ANTS), genutzt werden. Da- durch kann eine verlässliche EBERA erfolgen noch be- vor ein CI intraoperativ geöffnet werden muss [31, 52, 87]. Hingegen ist eine ANTS-EBERA nicht dazu ge- dacht, um eine bereits präoperativ unsichere Integrität der Hörbahn zu prüfen, da diese über eine präoperative EBERA, EMERA und ECERA in lokaler Betäubung erfol- gen sollte [20, 25]. Wie die CI-EBERA, ist eine ANTS- EBERA bspw. für das Monitoring bei einer Tumorresek- tion und geplanter Cochleaimplantation in der gleichen Sitzung geeignet, gerade wenn mangels Restgehör kei- ne akustische BERA möglich ist [20, 25,88]. Anatomiebasiertes Fitting für eine verbesserte Anpassung Aufgrund eines unterschiedlichen Elektrodendesigns, unterschiedlicher Länge und Einführtiefe der Elektrode sowie der zugrundeliegenden individuellen Morpholo- gie der Cochlea müssen sich Patienten mit einem CI bei der (Erst-)Anpassung häufig an fremdartige Hörein- drücke gewöhnen, die auf eine Diskrepanz zwischen der natürlichen Frequenz-Ortszuordnung im Rahmen der patientengegebenen akustischen Tonotopie und Müller Joachim et al. Aktuelle Trends und … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 45: 22–31 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 27

Carmen Molenda B.Sc. Gehörlosenpädagogik. Assistenzärztin der Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Oh- renheilkunde am LMU Klinikum München. Daniel Polterauer M.Sc. Elektro- und Informationstechnik (TU München). Seit 2016 Leitung CI-Technik im Funktionsbereich Cochleaimplantat (CI) der Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren- heilkunde am LMU Klinikum München. Korrespondenzadresse Prof. Dr. Joachim Michael Müller Funktionsbereich Otologie und Cochlea Implantate Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde der Universität München Marchioninistrasse 15 81377 München Deutschland E-Mail: Joachim.Mueller@med.uni-muenchen.de Literatur 2020: Stand: 26.11.2023 https://www.awmf.org/leitlinien/ detail/ll/017-071.html [12] Spiegel JL, Polterauer D, Hempel J-M et al. Variation of the cochlear anatomy and cochlea duct length: analysis with a new tablet-based software. Eur Arch Otorhinolaryngol 2022; 279: 1851–1861 [13] Weber L, Kwok P, Picou EM et al. 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▶ Abb. 1 Beispiele für Tonaudiogramme mit Single-Sided Deafness (SSD; a) und Surditas rechts und einem PTA-4 links von 8 dB, sowie Asym- metric Hearing Loss (AHL; b) mit einem PTA-4 von 91 dB rechts und 51 dB links. Jakob Till F et al. Single-Sided Deafness – … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 32–37 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 33

▪ keine Therapie ▪ die Verwendung eines CROS-Hörgeräts (CROS = contralateral routing of signals) bei SSD ▪ der Einsatz eines Bi-CROS-Hörgeräts bei AHL (Hörgerät auf dem besser hörenden Ohr und CROS- Hörgerät auf dem schlechteren Ohr) ▪ knochenverankerte Hörhilfen ▪ Cochlear Implant (CI) Zudem gibt es die Möglichkeit SSD-Patienten durch di- gitale drahtlose Mikrofontechnologien (z. B. Phonak Roger Focus) zu unterstützen. Hierbei wird die Stimme eines Sprechers über ein Mikrofon auf den Empfänger hinter dem hörenden Ohr übertragen. Diese Therapie- möglichkeiten sind mit dem Patienten zu besprechen, und dann ist jeweils individuell zu entscheiden, welche Option möglich und sinnvoll ist. CI-Versorgung bei SSL oder AHL LEITLINIENEMPFEHLUNG Die aktuelle S2k-Leitlinie Cochlea-Implantat-Ver- sorgung (AWMF-Register-Nr. 017/071) der deut- schen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heil- kunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. (DGHNO- KHC) vom Oktober 2020 [15] spricht folgende Empfehlung aus: Bei Erwachsenen und Kindern mit SSD (Single-sided deafness) oder AHL (asymmetrischer Hörverlust mit einseitiger Taubheit und Schwerhörigkeit der Ge- genseite) sollte eine Cochlea-Implantat-Versorgung empfohlen werden. Die Indikationsstellung sollte nicht ohne vorangegangene radiologische Diagnos- tik der Hörbahn und Beratung bei nachgewiesenen wesentlichen Einschränkungen der Kommunikation im Alltag erfolgen (Konsens). Bei Patienten mit SSD und Tinnitus kann die CI-Versorgung zur Tinnitus- suppression empfohlen werden (Konsens). Nach erfolgter CI-Operation muss das Hören zunächst wieder neu bzw. erstmalig erlernt werden. Hierzu be- darf es einer intensiven Betreuung durch unterschied- liche Fachbereiche, damit mit dem CI erfolgreich ge- hört werden kann. Der Rehaprozess setzt sich aus einer Basis- und Folgetherapie zusammen. Die Basistherapie erfolgt in der Regel stationär über 3–5 Tage innerhalb der ersten 6 Wochen nach CI-OP. Nach der Folgethera- pie (bei Erwachsenen innerhalb von 24 Monaten, bei Kindern bis zum Abschluss des primären Spracher- werbs) ist eine lebenslange Nachsorge der CI-Patienten nötig [16]. ▶ Abb. 2 Therapieoptionen bei SSD. Unversorgt findet keine Schallüber- tragung statt, wenn der Schall (Lautsprechersymbol) auf das taube Ohr (rot durchgestrichenes Ohr) kommt. Beim Contralateral-Routing-of-Sig- nal-Hörgerät (CROS-HG) ist das Mikrofon am tauben Ohr und der Hörer am hörenden Ohr, die Übermittlung der Signale erfolgt per Funk (ge- strichelte Linie). Beim Knochenleitungshörgerät (KL-HG) wird der Schall über den Knochen (gezackte Linie) auf das hörende Ohr übertragen. Beim Cochlear Implant (CI) wird der Hörnerv des tauben Ohres durch elektri- sche Stimulation direkt stimuliert (nach oben zeigender Pfeil). Indikationen und Kontraindikationen Generell kommen für ein CI Patienten in Frage, bei de- nen ein besseres Hören und Sprachverstehen als mit Hörgeräten, Knochenleitungshörgeräten oder implan- tierbaren Hörsystemen absehbar zu erreichen sind [16]. Nach aktuellem Kenntnisstand besteht die Indika- tion für ein CI bereits ab einer Einsilberdiskrimination mit optimaler Hörgeräte-Versorgung von ≤ 60 % bei 65dB [15]. Die Indikation in Bezug auf die Taubheitsdauer hängt von der Ursache und dem Zeitpunkt der Ertaubung ab. Bei postlingual ertaubten und resthörigen Patienten kann in der Regel auch bei langjähriger Taubheitsdauer (länger als 10 Jahre) eine Indikation bestehen [17]. Bei prälingual (vor Spracherwerb) sowie perilingual er- taubten oder resthörigen Kindern sollte die CI-Implan- tation möglichst frühzeitig (innerhalb des 1. Lebens- jahrs) erfolgen [15]. Rauch et al. empfehlen bei konge- nitalen SSD-Kindern die CI-Operation im Alter von un- ter 3 Jahren durchzuführen [18], Gordon et al. bis zum 42. Lebensmonat zur Verhinderung von auditiver Präfe- renz und crossmodaler Plastizität [19]. Távora-Vieira und Rajan konnten zeigen, dass eine Im- plantation in einem Alter von über 4 Jahren zu einge- schränkten Ergebnissen bei Sprachverständnis und der Lokalisation führt [20]. Ein Review zeigte, dass das bes- te Alter für eine Implantation unter 36 Monaten liegt [21]. Die meisten Autoren sind sich somit einig, dass die Implantation im Alter von unter 4 Jahren, vorzugs- weise 3 Jahren, erfolgen sollte. Die Kontraindikationen einer CI-Versorgung sind in ▶ Tab. 3 aufgeführt. Dabei werden absolute und relati- ve Kontraindikationen unterschieden. Jakob Till F et al. Single-Sided Deafness – … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 32–37 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 35

Korrespondenzadresse PD Dr. med. Till F. Jakob Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde am Universitätsklinikum Freiburg Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Killianstraße 5 79106 Freiburg E-Mail: till.jakob@uniklinik-freiburg.de Literatur [1] Vincent C, Arndt S, Firszt JB et al. Identification and evalua- tion of cochlear implant candidates with asymmetrical hea- ring loss. Audiol Neurootol 2015; 20: (Suppl. 01): 87–89 doi: 10.1159/000380754 [2] van de Heyning P, Távora-Vieira D, Mertens G et al. Towards a Unified Testing Framework for Single-Sided Deafness Stu- dies: A Consensus Paper. Audiol Neurootol 2016; 21: 391– 398 doi: 10.1159/000455058 [3] Agrawal Y, Platz EA, Niparko JK. Prevalence of hearing loss and differences by demographic characteristics among US adults: data from the National Health and Nutrition Exami- nation Survey, 1999-2004. Arch Intern Med 2008; 168: 1522–1530 doi: 10.1001/archinte.168.14.1522 [4] Berninger E, Westling B. 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Für CI-Träger*innen sind nicht alle musikalischen Grundelemente gleichermaßen gut zu erfassen. Ver- haltensstudien zeigen, dass die Wahrnehmungsleis- tung von CI-Träger*innen für simple Rhythmen, wie etwa dem ¾-Takt eines einfachen Klavierstücks, häufig gleichauf mit Hörgesunden liegt. Diese Rhythmen wer- den vor allem durch zeitliche Muster kodiert, welche durch das CI gut übertragen werden. Im Gegensatz dazu erfordert die Wahrnehmung von Tonhöhe, Klang- farbe und Lautstärke eine komplexe Kombination aus spektralen und zeitlichen Hinweisreizen, deren Über- tragung durch ein CI, unter anderem aufgrund der be- grenzten Anzahl und Breite der Frequenzbänder, nur eingeschränkt erfolgt. Den CI-Träger*innen steht somit nur ein lückenhaftes sensorisches Perzept zur Verfügung, dessen Integrati- on zusätzlichen kognitiven Aufwand erfordert [8]. Vor allem spät ertaubte CI-Träger*innen, die entsprechend über Hörerfahrungen aus der Zeit vor ihrer Ertaubung verfügen, beschreiben die mittels CI wahrgenommene Musik häufig als verstimmt, dissonant oder emotions- los [8]. Merke Die Rhythmuswahrnehmung ist mittels CI-Über- tragung relativ gut möglich. Die Wahrnehmung von Melodie, Dynamik und Klangfarbe (Timbre) ist erschwert. Hahne und Kolleg*innen [10] erforschten mittels Mis- match-Paradigma, wie sich das Lebensalter bei Eintritt der Hörschädigung bei erwachsenen CI-Träger*innen auf die Wahrnehmung von musikalischen Merkmalen auswirkt. Dafür wurden neben einer hörgesunden Kon- trollgruppe 3 Gruppen von CI-Träger*innen unter- sucht. Bei einer Gruppe mit bilateraler Hörstörung trat der Hörverlust bereits in der frühen Kindheit auf (prä- lingual), bei einer 2. Gruppe erst im Erwachsenenalter (postlingual). Auch in der 3. Gruppe bestand die Hör- störung erst ab dem Erwachsenenalter, betraf dann al- lerdings nur ein Ohr (postlingualer einseitiger Hörver- lust). Alle teilnehmenden CI-Träger*innen erhielten ihr CI erst im Erwachsenenalter und nutzten es im Mittel seit 1 Jahr. Für die postlinguale Gruppe mit einseitigem Hörverlust wurden die Musikstimuli via Audiokabel direkt an das CI übermittelt, sodass sie nicht über das intakte Ohr ver- arbeitet werden konnten. Für alle anderen Proband*in- nen erfolgte die Stimuluspräsentation via Lautsprecher. Der Standardstimulus bestand aus einer Klavier- sequenz aus 4 Achtelnoten. Für die Devianten wurde der 3. Ton der Sequenz jeweils in einem musikalischen Merkmal verändert: der Tonhöhe, der Klangfarbe (bei- spielsweise in Harfenklang), im Rhythmus (durch Ver- DEFINITION Eine verbreitete Methode zur Erforschung der neurophysiolo- gischen Wahrnehmung musikalischer Grundelemente ist das Mismatch-Paradigma im Rahmen einer EEG-Aufzeichnung [9]. In diesem Paradigma wird ein Standardstimulus, beispiels- weise ein Ton oder eine kurze Melodie, häufig präsentiert, so- dass aufgrund der Wiederholungen ein Gewöhnungseffekt entsteht. Zwischen den Wiederholungen des Standardstimulus wird ein abweichender Stimulus präsentiert (Deviant), der sich z. B. in Tonhöhe, Dauer oder einem anderen Merkmal vom Standardstimulus unterscheidet und im Zuge der Gewöhnung unerwartet auftritt, also einen Überraschungseffekt erzeugt. Der Unterschied zwischen den Gehirnreaktionen auf den Stan- dardstimulus und den Devianten wird als Mismatch-Response (MMR) bezeichnet und zeigt die Stärke des Überraschungs- effekts an. Das Auftreten einer MMR bedeutet demnach, dass der akustische Unterschied zwischen Deviant und Standard wahrgenommen wurde und liefert ein objektives, neurophy- siologisches Maß für die Güte der Unterscheidungsleistung auditiver Stimuli. Ein Ausbleiben der MMR oder Veränderungen in deren Latenz oder Amplitude, z. B. als Folge einer Hörstö- rung, können auf eine abweichende Wahrnehmung hinweisen. änderung des Präsentationszeitpunktes) oder der Laut- stärke. Die 3 Gruppen von CI-Träger*innen zeigten für alle De- vianten eine Mismatch-Response (MMR), konnten also unterscheiden. In den Dimensionen Rhythmus und Klangfarbe zeigten sie sogar vergleichbare MMR wie in der Kontrollgruppe. Innerhalb der Gruppen von CI-Trä- ger*innen unterschieden sich die MMR kaum von- einander, lediglich die Veränderung des Merkmals Ton- höhe löste in der Gruppe der postlingualen CI-Träger eine größere MMR aus als in den beiden anderen Grup- pen von CI-Träger*innen. Die Wahrnehmung basaler musikalischer Grundele- mente ist also bereits wenige Monate nach CI-Aktivie- rung gewährleistet. Ein Vorhandensein musikalischer Vorerfahrung aus der Zeit vor der Hörstörung (postlin- guale CI-Träger*innen) oder die Verwendung des intak- ten Ohres bei einseitiger Hörstörung scheint keine Not- wendigkeit zu sein, um musikalische Grundelemente wahrzunehmen. Stattdessen liefern Kochleaimplantate trotz ihrer technischen Einschränkungen genügend Hinweisreize, um die Wahrnehmung selbst geringfügi- ger akustische Unterschiede in Rhythmus, Lautstärke, Tonhöhe oder Klangfarbe zu ermöglichen. Wie lassen sich diese vielversprechenden EEG-Befunde mit den häufig berichteten musikalischen Wahrneh- mungseinschränkungen von CI-Träger*innen aus Ver- haltensstudien vereinbaren? Aktuelle Studien zeigen, Hahn Laura Elisabeth et al. Musikerleben mit Kochleaimplantat: … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 38–43 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 39

Träger*innen zeigten im Verhalten Wahrnehmungsleis- tungen für die Elemente Rhythmus, Melodien und Ak- korde, auch wenn sie jeweils schlechter als die Kontroll- gruppe abschnitten. Das Ausbleiben des semantischen N400-Effekts für die Musik-Wort-Zuordnung bei prälingual hörgestörten CI- Träger*innen lässt sich demnach am ehesten auf Un- terschiede in der Hörerfahrung zurückführen. Postlin- gual hörgestörte CI-Träger*innen konnten vor ihrer Hörstörung Musik uneingeschränkt wahrnehmen und in dieser Zeit neuronale Verknüpfungen zwischen sprachlichen Konzepten und Musikstücken bilden. Ob- wohl dies für prälingual hörgeschädigte CI-Träger*in- nen nicht der Fall ist, kann die geringere musikalische Vorerfahrung durch gezielte Rehabilitation ausgegli- chen werden. Zukünftige Studien müssen zeigen, in welchem Umfang Musikerfahrung „nachgeholt“ wer- den kann, sodass auch dieser Population Musikerleben ermöglicht wird, bei dem Musik mit sprachlichen Kon- zepten verknüpft wird. Merke Auch Musik, die durch ein CI übermittelt wird, löst sprachliche Assoziationen aus. Eine Bedeutungsver- letzung dieser Assoziationen zeigt sich als N400 im EEG-Signal. Die Verknüpfung von Musik und sprach- licher Semantik erfordert ein ausreichendes Maß an Hörerfahrung. Eine unterschiedliche musikalische Vorerfahrung, je nach Zeitpunkt der Hörstörung, wirkt sich auch auf die persönliche Wertschätzung von Musik aus. In einem Fragebogen gaben die postlingual hörgestörten CI-Trä- ger*innen am häufigsten an, dass sie das Musikhören nur manchmal wertschätzen können – wobei ihre Wertschätzung für Musik nach Auftreten der Hörstö- rung niedriger ausfiel als zuvor und durch ein CI nicht signifikant gesteigert werden konnte. Diese Ergebnisse bedeuten, dass ein CI die musikalischen Höreindrücke, die postlingual hörgestörte CI-Träger*innen in der Le- bensphase mit intaktem Gehör sammeln konnten, nicht ausreichend imitieren kann. Die prälingual hörge- störten CI-Trägerin*innen gaben hingegen ähnliche Werte wie die Kontrollgruppe an und konnten das Mu- sikhören sehr oft wertschätzen. Für sie resultierte die CI-Aktivierung auch in einer signifikanten Steigerung der Wertschätzung für Musik, da sie sich mittels CI völ- lig neue Höreindrücke erschließen konnten (siehe auch [4]). Auch die akustischen Eigenschaften der Musik selbst können entscheidend dafür sein, ob CI-Träger*innen die Musik wertschätzen (siehe Review von [16]). So präferieren CI-Träger*innen Musik mit schnellen Tempi und Rhythmen, die deutlich durch Perkussionsinstru- mente dominiert werden. Komplexe polyphone Har- monien sind hingegen schwer zu erfassen und verrin- gern den Musikgenuss [8]. Auch eine Kombination aus Vokal- und Instrumentalmusik, wie etwa in alltäglichen Popsongs, kann den Musikgenuss steigern, so lange der Gesang laut genug ist, um ein Textverständnis zu er- möglichen [4]. Merke CI-Träger*innen schätzen Musik in allen Bereichen des Alltags. Ihr Musikerleben ändert sich drastisch mit der CI-Aktivierung. Häufig werden danach Musikstücke mit deutlichem Rhythmus und einfacher harmonischer Struktur präferiert. Ausblick Neben der Lautsprache ist Zugang zur Musik ein großes Bestreben von CI-Träger*innen. Neurophysiologische Forschung kann helfen, weiterhin bestehende Ein- schränkungen und Entwicklungsbereiche im Musikerle- ben dieser Population sichtbar zu machen. Der Großteil bisheriger EEG-Studien zum Musikerleben von CI-Trä- ger*innen wurde mit experimentell kontrollierten mu- sikalischen Stimuli unter wenig natürlichen Hörbedin- gungen erhoben [9]. Musikerleben im Alltag ist jedoch ein dynamisches Phänomen, welches stark durch kultu- relle, soziale und emotionale Faktoren beeinflusst wird. Diese Faktoren sollten in zukünftigen experimentellen Untersuchungen eine stärkere Berücksichtigung fin- den, um so Aussagen treffen zu können, die stärker an der Lebensrealität der CI-Träger*innen ausgerichtet sind [4]. Ein weiteres zentrales Forschungsfeld sind Transferef- fekte zwischen Sprache und Musik. Das Erkennen emo- tionaler Prosodie und das Sprachverständnis im Störge- räusch bleiben selbst nach langjähriger CI-Nutzung eine Herausforderung. Beides erfordert, ähnlich wie in der Musikwahrnehmung, die Verarbeitung komplexer spektro-temporaler Hinweisreize. Eine Steigerung des Musikerlebens könnte deshalb auch zu Fortschritten in den herausfordernden Bereichen des Sprachverständ- nisses führen [17]. Auch technische Innovationen wer- den dazu beitragen, die Übertragung spektro-tempo- raler Informationen zu verbessern. So werden Sound- prozessoren von CIs und Smartphones kontinuierlich angepasst, um musikalische Grundelemente präziser für CI-Träger*innen zu übertragen [18]. Erkenntnisse aus dieser Forschung könnten direkt in die Rehabilitation von CI-Träger*innen fließen. Eine Mehrheit an CI-Träger*innen gibt an, sich für Rehabili- tationsprogramme speziell zum Musikerleben zu inte- ressieren und bisher nur unzureichend Unterstützung in diesem Bereich zu erfahren [4]. Auch in Deutschland ist Musik kein obligatorischer Bestandteil der audiolo- gischen Erfolgskontrolle und der Rehabilitation nach Hahn Laura Elisabeth et al. Musikerleben mit Kochleaimplantat: … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 38–43 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 41

Bibliografie Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 38–43 DOI 10.1055/a-2195-4950 ISSN 0342-0477 © 2024. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany [9] Sharp A, Delcenserie A, Champoux F. Auditory event-related potentials associated with music perception in cochlear im- plant users. Front Neurosci 2018; 12: 1–8 doi: 10.3389/ fnins.2018.00538 [10] Hahne A, Mainka A, Leuner A et al. Adult cochlear implant users are able to discriminate basic tonal features in musical patterns: Evidence from event-related potentials. Otol Neurotol 2016; 37: e360–e368 doi: 10.1097/MAO.00000 00000001067 [11] Seeberg AB, Haumann NT, Højlund A et al. Adapting to the Sound of Music – Development of Music Discrimination Skills in Recently Implanted CI Users. Trends Hear 2023; 27: doi: 10.1177/23312165221148035 [12] Haumann NT, Petersen B, Friis Andersen AS et al. Mismatch negativity as a marker of music perception in individual cochlear implant users: A spike density component analysis study. Clin Neurophysiol 2023; 148: 76–92 doi: 10.1016/j. clinph.2023.01.015 [13] Prevoteau C, Chen SY, Lalwani AK. Music enjoyment with cochlear implantation. Auris Nasus Larynx 2018; 45: 895– 902 doi: 10.1016/j.anl.2017.11.008 [14] Bruns L, Mürbe D, Hahne A. Understanding music with cochlear implants. Sci Rep 2016; 6: 1–14 doi: 10.1038/ srep32026 [15] Koelsch S, Kasper E, Sammler D et al. Music, language and meaning: Brain signatures of semantic processing. Nat Neurosci 2004; 7: 302–307 doi: 10.1038/nn1197 [16] Riley PE, Ruhl DS, Camacho M et al. Music Appreciation after Cochlear Implantation in Adult Patients: A Systematic Re- view. Otolaryngol Head Neck Surg 2018; 158: 1002–1010 doi: 10.1177/0194599818760559 [17] Fowler SL, Calhoun H, Warner-Czyz AD. Music perception and speech-in-noise skills of typical hearing and cochlear implant listeners. Am J Audiol 2021; 30: 170–181 doi: 10.1044/2020_AJA-20-00116 [18] Nogueira W, Nagathil A, Martin R. Making Music More Ac- cessible. IEEE Signal Process Mag 2019; 36: 115–127 doi: 10.1109/MSP.2018.2874059 [19] DGHNO-KHC. Weißbuch Cochlea-Implantat (CI)-Versor- gung. Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heil- kunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e.V. 2021 Hahn Laura Elisabeth et al. Musikerleben mit Kochleaimplantat: … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 38–43 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 43

Bauarten Wenn der Hörverlust als WHO-4 nach dem Tonaudio- gramm klassifiziert ist, ist das vor allem relevant, weil für die Versorgung von hochgradig schwerhörigen Patienten mit Hörsystemen zum einen höhere Festbe- träge durch den GKV-Spitzenverband festgelegt wur- den, zum anderen gesonderte Geräte zum Einsatz kommen, die in der Hilfsmittelliste unter den Positio- nen HdO-Geräte von ≥ 65 dB (Produktart: 13.20.10.0) gelistet sind [3]. „Hinter-dem-Ohr“-Hörgeräte (HdO-Geräte) HdO-Geräte sind in verschiedenen Bauarten erhältlich. Dies sind klassische HdO-Geräte mit im Gehäuse inte- griertem Hörer, HdO-Geräte mit Dünnschlauchschall- führung oder solche mit außerhalb des Gehäuses lie- gendem externem (Ex-) Hörer: ▪ Klassische HDO-Geräte: – HdO-Geräte mit einer individuell hergestellten Otoplastik und einem ca. 3 mm durchsichtigen Schallschlauch aus weichem Material zur An- kopplung an den Gehörgang – Sollten Rückkopplungen auftreten, kann ein sog. Push-Pull-Schallschlauch mit einer höheren Wandstärke Abhilfe schaffen. – Fazit: Der Schallfluss ist hier optimal, und zusam- men mit einer guten, rückkopplungsfesten Funk- tionsotoplastik wird diese Ausführung für die sog. Power-Versorgung empfohlen. ▪ HdO mit Dünnschlauch- (Slimtube-) Ausführung: – HdO-Geräte mit einer individuell hergestellten Otoplastik und einem dünneren, ca. 1 mm star- ken und deutlich unauffälligeren Schallschlauch als der normale Schallschlauch aus festem Mate- rial zur Ankopplung an den Gehörgang – Als Otoplastik ist auch eine Standardhalterung für den Gehörgang (sog. Domes oder Schirmchen) erhältlich. – Fazit: Aufgrund der stärkeren Reibung des Schalls in den dünnen Schläuchen kommt es zu Rei- bungsverlusten und geringeren Verstärkungsleis- tungen. Deshalb wird diese Ankopplungsart nicht empfohlen. ▪ HdO mit Ex-Hörer-Ausfertigung: – HdO-Geräte mit einer individuell hergestellten Otoplastik, in der ein ausgelagerter Hörer bzw. Lautsprecher eingebaut wird, damit entfällt der Schallschlauch. Die Verbindung vom HdO zum Hörer besteht aus einem ummantelten Kabel. ▶ Abb. 1 Übersicht über die Aspekte einer Hörsystemversorgung. – Fazit: Die Verstärkung des ausgelagerten Hörers ist hier der limitierende Faktor. Ansonsten wäre diese Versorgung die optimale Form, da die Rei- bungen am Schallschlauch entfallen, und auf- grund des Abstands vom Hörer zum Mikrofon die Rückkopplungen geringer sind. „Im-Ohr“-Hörgeräte (IdO-Geräte) Bei den IdO-Geräten ist die komplette Technik im Ge- hörgang untergebracht. Power-Versorgungen benöti- gen mehr Platz. In dieser Bauform sitzen der Hörer und das Mikrofon eng beieinander, was zu stärkeren Rückkopplungen führen kann. Aus diesen Gründen ist diese Versorgung für WHO-4-Fälle nicht empfehlens- wert. Technische Ausstattung Patient*innen mit hochgradigem Hörverlust haben an- dere Anforderungen an ein Hörsystem als solche mit einem leicht- bis mittelgradigem Hörverlust. Hier steht nicht immer das Sprachverstehen im Vordergrund. So kann es manchmal auch ein Ziel sein, lediglich Signale und Warntöne aus der Umgebung wahrzunehmen. Technische Mindestausstattung Die technische Mindestausstattung, über die ein Hör- system für eine Versorgung bei WHO-4 verfügen muss, sind laut Hilfsmittelliste der GKV [4]: ▪ mindestens ca. 65 dB Verstärkung und 125 dB Aus- gangsschalldruck ▪ Digitaltechnik für eine flexiblere Anpassungen an den individuellen Hörverlust ▪ Mehrkanaligkeit (mindestens 6 Kanäle), die eine ge- trennte Signalverarbeitung in verschiedenen Fre- quenzbereichen ermöglicht, ▪ adaptive Rückkopplungsunterdrückung, die z. B. bei hohen Schallpegeln die Spitzenverstärkung redu- ziert und damit das „Pfeifen“ verhindern kann, ▪ adaptive Störgeräuschunterdrückung zur leichteren – Als Otoplastik ist auch eine Standardhalterung für Kommunikation in „lebhafter“ Umgebung den Gehörgang (sog. Domes oder Schirmchen) erhältlich. ▪ mindestens 3 Hörprogramme, mit denen eine indi- viduelle Anpassung an die Hörumgebungspara- meter gesteuert werden kann (die Auswahl erfolgt entweder selbstständig durch den Nutzer oder durch ein sog. Automatikprogramm anhand von festgelegten Parametern) Meier Siegrid et al. Die Rolle von … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 44–49 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 45

Audiologische Aspekte Zu den audiologischen Aspekten gehören Werkzeuge, die für die Anpassung von Power-Hörsystemen hilfreich sind. Ton- und Sprachtestverfahren Der am häufigsten genutzte Freiburger Sprachtest tes- tet das Verstehen mit Einsilbern, der aufgrund des schlechteren Sprachverstehens auch bei hohen Schall- pegeln oft keine verwertbaren Ergebnisse zeigt. Dann kann z. B. auf den Zahlentest oder auf einen Satztest wie den HSM-Test mit langsam aufgesprochener Spra- che ausgewichen werden. Satztestverfahren sind allge- mein leichter verständlich als Einsilber. Sollte kein Sprachtestverfahren genutzt werden können, wird mit frequenzmodulierten Tönen oder Schmalbandrau- schen (z. B. Fresh-Noise) die Hörschwelle mit den Hör- system über Lautsprecher ermittelt. Damit kann ein Ar- tikulations-Index (AI) in Prozent aus den überschwelli- gen sprachrelevanten Anteilen berechnet werden [5]. Dies dient dem Vergleich zum Hören ohne Hörsysteme bzw. zur Optimierung der Einstellung der Hörsysteme. Frageinventare Mittels Fragebögen können anders als bei den Messun- gen mit Tönen oder Sprache die individuellen Bedürf- nisse ermittelt werden. So entwickelte ein internatio- nales Team einen ICF-basierten Fragebogen (HEAR- COMMAND Tool) [6], mit dem die individuelle Band- breite der Auswirkung des Hörverlusts in Bezug auf die ganzheitliche Teilhabe erfasst werden soll. Aber auch im informellen Gespräch sollen im Vorge- spräch bzw. in der Anamnese gezielt die individuellen Bedürfnisse und Anforderungen im Alltag z. B. mittels COSI (Client Orientated Scale of Improvement) erfasst und nach der Hörsystemversorgung zur Evaluation überprüft werden. Frageinventare erfassen am besten die ganzheitliche Situation, besonders bei Power-Ver- sorgungen. Anpass-Strategien und Messung der wirksamen akustischen Verstärkung Mit Anpas-Strategien sind Formeln gemeint, mit denen die notwendige Verstärkung aus dem Tonaudiogramm statistisch vorhergesagt werden kann. Diese haben je nach Formel unterschiedliche Schwerpunkte, z. B. DSL- v5 auf Sprachverständlichkeit und NAL-NL2 auf Laut- heit. Diese sogenannten Zielkurven müssen dann bei leisen, mittleren und hohen Eingangssignalen mit den Hörsystemen erreicht werden und geben zusätzlich einen Hinweis auf die zu erwartende Sprachverständ- lichkeit, den SII (speech intelligibility index). Dazu wird die akustische Verstärkung mit einem dün- nen Schlauch neben der Otoplastik direkt im Gehör- gang als REM (Real Ear Measurement) bestimmt. Dies ist bei WHO-4-Versorgungen aber oft nicht möglich, da durch die Undichtigkeit der hochverstärkte Schall aus dem Gehörgang entweichen kann und ein Rück- kopplungspfeifen erzeugt. Deshalb kann mittels einer Messung der RECD (Real Ear-to-Coupler Difference) die individuelle akustische Übertragungskorrektur ge- messen und dann in der Messbox am Kuppler die Ein- stellung überprüft und optimiert werden. Bei Personen mit hochgradigem Hörverlust werden die Zielkurven oft nicht erreicht, weswegen der Schwer- punkt auf die Wahrnehmung von tieffrequenten Signa- len gelegt wird. Weiterhin können mit „frequenzver- schiebenden“ Maßnahmen die wichtigen Sprachsigna- le in den noch hörbaren Bereich verschoben werden. Die Einstellung dieser Maßnahme erfolgt auch unter messtechnischer Überprüfung mit dem sogenannten MAOF-Verfahren (MAOF = Minimum Audible Output Frequence Range), bei dem mit einem hochtonigen Sprachlaut die Hörbarkeit überprüft wird. Bei Menschen mit hochgradigem Hörverlust ist zudem häufig mit einem eingeschränktem Dynamikbereich zu rechnen [7]. Deshalb sollten Anpassverfahren unter Be- rücksichtigung der Unbehaglichkeitsgrenze genutzt werden. Mindestens sollte jedoch die sogenannte MPO-Einstellung (MOP = maximaler Ausgangsschall- druckpegel) an der Messbox berücksichtigt werden [8]. Messung der Höranstrengung Neben den elektroakustischen Messungen ist es oft hilfreich, die Höranstrengung als Parameter für eine vergleichende Anpassung hinzuzuziehen. Dies ist ein wichtiges, subjektiv einfach zu erfassendes Kriterium. Hörassistenzsysteme Beim Einsatz von technischen Hörassistenzsystemen wird die Entfernung vom Sprecher bzw. Schallsender zum Zuhörer mittels technischer Lösungen drahtlos, z. B. über Induktion an die T-Spule der Hörsysteme, übermittelt. Die Auswahl des „richtigen“ Hörassistenz- systems ist von individuellen Hörsituationen und tech- nischen Gegebenheiten abhängig. So sollten auch Lösungen für Warnsignale (Rauchmelder, Wecker etc.) angepasst werden. Dazu sind eine fachliche Beratung, Installation und Anpassung notwendig. Zur Verbesserung der Kommunikationskompetenz in den individuellen Hör- und Lebenssituationen ist der Einsatz von Hörassistenzsystemen für Menschen mit einem hochgradigen Hörverlust unverzichtbar, sie leis- ten einen wichtigen Beitrag für eine „barrierefreie Kommunikation“. Meier Siegrid et al. Die Rolle von … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 44–49 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 47

Schwerpunktthema Zukunftstrends in der Förderung und Therapie hochgradig schwerhöriger Patient*innen Future Trends in the Support and Therapy of Profoundly Deaf Patients Vanessa Hoffmann Die Förderung und Therapie schwerhöriger Patient*innen ist bereits seit vielen Jahren erfolgreich etabliert und folgt je nach Therapieansatz unterschiedlichen Therapiekonzepten und Prinzipien. Auch in Zukunft sollen die Versorgung und Therapie den wachsenden Qualitätsanforderungen des Gesundheitssystems ge- recht werden und sich zugleich an den individuellen Bedürfnissen der Patient*in- nen ausrichten. LERNZIEL Der Beitrag skizziert neue Therapie- und Förder- ansätze sowie Herausforderungen und Möglich- keiten der Digitalisierung für die Versorgung, (Re-)Habilitation und Nachsorge von hochgradig schwerhörigen Patient*innen. Es wird veran- schaulicht, wie diese Entwicklungen die Hör- und Sprachtherapie sowohl für die Patient*innen als auch für Therapeut*innen verändern. Aktuelle Forschungstrends untermauern die Potenziale dieser Technologien. Hörstörungen im Kontext der International Classification of Functioning, Disability and Health Die International Classification of Functioning, Disabili- ty and Health (ICF) propagiert eine veränderte, weni- ger defizit- oder störungsorientierte Sichtweise, die zu einer ressourcenorientierten Einschätzung der Ein- schränkungen und Auswirkungen einer Hörstörung führen kann. Dies kann dazu beitragen, nicht allein die Hörstörung an sich und deren Kompensation durch Versorgung und Therapie zu betrachten, sondern auch an den vorhandenen Kompetenzen orientiert zu erör- tern, welche individuellen Risiko- und Schutzfaktoren für Patienten bestehen und wie diese ganzheitlich im gesamten Lebensbezug betrachtet werden können. Die Anwendung der ICF ist über die Rehabilitations- Richtlinie gesetzlich verankert. Auch die Krankenkas- sen fordern im Rehabilitationsprozess zunehmend die Ausrichtung der Förderung und Therapie nach den Kri- terien der ICF. Es stellt sich die Frage, welche Aspekte in der Diagnostik und Therapieplanung berücksichtigt werden müssen, um diesen Forderungen gerecht zu werden und die ICF im praktischen Alltag umzusetzen. Erfassung des Hörvermögens in Alltagssituationen Die diagnostischen Verfahren der vergangenen Jahr- zehnte haben sich überwiegend darauf konzentriert, sprachliche und hörstörungsbedingte Defizite auf funktionaler Ebene zu ermitteln und zu quantifizieren. Sprachtests, die dafür genutzt werden können, das Sprachverstehen in Ruhe oder im Störschall zu ermit- teln, sind der Freiburger Einsilbertest (FBE) nach Hahl- brock [1] und der Oldenburger Satztest (OLSA) nach Wagener et al. [2, 3, 4]. In jüngerer Vergangenheit ent- wickelte Matrixtests haben sich ebenfalls im deutsch- sprachigen Raum etabliert und eignen sich für die Mes- sung im Störschall. Häufig zeigen Patient*innen in der Sprachaudiometrie ein gutes bis sehr gutes Verstehen in Ruhe, berichten jedoch immer wieder über Probleme beim Hören in Störgeräuschsituationen. Um die akustische Komplexi- tät realer Kommunikationssituationen des alltäglichen Lebens bei der apparativen Versorgung schwerhöriger Patienten zu berücksichtigen, steht derzeit nur eine be- grenzte Auswahl an validen Diagnostikverfahren zu Verfügung. Audiologen erforschen derzeit, wie die Komplexität zu untersuchender Hörsituationen durch Veränderung der Räumlichkeit der Störschallquellen und durch den zeitlichen Charakter des Störschalls beeinflusst wer- den, um alltagsnahe Hörsituationen in verschiedenen Hoffmann Vanessa. Zukunftstrends in der … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 49–53 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 49

Auditory Oral Approach [NAOA] oder Natural Aural Ap- proach [NAA]) [17]. Beide Methoden weisen in vielen elementaren Annahmen Parallelen auf, so z. B., dass eine frühe und adäquate Versorgung mit Hörsystemen sowie ein konsequentes Trageverhalten wichtige Vo- raussetzungen für eine gute Hör- und Sprachentwick- lung sind. Zudem wird der Eltern-Kind-Interaktion eine wichtige Rolle im kindlichen Entwicklungsprozess zu- geschrieben. Während die Wirksamkeit von AVT wissenschaftlich be- reits im Rahmen zahlreicher Studien evaluiert wurde, liegen für den NHA bisher keine offiziellen Evidenz- nachweise vor. Dies mag vermutlich daran liegen, dass die AVT einem stark strukturiert-hierarchischen Vorge- hen folgt, welches den Nachweis eines Effekts aufgrund der problematischeren Operationalisierung für den NHA deutlich erschwert. Dennoch impliziert das Vor- handensein von Evidenzen für einen Therapieansatz nicht, dass andere Ansätze, für die keine oder weniger Nachweise existieren, nicht ebenso wirkungsvoll sein können. Fehlende Nachweise lassen damit keine Aussa- ge über die Effektivität einer bestimmten Therapieme- thode zu und bestärken den dringenden Bedarf der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Hörtraining nach CI-Versorgung Das Hörtraining bei Erwachsenen, aber auch bei post- lingual ertaubten Kindern, hat zum Ziel, die Wahrneh- mung und das Erkennen, sowie das Verstehen des Ge- hörten mit den Hörsystemen zu verbessern und – wenn möglich – ein offenes Sprachverstehen zu errei- chen. Obgleich derzeit viele Hörtrainingsmaßnahmen bei postlingual ertaubten Erwachsenen mit CI einge- setzt werden, die sich in der Regel an den Hörlernstu- fen nach N. Erber [18] orientieren, ist die Evidenz für die Verbesserung der auditiven Ergebnisse durch audi- torisches Hörtraining (AT) eher suggestiv. In ihrem systematischen Review betrachten Cambridge et al. [19] aktuelle Studien über die Wirksamkeit des auditorischen Hörtrainings bei postlingual ertaubten Erwachsenen mit Kochleaimplantaten. Die Ergebnisse ihrer Recherche bestärken, dass ein auditorisches Hör- training bei postlingual ertaubten Erwachsenen mit CI das Sprachverstehen im Vergleich zu keinem Training verbessern kann. Gleichzeitig liegen Studien vor, die eine Evidenz für auditorisches Hörtraining in Frage stel- len [20, 21]. Diese heterogenen Befunde bestärken die unzurei- chende Datenlage und untermauern den hohen Bedarf an qualitativ hochwertigen Studien, welche sich diffe- renziert mit Teilbereichen des Hörtrainings auseinan- dersetzen und erforschen, welches auditorische Hör- training am wirksamsten zur Verbesserung der Hörer- gebnisse in dieser Patient*innengruppe eingesetzt werden kann. Entwicklung digitaler Therapiemethoden Die Digitalisierung im Gesundheitswesen schreitet ste- tig voran und führt dazu, dass sich neue Handlungsfel- der im Gesundheitssektor bilden und bestehende ver- ändern [22]. Auch im Rahmen der Hörrehabilitation gibt es erste Ansätze einer digital basierten Diagnostik, Hörtherapie und Nachsorge. PC-basierte Hörtrainingsprogramme und Apps Den größten Anteil bilden derzeit Apps zur Erfassung des Hörvermögens oder zur Hörgeräteanpassung und Tinnitustherapie [23, 24]. Aber auch im Bereich der Hörrehabilitation stehen bereits einige Apps und com- puterbasierte Programme zum auditiven Training, meist als Zusatz zur bestehenden Standardtherapie, zur Verfügung. Das PC-basierte Hörtrainingsprogramm Audiolog 4 HOME wird für den therapiebegleitenden Einsatz emp- fohlen und umfasst 60 unterschiedliche Übungen zur Förderung der auditiven Wahrnehmung und der zen- tralen Sprachverarbeitung. CI-Träger*innen können zwischen Übungen zur Detektion, Identifikation, Selek- tion, Merkfähigkeit, zum dichotischen Gehör, zur Tren- nung von Nutz- und Störschall, zur Verarbeitung akus- tischer Sequenzen, zur phonematischen Diskriminati- on, zur Silben- bzw. Wortanalyse und -synthese sowie zum Richtungshören auf Geräusch-, Laut-, Silben- oder Wortebene wählen. Zur Auswahl stehen neben der Sprecherin bzw. dem Sprecher auch die Art des Störge- räuschs und der Antwortmöglichkeit (Foto- oder Schriftbild). Die Nutzer*innen erhalten unmittelbar nach jedem Item ein Feedback. Zusätzlich erstellt das Programm ein Übungsprotokoll im Hintergrund. Das App-basierte Hörtraining Listen up! von der Fa. MED-EL (Innsbruck, Österreich) wurde für CI- und Hör- geräteträger*innen konzipiert und trainiert das auditi- ve Verstehen auf Wort-, Satz- und Textebene. Der Übungsaufbau beinhaltet 10 frei wählbare Stufen, de- ren Übungen (Wortlänge, Betonung, Wortidentifikati- on, Vokal- und Konsonantendifferenzierung, Zahlen- verstehen, Satzidentifikation, Texthören und Lücken- sätze) variieren. Die Nutzer können ein eigenes Profil erstellen, in welchem sie zwischen einem Sprecher (männlich oder weiblich) oder einem Störgeräusch wählen können. Nach einer Übung erhalten die Nutzer ein kurzes Feedback zu richtigen und falschen Antwor- ten und können die Ergebnisse einsehen sowie zusätz- lich als Trainingsbericht per E-Mail verschicken. Hoffmann Vanessa. Zukunftstrends in der … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 49–53 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 51

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Biologie, Zellkultur molekulare und Patch-Clamp-Experimente zur Vorberei- tung der in vivo Arbeiten. Zum Beispiel optimieren wir die lichtgesteuerten Ionenkanäle (Channelrhodopsin) für die Anwendung im auditorischen System, welches ein schnelles Schalten dieser Kanäle erfordert. In den vorklinischen in vivo Studien an Tiermodellen konnten wir zeigen, dass die durch Licht stimu- lierte Hörreaktion bei Tieren funktio- niert, und dass mit physiologischen Methoden eine deutlich verbesserte Fre- quenz- und Intensitätskodierung gegen- über dem aktuellen elektrischen Hören nachweisbar ist. Welche Probleme sind bei optischen Implantaten noch zu lösen? Hier bleibt noch viel zu tun: wir arbeiten parallel an vorklinischen optischen CI zur prinzipiellen Charakterisierung des opti- schen Hörens und an der Entwicklung des humanen Prototyps für die klinische Prüfung. Beim klinischen optischen CI können einige Komponenten des elektri- schen Implantats genutzt werden, ande- re Komponenten wie der Wellenleiter- basierte optische Stimulator und die Schallkodierungsstrategie müssen aber neu entwickelt werden und nach den strengen Prüfregeln für aktive implan- tierbare Medizinprodukte zugelassen werden. Dabei sind Patientensicherheit und Langzeitstabilität, die auch unter widrigsten Bedingungen gegeben sein müssen, an vorderster Stelle. Welche Berufe sind in Ihrem Institut tätigt, d. h. welche Expertisen benöti- gen Sie für Ihre Forschung? Bei der Entwicklung des optischen CI ar- beiten an unserem Institut und kooperie- renden Einrichtungen Wissenschaft- ler*innen aus Medizin und Tiermedizin, Physik, Biologie, Biotechnologie und Ingenieurwesen eng zusammen. Es ist sehr wichtig, eine gemeinsame Sprache, einen von allen gemeinsam vorangetrie- benen Projektplan und gemeinsame kurz-, mittel-, und langfristige Zielen zu finden. Welche Rolle für die Realisierbarkeit Ihrer Forschungsziele spielt Ihr Stand- ort, d. h. die Universität Göttingen, einer der renommiertesten Universi- tätsstandorte? Was hat Ihnen hier ge- holfen? Was ggf. auch nicht? Mir fällt z. B. das Deutsche Primatenzentrum in Göttingen ein. Würden Sie „Jung- forscher*innen“ empfehlen, eher auf einen renommierten Standort zu war- ten oder eher eine sich zeitnah bieten- de Gelegenheit an einer „jungen“ Uni- versität zu nutzen? Wir sind froh und dankbar über die he- rausragenden Forschungsmöglichkeiten die der Göttingen Campus mit der Uni- versität, der Universitätsmedizin, den Max-Planck-Instituten und dem Deut- schen Primatenzentrum bietet. Auch wenn unsere primäre Zugehörigkeit bei der sehr forschungsstarken Universitäts- medizin liegt, sind wir am Campus sehr eng vernetzt. Dies wird über eine Brü- ckenprofessur mit dem Deutschen Pri- matenzentrum, hier arbeiten inzwischen mehrere Arbeitsgruppen unseres Insti- tuts, und das Max-Planck-Fellowship, das uns die Arbeit am MPI für Multidis- ziplinäre Naturwissenschaften ermög- licht, realisiert. Auch das sehr erfolgrei- che lebenswissenschaftliche Exzellenz- cluster MBExC muss hier erwähnt wer- den, in dem wir sowohl zur Bildgebung als auch zur Optogenetik sehr intensiv mit anderen Gruppen zusammenarbei- ten. Der starke neurowissenschaftliche Schwerpunkt des Göttinger Campus bie- tet weitere Vernetzungsmöglichkeiten. Die Ingenieurswissenschaften fehlen der Uni Göttingen leider. In diesem Bereich arbeiten wir mit Kolleg*innen der Uni- versitäten Freiburg und Chemnitz sowie der Göttinger Fachhochschule HAWK zu- sammen. Aus meiner Sicht sind For- schungsbedingungen, Kolleg*innen und Mentor*innen sehr wichtige Kriterien für die Wahl des Standorts. Mögen Sie etwas über die Finanzie- rung und Förderung Ihrer Forschung und Ihres Instituts berichten? Unser Institut ist 2015 gegründet wor- den und hat ein jährliches Budget von ca. 1 Mio € aus der Grundausstattung und bewirtschaftet zusätzlich ca. 3 Mio € aus Mitteln Dritter pro Jahr. Von 2011 bis 2022 war unser Institut in der Sprecher- funktion für den sensorischen Sonderfor- schungsbereich 889. Ein neuer Sonder- forschungsbereich befindet sich in der Beantragung. Das Projekt zum optischen CI ist sehr kostenintensiv und hat bislang aus Mitteln des Europäischen For- schungsrats (ERC Advanced Grant Opto- Hear), der DFG (v. a. Leibniz Preis), des BMBF und des Landes ca. 20 Mio € aufge- wendet. Haben Sie schon einen Zeithorizont für die Erprobung und Einführung beim Menschen? Wird eine Erprobung mit dem Primatenzentrum geplant? Die Versuche mit nicht-humanen Prima- ten (Weißbüschelaffen) in einer Zusam- menarbeit mit den Arbeitsgruppen von Marcus Jeschke und Kathrin Kusch sowie der HNO-Klinik laufen bereits am Prima- tenzentrum. Die erste klinische Studie planen wir 2027 zu beginnen. Wie stellen Sie sich später die Herstel- lung durch Hersteller und die Lizenz- vergaben vor? Unser wichtigstes Ziel ist es derzeit die optogenetische Wiederherstellung des Hörens in die klinische Prüfung zu brin- gen. Sollte sich die auf Grund unserer vorklinischen Daten erwartete Verbesse- rung des Hörens gegenüber dem elektri- schen Hören bestätigen, sollte dieser neue Ansatz für die Betroffenen verfüg- bar gemacht werden. Die Kombination von Innovation des Medizinprodukts und Gentherapie bedingt erhebliche Auf- wendungen und es ist unwahrscheinlich, dass wir den Prozess bis in die klinische Prüfung allein aus dem akademischen Forschungs- Entwicklungspro- gramm tragen können. Die Möglichkei- ten, solche aufwendigen Entwicklungen aus der öffentlichen Förderung zu be- streiten, sind leider begrenzt. Es wird also wichtig sein, dass die wirtschaftliche Verwertung durch Industriepartner ge- lingt, damit der neue Ansatz tatsächlich für die Betroffenen verfügbar und von den Kostenträgern getragen wird. Dieser Prozess ist kein Selbstläufer und kann noch an vielen Stellen scheitern, aber ich bin optimistisch, dass er bei hinreichen- der Unterstützung gelingt. Uns ist sehr wichtig, dass diese Chance gut genutzt wird und die Entwicklung nicht in einer Schublade endet. Dafür suchen wir Un- und Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 54–56 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 55

Neue Impulse Entwicklung eines UK-Videocoachings für Eltern von Kindern im Autismus-Spektrum AAC Video-Coaching for Parents of Children on the Autism Spectrum Ziel der Studie war es, Elternberatung zur Implementierung von Maßnah- men der Unterstützten Kommunika- tion (UK) im Familienalltag zu syste- matisieren und in Form eines Video- coachings erstmals zu evaluieren. Es zeigt sich, dass Eltern von Maßnah- men profitieren, die die elterlichen Ressourcen Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit aktivieren und sie dabei unterstützen, sich selbst zu hel- fen. Hintergrund UK-Maßnahmen werden als zentraler Be- standteil sprachtherapeutischer Praxis angesehen, um Menschen ohne ausrei- chende Lautsprache in ihrem Alltag best- möglich zu unterstützen [1]. Sozial-kom- munikative Besonderheiten von Kindern im Autismus-Spektrum (AS), die sich un- abhängig von deren Intelligenzniveau zeigen können, erfordern zusätzlich den Einsatz spezifischer Vermittlungsstrate- gien [2]. Um eine erfolgreiche Kommuni- kation im Familienalltag zu gewährleis- ten, ist gezieltes Elterncoaching notwen- dig, welches es als übergeordnetes The- rapieprinzip der Sprachtherapie zu be- rücksichtigen gilt [2, 3, 4]. Zielsetzung Mit dieser Pilotstudie wurde das Ziel ver- folgt, Elternberatung zu systematisieren und in Form eines Videocoachings erst- mals qualitativ zu evaluieren. Dafür wur- de das dynamische, partizipativ orien- tierte Programm ‚CALMA‘ [5] entwickelt, das mit zwei Familien getestet wurde. Im Zentrum des Coachings standen die Ver- mittlung edukativer Inhalte und die An- leitung der Eltern zur Anwendung von zwei Kommunikationsstrategien in na- türlichen Alltagssituationen. Es wurde angestrebt, Hinweise darauf zu finden, ob sich die Form eines Videocoa- chings für die Implementierung von UK im häuslichen Umfeld aus Elternperspek- tive eignet. Neben den zentralen Kompo- eine nenten des Coachings war von Interesse, welche didaktischen Methoden von den Eltern als geeignet beschrieben wurden, um UK-Maßnahmen im Alltag zufrieden- stellend umsetzen zu können. Zudem stellte die Elternperspektive auf die An- wendung von zwei unterschiedlichen Vermittlungsstrategien zentrale Frage dieser Arbeit dar. Dafür wurden Hilfestellungen in Form eigens entwi- ckelter Cue-Bundles systematisiert. Die Eltern wurden schließlich zu einer abstei- genden (Most-to-Least-Support [MTL]) und einer aufsteigenden Hilfestellungs- hierarchie (Least-to-Most-Support [LTM]) angeleitet, anhand derer sie die Unterstützung kriteriengeleitet reduzier- ten. Ziel war es ebenso potenzielle Ein- flussfaktoren zu beschreiben, die von El- tern als begünstigend und hemmend auf den UK-Einsatz im Familienleben wahr- genommen wurden. Methodik Die Untersuchung wurde als Mixed-Me- thod-Studie im ABCE-Design konzipiert. Im Rahmen dieser Arbeit wurde der qua- litative Anteil ausgewertet. Die Stichpro- be bestand aus zwei Müttern (N = 2) von je einem Kind im AS, das nicht ausrei- chend lautsprachlich kommunizierte. Die Intervention bestand aus drei Bau- steinen (Edukation [A] und zwei Trai- ningsblöcke [B, C]), auf die eine Mainten- ance-Phase (E) folgte (siehe ▶ Abb. 1). Anhand semistrukturierter Interviews mittels eines eigens für diese Untersu- chung entwickelten Leitfadens wurden die beiden Probandinnen zu jeweils drei Messzeitpunkten (T2, T3 und T4) be- fragt. Die qualitative Auswertung wurde als inhaltlich-strukturierende Inhaltsana- lyse nach Kuckartz [6] durchgeführt. Ergebnisse In Hinblick auf die Anwendung von Ver- mittlungsstrategien zur UK-Implemen- tierung konnte festgestellt werden, dass eine systematische Reduktion von Hilfe- stellungen als profitabel angesehen wur- ZUR PERSON Sandra Guggen- berger schloss 2010 das Bache- lorstudium Logo- pädie an der fhg – Zentrum für Ge- sundheitsberufe Tirol GmbH in Innsbruck ab. Sie war seitdem an- gestellt und freiberuflich mit (neu- ro-)pädiatrischem Schwerpunkt im Raum Innsbruck tätig. Seit 2012 ist sie als externe Lehrende an den Ba- chelor-Studiengängen Logopädie und Ergotherapie in Innsbruck tä- tig. 2019–2022 absolvierte sie das Masterstudium Sprachtherapie an der LMU München. Im Anschluss begann sie 2022 ihr Doktoratsstu- dium im Fach Sonderpädagogik an der LMU München und beschäftigt sich in ihrer Dissertation weiter mit dem von ihr entwickelten CAL- MA-Elterncoaching. Von Septem- ber 2022 war sie bis Oktober 2023 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sprachheilpäda- gogik/Sprachtherapie LMU München beschäftigt. Seit Okto- ber 2023 ist Sandra Guggenberger als Studiengangsleitung des Ba- chelorstudiengangs Logopädie an der fhg in Innsbruck tätig. der de. Beide Mütter erkannten im sequen- ziellen Aufbau der Intervention (MTL – LTM) ein sinnvolles Vorgehen, welches dem Lernprozess der Kinder entsprach. Eine Präferenz hinsichtlich der Strategien wurde nicht angegeben. Die Probandin- nen beschrieben den Einsatz von UK in natürlichen Alltagssituationen und die Kindzentrierung des Ansatzes als förder- liche Faktoren. Ebenso sahen sie die selbstbestimmte der Maßnahmen und das Erleben von Selbst- wirksamkeit als begünstigend an. In der Kooperation des Kindes konnten beide Mütter einen Faktor ausmachen, der so- Durchführung Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 57–59 | © 2023. Thieme. All rights reserved. 57

KOMMENTAR Sandra Guggenberger bearbeitete in ihrer Masterarbeit eine höchstaktu- elle und für die Sprachtherapie rele- vante Fragestellung. Zur theoreti- schen Herleitung ihres Coaching-An- satzes nimmt sie zunächst die Per- spektive der Kommunikationspart- ner*innen von UK-Nutzenden ein und arbeitet auf der Basis eines um- fassenden Literaturkorpus pointiert die Herausforderungen sowie vorlie- gende Evidenzen für verschiedene Vermittlungsmethoden im Umgang mit UK-Mitteln bei Kindern im Autis- mus-Spektrum heraus, aus denen konsequent sowohl der Aufbau als auch die Inhalte des partizipativ or- ganisierten Elterncoachings abgelei- tet werden. Pilotiert wird das video- basierte Beratungs- und Behand- lungskonzept in einer umfangreich angelegten explorativen Studie im Mixed-Method-Design anhand von zwei Familien. Die inhaltsanalytische Auswertung der qualitativen Daten (Interviews, Videos) belegt eindrucksvoll, dass insbesondere in der konventionellen Sprachtherapie eher vernachlässigte Bausteine (wie z. B. die Kombination von Edukation und Anwendungstrai- ning sowie der Einsatz in natürlichen, selbst gewählten Alltagssituationen und die selbstbestimmte Durchfüh- rung der Maßnahmen durch die El- tern) als besonders gewinnbringend empfunden wurden und eindrück- lich das große Potential dieses neuen Ansatzes erkennen lassen. Eine Fol- gestudie ist bereits in Arbeit. Doch schon die Pilotstudie gibt begründe- ten Anlass zum Um- und Weiterden- ken, möglicher Behandlungssettings und -formen, will man eine echte Teilhabe am Alltag durch Kommuni- kation erreichen. Dr. Dana Gaigulo, Institut für Sprachheilpädagogik, LMU München Autorinnen/Autoren Sandra Guggenberger1 1 Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Präventions-, Integrations- und Rehabilitationsforschung Korrespondenzadresse Sandra Guggenberger, MA Goethestraße 11, A-6020 Innsbruck, Österreich sandra@logo-guggenberger.com Literatur [1] Giel B, Liehs A. Versorgung mit Unterstütz- ter Kommunikation – Perspektive der Sprachtherapie. Sprache Stimme Gehör 2020; 44: 145–149 doi: 10.1055/a-1161- 1240 [2] Beukelman DR, Light JC. Augmentative and alternative communication: Supporting children and adults with complex communi- cation needs. Baltimore: Brookes Publishing; 2020 [3] Bailey RL, Parette HP Jr., Stoner JB et al. Family Member's Perceptions of Augmenta- tive and Alternative Communication Device Use. Language, Speech and Hearing Services in Schools 2006; 37: 50–60 doi: 10.1044/ 0161-1461(2006/006) [4] Patterson SY, Smith V, Mirenda P. A syste- matic review of training programs for pa- rents of children with autism spectrum disorders: Single subject contributions. Autism 2012; 16: 489–522 doi: 10.1177/ 1362361311413398 [5] Guggenberger S. Video-Coaching von Kom- munikationspartner*innen als geeignete Methode zur Implementierung von Maß- nahmen der Unterstützten Kommunikation (UK) im häuslichen Umfeld? Eine Pilotstudie aus der Perspektive von Bezugspersonen. Unveröffentlichtes Manual 2021 [6] Kuckartz U. Qualitative Inhaltsanalyse. Me- thoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim, Basel: Beltz Juventa; 2018 Bibliografie Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 57–59 DOI 10.1055/a-2102-7075 ISSN 0342-0477 online publiziert 7.8.2023 © 2023. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 57–59 | © 2023. Thieme. All rights reserved. 59

Erwerb der Verbstellung im Deutschen In den folgenden Abschnitten werden zunächst die Merkmale der typischen und der auffälligen Verbstellungsentwicklung im Deutschen thematisiert. Im Anschluss daran wird das Konzept der Meilen- und Grenzsteine vorgestellt, bevor die zugrundelie- genden Fragestellungen der Untersuchung abgeleitet werden. Typische Entwicklung Um im Deutschen Sätze mit zielsprachlicher Verbstellung zu produzieren, müssen Kinder je nach Satzart unterschiedliche Positionierungen des Verbs erkennen und realisieren [1]. Dabei stehen sich die Verbzweitstellung (V2) im Hauptsatz und die Verbendstellung (V-end) im Nebensatz gegenüber. Die Satzstruktur des Deutschen kann durch verschiedene Theorien über zugrundeliegende syntaktische Prinzipien und Prozesse modelliert werden. Dem Ansatz der generativen Grammatik zufolge besteht die Auffassung, dass die Endstel- lung von Verben die Ausgangsstruktur im Deutschen ist, wäh- rend sich alle anderen Verbpositionen sekundär durch die Be- wegung von Satzelementen ableiten lassen [2, 3]. Demnach wird das flektierte Verb an letzter Position generiert und zur Bil- dung von Hauptsätzen an zweite Stelle in die Complementizer- Position (CP) bewegt. In subordinierten Nebensätzen ist die CP- Position hingegen durch einen Komplementierer (z. B. Konjunk- tionen wie wenn, ob) belegt, sodass das flektierte Verb an der letzten Position verbleiben muss [4]. Im ebenfalls weit verbrei- teten Stellungsfeldermodell [1] entspricht die V2-Position der linken und die V-end-Position der rechten Satzklammer. Die syntaktische Ausgangsstruktur spiegelt sich im Erwerbs- verlauf wider: Die Endstellung infiniter Verben ist in den ersten Wortkombinationen und den meist noch unvollständigen Sät- zen, die ab eineinhalb bis zwei Jahren auftreten, zunächst die vorherrschende Struktur (z. B. Ein Schwein Blatt essen1) [5, 6]. Darauf folgt im dritten Lebensjahr die Bildung von Hauptsät- zen, welche die Flexion des Verbs gemäß der Subjekt-Verb-Kon- gruenz (SVK) sowie dessen Bewegung an die zweite Position im Satz (linke Satzklammer bzw. CP-Position) erfordert (z. B. Das Schwein klaut die Möhren). In Übergangsphasen wurden vorü- bergehend zwar Sätze mit flektierten Verben in Endposition, je- doch kaum infinite Verben in der Zweitposition beobachtet [3, 7]. Dies weist darauf hin, dass Kinder grundlegende Regeln der Wortstellung in Bezug auf die Flexion und Positionierung von Verben beachten. Der Auftretenszeitpunkt erster subordinierter Nebensätze mit Verbendstellung wird mit hoher interindividueller Variation etwa zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Jahren verortet und geht mit dem Erwerb der lexikalischen Klasse der Komplemen- tierer einher (z. B. wenn das Schwein alles auffrisst) [4, 8]. Eine Besonderheit stellen Nebensätze mit der Konjunktion weil dar, welche im gesprochenen Deutsch neben der flektierten V-end umgangssprachlich auch mit flektierter V2 realisiert werden können (z. B. Weil der Hunger hat vs. Weil der hat Hunger) [9]. Merke Die unflektierte Verbendstellung wird im typischen Gram- matikerwerb während des dritten Lebensjahres durch die flektierte Verbzweitstellung im Hauptsatz abgelöst. Auffällige Entwicklung Grammatische Auffälligkeiten können im Rahmen von Sprach- entwicklungsverzögerungen, Sprachentwicklungsstörungen sowie von umgebungsbedingten Sprachauffälligkeiten vor- kommen [10, 11]. Expressive Symptome, die bei Kindern mit verschiedenen Formen grammatischer Auffälligkeiten beob- achtet werden, sind eine im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern reduzierte Äußerungslänge sowie Auslassungen von obligatori- schen Konstituenten und Funktionswörtern. Ein hervorste- chendes Kernsymptom von Sprachentwicklungsstörungen sind zudem Verbstellungsfehler [12, 13]. Als eine Ursache für Pro- bleme beim Erwerb der zielsprachlichen Verbstellung bzw. der Bildung komplexer Sätze werden Störungsschwerpunkte auf der Ebene der CP und damit relatierte oder auch selektive Pro- bleme mit der Subjekt-Verb-Kongruenz diskutiert [14, 15, 16]. Als Kardinalsymptom des Dysgrammatismus zwischen drei und fünf Jahren gilt die Phase des erweiterten optionalen Infini- tivs, in welcher grammatisch auffällige Kinder länger als im ty- pischen Spracherwerb Hauptsätze mit unflektierten Verben in Endstellung produzieren, oft im Wechsel mit flektierten Verben in Zweitstellung [17, 18]. Auch ein ausgeprägter Gebrauch der flektierten Verbendstellung im Hauptsatz kann ein Symptom sein. Mit Nebensatzstrukturen haben Kinder mit auffälliger Grammatikentwicklung oft Probleme. Werden vereinzelte Nebensätze gebildet, kann es zur Beibehaltung der Verbzweit- stellung, zu fehlerhafter SVK im Nebensatz oder zu Schwierig- keiten mit dem Gebrauch von Konjunktionen kommen [14, 18]. Ab etwa viereinhalb Jahren kann sich eine Grammatik- störung auch durch den sogenannten kompensierten Dysgram- matismus [19] zeigen, bei dem zwar flektierte Verben an der zweiten Position des Hauptsatzes stehen, jedoch nur eine ge- ringe strukturelle Flexibilität besteht. Dabei folgen die Sätze einer rigiden Struktur und sind zwar meist grammatikalisch kor- rekt, allerdings verkürzt und transportieren weniger Informa- tionen [18, 19]. Treten überhaupt komplexe Sätze auf, kann außer den beschriebenen Fehlern eine rigide Wortfolge nach der Konjunktion beobachtet werden. INFOBOX Auffälligkeiten im Bereich der Satzstruktur und Verbstellung ▪ Stagnation auf früheren Entwicklungsstufen, v. a. erweiterter optionaler Infinitiv (unflektierte Verb- endstellung) im Hauptsatz ▪ Flektierte Verbendstellung im Hauptsatz ▪ Ausbleiben komplexer Strukturen, Verbstellungsfehler im Nebensatz ▪ Kompensierter Dysgrammatismus mit rigiden Satz- 1 Alle Beispiele stammen aus kindersprachlichen Belegen aus dem Korpus der strukturen hier präsentierten Studie. Lawatsch Kim et al. Entwicklung der Verbstellung … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 60–69 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 61

▶ Tab. 1 Syntaktische und morphologische Variablen mit Anzahl notwendiger Belege und Score-Zugehörigkeit Kategorie Variable Mindestanzahl Belege Score Satzstrukturen (ohne Berück- sichtigung der Verbstellung) Verbstellung Morphologische Markierung von Verben Weitere Konstituenten: Konjunktionen S1 S2 VS1 VS2 VS3 VS4 VS5 VS6 V6 V7 W5 W6 Auftreten von Hauptsätzen Auftreten von Nebensätzen Flektierte V2 im Hauptsatz Unflektierte V-end im Hauptsatz Flektierte V-end im Hauptsatz Flektierte V-end im Nebensatz Inkorrekte V2 im Nebensatz Sonstige abweichende Verbstellung Korrekte SVK Fehlerhafte SVK Konjunktionen realisiert Konjunktionen ausgelassen oder falsch realisiert 3 3 3 2 2 2 2 1 2 2 2 2 A A A B B A B B A B A B stehen zwei Scores: Score A bildet das Vorhandensein gramma- tischer Fähigkeiten ab (je mehr Punkte, desto besser), während Score B das Auftreten nicht zielsprachlicher Strukturen und da- mit mögliche Verzögerungen bzw. Schwierigkeiten widerspie- gelt (je mehr Punkte, desto schlechter). Für eine individuelle di- agnostische Aussage können den erreichten Score-Rohwerten altersrelatierte Normwerte (T-Werte und Prozentränge) zuge- ordnet werden. Von den insgesamt 39 vorgesehenen syntaktischen und morphologischen Variablen (siehe Liste in [22]) stehen zwölf Variablen im Fokus dieser Arbeit, welche in ▶ Tab. 1 aufgelistet sind. Diese umfassen das Auftreten der grundlegenden Satz- strukturen Haupt- und Nebensatz, Variablen zur Verbstellung (VS1–VS6), die SVK und weitere Variablen wie die Verwendung von Konjunktionen. Für jede der zwölf Variablen wurde pro Al- tersgruppe der prozentuale Anteil der Kinder ermittelt, die Be- lege für diese Variablen aufweisen. Wenn von mindestens 50 % der Kinder (Score A) bzw. weniger als 50% der Kinder (Score B) eine bestimmte Variable belegt wird, wird in dieser Altersgrup- pe ein Meilenstein angenommen. Ein Grenzstein wird erreicht, wenn mindestens 90 % der Kinder einer Altersgruppe die Min- destanzahl der Belege für eine Zielstruktur zeigen (Score A) oder nur noch höchstens 10 % der Kinder die Mindestanzahl der Belege für eine nicht zielsprachliche Struktur (Score B) pro- duzieren. Um altersrelatierte Veränderungen festzustellen, wurde pro Variable für jede einzelne Altersgruppe die Anzahl der Kinder abgetragen, die die jeweilige Variable belegten bzw. nicht belegten, sodass die Häufigkeitsverteilungen durch Chi-Quadrat-Tests verglichen werden konnten.2 Im Anschluss wurden die Häufigkeitsverteilungen pro Variable in gleicher Weise für die zwei Subgruppen von Kindern mit typischer und 2 Die Tests wurden nach dem Verfahren unter https://quantpsy.org/chisq/ chisq.htm durchgeführt. Wenn mindestens 20 % der erwarteten Häufigkei- ten unter 5 lagen, wurde eine Yates-Korrektur angewandt. auffälliger Grammatikentwicklung (s. u.) verglichen. Bei einer signifikant unterschiedlichen Häufigkeitsverteilung zwischen den Gruppen kann gefolgert werden, dass Kinder mit auffälli- gen grammatischen Fähigkeiten bei dieser spezifischen Struk- tur besondere Schwierigkeiten haben. INFOBOX Score A und B zur Bestimmung grammatischer Fähig- keiten ▪ Score A gibt Auskunft über das Vorkommen gramma- tischer Zielstrukturen ▪ Score B zeigt das Vorkommen von nicht-zielsprach- lichen, nicht mehr altersgemäßen bzw. auffälligen grammatischen Strukturen an ▪ Wird die Mindestzahl von Belegen erreicht, gibt es einen Punkt für den jeweiligen Score ▪ Je mehr Punkte in Score A und je weniger Punkte in Score B erreicht werden, desto besser sind die gram- matischen Fähigkeiten des Kindes einzuordnen Stichprobe Die Datenerhebung mit 241 Kindern im Kindergartenalter fand deutschlandweit in Kindertagesstätten statt. Die hier betrach- tete Stichprobe besteht aus Kindern, die für die Normierung der PDSS untersucht wurden [22, 23]. Über Elternfragebögen wurde das Vorliegen von unkorrigierten Hör- oder Sehstörun- gen, neurologischen Störungen, allgemeinen Entwicklungsstö- rungen sowie Störungen aus dem autistischen Spektrum aus- geschlossen. Von den insgesamt 250 Kindern, mit denen die Grammatikanalyse in der Version für Kinder über drei Jahren normiert wurde, standen die Werte von neun Kindern aus tech- Lawatsch Kim et al. Entwicklung der Verbstellung … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 60–69 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 63

Variable Score A 3;0 – 3;5 3;6 – 3;11 4;0 – 4;11 5;0 – 5;11 6;0 – 6;11 S1 S2 VS1 VS4 V6 W5 Score B VS2 VS3 VS5 VS6 V7 W6 Hauptsätze Nebensätze Flektierte V2 im HS Flektierte V-end im NS Korrekte SVK Konjunktion korrekt Unfl ektierte V-end im HS Flektierte V-end im HS Inkorrekte V2 im NS Sonstige abweichende VS Inkorrekte SVK Konjunktion ausgelassen oder falsch 96,0 % 78,0 % 88,0 % 78,0 % 98,0 % 84,0 % 14,0 % 8,0 % (2,0 %) 30,0 % 18,0 % 12,0 % 100 % 90,2 % 98,0 % 86,3 % 100 % 90,2 % 7,8 % 7,8 % 100 % 88,6 %1 100 % 90,9 % 100 % 95,5 % 9,1 % 4,5 % (21,6 %) (20,5 %) 19,6 % 15,7 % 3,9 % 20,5 % 11,4 % 2,3 % 100 % 97,8 % 100 % 95,6 % 100 % 97,8 % 4,4 % 0 % (11,1 %) 11,1 % 6,7 % 2,2 % 100 % 96,1 % 100 % 96,1 % 100 % 100 % 2,0 % 0 % (15,7 %) 11,8 % 5,9 % 2,0 % 1 Aufgrund der sehr geringen, nicht signifi kanten Diff erenz (Altersgruppe 3;6–3;11: 90 %, Altersgruppe 4;0–4;11: 89 %, χ²(1) = 0.06; Yates p = 0.93) wird der Grenzstein in Altersgruppe 3;6 – 3;11 angesetzt. ▶ Abb. 1 Meilen- und Grenzsteine für die untersuchten Variablen, hell unterlegt = Meilenstein, dunkel unterlegt = Grenzstein, türkis unterlegt = Score A, orange unterlegt = Score B; Variable VS5 in Klammern aufgrund der NS mit „weil“ in V2 pelte Vorfeldbesetzung) oder an vorletzter Position im Neben- satz (z. B. dass gerade verarztet wird das Mädchen) bzw. bei zwei- teiligen Verben im Hauptsatz (z. B. Die muss schnell trinken was). Während Verben an erster oder vorletzter Position unter be- stimmten pragmatischen Bedingungen erlaubt sind (z. B. To- pic-Drop [5], Nachschub von Informationen am Satzende), neh- men Kinder i. d. R. keine Belege für Verben in der dritten Satz- position in der Erwachsenensprache wahr. Trotzdem waren bei Kindern beider Gruppen derartige doppelte Vorfeldbesetzun- gen im Hauptsatz zu beobachten. Merke 10 Grenzsteine zwischen 3;0 und 5;11 Jahren geben den Zeit- raum an, ab dem das Fehlen zielsprachlicher Strukturen und/ oder das Vorkommen auffälliger Strukturen als Warnsignal zu sehen ist. Unterschiede zwischen Kindern mit unauffälligen und auffälligen grammatischen Fähigkeiten In einem nächsten Schritt wurde die Häufigkeitsverteilung für die Belegung der grammatischen Variablen zwischen den bei- den Subgruppen insgesamt (über die Altersgruppen hinweg) verglichen. Eine signifikante Relation zwischen der Gruppe (un- auffällig vs. auffällig) und der Variablenbelegung (belegt vs. nicht belegt) ließ sich dabei für die fehlerhafte, unflektierte V- end im Hauptsatz (VS2; χ

ßerdem Grenzsteine entsprechend der untersuchten Altersbe- reiche festgelegt werden, d. h. bereits 90 % der Kinder zeigten die betreffenden Fähigkeiten. Dabei wurden acht dieser Grenz- steine bereits im vierten Lebensjahr erreicht, was auf eine be- sonders rege grammatische Entwicklung in diesem Altersbe- reich schließen lässt. Nicht erreicht wurden die Grenzsteine für die Variablen VS5 (inkorrekte V2 im Nebensatz) und VS6 (sons- tige abweichende Verbstellungen). Die Daten bestätigen die Annahme, dass die unflektierte Verbendstellung häufiger als die flektierte in kindlichen Äußerungen vorkommt und länger persistiert. Zudem lassen sich noch länger Belege für die fehler- hafte SVK finden als bislang angenommen. Hinsichtlich der Ne- bensätze werden die Beobachtungen von Tracy [8] unterstützt, dass jene bereits zu Anfang an mit korrekter Konjunktion und Verbendstellung verwendet werden, aber der erste Auftretens- zeitpunkt interindividuell variiert. Die Gesamtstichprobe wurde außerdem anhand von drei grammatischen Kennwerten in zwei Subgruppen unterteilt, die Kinder mit typischer Grammatikentwicklung bzw. Kinder mit grammatischen Schwächen enthielten. Bei der Gegenüber- stellung dieser Gruppen zeigte sich bei zehn Variablen, dass we- niger Kinder mit auffälligen Grammatikfähigkeiten erwünschte Zielstrukturen belegen, während mehr Kinder dieser Gruppe Strukturen produzieren, die bei Kindern mit unauffälligen Grammatikfähigkeiten nicht (mehr) auftreten. Bei genauerer Betrachtung der Altersgruppen traten zwei un- terschiedliche Muster hervor: Für mehrere grammatische Strukturen weisen die Daten auf eine Verzögerung hin (siehe Muster Verzögerung, Abschnitt „Unterschiede zwischen Kin- dern mit unauffälligen und auffälligen grammatischen Fähig- keiten“). So zeigten Kinder der auffälligen Gruppe zwischen 3;0 und 3;5 Jahren z. B. für die flektierte V2 im Hauptsatz deut- lich weniger Belege als Kinder der unauffälligen Gruppe, wäh- rend sich in späterem Alter keine Gruppenunterschiede mehr zeigten. Der Erwerb dieser Strukturen schien sich bei den Kin- dern mit grammatischen Schwächen somit etwas später zu vollziehen. Dies ist konsistent mit der Beobachtung, dass die Grammatikentwicklung von Kindern mit grammatischen Stö- rungen langsamer verläuft [5, 13]. Eine Folgerung aus den vor- liegenden Ergebnissen wäre, ein Ausbleiben von Sätzen mit flektierter V2 und korrekter Subjekt-Verb-Kongruenz zwischen drei und dreieinhalb Jahren zunächst als Zeichen einer Verzöge- rung zu betrachten, das weiter beobachtet und durch weitere diagnostische Verfahren untermauert werden sollte. Erst ab einem Alter von 3;6 Jahren sollten auch bei Kindern mit einer eher langsamen Erwerbsprogression die korrekten grammati- schen Strukturen präsent bzw. die inkorrekten verschwunden sein, sodass man ab diesem Alter Symptome einer grammati- schen Störung annehmen kann. Ein anderes Muster zeigte sich bei Variablen, bei denen sich die Kinder mit grammatischen Auffälligkeiten im gesamten Un- tersuchungszeitraum durchgängig von Gleichaltrigen unter- schieden (siehe Muster anhaltende Schwierigkeiten, Abschnitt „Unterschiede zwischen Kindern mit unauffälligen und auffälli- gen grammatischen Fähigkeiten“). Dies betraf sowohl flektierte als auch unflektierte Verbendstellungen im Hauptsatz und die seltenere Verwendung von Nebensätzen. Im Rahmen von grammatischen Auffälligkeiten ist hier über mehrere oder gar alle Altersgruppen hinweg mit anhaltenden Schwierigkeiten zu rechnen. Die elizitierte Sprachproduktion der hier als gramma- tisch auffällig klassifizierten Kinder zeigt damit deutliche Paral- lelen zu den Symptomen grammatischer Störungen, die für Kin- der mit diagnostizierten Sprachentwicklungsstörungen be- kannt sind [12, 13], insbesondere in Bezug auf den optionalen Infinitiv zwischen drei und fünf Jahren [17, 18] und die ausblei- bende Bildung von Nebensätzen, die bei Kindern mit kompen- siertem Dysgrammatismus ab vier Jahren beschrieben wurde [19]. Eine Sonderstellung in der Untersuchung nehmen Neben- sätze mit V2-Stellung ein, die sowohl in der auffälligen als auch der unauffälligen Gruppe produziert wurden. Eine detaillierte Betrachtung der Nebensätze in den Transkripten machte deut- lich, dass V2-Stellungen im Nebensatz häufig im Zusammen- hang mit der Konjunktion weil vorkamen, jedoch in beiden Gruppen auch einzelne Fälle auftraten, bei denen die V2 mit an- deren Konjunktionen eindeutig inkorrekt verwendet wurde. In- korrekte V2-Stellungen im Nebensatz wurden bereits als Symp- tom grammatischer Störungen beschrieben [18]. Sie treten nach den Beobachtungen der vorliegenden Studie aber durch- aus bei Kindern mit grammatischen Schwächen ohne SES-Diag- nose und sogar im unauffälligen Grammatikerwerb auf. An dieser Stelle sollen einige methodische Aspekte und Limi- tationen der vorliegenden Studie reflektiert werden. Zum einen können anhand der vorliegenden Querschnittsdaten keine ein- deutigen Aussagen über Entwicklungsverläufe abgeleitet wer- den; dazu wären längsschnittliche Untersuchungen notwendig. Eine längsschnittliche Betrachtung könnte zudem Zusammen- hängen zwischen der Entwicklung von Haupt- und Nebensätzen nachgehen. Beispielsweise könnte überprüft werden, ob Kin- der, die Probleme mit der korrekten Verbstellung im Hauptsatz haben, später auch Probleme bei der Bildung von Nebensätzen zeigen. Zu bedenken ist außerdem, dass die Stichprobe der vor- liegenden Studie anhand von drei Kennwerten in zwei Subgrup- pen unterteilt wurde, die Kinder mit grammatischen Stärken bzw. Schwächen repräsentieren sollten. Es wurde jedoch keine eigene Stichprobe von Kindern mit SES erhoben, sodass keine direkten Rückschlüsse auf Kinder mit einer diagnostizierten SES gezogen werden können. Es wäre interessant zu untersu- chen, inwiefern die Leistungen von Kindern mit einer SES den Leistungen der Kinder aus der hier betrachteten auffälligen Gruppe ähneln. Gegenstand zukünftiger Forschung könnte auch die Frage sein, wie Kinder unter drei Jahren im Hinblick auf alle hier getesteten Variablen abschneiden würden. Zwar wurden in der Studie von Kauschke et al. [6] Kinder im dritten Lebensjahr untersucht, allerdings wurden bei diesen jüngeren Kindern im Sinne der Entwicklungschronologie weniger Varia- blen erfragt und keine gezielten Nebensatzstrukturen elizitiert. Da alle Meilensteine im Alter von 3;0 bis 3;5 bereits deutlich überschritten waren, muss die 50 %-Hürde auch für vermeint- lich spätere grammatische Strukturen (z. B. Nebensätze) noch vor dem dritten Geburtstag eingeordnet werden. Generell ist zu beachten, dass das Auftreten einer bestimm- ten Zielstruktur nicht mit einer sicheren Beherrschung dieser Struktur gleichsetzen ist (zur Diskussion dieses Aspekts siehe [6, 22]). Mit dem hier verwendeten Verfahren soll festgestellt Lawatsch Kim et al. Entwicklung der Verbstellung … Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 60–69 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 67

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Patienteninformation Minimale Hörschäden bei Kindern – Auswirkungen auf schulisches Lernen auch Minimale Hörschäden, als leicht- oder geringgradig bezeichnet, sind Hörverluste von 20 bis 40 dB. Man spricht auch von minimaler Schwerhörigkeit, wobei diese sich auf einen maximalen Hörverlust von 35 dB bezieht. Der Hörschwellenver- lauf liegt zwischen Normalhörigkeit und einer Höreinschränkung, die das alltägliche Leben und die zwischen- menschliche Kommunikation ein- schränkt. Diagnose Angeborene minimale Hörschäden wer- den beim Neugeborenenhörscrenning (NHS) nicht erfasst, da sie unterhalb der „Erkennungsschwelle“ – das NHS erfasst Hörverluste ab 35 dB – liegen. Daher ist die Teilnahme an den Früherkennungs- untersuchungen (U1 bis U9) dringend er- forderlich, auch deshalb, weil der Hör- verlust z. B. im Kleinkind-, Vorschul- oder Schulalter erst eintreten kann. Die dazu eingesetzten Diagnoseverfahren entsprechen den üblichen pädaudiologi- schen Methoden zur Feststellung eines Hörverlustes. Wurde ein (minimaler) Hörschaden diagnostiziert, sind regel- mäßige audiometrische Kontrollen (min- destens bis in das Jugendalter) anzura- ten. Sollte eine Hörschädigung einen progredienten Verlauf nehmen, ist si- die Hörsysteme cherzustellen, rechtzeitig an die veränderte Situation angepasst werden. dass Prävalenz Es gibt keine verlässlichen Zahlen zur Häufigkeit von Kindern mit minimalem Hörschaden, da ein Großteil von ihnen unerkannt bleibt. Sicher ist, dass die An- zahl im Laufe des Vorschul- und Schul- alters durch Traumata, Lärm oder Infekte sowie durch progrediente Verläufe zu- nimmt. Auswirkungen Minimale Hörverluste werden in ihren Auswirkungen auf die kindliche Entwick- lung und das vorschulische und schuli- sche Lernen häufig unterschätzt, da die betroffenen Kinder keine erkennbaren oder nur wenig sichtbare Auffälligkeiten zeigen. Dennoch stellen sie ein Risiko für eine ungehinderte und normgerechte Hör-, Sprach- und kognitive Entwicklung des Kindes dar. Mögliche Probleme bei der Sprachent- wicklung sind: ▪ Lautbildungsfehler und Dyslalien, da stimmlose Konsonanten und Zisch- laute nicht ausreichend gehört wer- den, ▪ Agrammatismus, da unbetonte En- dungen nicht markant wahrgenom- men werden, ▪ im Extremfall ein eingeschränkter Wortschatz, da nicht alle Wörter hin- reichend (und häufig genug) gehört werden, um diese dann als Bestandteil des eigenen Wortschatzes zu über- nehmen. Da die Schüler „auf den ersten Blick“ un- auffällig wirken, wird ihre Situation oft falsch eingeschätzt. Auf (direkte) An- sprache reagieren sie häufig adäquat. Unterschätzt wird, dass sie sich beim Hören mehr anstrengen müssen, was zu schnellerer Hörermüdung und rasche- rem Abbau der Aufmerksamkeit führen kann. Die Folgen sind mangelnde Kon- zentration, Ablenkbarkeit, Erschöpfung, Reizbarkeit oder Auffälligkeiten im sozia- len und emotionalen Bereich und Verhal- ten. Mitunter kommt es zu Störungen in der (Schrift-)Sprache, da grammatische Markierungen (s. o.) unzureichend wahr- genommen und diese dann wie gehört verwendet werden. Nicht selten werden die Auswirkungen mit einer Lese-Recht- schreib-Schwäche (LRS) verwechselt. Des Weiteren liegen Beeinträchtigungen in der Leistungsfähigkeit und beim Ler- nen vor. Erschwerend wirkt, dass die mi- nimale Höreinschränkung oft längere Zeit unerkannt bleibt. So können Defizite im Wissen eintreten, was ihnen den An- schluss an das schulische Lernen der Klassenkameraden erschwert. Schülerin- nen und Schüler mit minimalem Hör- schaden müssen sich ständig mehr an- strengen, mehr leisten, mehr konzentrie- ren und mehr Aufmerksamkeit aufbrin- gen, um alles zu verstehen und dem Un- terricht zu folgen. Eine Studie belegt an- hand von Schülerdaten des 3., 6. und 9. Schuljahrgangsbesuches, dass Schülerin- nen und Schüler mit minimaler Schwer- hörigkeit im Vergleich zum regionalen Durchschnitt deutlich häufiger ein Schul- jahr wiederholen müssen [1]. Pädagogische Hinweise Häufig sind Unterschiede in häuslichen und schulischen Situationen zu beobach- ten. In ruhiger häuslicher Umgebung zei- gen die Kinder keine Probleme, jedoch in Lernsituationen im Unterricht, da Neben- und Störgeräusche kaum zu vermeiden sind. Unter anderem deshalb ist im Schulalltag die Unterstützung und Be- gleitung durch einen Hörgeschädigten- pädagogen hilfreich. Eltern und Betreu- ungspersonen sind umfassend zu infor- mieren und zu begleiten, um die Hör-, Sprach- und Schulentwicklung angemes- sen beobachten und unterstützen zu können. Die Lehrkräfte sind auf die be- sondere Situation der Kinder hinzuwei- sen. Das Mindern von Stör- und Neben- geräuschen während des Unterrichts kann Hörstress vermeiden oder ein- schränken. Technische Versorgung Auch bei einem minimalen Hörschaden sollte geprüft werden, ob Hörsysteme die Hör- und Verstehenssituation des Kindes verbessert (nach den gegenwär- tig gängigen Richtlinien muss eine sol- che (noch) nicht mit Hörgeräten ver- Sprache · Stimme · Gehör 2024; 48: 71–72 | © 2024. Thieme. All rights reserved. 71

Impressum Sprache ∙ Stimme ∙ Gehör Zeitschrift für Kommunikationsstörungen 48. Jahrgang Die Sprache ∙ Stimme ∙ Gehör erscheint 4-mal jährlich. ISSN (Print): 0342-0477 eISSN: 1439-1260 Copyright & Ownership Wenn nicht anders angegeben: © 2024. Thieme. All rights reserved. Die Zeitschrift Sprache ∙ Stimme ∙ Gehör ist Eigentum von Thieme. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Federführende Herausgeberin PD Dr. Stefanie Brühl, Privatdozentin HHU Düsseldorf und Bereichsleiterin Sprach- und Musiktherapie, St. Mauritius Therapieklinik, Strümper Str. 111, 40670 Meerbusch Die Herausgebenden sind nicht verantwortlich für in der Zeitschrift enthaltene Anzeigen und Beilagen. 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