PSYCH up2date Psychiatrie · Psychotherapie · Psychosomatik 1 Januar 2022 Seite 1–92 16. Jahrgang CME-Fortbildung ▪ Differenzialdiagnosen bei demenzieller Entwicklung ▪ Fatigue bei Long COVID ▪ Impulskontrollstörungen, Verhaltenssüchte und körperbezogene Zwangs- erkrankungen ▪ Gemeindepsychiatrie Schritt für Schritt ▪ Expositionstraining mit alkoholabhängigen Patienten

Herausgeberboard Prof. Dr. Eva-Lotta Brakemeier Jahrgang 1976, ihrem Leitbild der Scientist-Practitioner fol- gend begann sie nach ihrem Psychologie-Studium in Berlin die Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin (Fachkunde Verhaltenstherapie) sowie eine Promotion an der Humboldt-Universität Berlin und der Charité Universi- tätsmedizin Berlin. Nachdem sie an der Universitätsklinik Freiburg weitere Psychotherapiemethoden (wie CBASP und IPT) gelernt und beforscht hat, war sie mehrere Jahre als Professorin an der Psycholo- gischen Hochschule Berlin tätig, bevor sie eine Stiftungsprofessur der Schön Kliniken an der Philipps-Universität Marburg antrat. Seit 2019 ist sie W3-Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Uni- versität Greifswald sowie Direktorin des dortigen Zentrums für Psycholo- gische Psychotherapie. Ihre Forschungsschwerpunkte verorten sich im Bereich der individualisierten Psychotherapieforschung (insb. Verlaufs- und Interventionsforschung, praxisorientierte Forschung, Prozessfor- schung, quantitative klinische Psychologie). Prof. Dr. Andreas J. Fallgatter Jahrgang 1963, absolvierte nach dem Studium der Human- medizin in Frankfurt am Main zunächst eine Facharztwei- terbildung für Neurologie in Trier, dann für Psychiatrie und Psychotherapie in Lohr am Main und an der Universitäts- klinik Würzburg. Dort war er 12 Jahre als Oberarzt, davon 5 Jahre als leitender, geschäftsführender Oberarzt und als W2-Professor für Psychiatrie tätig. Seit 2010 ist er Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Hirnfunktionsmessungen bei psychischen Erkrankungen mittels elektrophysiologischer Methoden, Nahinfrarot- spektroskopie und fMRT sowie die Entwicklung von innovativen Therapie- methoden, basierend auf Neurofeedback-Interventionen und Neuro- stimulation mit rTMS und tDCS. Prof. Dr. Fritz Hohagen (Schriftleiter) Jahrgang 1954, studierte in Barcelona, Paris und Heidel- berg/Mannheim Medizin und habilitierte 1995 an der Uni- versität Freiburg, Abteilung für Psychiatrie und Psychothe- rapie. Von 1999 bis 2019 war Prof. Hohagen Ordinarius für Psychiatrie der Universität zu Lübeck, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie sowie der Klinik für Psycho- somatik und Psychotherapie und medizinischer Geschäftsführer des Zen- trums für Integrative Psychiatrie. Er war von 2005–2006 Präsident der DGPPN. Seine Forschungsschwerpunkte sind Neurobiologie, Psychothe- rapie der Zwangsstörungen, Depressionsforschung und die Interaktion zwischen Depression und körperlichen Erkrankungen. Klinisch und in der Aus- und Weiterbildung ist Prof. Hohagen am Medizinischen Versor- gungszentrum Falkenried tätig. Prof. Dr. Michael Hüll Jahrgang 1964, studierte Humanbiologie und Medizin in Marburg und San Diego sowie Gesundheitsmanagement in Heidelberg. Nach der Facharztausbildung in Tübingen und Freiburg leitete er als Arzt für Psychiatrie, Psychothera- pie, Geriatrie an der Universitätsklinik Freiburg von 2007– 2014 die Sektion für Gerontopsychiatrie und Neuropsycho- logie sowie das interdisziplinäre Zentrum für Geriatrie und Gerontologie. Seit 2014 ist er Chefarzt der Klinik für Alterspsychiatrie und -psychothera- pie des Zentrums für Psychiatrie Emmendingen, akademisches Lehrkran- kenhaus der Universität Freiburg. Prof. Dr. Falk Kiefer Jahrgang 1969, absolvierte nach seinem Medizinstudium in Erlangen eine psychiatrisch-psychotherapeutische Fach- arztausbildung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppen- dorf, wo er auch 2004 habilitierte. Im Jahr 2005 nahm er eine Professur für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg an, 2014 übernahm er den Lehrstuhl für Suchtforschung und wurde Ärztlicher Direktor der Klinik für Abhängi- ges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesund- heit in Mannheim. Prof. Kiefer ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht), Vorstand der Deutschen Suchtstiftung und Herausgeber der Zeitschrift „European Addiction Research“. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Ätiopathogenese, Diagnose und Therapie von Suchterkrankungen. Prof. Dr. Klaus Lieb Jahrgang 1965, wurde nach dem Studium der Medizin und Philosophie in Ulm, Tübingen und Los Angeles und der Facharztweiterbildung in Ulm und Freiburg Oberarzt an der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie des Uni- versitätsklinikums Freiburg. Von 2001–2007 war er dort Leitender Oberarzt und Stellvertreter des Ärztlichen Direk- tors. Seit 2007 ist er Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psycho- therapie, Universitätsmedizin Mainz und seit 2020 wissenschaftlicher Ge- schäftsführer des Leibniz-Instituts für Resilienzforschung in Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Borderline-Persönlichkeitsstörung, affektive Störungen und Resilienz. Prof. Dr. Ulrich Voderholzer Jahrgang 1961, absolvierte nach dem Studium der Human- medizin in München und Boston eine klinische und wissen- schaftliche Ausbildung an der Psychiatrischen und Neuro- logischen Universitätsklinik in München. Von 1993–2009 war er an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Freiburg tätig. Seit Januar 2010 ist er Ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Prof. Voderholzer ist Mitglied mehrerer Fachgesellschaften. Seine Forschungs- schwerpunkte sind Zwangsstörungen, Essstörungen, Schlafstörungen und affektive Störungen. Prof. Dr. Stephan Zipfel Jahrgang 1962, studierte Medizin in Heidelberg, London und Frankfurt a. M. und absolvierte seine klinische und wissenschaftliche Ausbildung in Heidelberg und Sydney/ Australien. Er ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Innere Medizin und seit 2003 Ärztlicher Direktor der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Medizinischen Universitätsklinik Tübin- gen. Er ist Vorsitzender des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM) und Prodekan der Medizinischen Fakultät Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Essstörungen und Adipositas, soma- toforme Störungen und Psychoonkologie. 2 PSYCH up2date 2022; 16 | © 2022. Thieme. All rights reserved. Interessenkonflikte s. www.thieme.de/psychup2date/herausgeber

Editorial lung. Herzlichen Dank an alle Autorinnen und Autoren, die mit ihren klaren, evi- denzbasierten Beiträgen in dieser PSYCH up2date Ausgabe hierzu beitragen. Literatur [1] Kiefer F. Semper aliquid haeret. PSYCH up2date 2020; 14: 455–456 doi: 10.1055/a-1239- 487334052803 [2] Weingärtner A-L, Stengel A. Fatigue bei Long COVID. Psychother Psych Med 2021; 71: 515– 527 doi: 10.1055/a-1544-834934872154 [3] Wagemann O, Danek A. Differenzialdiagnosen bei demenzieller Entwicklung. PSYCH up2date 2022; 16: 17–33 [4] Borbé R. Gemeindepsychiatrie. PSYCH up2date 2022; 16: 73–90 [5] Turner D, Tüscher O. Impulskontrollstörungen, Verhaltenssüchte und körperbezogene Zwangserkrankungen. PSYCH up2date 2022; 16: 53–70 4 PSYCH up2date 2022; 16: 3–4 | © 2022. Thieme. All rights reserved.

Studienreferate ziell risikoreich für die Entwicklung von Mammakarzinomen. Hypotheti- siert wurde, dass die Erhöhung von Prolaktin dabei eine zentrale Rolle spielt. Tatsächlich konnten in vorherig publi- zierten Arbeiten jedoch keine einheit- lichen Ergebnisse gefunden werden. So konnte beispielsweise in einer Register- Studie keine erhöhte Brustkrebsgefahr detektiert werden – hier wurden jedoch vornehmlich Frauen eingeschlossen, die keine Schizophrenie hatten und damit keine Antipsychotika eingenommen ha- ben. In einer nun veröffentlichten Fall- Kontrollstudie wurden mit Hilfe der fin- nischen Register-Datenbanken über 30 000 Frauen mit Schizophrenie über einen Beobachtungszeitraum von (teilweise) über 30 Jahren untersucht. Insbesondere wurden abhängig von der Medikation 2 unterschiedliche Gruppen untersucht: Patientinnen, die vornehmlich potenziell Prolaktin-erhöhende Medikationen ein- nahmen (zum Beispiel Risperidon, Hal- operidol) und Patientinnen, die vor- nehmlich Medikationen einnahmen, die kein erhöhtes Risiko für Prolaktinerhö- hungen haben (zum Beispiel Aripiprazol, Clozapin). Des Weiteren wurde unter- sucht, ob die Dauer der Einnahme (bis zu 1 Jahr, 1–4 Jahre und über 5 Jahre) so- wie die kumulierten Tagesdosen eben- falls mit einem Risiko für die Entwicklung von Brustkrebs einhergehen. Da nur Pa- tientinnen mit Schizophrenie einge- schlossen wurden, konnte der Bias bzgl. des Lebensstils, welcher ebenfalls ein Einfluss auf das Risiko an Brustkrebs zu erkranken, minimiert werden. Insgesamt erhielten von den über 30 000 Patientinnen 1069 die Diagnose eines Mammakarzinoms. Bei diesen Patientin- nen konnte im Endergebnis tatsächlich ein Zusammenhang zwischen der Ein- nahme von potenziell Prolaktin-erhöhen- den Medikamenten und der Inzidenz von Brustkrebs festgestellt werden, jedoch abhängig von der Dauer der Einnahme: bei einer Einnahme dieser Medikamente von über 5 Jahren zeigte sich ein deutlich erhöhtes Risiko für Brustkrebs (OR 1,56). Das Risiko für lobuläre Adenocarcinome, die typischerweise weniger häufig gene- tische Ursachen haben, war das Risiko nochmals deutlich höher (OR 2,3), so dass auch hier ein genetischer Bias eher unwahrscheinlich erscheint. Das Risiko war unabhängig vom Alter der Patientin- nen. Patientinnen, die Medikamente ein- nahmen, die potenziell eher nicht das Prolaktin erhöhen, hatten weder nach ei- nem noch nach 5 Jahren ein erhöhtes Ri- siko für Brustkrebs in dieser Population. Leider wurden keine Prolaktinspiegel im Serum einbezogen, so dass keine Aussa- ge dazu gemacht werden kann, ob die Höhe des Spiegels ebenfalls mit der Inzi- denz von Brustkrebs korreliert. Männer wurden gar nicht eingeschlossen, da nur eine sehr geringe Anzahl an Brustkrebs erkrankt ist. Die Autoren schlussfolgern jedoch, dass die längere Einnahme von D2-Antagonisten das Risiko an Brust- krebs zu erkranken, deutlich erhöhen: während in der Allgemeinbevölkerung das Risiko bei ca.12% liegt, so liegt das Risiko für Frauen, die über 5 Jahre solche Medikamente einnahmen, nochmal 4% höher. Die Einnahme dieser Medikamen- te kürzer als 5 Jahre kann das Risiko um 56% senken. Für die Praxis empfehlen die Autoren, den Prolaktinspiegel regel- mäßig zu kontrollieren und bei fehlender Kontraindikation sofern dieser erhöht ist. Auch sollte in der Er- steinstellung überdacht werden, ob ein Medikament, welches den Prolaktinspie- gel nicht oder nur in geringem Maße be- einflusst, bei Frauen bevorzugt gegeben werden sollte. Zudem empfehlen die Autoren, Vorsorgeunter- suchungen zu veranlassen, sofern eine Umstellung auf ein anderes Präparat nicht möglich ist. umzustellen, häufigere Diese Studie zeigt zum einen ein erhöh- tes Risiko an Brustkrebs zu erkranken, wenn potenziell Prolaktin-erhöhende Medikamente über einen Zeitraum von über 5 Jahren genommen werden. Ande- rerseits können leider keine Schlüsse da- raus gezogen werden, ab welcher Höhe des Prolaktinspiegels Handlungsbedarf besteht: möglicherwiese könnten schon leicht erhöhte Werte das Risiko erhöhen, aber sicher ist es wiederum nicht. Die kli- nisch tätigen Ärzte verbleiben derweil in dem Dilemma, welches Medikament auf Dauer nun günstiger für die Patientinnen sein könnte; denn auch die Antipsychoti- ka, die keinen Einfluss auf das Prolaktin haben, bergen andere Risiken, wie zum Beispiel die Gewichtszunahme unter Clo- zapin. FAZIT In jedem Fall wird es wohl unaus- weichlich sein, über ein potenzielles Brustkrebsrisiko bei längerer Einnah- me aufzuklären und ggf. zu überprü- fen, ob in der Erhaltungstherapie eine Umstellung vorgenommen werden kann, wenn der Prolaktinspiegel er- höht ist. PD Dr. med. Arnim Quante, Berlin Dosierungs- empfehlung in der Langzeitbehandlung der Schizophrenie Leucht S et al. Examination of Dosing of Anti- psychotic Drugs for Relapse Prevention in Patients with Stable Schizophrenia. JAMA Psy- chiatry 2021; doi:10.1001/jamapsychiatry. 2021.2130 Bei schizophrenen Patienten sollten Antipsychotika über lange Zeit wei- terverordnet werden, um einen Rückfall zu verhindern. Stefan Leucht von der Technischen Universität in München berichtet jetzt im renom- mierten Fachjournal JAMA Psychia- try, welche Dosis dabei gewählt wer- den sollte: ein Äquivalent von etwa 5 mg Risperidon biete die beste Ba- lance aus Wirkung und Nebenwir- kung. Für die Beantwortung dieser klinisch wichtigen Frage führten Leucht und Kol- legen eine so genannte Dosis-Wirkungs- Metaanalyse durch. In dieser Metaanaly- se flossen die Ergebnisse ein von 26 Stu- dien mit insgesamt fast 4800 Patienten, deren Schizophrenie unter Behandlung mit Antipsychotika stabilisiert wurde. Zunächst wurde für jedes untersuchte 6 PSYCH up2date 2022; 16: 5–7 | © 2022. Thieme. All rights reserved.

Schritt für Schritt Expositionstraining mit alkoholabhängigen Patienten Lea Wetzel, Sabine Steins-Löber Das Expositionstraining bietet insbesondere bei Patienten mit Alkoholabhängig- keit eine ausgezeichnete Ergänzung zu etablierten Elementen der Abhängig- keitsbehandlung. Das zentrale Ziel: ein praxis- und alltagsnahes Übungsfeld bie- ten, um alkoholabhängige Patienten langfristig in ihrem Ziel der Abstinenz zu unterstützen. Dazu leitet der Therapeut den Patienten Schritt für Schritt durch das Expositionstraining. Grundlagen Rückfälle in gewohnte Trinkmuster sind eine zentrale Herausforderung in der Behandlung von alkoholabhän- gigen Patienten und Patientinnen. In Deutschland wer- den Studien zufolge mehr als die Hälfte der Patienten nach Entlassung aus einer stationären Suchtrehabilita- tion innerhalb des ersten Jahres rückfällig [1]. Bei Pa- tienten, die lediglich eine Entgiftung durchlaufen, lie- gen die Rückfallraten bei bis zu 85% [2]. Die meisten Rückfälle geschehen beim Übergang von einem ge- schützten Therapierahmen in die alltägliche Umge- bung der Patienten. Damit einhergehend ist ein erhöh- tes Rückfallrisiko durch die Konfrontation mit Alkohol und alkoholassoziierten Reizen. Ein Ansatz, der bereits im Therapiekontext auf diese Konfrontation vorbereitet, ist das Expositionstraining, auch Cue Exposure Therapy (CET) genannt. Die zentra- len Ziele sind, die Abstinenzerhaltung alkoholabhängi- ger Patienten zu fördern und das Risiko eines Rückfalls zu reduzieren. Klassische Konditionierung Der Ansatz der CET begründet sich in der Lerntheorie und dabei insbesondere in der von Ivan Pavlov gepräg- ten klassischen Konditionierung. Demnach gibt es Rei- ze, die gewisse angenehme Reaktionen auslösen, z. B. der Geruch von einem leckeren Essen. Wird ein solcher Reiz nun wiederholt mit einem neutralen Reiz gemein- sam dargeboten, löst der neutrale Reiz infolge assozia- tiver Lernprozesse schließlich die gleiche Reaktion aus, wie der ursprüngliche Reiz. Man spricht nun jedoch von einer konditionierten Reaktion. Betrachten wir das Ganze am Beispiel Alkohol: Der Kon- sum eines alkoholischen Getränks und die Alkoholwir- kung werden wiederholt mit neutralen Reizen, also bei- spielsweise Eigenschaften des Getränks oder Umge- bungsvariablen des Konsums, gemeinsam dargeboten. Durch den Prozess der Konditionierung werden diese neutralen Reize zu konditionierten Stimuli. Sie können nun selbst physiologische, emotionale, motivationale und Verhaltensreaktionen auslösen, wie z. B. Verlangen nach Alkohol (Craving) [3, 4]. Man spricht in diesem Zu- sammenhang von Cue-Reaktivität. Diese fördert wie- derum in der Folge den Konsum von Alkohol. Löschung Die konditionierte Reaktion, also das automatisch auf- kommende Craving, kann durch den sogenannten Vor- gang der Löschung wieder von den konditionierten Rei- zen entkoppelt werden. Dabei kommt es jedoch nicht zum „Ausradieren“ der konditionierten Reaktion, son- dern zum Lernen einer neuen, weiteren Reaktion. Die ursprüngliche Reaktion muss dabei nun aktiv inhibiert werden [5]. Die Löschung erfolgt durch die Konfronta- tion mit konditionierten Stimuli und gleichzeitiger Ver- hinderung des Konsums (Reiz-Reaktions-Verhinde- rung). Hierdurch kommt es zu einer Abnahme der kon- ditionierten Reaktion. Merke Ziel der CET: Durch die mehrfache Darbietung alko- holassoziierter Stimuli und die anschließende Ver- hinderung des Alkoholkonsums soll die Reiz-Reak- tions-Verknüpfung gelöscht werden. Wirkfaktoren Eine Vielzahl an Studien konnte den praktischen Erfolg der CET belegen. CET-behandelte alkoholabhängige Patienten berichteten beispielsweise über eine Reduk- tion ihres wahrgenommenen Cravings und einen An- stieg ihres Selbstwirksamkeitsempfinden [6]. In Bezug auf die Cue-Reaktivität im fMRT konnte ebenfalls ein 8 Wetzel Lea et al. Expositionstraining mit alkoholabhängigen … PSYCH up2date 2022; 16: 8–14 | © 2022. Thieme. All rights reserved.

Schritt für Schritt ▪ Es wird viel Übung benötigt, bis sich die neuen Ver- haltensweisen eingeschliffen haben und sie die alten Reaktionen ersetzen. In 10 psychoedukativen Sitzungen werden anschlie- ßend grundlegende Inhalte zu Alkoholabhängigkeit, Rückfallsituationen und Strategien der Rückfallvermei- dung vermittelt. Im Wechsel mit den psychoedukativen Sitzungen fin- den 10 Expositionssitzungen statt. Diese umfassen die eigentliche Konfrontation mit dem alkoholischen Ge- tränk sowie das Einüben von Bewältigungsstrategien. In einer Abschlusssitzung erfolgt die Evaluation der in- dividuell gesetzten Ziele. Der Fokus liegt auf den positi- ven Veränderungen des Patienten und der Verstärkung dieser. Die nachfolgend dargestellten Schritte bilden exempla- risch den Ablauf einer Expositionssitzung ab. Eine aus- führliche Darstellung der einzelnen Sitzungen ist dem Manual „Qualifizierte Entzugsbehandlung von Alkohol- abhängigen“ zu entnehmen [9]. Schritt 1 – Definition der Risikosituationen ▶ Abb. 1 Sammeln Sie mögliche Rückfallsituationen als Grundlage für die Exposition. Quelle: Zentralinstitut für seelische Gesundheit, Mannheim Zunächst erarbeiten Therapeut und Patient gemeinsam mögliche individuelle Rückfallsituationen (▶ Abb. 1). Häufig handelt es sich dabei um Situationen, die mit negativen Gefühlen, einer inneren Anspannung, zwi- schenmenschlichen Konflikten oder sozialen Verfüh- rungssituationen assoziiert sind. Cave Achten Sie darauf, dass es sich um individuelle Risi- kosituationen des Patienten handelt. Werden ledig- lich allgemeine Risikosituationen behandelt, ist der Erfolg der CET eingeschränkt. Schritt 2 – Hierarchie individueller Risiko- situationen ▶ Abb. 2 Erstellen Sie eine Hierarchie des Rückfallrisikos der Situationen. Quelle: Zentralinstitut für seelische Ge- sundheit, Mannheim Die erarbeiteten individuellen Risikosituationen wer- den anschließend in eine Hierarchie hinsichtlich ihrer Rückfallgefahr gebracht (▶ Abb. 2). Um eine realisti- sche Risikoeinschätzung durchzuführen, erfolgt die Einordnung anhand folgender Kriterien: 1. Ausmaß an erlebtem Alkoholverlangen bzw. Wunsch zu trinken in der Situation 2. Selbstwirksamkeitsüberzeugung bzw. Glauben da- ran, eine Rückfallsituation erfolgreich meistern zu können 3. Häufigkeit der entsprechenden Situationen Schritt 3 – Konfrontation mit alkoholischem Getränk Die Exposition mit dem alkoholischen Getränk sollte zu Beginn immer durch den Therapeuten oder die Thera- peutin begleitet und angeleitet werden. Für die erste Exposition bietet sich eine Situation mittlerer Gefähr- lichkeit an. Im Verlauf sollten auch die gefährlicheren Risikosituationen erprobt werden. Die Exposition erfolgt gestuft: von der Betrachtung des alkoholischen Getränks bis hin zum intensiven Riechen an dem Getränk. Durch das gezielte Stellen von Fragen kann zusätzlich eine kurzfristige Verstärkung des Suchtverlangens erreicht werden. Im Verlauf der Expo- sitionsübung erfragt der Therapeut regelmäßig das ak- tuell wahrgenommene Alkoholverlangen des Patienten erfragt hält das Ergebnis fest. Um langfristig einen positiven Effekt durch die Exposi- tion zu erlangen und einen Rückfall zu verhindern, ist eine Orientierung an nachfolgend beschriebenen Leit- faden zu empfehlen. Weiterführende Formulierungs- hilfen für die Anleitung der Exposition liefert beispiels- weise Lindenmeyer [3]. 10 Wetzel Lea et al. Expositionstraining mit alkoholabhängigen … PSYCH up2date 2022; 16: 8–14 | © 2022. Thieme. All rights reserved.

Schritt für Schritt Wie hört sich das Öffnen an? Ist es ein vertrautes Ge- räusch? Sind bestimmte Gefühle damit verbunden? Gibt es körperliche Empfindungen? Riechen an dem Getränk Woran denken Sie beim Öffnen der Flasche? Einschenken des Getränks ▶ Abb. 7 Das intensive Riechen an dem Getränk steigert das Suchtverlangen während der Exposition. Quelle: Zen- tralinstitut für seelische Gesundheit, Mannheim T: Gehen Sie nun nahe an das Glas heran und riechen Sie daran (▶ Abb. 7). Wie riecht das? Was empfinden Sie jetzt? Setzen Sie auch gerne die Lippen an das Glas, nehmen Sie das Getränk jedoch nicht zu sich! Lassen Sie sich darauf ein und intensivieren Sie das Gefühl. Denken Sie auch an Situationen, in denen Sie jetzt getrun- ken hätten. Lassen Sie dem Patienten einige Minuten Zeit, sich in- tensiv mit der Situation auseinanderzusetzen. Beenden Sie dann die Expositionsübung und entfernen Sie das alkoholische Getränk. ▶ Abb. 6 Das Einschenken des Getränks ist Teil der Expo- sition. Quelle: Zentralinstitut für seelische Gesundheit, Mannheim T: Schenken Sie sich das Getränk nun ein (▶ Abb. 6). Was sehen Sie? Wie hört sich das Einschenken an? Wie riecht es? Was ist das für ein Gefühl? Was passiert mit Ih- rem Körper? Lassen Sie sich weiter auf die Übung ein und schauen Sie das Glas an. Versuchen Sie aktiv, das Gefühl zu intensivie- ren. Merke Passen Sie auch das Glas an das jeweilige Getränk an – so wird die Situation für den Patienten oder die Pa- tientin noch realistischer und das Alkoholverlangen stärker. Die Expositionssitzung kann beendet werden, wenn sich das Verlangen und die Körperreaktionen des Pa- tienten wieder auf dem Ursprungsniveau eingependelt haben. Merke Daumenregel: Das Craving sollte am Ende der Sitzung maximal 3–4 von 10 möglichen Punkten betragen. In der Regel ist dies nach ca. 30–60 Minuten der Fall. 12 Wetzel Lea et al. Expositionstraining mit alkoholabhängigen … PSYCH up2date 2022; 16: 8–14 | © 2022. Thieme. All rights reserved.

Schritt für Schritt bination mit Neurofeedback-Techniken [16] gelten als aussichtsreiche Ergänzungen für eine CET bei alkohol- abhängigen Patienten und Patientinnen. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht. Autorinnen/Autoren Lea Wetzel M.Sc. Studium der Psychologie in Hildesheim. Psychologische Psychotherapeutin in Ausbil- dung. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Dok- torandin, Arbeitsgruppe Therapie- und Ver- sorgungsforschung bei Abhängigkeitserkran- kungen Zentralinstitut für Seelische Gesund- heit, Mannheim. Sabine Steins-Löber Prof. Dr. sc. hum., Psychologische Psychothe- rapeutin, seit 2014 Inhaberin des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Bamberg. Forschungs- schwerpunkte: Mechanismen der Entstehung und Aufrechterhaltung und therapeutische Interventionen bei Suchterkrankungen sowie Ess- und Ge- wichtsstörungen. Korrespondenzadresse M.Sc. Lea Wetzel Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin J5 68159 Mannheim Germany lea.wetzel@zi-mannheim.de Literatur [1] Bachmeier R, Bick-Dresen S, Dreckmann I et al. Effektivität der stationären Suchtrehabilitation. Sucht Aktuell 2019; 1: 34–50 [2] Batra A, Müller C, Mann K et al. Alcohol dependence and harmful use of alcohol – diagnosis and treatment options. Deutsches Ärzteblatt 2016; 113: 301–310 doi: 10.3238/ arztebl.2016.0301 [3] Lindenmeyer J. Alkoholabhängigkeit. Fortschritte der Psy- chotherapie Band 6.3. Aufl Göttingen: Hogrefe; 2016 [4] Mellentin AI, Skøt L, Nielsen B et al. Cue exposure therapy for the treatment of alcohol use disorders: A meta-analytic review. Clinical Psychology Review 2017; 57: 195–207 doi: 10.1016/j.cpr.2017.07.006 [5] Bouton ME. Context and behavioral processes in extinction. Learning & Memory 2004; 11: 485–494 doi: 10.1101/ lm.78804 [6] Loeber S, Croissant B, Heinz A et al. Cue exposure in the treatment of alcohol dependence: effects on drinking out- come, craving and self-efficacy. Br J Clin Psychol 2006; 45: 515–529 doi: 10.1348/014466505X82586 [7] Vollstädt-Klein S, Loeber S, Kirsch M et al. Effects of cue-ex- posure treatment on neural cue reactivity in alcohol depen- dence: a randomized trial. Biological Psychiatry 2011; 69: 1060–1066 doi: 10.1016/j.biopsych.2010.12.016 [8] Watson BJ, Wilson S, Griffin L et al. A pilot study of the ef- fectiveness of D-cycloserine during cue-exposure therapy in abstinent alcohol-dependent subjects. Psychopharmacolo- gy 2011; 216: 121–129 doi: 10.1007/s00213-011-2199-2 [9] Mann K, Loeber S, Croissant B et al. Qualifizierte Entzugs- behandlung von Alkoholabhängigen. Ein Manual zur Phar- mako- und Psychotherapie.1. Aufl Köln: Deutscher Ärzte- Verlag GmbH; 2006 [10] Conclin CA, Tiffany ST. Applying extinction research and theory to cue-exposure addiction treatments. Addiction 2002; 97: 155–167 doi: 10.1046/j.1360-0443.2002. 00014.x [11] Rosenthal MZ, Kutlu MG. Translation of associative learning models into extinction reminders delivered via mobile pho- nes during cue exposure interventions for substance use. Psychology of Addictive Behaviors 2014; 28: 863–871 doi: 10.1037/a0037082 [12] Pavlov IP, Anrep GV. Conditioned Reflexes. Mineola: Dover Publications; 2003 [13] Rescorla RA. Spontaneous Recovery. Learning & Memory 2004; 11: 501–509 doi: 10.1101/lm.77504 [14] Ghiţă A, Gutiérrez-Maldonado J. Applications of virtual rea- lity in individuals with alcohol misuse: A systematic review. Addictive Behaviors 2018; 81: 1–11 doi: 10.1016/j.add- beh.2018.01.036 [15] Kiefer F, Kirsch M, Bach P et al. Effects of D-cycloserine on extinction of mesolimbic cue reactivity in alcoholism: a randomized placebo-controlled trial. Psychopharmacology 2015; 232: 2353–2362 doi: 10.1007/s00213-015-3882-5 [16] Kirsch M, Gruber I, Ruf M et al. Real-time functional mag- netic resonance imaging neurofeedback can reduce striatal cue-reactivity to alcohol stimuli. Addiction Biology 2015; 21: 982–992 doi: 10.1111/adb.12278 Bibliografie PSYCH up2date 2022; 16: 8–14 DOI 10.1055/a-1244-5587 ISSN 2194-8895 © 2022. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany 14 Wetzel Lea et al. Expositionstraining mit alkoholabhängigen … PSYCH up2date 2022; 16: 8–14 | © 2022. Thieme. All rights reserved.

Impressum PSYCH up2date 16. Jahrgang Die PSYCH up2date erscheint 6-mal jährlich. ISSN (Print): 2194-8895 eISSN: 2194-8909 Copyright & Ownership Wenn nicht anders angegeben: © 2022. Thieme. All rights reserved. Die Zeitschrift PSYCH up2date ist Eigentum von Thieme. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Schriftleitung Prof. Dr. Fritz Hohagen, Emeritus Psychiatrie und Psychotherapie Psychosomatik und Psychotherapie Universität zu Lübeck Ratzeburger Allee 160 23538 Lübeck Tel. 0451-500-98801 E-Mail: fritz.hohagen@uksh.de Herausgebende Prof. Dr. Eva-Lotta Brakemeier, Greifswald Tel.: +49 3834 420 3718, Fax: +49 3834 420 3763 E-Mail: eva-lotta.brakemeier@uni-greifswald.de Prof. Dr. Andreas Jochen Fallgatter, Tübingen Tel.: + 49 7071/2 98 23 00, Fax: + 49 70 71/29 53 79 E-Mail: andreas.fallgatter@med.uni-tuebingen.de Prof. Dr. Michael Hüll, Emmendingen Tel.: + 49 7641/461-11 00, Fax: + 49 7641/461-29 02 E-Mail: m.huell@zfp-emmendingen.de Prof. Dr. Falk Kiefer, Mannheim Tel.: + 49 621/1703-3501, Fax: + 49 621/1703-3505 E-Mail: falk.kiefer@zi-mannheim.de Prof. Dr. Klaus Lieb, Mainz Tel.: + 49 6131/177335, Fax: + 49 6131/229974 E-Mail: klaus.lieb@unimedizin-mainz.de Prof. Dr. Ulrich Voderholzer, Prien am Chiemsee Tel.: + 49 8051/68-100102, Fax: + 49 8051/68-100103 E-Mail: uvoderholzer@schoen-kliniken.de Prof. Dr. Stephan Zipfel, Tübingen Tel.: + 49 7071/2 98 06 95, Fax: + 49 70 71/29 45 41 E-Mail: stephan.zipfel@med.uni-tuebingen.de Die Herausgebenden sind nicht verantwortlich für in der Zeitschrift enthaltene Anzeigen und Beilagen. 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Diese Zeitschrift bietet Autor*innen die Möglichkeit, ihre Artikel gegen Gebühr in Thieme connect für die allgemeine Nutzung frei zugänglich zu machen. Bei Interesse wenden Sie sich bitte an: psych-u2d.impres- sum@ thieme.de For users in the USA Authorization of photocopy items for internal or perso- nal use, or the internal or personal use of specific clients, is granted by Georg Thieme Verlag Stuttgart. New York for libraries and other users registered with the Copyright Clearance Center (CCC) Transactional Reporting Service; www.copyright.com. 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September vorliegt. ** Der institutionelle Jahresbezugspreis inkludiert Online-Zugriff für 1 Standort; weitere Informationen finden Sie unter https://lp.thieme.de/fachzeitschriften/ijbp/ Wichtiger Hinweis Wie jede Wissenschaft ist die Medizin ständigen Ent- wicklungen unterworfen. Forschung und klinische Er- fahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was Behandlung und medikamentöse Therapie anbe- langt. Soweit in diesem Heft eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, dürfen die Lesenden zwar darauf vertrauen, dass Autor*innen, Herausgebende und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstel- lung der Zeitschrift entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Appli- kationsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede*r Benutzende ist angehal- ten, durch sorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Präparate und ggf. nach Konsultation eines Spezialisten oder einer Spezialistin festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung für Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegen- über der Angabe in dieser Zeitschrift abweicht. Eine solche Prüfung ist besonders wichtig bei selten ver- wendeten Präparaten oder solchen, die neu auf den Markt gebracht worden sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Ge- fahr der Benutzenden. Autor*innen und Verlag appel- lieren an alle Benutzenden, ihnen etwa auffallende Un- genauigkeiten dem Verlag mitzuteilen. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen einzelnen Bei- träge und Abbildungen sind für die Dauer des Urheber- rechts geschützt. Jede Verwertung außerhalb der en- gen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zu- stimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung und Verbreitung in gedruckter Form, Übersetzung, Übertragung und Be- arbeitung in andere Sprachen oder Fassungen sowie die Einspeicherung und Verbreitung in elektronischen Me- dienformen (z. B. CD‑ROM, DVD, USB-Speicher, Daten- bank, Cloud-basierter Dienst, E-Book und sonstige For- men des Electronic Publishing) und auch öffentlicher Zugänglichmachung (z. B. Internet, Intranet oder ande- re leitungsgebundene oder ‑ungebundene Datennet- ze), u. a. durch Wiedergabe auf stationären oder mobi- len Empfangsgeräten, Monitoren, Smart- phones, Tab- lets oder sonstigen Empfangsgeräten per Download (z.B. PDF, ePub, App) oder Abruf in sonstiger Form etc. Hinweis zu Studienreferaten Die Autorinnen und Autoren unserer Referaterubriken schreiben frei- oder nebenberuflich für verschiedene Auftraggebende aus Verlagsbranche, Wissenschaft und Industrie. Bei Fragen zu Interessenkonflikten ein- zelner Autor*innen wenden Sie sich bitte mit der im Impressum unter „Redaktion“ genannten E-Mail- Adresse an den Verlag. Datenschutz Wo datenschutzrechtlich erforderlich, wurden die Na- men und weitere Daten von Personen redaktionell ver- ändert (Tarnnamen). Dies ist grundsätzlich der Fall bei Patient*innen, ihren Angehörigen und ihrem Freun- deskreis, z. T. auch bei weiteren Personen, die z. B. in die Behandlung von Patient*innen eingebunden sind. Wertschätzende Sprache und geschlechter- gerechter Sprachgebrauch Thieme Publikationen streben nach einer fachlich kor- rekten und unmissverständlichen Sprache. Dabei lehnt Thieme jeden Sprachgebrauch ab, der Menschen belei- digt oder diskriminiert, beispielsweise aufgrund einer Herkunft, Behinderung oder eines Geschlechts. Thieme wendet sich zudem gleichermaßen an Men- schen jeder Geschlechtsidentität. Die Thieme Recht- schreibkonvention nennt Autor*innen mittlerweile konkrete Beispiele, wie sie alle Lesenden gleichberech- tigt ansprechen können. Die Ansprache aller Menschen ist ausdrücklich auch dort intendiert, wo im Text (etwa aus Gründen der Leseleichtigkeit, des Text-Umfangs oder des situativen Stil-Empfindens) z.B. nur ein gene- risches Maskulinum verwendet wird. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Georg Thieme Verlag KG Satz: seitenweise, Tübingen Druck und Bindung: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, Calbe (Saale) 16 PSYCH up2date 2022; 16 | © 2022. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen: Vaskuläre Demenz Christian Kluckert, Michael Hüll Heft 6/2021 Psychische Gesundheit bei Personen mit intellektuellen Ent- wicklungsstörungen Tanja Sappok, Bernd Schmidt Heft 3/2021 Amnestische Syndrome Detlef Wietelmann Heft 5/2020 Psychische Störungen nach erworbener ZNS-Schädigung Steffen Aschenbrenner, Thomas M. Schilling, Judith Grossmann, Tobias Heck, Magdalena Bossert Heft 4/2020 Prädiktive Diagnostik der Alzheimer-Demenz Ayda Rostamza- deh, Frank Jessen Heft 3/2020 Demenz mit Lewy-Körpern Matthias W. Riepe Heft 6/2019 Depressionen und Psychosen bei immunologischen Enzephalo- pathien L. Tebartz van Elst, O. Stich, D. Endres Heft 5/2015 HELP zur Vermeidung von Delirien J. Bringemeier, C. Thomas, M. Guhra, S. Kreisel Heft 3/2015 Differenzialdiagnose der Demenz A. Gietl, E. Savaskan Heft 6/2014 Vaskuläre Demenzen M. Liebetrau, G. Hamann Heft 4/2014 Demenz mit Lewy-Körpern M. Riepe, C. Lanza Heft 6/2013 Medikamentös induzierte neuropsychiatrische Störungen T. Messer, O. Strasser Heft 5/2013 Alzheimer-Demenz: Neurobiologie, Diagnostik und experimentelle Ansätze J. Wiltfang, C. Bouter, U. Schmidt Heft 5/2019 Somatische Intervention und Demenz – Einfluss von Chirurgie und Anästhesie auf kognitive Funktionen T. Münster, A. Tzabazis Heft 3/2013 Delir beim alten Menschen W. Hewer Heft 6/2018 Leichte kognitive Störung B. Prinz, M. Hüll Heft 1/2013 Medikamentöse Therapie von kognitiven und Verhaltens- störungen bei Demenz P. Jung Heft 4/2018 Das Tourette-Syndrom – mehr als „nur“ Tics S. Vocke, I. Neuner Heft 6/2012 Nichtpharmakologische Therapie der Demenzen A. Göhner, M. Hüll Heft 3/2018 Biomarker und Demenz R. Zimmermann, J. Kornhuber, P. Lewczuk Heft 4/2012 Antikörpervermittelte Enzephalitiden in der Psychiatrie P. Spitzer, J. Kornhuber Heft 4/2017 Therapie der Demenz F. Jessen Heft 3/2011 Diagnostik der Demenz F. Jessen Heft 1/2011 Der komplizierte Alkoholentzug: Grand-Mal-Anfälle, Delir und Wernicke-Enzephalopathie K. Junghanns, T. Wetterling Heft 6/2016 Prävention von Demenzen A. Luborzewski, O. Peters Heft 6/2010 Frontotemporale Lobärdegeneration – Prägnanztypen, Diagnosekriterien und Therapieansätze J. Wiltfang, E. Feneberg, S. Anderl-Straub, M. Otto Heft 3/2016 Morbus Huntington: Diagnostik und aktuelle Entwicklungen S. Schweiger, O. Tüscher Heft 6/2015 Demenzen bei neurologischen Erkrankungen, Teil 2 C. Lang Heft 4/2010 Demenzen bei neurologischen Erkrankungen, Teil 1 C. Lang Heft 3/2010 ALLES ONLINE LESEN IHR ONLINE-SAMMELORDNER JETZT FREISCHALTEN Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: online wie offline, am PC und mobil, alle bereits erschienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! https://eref.thieme.de/psych-u2d Sie möchten jederzeit und überall auf Ihr up2date-Archiv zu- greifen? Kein Problem! Ihren immer aktuellen Online- Sammelordner finden Sie unter: https://eref.thieme.de/GCGGI Sie haben Ihre Zeit- schrift noch nicht freigeschaltet? Ein Klick genügt: www.thieme.de/eref-registrierung.

CME-Fortbildung ▶ Tab. 1 Differenzialdiagnostische Überlegungen bei einer kognitiven Störung. Ursachen Hypovitaminosen Aufgliederung ▪ B1-Mangel ▪ B6-Mangel ▪ B12-Mangel Elektrolytstörungen ▪ Hyper-/Hyponatriämie Medikation, Intoxikationen und Entzug ▪ Medikamente, wie z. B. Anticholinergika, Opioide, Benzodiazepine ▪ Alkohol und andere Suchtmittel ▪ industrielle Substanzen (Lösungsmittel, CO, Blei) intrakranielle Raumforderungen Autoimmunenzephalopathien zerebrovaskuläre Erkrankungen endokrinologische Erkrankungen metabolische Erkrankungen ▪ Neoplasien ▪ Hirnabszess ▪ chronisches Subduralhämatom ▪ strategische Infarkte ▪ Vaskulopathien (z. B. CADASIL) ▪ Vaskulitiden ▪ Amyloidangiopathien ▪ Hyper-/Hypothyreose/Enzephalopathie bei Hashimoto-Thyreoditis ▪ Hyper-/Hypoparathyreoidismus ▪ Leber: Morbus Wilson, Hämochromatose, hepatische Enzephalopathie ▪ Niere: Dialyse-assoziierte Enzephalopathie, urämische Enzephalopathie + ▪ Niemann-Pick-Krankheit Typ C hämatologische Erkrankungen ▪ Anämie ▪ Multiples Myelom erregerbedingte Erkrankungen des ZNS Creutzfeldt-Jakob-Krankheit andere autoimmune Erkrankungen des ZNS primär neurodegenerative Erkrankungen Verschiedenes ▪ HIV-Enzephalitis ▪ progressive multifokale Leukenzephalopathie ▪ Herpes-Enzephalitis ▪ Morbus Whipple ▪ Neurolues ▪ Neuroborreliose ▪ Multiple Sklerose ▪ Lupus erythematodes ▪ Sjögren-Syndrom ▪ Alzheimer-Krankheit ▪ frontotemporale Lobärdegeneration ▪ Lewy-Körper-Krankheit/idiopathisches Parkinson-Syndrom ▪ progressive supranukleäre Paralyse ▪ Multisystematrophie ▪ spinozerebelläre Ataxien ▪ Huntington-Krankheit ▪ Nasu-Hakola-Krankheit (PLOSL) ▪ fragiles X-Syndrom ▪ Schädel-Hirn-Trauma ▪ Normaldruckhydrozephalus ▪ Depression ▪ mitochondriale Erkrankungen ▪ Dystrophia myotonica Symptomatische Formen einer demenziellen Entwick- lung kommen häufiger bei jüngeren Patienten vor, ha- ben öfter einen akuten Verlauf und sind z. T. partiell bis komplett reversibel. Dabei sind neben vaskulären Ursa- chen u. a. intrakranielle Raumforderungen, metaboli- sche und endokrinologische Störungen sowie infektiö- se Erkrankungen relevant. Auch sind Medikamente, be- sonders solche mit anticholinergen Nebenwirkungen, zu bedenken. Die nachfolgende Aufzählung erhebt kei- nen Anspruch auf Vollständigkeit, soll aber einen ers- ten Überblick vermitteln (▶ Tab. 1). 20 Wagemann Olivia et al. Differenzialdiagnosen bei demenzieller … PSYCH up2date 2022; 16: 17–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung FALLBEISPIEL Ein 73-jähriger Patient stellt sich mit einer seit ca. 2 Wochen zunehmenden Vergesslichkeit vor. Seine Frau berichtet, dass er neue Inhalte nur noch sehr schwer behalte. In der Bildgebung ergibt sich ein hämorrhagischer Infarkt der rechten Hippo- campusformation (▶ Abb. 1). Im Liquor bestand eine ernied- rigte Amyloid-Ratio in Kombination mit einem erhöhten ge- samt-Tau. Bei Nachweis älterer sulcaler Siderosen kommt eine vorbestehende zerebrale Amyloidangiopathie infrage. Im Ver- lauf ist die Diffusionsrestriktion im cMRT mit akuter kognitiver Manifestation im Rahmen des Hippocampusinfarkts rückläufig und auch neuropsychologisch kommt es zu einer Besserung. Zusammengefasst kann das Krankheitsbild als Folge eines um- schriebenen Infarkts im Hippocampus vermutlich aufgrund einer zerebralen Amyloid-Angiopathie bei beginnender Alz- heimer-Krankheit gedeutet werden. ▶ Abb. 1 Koronare FLAIR-Aufnahme im cMRT bei akut aufgetrete- ner Merkfähigkeitsstörung. Die rote Markierung markiert die Hy- perintensität des hippocampalen Infarkts auf der rechten Seite. Strategische Infarkte Bei Ischämien bzw. Hämorrhagien in für das Gedächtnis relevanten Strukturen (s. Fallbeispiel) wie Hippocam- pus oder anterioren und medialen Thalamuskernen des Papez-Neuronenkreises ist typischerweise das ver- tebrobasiläre Stromgebiet betroffen. Strategische In- farkte sind meist klein und oft embolisch verursacht. Die akuten kognitive Defizite insbesondere der Ge- dächtnisfunktion können vorübergehend oder auch persistierend sein [6]. Klinisch gilt es, den strategi- schen Infarkt vor allem von einer transienten globalen Amnesie (amnestische Episode, TGA) zu unterschei- den. Letztere zeigt sich mit einem isolierten amnesti- schen Syndrom, während bei ischämischer Genese wei- tere fokalneurologische Auffälligkeiten auftreten kön- nen. Im cMRT einer TGA kann sich zudem eine tem- poräre punktuelle Hyperintensität in DWI und T2 im Bereich des hippocampalen CA1-Segments darstellen [7, 9]. Thiamin-Mangel-Enzephalopathie (Wernicke-Korsakow-Syndrom) Bei der durch einen Thiamin-Mangel (Fehlernährung, z. B. bei Alkoholismus, selten bei Hyperemesis gravi- darum) verursachten Wernicke-Enzephalopathie kann sich im Verlauf ein Korsakow-Syndrom entwickeln. Einhergehend mit der Enzephalopathie sind eine Gan- gataxie, eine Okulomotorikstörung sowie eine Beein- trächtigung der Vigilanz häufig. Charakteristisch zei- gen sich dabei in T2-gewichteten Aufnahmen im cMRT Hyperintensitäten im periventrikulären Bereich des 3. und 4. Ventrikels, dem periaquäduktalen Grau, dem medialen und anterioren Thalamus, den Mammillarkör- pern sowie den zugehörigen Bahnen [6, 7]. Im Verlauf persistiert meist eine Atrophie der Corpora mammilla- ria; nur rund 20% der Betroffenen erholen sich [10]. Zu- sätzlich kommt es im Verlauf zu kognitiven Defiziten u. a. mit Störung des episodischen Gedächtnisses, der exekutiven Funktion sowie der Orientierung. Auch kön- nen Konfabulationen und eine soziale und emotionale Dysfunktion mit Minderung von Distanz und Antrieb sowie gesteigerter Irritabilität und Agitation auftreten. Hingegen sind das prozedurale und das Kurzzeitge- dächtnis sowie andere kognitive Funktionen weitge- hend erhalten [10]. (Sub-)Akut verlaufende kognitive Störungen mit fluktuierendem Verlauf Delir Das Delir ist nach den DSM-V-Kriterien durch akutes Einsetzen einer Desorientiertheit mit Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsstörung, psychomotorischer Un- ruhe, Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus sowie Hyper- oder auch Hypoaktivität innerhalb von wenigen Stun- den bis Tagen charakterisiert; darüber hinaus können kognitive Domänen wie Gedächtnis, Sprache oder visu- ell-räumliche Wahrnehmung gestört sein [3]. Die ein- hergehende Fluktuation der Symptomatik hilft, das De- lir von einer Demenz abzugrenzen (Cave bei Lewy-Kör- per-Demenz), entsprechend ist eine wiederholte Re- evaluation der Defizite notwendig. Darüber hinaus sind bei Demenz eher langsam zunehmende Wortfin- dungsstörungen typisch, wohingegen sich im Delir eine desorganisierte Kommunikationsfähigkeit zeigt [11]. Dennoch gibt es zwischen beiden Syndromen kli- 22 Wagemann Olivia et al. Differenzialdiagnosen bei demenzieller … PSYCH up2date 2022; 16: 17–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Eine neuropsychologische Objektivierung der Defizite kann im Verlauf erwogen werden, ist jedoch in der aku- ten Situation für das weitere Vorgehen nicht entschei- dend. Subjektive Gedächtnisstörung (SCD) und Mild Cognitive Impairment (MCI) Subjektiv empfundene Abnahmen der kognitiven Leis- tungen können jede kognitive Domäne betreffen, ohne dass die berichteten Defizite in der neuropsycho- logischen Untersuchung objektiviert werden können [15]. Eine subjektive kognitive Störung kann u. a. als Antwort auf die wachsende Kenntnisnahme der De- menz in der Gesellschaft wie auch den erleichterten Zugang zu medizinischen Informationen im Internet gesehen werden. Es mehren sich mittlerweile aber auch Hinweise, dass die SCD einer MCI und auch einer Alzheimer-Demenz vorausgehen kann und Betroffene entsprechend ein höheres Risiko für eine Alzheimer- Demenz aufweisen [15]. Die leichte kognitive Beeinträchtigung nach DSM-V hingegen zeichnet sich durch kognitive Defizite aus, die mittels neuropsychologischer Verfahren standardi- siert und unter Bezug auf Bildungs- und Altersnorm ob- jektiviert werden können (Leistung >1,5 Standardab- weichungen unterhalb der Norm), ohne eine Relevanz für die Bewältigung des Alltags der Betroffenen nach sich zu ziehen. Bei der Untergruppe der „amnesti- schen“ MCI, mit Schwerpunkt auf einer Beeinträchti- gung der Merkfähigkeit, geht man darüber hinaus von einer hohen Assoziation mit dem Übergang in die Alz- heimer-Demenz aus („Konversion“) [16]. Merke MCI darf nicht als ätiologisches Konzept verstanden werden, sondern als Beschreibung eines Defizits, das noch nicht das Ausmaß eines demenziellen Syndroms erfüllt. Chronisch progrediente kognitive Störungen Zerebrale Neoplasien Kognitive Defizite, die im Rahmen von zerebralen Pri- märtumoren oder Metastasen auftreten, können je nach Lokalisation, Ausbreitung und Grad der Malignität klinisch einem demenziellen Syndrom ähneln. Tumore im Bereich des Temporallappens können dabei Beein- trächtigungen in Gedächtnis und Sprache verursachen (s. Fallbeispiel: Fornixtumor als strategische Läsion des Gedächtnissystems). Frontale Raumforderungen kön- nen mit Veränderungen im Sozialverhalten oder der emotionalen Kontrolle einhergehen [17]. Auch bei Radiotherapie sind akute reversible kognitive Beeinträchtigungen wie auch Langzeitfolgen mit schlechterer Prognose vorbeschrieben, die vor allem auf die unmittelbare Ödembildung und die Entwick- lung einer diffusen Leukenzephalopathie mit nekroti- schen Veränderungen des bestrahlten Gewebes zu- rückzuführen sind. Bei Chemotherapie sind neurotoxische Effekte mit re- sultierenden Defiziten u. a. in der Visuo-Konstruktion, der Koordination und der Exekutive bekannt. Zuletzt kann auch eine invasive operative Resektion Schäden in den umgebenden Strukturen verursachen, die letzt- lich in einer andauernden kognitiven Störung resultie- ren [17]. Multiple Sklerose Die multiple Sklerose ist eine demyelinisierende Auto- immunerkrankung des ZNS, bei der Betroffene im Ver- lauf alltagsrelevante kognitive Defizite entwickeln kön- nen. Dazu zählt u. a. eine verlangsamte Verarbeitungs- geschwindigkeit sowie Störungen des episodischen Gedächtnisses, der Exekutive, der Wortflüssigkeit und der visuell-räumlichen Fähigkeiten [4]. Hierfür stehen Testbatterien wie das Minimal Assessment of Cognitive Function In MS (MACFIMS) oder die Testbatterie des MS-COG zur neuropsychologischen Verlaufsbeurtei- lung zur Verfügung. Tests mit der höchsten Sensitivität sind dabei u. a. der Symbol Digit Modality Test (SDMT), der sowohl zur Erst- wie auch Verlaufsbeurteilung der kognitiven Verarbeitungsgeschwindigkeit herangezo- gen werden kann [4]. Cave Motorische oder visuelle Beeinträchtigung verzerren die Ergebnisse der Testbatterien, sodass die Leistun- gen immer im klinischen Gesamtkontext einzuord- nen sind. Normaldruckhydrozephalus Beim Symptomenkomplex des Normaldruckhydroze- phalus ist die Trias aus Inkontinenz, breitbasiger Gang- störung und die Entwicklung einer Demenz typisch, in der Praxis jedoch selten im Vollbild zu beobachten. Bildmorphologisch spricht die Darstellung einer Erwei- terung der Liquorräume und ein verminderter Corpus- Callosum-Winkel für diese Verdachtsdiagnose. In der neuropsychologischen Untersuchung lässt sich u. a. eine Beeinträchtigung der Exekutive, des Arbeitsge- dächtnisses und der selektiven Aufmerksamkeit zeigen [18]. Darüber hinaus können auch psychomotorische Verlangsamung, Apathie und Depression auftreten. 24 Wagemann Olivia et al. Differenzialdiagnosen bei demenzieller … PSYCH up2date 2022; 16: 17–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Frontotemporale Demenz Die frontotemporale Demenz (FTD) ist mit einem An- teil von bis zu 15% nach der Alzheimer-Demenz und der Demenz bei Lewy-Körper-Krankheit eine der häu- figsten neurodegenerativen Demenzen [19] und zeich- net sich durch eine Veränderung von Verhalten und/ oder Sprache aus. Die Verhaltensvariante bedingt u. a. eine initiale Apa- thie mit Vernachlässigung von Beruf und Haushalt, so- ziale Enthemmung, Verlust von Empathie, veränderte Essgewohnheiten, Stereotypien oder andere neuropsy- chiatrische Auffälligkeiten [21]. Eine führende Beeinträchtigung der Sprachfunktion präsentiert sich als primär progrediente Aphasie (PPA) und wird in 3 Subtypen unterteilt: ▪ Die nicht-flüssige/agrammatische Variante geht mit einer erschwerten, stockenden Sprachproduktion sowie Sprechapraxie einher. In der Bildgebung zeigt sich eine Atrophie oder Hypometabolismus im Be- reich des frontoinsulären Kortex auf der sprach- dominanten Seite des Gehirns. ▪ Bei der semantischen PPA sind das Benennen, v. a. selten benutzter Gegenstände, und das Einzelwort- verständnis beeinträchtigt; die Sprachproduktion ist flüssig. Korrelate in der zerebralen Bildgebung zei- gen sich in den frontalen und anterotemporalen Gehirnlappen. ▪ Zuletzt zeichnet sich die logopenische Variante der PPA durch Wortfindungsstörungen und beeinträch- tigtes Wiederholen von längeren Sätzen aus, wohin- gegen Sprechmotorik und -verständnis erhalten bleiben. Eine Atrophie besteht häufig im Bereich des linken parietalen Kortex [22]. Neuropsychologisch sind bei der FTD typischerweise Gedächtnis und visuokonstruktive Fähigkeiten gut er- halten; gleichzeitig ist das Defizitprofil bei der Objekti- vierung durch Standardverfahren oft nicht ausreichend spezifisch, sodass besonders die (Fremd-)Anamnese in die Diagnosestellung miteinbezogen werden sollte. Demenz bei Alpha-Synukleopathie Sowohl bei Parkinson-Krankheit mit Demenz als auch bei Lewy-Körperchen-Demenz kommt es zur intrazellu- lären Akkumulation von fehlgefaltetem alpha-Synu- clein. Das histopathologische Korrelat im Zytoplasma der Neuronen wird dabei als Lewy-Körper bezeichnet. Beim primären Parkinson-Syndrom kann sich dadurch neben der klinischen Trias aus Rigor, Tremor und Akine- se im späteren Verlauf eine Demenz entwickeln. Merke Ein hohes Risiko besteht besonders für ältere Männer mit frühem Auftreten von Halluzinationen und star- ker Beeinträchtigung der motorischen Fähigkeiten [23]. Die subkortikalen Defizite betreffen vor allem die Auf- merksamkeit, die Exekutive und die visuell-räumliche Wahrnehmung. Defizite in Gedächtnis und Sprache stehen eher nicht im Vordergrund. Auch können neu- ropsychiatrische Symptome wie Depression, Apathie und Anhedonie auftreten [16]. Screening-Tests wie der MoCA ergeben erste Hinweise auf das Vorliegen einer MCI oder einer Demenz. Neuro- psychologisch können Untersuchungen zur visuellen Wahrnehmung mittels der VOSP (Visual Object and Space Perception Battery), der kognitiven Flexibilität mittels des TMT-B (Trailmaking-Test-B) und der Wort- flüssigkeit durchgeführt werden [24]. Treten innerhalb eines Jahres vor Erstmanifestation des hypokinetisch-rigiden Syndroms eine Demenz mit fluk- tuierender Vigilanz, REM-Schlaf-Verhaltensstörungen, visuelle Halluzinationen oder eine Überempfindlichkeit gegenüber Neuroleptika auf, sollte eine Lewy-Körper- Demenz erwogen werden [25]. Die kognitiven Defizite sind dabei nur schwer von denen der Parkinson-De- menz zu unterscheiden. Eine weiterführende Diagnos- tik mittels Liquoruntersuchung zeigt oft eine Koinzi- denz mit einer Alzheimer-Pathologie. Differenzialdiagnostisches Vorgehen bei Verdacht auf demenzielle Entwicklung Anamnese Wie immer sollte mit einer detaillierten Anamnese be- gonnen werden. Eine Zuordnung der berichteten Defi- zite zu den einzelnen kognitiven Domänen wie Ge- dächtnis, Aufmerksamkeit, Orientierung, Sprache, So- zialverhalten u. a. erlaubt eine erste Differenzierung der Beschwerden und unterstützt bei Alltagsrelevanz die Arbeitsdiagnose eines demenziellen Syndroms. Wird die Dynamik als eher rasch voranschreitend be- schrieben, sind andere Differenzialdiagnosen zu erwä- gen. Dabei sollten die Fragen des Untersuchers auf konkrete Beispiele aus dem alltäglichen Leben oder dem Beruf abzielen, um das genaue Ausmaß der Be- schwerden abzuschätzen und gleichzeitig einen Ein- druck über Krankheitseinsicht und Einordnung der De- fizite seitens des Patienten zu gewinnen. Nach Mög- lichkeit sollte ebenso eine Einschätzung des prämorbi- den Leistungsniveaus und des Bildungsniveaus erfol- gen, da beide relevant sind, um die Ergebnisse der neu- ropsychologischen Untersuchung zu bewerten. Beiläu- 26 Wagemann Olivia et al. Differenzialdiagnosen bei demenzieller … PSYCH up2date 2022; 16: 17–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung verwenden. Beispielhaft für eine globale Untersuchung der Kognition ist die Testbatterie des Consortium to Establish a Registry on Alzheimer’s Disease (CERAD) [26], die sowohl für die manifeste Alzheimer-Demenz wie auch für Vorstufen einer leichten kognitiven Stö- rung eine hohe Sensitivität zeigt und somit ein gutes Werkzeug zur Evaluation einer möglichen dementiellen Entwicklung darstellt. Blutanalyse In der Routinediagnostik sollte eine Bestimmung von Elektrolyten, kleinem Blutbild, HbA1c und Blutzucker, TSH mit fT4 und fT3, Blutsenkung, CRP, GOT, GPT und gamma-GT, Kreatinin, GFR und Harnstoff, Vitaminen B12, B1, B6 sowie Folsäure und Homozystein erfolgen. Darüber hinaus ist infektiologisch z. B. die Borrelien- und Lues-Serologie zu bedenken. PR A XISTIPP Die Untersuchung auf das Vorliegen des Apoli- poprotein-E-Gens bei Verdacht auf Alzheimer- Demenz ist aufgrund mangelhafter Sensitivität und Spezifität in der Routinediagnostik nicht in- diziert, auch wenn das Vorliegen einer Homozy- gotie für das Apolipoprotein E4-Allel das Risiko einer Alzheimer-Krankheit auf das bis zu 10-Fa- che erhöht [16]. Lumbalpunktion Im Liquor kann durch die Bestimmung von Zellzahl, Ei- weiß, Glukose und Reiber-Schema eine entzündliche Erkrankung des ZNS abklären und zudem das Vorkom- men von oligoklonalen Banden quantifizieren. Zur ers- ten Differenzierung der primären Demenzen sollten die Konzentrationen von β-Amyloid-40 und β-Amyloid-42, die β-Amyloid-Ratio sowie die Konzentrationen von phospho-Tau und gesamt-Tau bestimmt werden. Hier ist beispielsweise die Abgrenzung einer Depression von einer primären demenziellen Entwicklung möglich. Darüber hinaus kann die Bestimmung von Lues, Borre- lien oder HIV im Liquor notwendig sein. In seltenen Fäl- len ist eine PCR-Analyse bei Verdacht auf einen zerebra- len Morbus Whipple zu erwägen. PR A XISTIPP Bei einem raschen Fortschreiten der kognitiven Defizite und dem Verdacht auf eine Creutzfeld- Jakob-Krankheit sollte eine Stufendiagnostik (am besten in Absprache mit der Universitätsklinik Göttingen) erfolgen. Zerebrale Bildgebung Zur grundsätzlichen Abklärung einer strukturellen Läsi- on wie einer Neoplasie, eines Hirnabszesses, abgelaufe- ner Infarkte, akuter oder chronischer Blutungen sowie Erweiterungen der inneren oder äußeren Liquorräume sollte eine zerebrale Bildgebung mittels CT oder MRT erfolgen. Nicht nur aufgrund der fehlenden Strahlen- belastung ist Letzteres dabei zu bevorzugen: Durch Analyse der T1- und T2-Sequenzen können bereits typi- sche Atrophiemuster einer demenziellen Entwicklung nachvollzogen werden; in der DWI- oder T2*-Aufnah- me lassen sich zudem Mikroblutungen visualisieren. Nuklearmedizinisch ist es bei weiterem Abklärungsbe- darf einer primär neurodegenerativen Entwicklung möglich, eine Positronen-Emissions-Tomografie (PET) durchzuführen. Mithilfe des 18-Fluordesoxyglukose- (FDG)-PET kann der Zuckerstoffwechsel des Gehirns abgebildet werden, sodass sich bei Inhomogenität des Zellmetabolismus charakteristische Verteilungsmuster ergeben, die Hinweise auf die zugrundeliegende Neu- ropathologie erlauben. Die Unterscheidung zum Ge- sunden ist mit einer Sensitivität von 90% ausreichend gegeben, sodass die aktuellen S3-Leitlinien diese Bild- gebung zur Differenzialdiagnostik empfehlen [16]. Da die Sensitivität zur Differenzierung der primären De- menzen jedoch nicht ausreicht, gilt es, bei fortbeste- hendem Verdacht einen spezifischen Nachweis von Proteinablagerungen wie β-Amyloid und Tau-Protein im PET anzustreben. Die entsprechenden Verteilungsmuster der Proteino- pathien im PET sind in ▶ Tab. 2 zusammengefasst. PR A XISTIPP Auch wenn mit der stetigen Weiterentwicklung der nuklearmedizinischen Tracer eine zuneh- mende Sensitivität erreicht wird, ist zu beden- ken, dass auch gesunde Menschen im Alter zu- nehmend Ablagerungen von Amyloid und Tau aufweisen können [27]. Entsprechend sollte die Bewertung einer nuklearmedizinischen Bildge- bung immer im Kontext der klinischen Befunde erfolgen und mit bereits erhobenen Biomarkern in Blut, Liquor oder cMRT korreliert werden. 28 Wagemann Olivia et al. Differenzialdiagnosen bei demenzieller … PSYCH up2date 2022; 16: 17–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Interessenkonflikt Literatur Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Be- rater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an im Bereich der Medizin aktiven Firma: nein; Pa- tent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an zu Sponsoren dieser Fortbildung bzw. durch die Fortbildung in ihren Geschäftsinteressen berührten Firma: nein. Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht. Autorinnen/Autoren Adrian Danek Professor (C2) für Kognitive Neurologie am Münchner Klinikum Großhadern und Initiator der gleichnamigen Sprechstunde, mit Schwerpunkt auf seltenen Varianten neuro- degenerativer und dementieller Erkrankun- gen. Dazu gehören genetische Alzheimer- Formen (Projekt DIAN) sowie die unterschiedlichen Mani- festationen bei frontotemporaler Lobärdegeneration (Be- teiligung an nationalen und internationalen Konsortien: DESCRIBE-FTD, FTLDc, GENFI). Olivia Wagemann Seit 2020 in klinischer und wissenschaftlicher Weiterbildung zur Fachärztin für Neurologie in der Neurologischen Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte liegen dabei auf seltenen Demenzerkrankungen sowie der Alzheimer-Demenz bei Menschen mit einer Trisomie 21. Korrespondenzadresse Olivia Wagemann Neurologische Klinik und Poliklinik Klinikum der Universität München Ludwig-Maximilans-Universität München Marchioninistr. 15 81377 München Deutschland Olivia.Wagemann@med.uni-muenchen.de Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbe- stimmungen für diesen Beitrag ist Olivia Wagemann, Mün- chen. [1] Alzheimer Europe. Dementia in Europe Yearbook 2019. www.alzheimer-europe.org Stand: 02.09.2021 [2] Picascia M, Minafra B, Zangaglia R et al. Spectrum of cogni- tive disorders in idiopathic normal pressure hydrocephalus. Funct Neurol 2016; 31: 143 doi: 10.11138/fneur/2016. 31.3.143 [3] Schneider F, Härter M, Schorr S. S3-Leitlinie/Nationale Ver- sorgungs-Leitlinie Unipolare Depression. Berlin, Heidelberg; Springer-Verlag: 2017 [4] Weiss E, Singewald EM, Ruepp B, Marksteiner J. Alkohol induzierte kognitive Dysfunktion. Wien Med Wochenschr 2014; 164: 9–14 doi: 10.1007/s10354-013-0226-0 [5] Rascovsky K, Hodges JR, Knopman D et al. Sensitivity of re- vised diagnostic criteria for the behavioural variant of fron- totemporal dementia. Brain 2011; 134: 2456–2477 doi: 10.1093/brain/awr179 [6] Alessandro L, Ricciardi M, Chaves H, Allegri RF. Acute am- nestic syndromes. J Neurol Sci 2020; 413: 116781 doi: 10.1016/j.jns.2020.116781 [7] Bartsch T, Butler C. Transient amnesic syndromes. 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Cognitive disability in adult patients with brain tumors. Cancer Treat Rev 2018; 65: 33–40 doi: 10.1016/j.ctrv.2018.02.007 30 Wagemann Olivia et al. Differenzialdiagnosen bei demenzieller … PSYCH up2date 2022; 16: 17–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved.

Fragen und Antworten | CME Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Unter https://eref.thieme.de/CXEVB3R oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests und zum Artikel Sie finden dort auch den genauen Einsendeschluss. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführ- liche Anleitung. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! VNR 2760512022161725579 Frage 1 Was ist eine Differenzialdiagnose einer chronischen progre- dienten kognitiven Störung? A strategischer Infarkt B Multiple Sklerose C Delir D Schädel-Hirn-Trauma E Intoxikation Frage 2 Welche Aussage zu Demenz-Screening-Tests trifft nicht zu? Frage 4 Welche Aussage bezüglich des MCI trifft zu? A Die Diagnose eines MCI nach DSM-V (mild cognitive im- pairment) kann auf der Grundlage neuropsychologischer Testverfahren gestellt werden. B Das MCI ist eine histopathologische Diagnose. C Das amnestische MCI entwickelt sich nur selten in eine Alz- heimer-Demenz. D Der Begriff ist mit der „subjektiven kognitiven Störung“ gleichzusetzen. E Der Begriff hat sich auch für die Pseudodemenz bei De- A Sie können einen Hinweis auf eine demenzielle Entwicklung pression eingebürgert. geben. B Der DemTect ist dem MoCA vorzuziehen. C Ein Screening ersetzt nicht die neuropsychologische Un- tersuchung. D Unter anderem werden die Domänen von Visuokonstrukti- E on, Exekutive und Sprache abgetestet. Beeinträchtigungen der Sinneswahrnehmungen können eine schlechtere Leistung vortäuschen. Frage 3 Welche Aussage zur Depression ist falsch? A Neuropsychologische Tests können Defizite in Aufmerk- samkeit- und Exekutivfunktionen aufweisen. Frage 5 Was gehört nicht zu den Kriterien des demenziellen Syndroms nach DSM-V? A Dauer von mindestens 6 Monaten B Beeinträchtigung von höheren Hirnfunktionen, aber nicht zwingend des Gedächtnisses Ausschluss von Differenzialdiagnosen wie einem Delir C D Beeinträchtigung der Alltagskompetenz E Objektivierbare Defizite Frage 6 Welche Aussage zu Biomarkern ist richtig? B Depression ist ein Risikofaktor für eine Demenzentwick- A Die Biomarker-gestützte Diagnostik ermöglicht die frühe lung. C Die kognitive Störung kann mit einem großen Leidensdruck einhergehen. D Die Besserung unter antidepressiver Behandlung schließt das Vorliegen einer Demenzerkrankung nicht vollständig aus. Eine neuropsychologische Untersuchung ist während der depressiven Episode geeignet, um kognitive Symptome von Depression und Alzheimer-Demenz zu differenzieren. E Diagnose einer neurodegenerativen Erkrankung ohne klini- sche Symptomatik. B ApoE ist ein wichtiger Biomarker in der Alzheimer-Demenz. C Das cMRT erlaubt keine Differenzialdiagnostik der primären Demenzen anhand von Atrophiemustern. D Die Liquoruntersuchung zeigt bei FTD klassischerweise E eine erniedrigte Amyloid-Ratio. Bei vaskulärer Demenz erwartet man einen mesiotempora- len Hypometabolismus im FDG-PET. 32 Wagemann Olivia et al. Differenzialdiagnosen bei demenzieller … PSYCH up2date 2022; 16: 17–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved.

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PSYCH up2date 1 · 2022 Essstörungen, somatische Belastungsstörungen, Schlafstörungen und sexuelle Funktionsstörungen 6 Fatigue bei Long COVID Anna-Lena Weingärtner Andreas Stengel VNR: 2760512021160211987 DOI: 10.1055/a-1694-6556 PSYCH up2date 2022; 16 (1): 37–52 ISSN 2194-8895 © 2022 Georg Thieme Verlag KG Thieme

CME-Fortbildung Fatigue bei Long COVID Anna-Lena Weingärtner, Andreas Stengel Persistierende oder neu auftretende Symptome nach durchgemachter Infektion mit SARS-CoV-2 sind häufig und werden als Long COVID bezeichnet. Hierbei stellt die Fatigue das mit großem Abstand häufigste Symptom dar. Der aktuelle Artikel beschäftigt sich mit Fatigue im Rahmen von Long COVID, versucht eine patho- genetische Einordnung und macht Vorschläge zur entsprechenden Behandlung. Einleitung Seit Beginn der COVID-19-Pandemie wird die durch das Virus SARS-CoV-2 ausgelöste Erkrankung mit Hoch- druck beforscht. Kurz nach Auftreten der ersten Infek- tionen wurde bekannt, dass die Akutphase primär von Symptomen wie Fieber, Erschöpfung und trockenem Husten geprägt ist. Zusätzlich können diverse neurolo- gische, gastrointestinale, kardiovaskuläre, nephrologi- sche und dermatologische Manifestationen auftreten [1]. Nachdem die ersten Betroffenen die akute Infektion überstanden hatten, zeigte sich, dass ein erheblicher Anteil (80 %) nach 2–16 Wochen noch unter anhalten- den Symptomen leidet [2]. Mit Long COVID, Post CO- VID oder PASC (Post-Acute Sequelae of SARS-CoV-2) haben sich zur Beschreibung dieses Krankheitszu- stands mittlerweile verschiedene Begrifflichkeiten im Sprachgebrauch etabliert. Im vorliegenden Artikel werden wir einheitlich von Long COVID sprechen. Bis heute gibt es allerdings keine klare Definition. So werden in manchen Studien bereits 14 Tage nach der initialen Infektion Daten erhoben und als Long COVID-Symptome gewertet [3] (was womög- lich zu früh ist), während dies in anderen Untersuchun- gen erst nach 60 Tagen der Fall ist [4]. In Deutschland sind bisher nach offiziellen Angaben – die Dunkelziffer dürfte noch deutlich darüber liegen – 3,73 Millionen Menschen an COVID-19 erkrankt, 97 % bzw. 3,61 Millionen gelten davon als genesen (Vgl. offizielle Stand 02.07.2021). Als genesen werden dabei diejenigen Personen bezeichnet, bei welchen keine Viruslast mehr nachweisbar ist. Robert-Koch-Institut, Angaben Vor dem Hintergrund der Annahme, dass 80 % der be- troffenen Personen unter Symptomen im Sinne eines Long COVID-Syndroms leiden, sind bzw. werden von den bis dato erkrankten Deutschen 2,89 Millionen Menschen betroffen sein. Eine Studie untersuchte die- se langanhaltenden Symptome bei einer Stichprobe von 384 hospitalisierten Patient*innen mehrere Wo- chen (47–59 Tage) nach deren Entlassung aus dem Krankenhaus. Große Teile der Patient*innengaben an, immer noch an Dyspnoe (53 %) oder Husten (34 %) zu leiden. Bei 30 % bzw. 10 % dieser Stichprobe war ein er- höhter D-Dimer- bzw. C-Reaktives Protein-Spiegel nachweisbar, was ein Hinweis auf eine noch anhaltende Entzündungsreaktion darstellt [5]. In einer anderen Untersuchung wurde bei postakuten Patient*innen ein erhöhter Anteil an pathologischen Bruströntgenaufnahmen verzeichnet – vermutlich im Rahmen einer aktiven Endothelentzündung bzw. Vas- kulitis [6]. Die Schwere der initialen SARS-CoV-2-Infek- tion, ein höheres Lebensalter, ein höherer Body-Mass- Index sowie vorbestehende Lungenerkrankungen wur- den als Risikofaktoren für persistierende Symptome mit somatischem Korrelat identifiziert [7]. ABKÜR ZUNGEN BDD EBV ICD-10 ICD-11 Bodily Distress Disorder Epstein-Barr Virus International Classification of Diseases, 10th revision International Classification of Diseases, 11th revision MERS-CoV Middle East Respiratory Syndrome Coronavirus PASC RVV Post-acute Sequelae of SARS-CoV-2 Ross-River-Virus Weingärtner Anna-Lena et al. Fatigue bei Long … PSYCH up2date 2022; 16: 37–52 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 39

Dazu gehören: ▪ emotionale (Unlust, Motivationsmangel, enge Verbindung zu Traurigkeit, verminderte affektive Schwingungsfähigkeit), ▪ kognitive (verminderte geistige Aktivität bzw. Leistungsfähigkeit), ▪ Verhaltens- („Leistungsknick“), ▪ und körperliche Aspekte (z. B. muskuläre Schwäche). Fatigue gehört zu den am häufigsten berichteten Be- schwerden in der Primärversorgung. 31 % der deut- schen Bevölkerung gaben an, manchmal oder häufig unter Müdigkeit zu leiden. Dabei sind Frauen häufiger betroffen als Männer, Menschen mit höherem sozialem Status sowie in einer Partnerschaft lebende Menschen seltener [10]. Ätiologie Fatigue ist ein Hauptsymptom bei verschiedenen psy- chiatrischen bzw. psychosomatischen Störungen, ins- besondere bei Depression und Angststörungen (aber auch bei z. B. der Somatisierungsstörung und anderen somatoformen Störungen) [11]. Verschiedene Unter- suchungen zeigten zudem, dass es einen Zusammen- hang von selbst wahrgenommener psychosozialer Be- lastung und Müdigkeit gibt [12]. Merke Depression, Angststörungen und psychosoziale Be- lastungen sind sehr häufige Ursachen oder Begleit- erscheinungen bei Patient*innen mit Müdigkeit. Neben den seelischen Störungen gibt es eine Vielzahl körperlicher Erkrankungen, bei welchen Müdigkeit ins Symptomspektrum fällt. Diese Tatsache trägt vermut- lich dazu bei, dass viele Behandler*innen sich davor fürchten, eine für die Müdigkeit ursächliche körper- liche Erkrankung zu übersehen. Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass bei unauf- fälliger Anamnese und unauffälligem körperlichen Be- fund selten bösartige Erkrankungen hinter dem Symp- tom Müdigkeit stehen. Tritt Müdigkeit als Symptom einer schwerwiegenden Erkrankung auf, sind praktisch immer weitere Hinweise auf die entsprechende Er- krankung zu finden. Aus diesem Grund ist z. B. eine Tumordiagnostik aufgrund des Symptoms Müdigkeit ohne weitere Hinweise auf das Vorliegen einer solchen Erkrankung nicht indiziert. Merke Tritt Müdigkeit als Symptom einer schwerwiegenden Erkrankung auf, sind praktisch immer weitere Hin- weise auf die entsprechende Erkrankung zu finden. Müdigkeit wird häufig in Zusammenhang mit Eisen- mangel mit oder ohne Anämie gebracht. Diesbezüg- liche Untersuchungsergebnisse sind widersprüchlich. In manchen Studien konnte kein Zusammenhang fest- gestellt werden, während andere Untersuchungen Hin- weise auf einen (schwachen) kausalen Zusammenhang von Anämie und Müdigkeit zeigten [13]. Es ist unwahr- scheinlich, dass eine Eisensubstitution bei ansonsten gesunden Personen ohne schweren Eisenmangel oder Anämie das Problem der Müdigkeit löst. Dem Nutzen eines Behandlungsversuchs steht das Risiko der Fixie- rung auf einen inadäquaten Behandlungsansatz gegen- über. Weiterhin kann Müdigkeit als Symptom bei endokrinen Erkrankungen, Hepatitis, Zöliakie, verschiedenen chro- nischen somatischen Erkrankungen, Schlafstörungen und schlafbezogenen Atmungsstörungen, Bewegungs- mangel, bei Einnahme verschiedener Medikamente (z. B. Benzodiazepine, Antidepressiva, Antipsychotika, Antihistaminika, Antihypertensiva) und bei Suchter- krankungen auftreten. Hier gilt jedoch, dass in nahezu allen Fällen andere Symptome der entsprechenden Er- krankung auf diese hindeuten. Wichtig zu erwähnen ist, dass Fatigue auch als wesent- liches Symptom bei onkologischen Patient*innen auf- tritt. In einer Studie klagen 70–100 % der betroffenen Patient*innen mit multimodalen Behandlungen über eine belastende Erschöpfungssymptomatik, die teil- weise auch Monate und Jahre nach der letzten Behand- lung anhält und als das am meisten belastende Symp- tom im Zusammenhang mit der Krebserkrankung wahrgenommen wird. Aufgrund des häufigen Vorkom- mens von Fatigue bei onkologischen Patient*innen hat sich mit cancer-related Fatigue eine eigene Begrifflich- keit zur Beschreibung des Zustands etabliert [14]. In diesem Abschnitt wurden einige seelische und so- matische Erkrankungen beschrieben, die ursächlich für eine Fatigue-Symptomatik sein können. Wichtig zu er- wähnen ist, dass das Symptom bei einem Teil der be- troffenen Personen unerklärt bleibt. Unabhängig von der Entstehungsursache hat die Symptomatik einen wesentlichen Einfluss auf die Alltagsfähigkeit und die Lebensqualität der Patient*innen. Ohne spezifische Be- handlung ist die Prognose von Personen mit idiopathi- scher Fatigue verhältnismäßig schlecht: die Hälfte der Betroffenen leidet nach 6 Monaten immer noch unter Fatigue [15]. Weingärtner Anna-Lena et al. Fatigue bei Long … PSYCH up2date 2022; 16: 37–52 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 41

FALLBEISPIEL 1 Eine 34-jährige Patientin stellt sich aufgrund eines ausgeprägten Erschöpfungszustands nach einer SARS-CoV-2-Infektion vor 3 Monaten in der Post- COVID-Sprechstunde unserer Hochschulambulanz vor. In den ersten Tagen der Erkrankung habe sie grippeähnliche Symptome mit Geschmacks- und Geruchsverlust gehabt. Nach 3 Wochen sei sie wie- der zur Arbeit gegangen. Kurze Zeit später fiel ihr auf, dass sie sich körperlich und psychisch zunehmend belastet fühle bis sie vor 3 Wochen einen „Zusammenbruch“ erlitten habe. Sie sei froh gewesen, als in den Medien Berichte über Long COVID und das Fatigue-Syndrom publik ge- macht wurden, da sie bis dato keine Erklärung für ihren Zustand gehabt habe, was ihr Angst gemacht habe. Aktuell sei sie zwar nicht mehr so erschöpft wie zu Beginn, jedoch leide sie immer noch sehr un- ter der Erschöpfung und der reduzierten Belastbar- keit. Sie arbeite jetzt ihm Rahmen einer Wiedereingliede- rung 4 Stunden täglich. Die Patientin sei ledig und kinderlos. Die meisten ihrer Freunde und ihre beiden Geschwister hätten eine eigene Familie, weswegen sie häufig alleine sei. Vor der Infektion habe sie viel Zeit mit ihren Nichten und Neffen verbracht, dafür fehle ihr derzeit die Kraft. Vor der COVID-19-Erkran- kung habe sie noch nie an einer psychischen Erkran- kung gelitten. Anmerkung Kurz nach Abklingen der initialen Erkrankung trat bei der Patientin eine belastende Fatigue-Symptomatik auf. Differentialdiagnostisch konnte keine andere Erkrankung festgestellt werden. Die körperlichen Untersuchungen blieben ohne erklärenden Befund, die Kriterien für eine depressive Störung war nicht (ausreichend) erfüllt. Bei fortbestehender Sympto- matik sollten nach 6 Monaten die Kriterien für ein CFS geprüft werden. Long COVID Fatigue: ein funktionelles Symptom? Fatigue als postinfektiöses Symptom ist keineswegs erst seit der aktuellen COVID-19-Pandemie bekannt. Betroffene einer Vielzahl anderer viraler und bakteriel- ler Infektionskrankheiten geben nach der überstan- denen Infektion ähnliche Erschöpfungssymptome an (siehe auch Fallbeispiel 2). Beispielsweise identifizierte eine Follow-Up-Unter- suchung von 233 SARS-Überlebenden in Hongkong 40 Monate nach der Infektion bei 40 % der Stichprobe eine persistierende Fatigue-Symptomatik [21]. Nach Aus- bruch des Middle East Respiratory Syndrome Corona- virus (MERS-CoV) wurden bis zu 18 Monate nach der akuten Infektion von persistierender Fatigue berichtet. Postinfektiöse Fatigue ist auch nach Epstein-Barr Virus (EBV), Q-Fieber (ausgelöst durch das Bakterium Coxiel- la burnetii), Ross-River-Virus (RVV) und Rickettsiose (ausgelöst Bakterien der Gattung Rickettsia) bekannt [22–26]. Auch bei chronisch verlaufenden Infektions- krankheiten wie HIV ist Fatigue ein Symptom [27]. Die Beobachtung, dass die Erschöpfungssymptomatik auch nach diversen anderen Infektionskrankheiten auf- tritt, legt die Vermutung nahe, dass es sich bei der Long COVID Fatigue eher nicht um ein für COVID-19 spezifi- sches Symptom handelt. Vermutlich fungiert COVID- 19 – so wie die übrigen viralen und bakteriellen Infek- tionen – eher als allgemeiner Trigger für die Entste- hung eines Fatigue-Syndroms. FALLBEISPIEL 2 Ein 45-jähriger Patient klagt 6 Monate nach einer COVID-19- Erkrankung über Erschöpfung, Müdigkeit, Atembeschwerden, einen „angeschwollenen Hals“, Kreislaufprobleme, Schwindel und Gelenkschmerzen. In der Akutphase der Infektion seien vor allem die Nächte schlimm gewesen, da er durch die Atem- not andauernd Todesangst gehabt habe. Derzeit fühle er sich hauptsächlich erschöpft und müde. Normale Alltagsaufgaben stellten eine Überforderung für ihn dar. Auch Ruhephasen häl- fen ihm nicht dabei, wieder zu Kräften zu kommen. Während einer dreiwöchigen pulmologischen Reha-Behand- lung hätten sich die anhaltenden Atembeschwerden kaum ge- bessert. Die Lungenfachärzte hätten ihm mitgeteilt, dass es keine körperliche Erklärung für seine Beschwerden gebe. Den- noch sei die psychologische Betreuung und der Kontakt zu Mitpatient*innen wohltuend gewesen. Er sei dort ruhiger ge- worden. Vor dem Reha-Aufenthalt habe er mehrfach aggres- sive Ausbrüche gegenüber Familienmitgliedern gehabt. Er sei seit der Infektion krankgeschrieben. Er fühle sich nutzlos, weil er nicht mehr belastbar sei und sehne sich danach ein guter Vater für seine 3 Kinder zu sein. In den letzten Monaten seien seine seit Jahren bestehenden Rückenschmerzen noch schlimmer geworden. Er berichtet, dass er als junger Mann nach einer längeren Krankheitsphase durch eine Mononukleo- se an ähnlichen Symptomen gelitten habe. Anmerkung Bei diesem Patienten wurde die Diagnose einer postinfektiö- sen Fatigue-Symptomatik und einer mittelgradigen depressi- ven Episode gestellt, die sich im Verlauf der Behandlung zu einer schwergradigen Episode entwickelte. Interessant ist, dass der Patient in den 90er Jahren nach einer Mononukleose anamnestisch unter ähnlichen Symptomen litt. Weingärtner Anna-Lena et al. Fatigue bei Long … PSYCH up2date 2022; 16: 37–52 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 43

eher (somato-)physiologische Prozesse die Entstehung der Fatigue begünstigen. Die aktuelle Befundlage sowie das Wissen um bisher besser beforschte psychosomatische Störungsbilder legen jedoch nahe, dass bei der Long COVID Fatigue – wie beim postinfektiösen Reizdarmsyndrom – ein bio- psychosoziales Krankheitsmodell zur Erklärung der Symptomgenese herangezogen werden kann. Neben allgemeinen bio-psycho-sozialen Faktoren, welche an der Genese funktioneller bzw. psychosomatischer Stö- rungen beteiligt sind, gibt es möglicherweise additiv wirksame Faktoren, welche die Entwicklung einer Fa- tigue im Rahmen von Long COVID begünstigen kön- nen. Als additiv wirksamer Faktor kann beispielsweise die Ausschüttung von Zytokinen durch die SARS-CoV-2-In- fektion gelten, wodurch psychische Abwehrmechanis- men geschwächt werden. COVID-19-typische psy- chische und soziale Faktoren sind z. B. Hilflosigkeitser- leben während der Erkrankung, Vermeidungsverhal- ten, finanzielle Sorgen durch (drohenden) Arbeitsplatz- verlust und Einsamkeit durch Einschränkung der sozia- len Kontakte. ▶ Abb. 1 zeigt ein biopsychosoziales Krankheitsmodell für die Long COVID-Fatigue, welches sowohl allgemeine als auch die für COVID-19 additiv wirksamen Faktoren berücksichtigt. Merke Sowohl allgemeine als auch für Covid-19-typische Faktoren können zur Genese der Long COVID-Fatigue beitragen. Konzepte der funktionellen Syndrome, somatoformen Störung und der körperlichen Belastungsstörung funktionellen Körperbe- Unter der Begrifflichkeit schwerden werden Krankheitszeichen verstanden, die aus Störungen von Körperfunktionen resultieren ob- wohl keine organpathologischen Veränderungen fest- gestellt werden können. Die ICD-10 subsumiert kör- perliche Beschwerden, für die kein oder kein ausrei- chendes festgestellt werden kann, in Kapitel F45. somatisches Korrelat Dieses umfasst die folgenden klinischen Erscheinungs- bilder: Somatisierungsstörung (F45.0), undifferenzier- te Somatisierungsstörung (F45.1), hypochondrische Störung (F45.2), somatoforme autonome Funktions- störung somatoforme Schmerzstörung (F45.4). Somatoforme Störungen sind gekennzeichnet durch eine wiederholte Darbie- tung körperlicher Symptome, für die keine ausreichen- de Erklärung gefunden wurde. anhaltende (F45.3) und FALLBEISPIEL 4 Eine 51-jährige Patientin stellt sich mit Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Konzentrati- onsschwäche, Haarausfall und einer Störung des Geruchs- und Geschmackssinnes nach einer Covid-19-Erkrankung vor 6 Mo- naten in der Post-COVID-Sprechstunde unserer Hochschulam- bulanz vor. Sie berichtet, dass sie während der Erkrankung mäßig Fieber und massive Kopfschmerzen gehabt habe. Sie sei extrem erschöpft gewesen und habe ein ungewöhnlich hohes Schlafbedürfnis gehabt. Nach Abklingen des Fiebers hätten langsam die übrigen Symptome begonnen. Am meisten leide sie unter der außerordentlichen Erschöpfung mit Kon- zentrationsstörungen bis hin zu Gedankenabreißen sowie un- ter der extremen Geruchsüberempfindlichkeit, teilweise bis hin zum Würgereiz. Die Patientin berichtet, dass sie vermutlich die erste gewesen sei, die „Corona eingeschleppt und die ganze Großfamilie an- gesteckt habe“. In der Folge sei ihre pflegebedürftige Groß- mutter an der Erkrankung verstorben, weshalb sie sich große Schuldvorwürfe mache. In der Rückschau habe sie vor 15 Jah- ren vermutlich eine nicht diagnostizierte depressive Episode nach Überforderungserleben am Arbeitsplatz gehabt. Sie gibt an, dass die Familie aktuell einen Hauskredit abbezah- len müsse und ihr Ehemann im Zuge pandemiebedingter Kün- digungen vermutlich seinen Arbeitsplatz verlieren werde. Die finanziellen Sorgen ließen sie genauso überfordert fühlen wie damals vor 15 Jahren. Anmerkung In der Anamnese der Patientin finden sich auf den ersten Blick einige Faktoren, die sich gut in ein bio-psycho-soziales Krank- heitsmodell integrieren lassen. Biologische Faktoren: Aus- schüttung von Zytokinen, depressive Episode in der Vergan- genheit. Psychische Faktoren: Schuldvorwürde aufgrund der Ansteckung ihrer Großmutter. Soziale Faktoren: finanzielle Sorgen durch drohenden Arbeitsplatzverlust des Ehemannes. Dabei fordern die Betroffenen hartnäckig medizini- sche Untersuchungen ein – trotz wiederholter negati- ver Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass es keine organische Ursache gibt. Meist widersetzen sich Patient*innen den Versuchen, die Möglichkeit einer psychischen Ursache zu diskutieren. Oft kommt es da- durch zu Schwierigkeiten in der Arzt-Patienten-Bezie- hung. Wie oben beschrieben, stellt die Long COVID-Fatigue ein Symptom ohne bislang bekanntes somatisches Kor- relat dar, welches das Ausmaß der Beschwerden ausrei- chend erklären kann, und kann demnach als psychoso- matisches Symptom verstanden werden. Ob sie jedoch im Rahmen einer somatoformen Störung nach ICD-10 eingeordnet werden kann, hängt vom Vorhandensein weiterer Symptome ab. Weingärtner Anna-Lena et al. Fatigue bei Long … PSYCH up2date 2022; 16: 37–52 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 45

Merke Die Long COVID-Fatigue gehört zu den funktionellen Körperbeschwerden. Je nach Art und Anzahl der Symptome, kann sie den somatoformen Störungen nach ICD-10 oder der Kategorie der Bodily Distress Disorder nach ICD-11 zugeordnet werden. angeboten werden. Die erweiterte Grundversorgung greift dann, wenn die initiale Grundversorgung nicht ausreicht, also wenn die Beschwerden persistieren. Im Rahmen der Simultandiagnostik sollte die somatische und psychosoziale Diagnostik gleichzeitig und gleich- wertig erweitert werden. Mögliche Behandlungsoptionen der Long COVID-Fatigue Nachdem die postinfektiöse Fatigue-Symptomatik nun im Rahmen eines funktionellen Störungsbildes einge- ordnet wurde, stellt sich die Frage nach den Möglich- keiten für die Behandlung. In der S3-Leitlinie zur Be- handlung funktioneller Körperbeschwerden [33] wer- den diesbezüglich Handlungsempfehlungen ausge- sprochen, die im Folgenden dargestellt werden. Die Empfehlungen gliedern sich in drei verschiedene Behandlungsphasen, die jeweils vom Verlauf und der Schwere der Beschwerden abhängen: initiale Grund- versorgung, erweiterte Grundversorgung und multi- modale Behandlung inklusive Psychotherapie und/ oder Rehabilitation. In ▶ Abb. 2 sind die Behandlungs- phasen grafisch dargestellt. Die initiale Grundversorgung findet in der Hausarzt- oder Facharztpraxis statt. Sind keine Warnsignale für eine zugrundeliegende, die Symptomatik umfänglich erklärende, somatische Ursache feststellbar, sollen die Patient*innen empathisch beruhigt werden, ohne die Beschwerden zu verharmlosen. Therapeutische Inter- ventionen beschränken sich in der Regel auf eine Ermu- tigung zu einem allgemein gesunden, körperlich akti- ven Lebensstil. Zusätzlich sollte betont werden, dass die Symptome sich wahrscheinlich bessern werden, dass ein Persistie- ren aber keinen Grund zur Sorge darstellt. Für diesen Fall soll eine Wiedervorstellung in zwei bis vier Wochen Aus den identifizierten Krankheitsfaktoren soll dann ein individuelles Erklärungsmodell erarbeitet und da- raus bewältigungsorientierte Therapiemaßnahmen ab- geleitet werden. In diesem Zusammenhang soll hin- sichtlich symptomatischer Maßnahmen (z. B. Psycho- pharmaka, physiotherapeutische Anwendungen, etc.) beraten werden. Die Stärkung von Selbstfürsorge und Selbstwirksamkeit durch aktive Bewältigungsmechanismen gilt jedoch als nachhaltiger wirksam. Dazu zählen zum Beispiel die Aufnahme sozialer und körperlicher Aktivitäten, Expo- sition bei Schonung und Vermeidung sowie Selbsthilfe- literatur bzw. -gruppen. Bei schweren Verläufen mit hoher Inanspruchnahme des Gesundheitssystems soll auf die dritte Behand- lungsstufe zurückgegriffen werden. Hierzu gehören weitere psychotherapeutische, wenn nötig auch (teil-) stationäre Behandlungsformen bzw. rehabilitative Maßnahmen, wenn der Fokus auf den Erhalt oder die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit liegen soll. Im Zentrum soll der Aufbau eines ambulanten Behand- lernetzwerkes stehen, in dem der behandelnde Haus- oder somatische Facharzt die „Gatekeeper-Funktion“ übernimmt. Eine störungsorientierte Psychotherapie ist besonders bei relevanten psychosozialen Belastun- gen, psychischer Komorbidität oder einer schwierigen Beziehung zwischen Behandler*in und Patient*in indi- ziert. Dabei sollen zunächst das positive Selbst- und Körpererleben, Bezie- Selbstregulationstechniken, 1 Initiale Grundversorgung 2 Erweiterte Grundversorgung - findet in der Haus-/Facharztpraxis statt - sorgfältig untersuchen - empathisch beruhigen - Ermutigung zu gesundem, aktivem Lebensstil - bei Bedarf Wiedervorstellung nach 2 – 4 Wochen anbieten - Simultandiagnostik - Erarbeitung eines individuellen Krankheitsmodells - bewältigungsorientierte Therapiemaßnahmen ○ erklären und benennen ○ an Erwartungen und Zielen arbeiten ○ Stärkung der Selbstfürsorge und Selbstwirksamkeit durch aktive Bewältigungsmechanismen 3 Multimodale Behandlung/ Psychotherapie/ Rehabilitation - Aufbau eines ambulanten Behandlernetzwerks - Beginn mit störungsorientierter Psychotherapie - (teil-)stationäre Behandlung erwägen - Rehabilitation ▶ Abb. 2 Handlungsempfehlungen zur Behandlung funktioneller Körperbeschwerden angelehnt an die S3-Leitline [33]. Die Behandlung gliedert sich in drei Behandlungsphasen (initiale Grundversorgung, erweiterte Grundversorgung, multimodale Behandlung/Psychotherapie/ Rehabilitation) in Abhängigkeit von Verlauf und Schwere der Beschwerden. Weingärtner Anna-Lena et al. Fatigue bei Long … PSYCH up2date 2022; 16: 37–52 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 47

Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbe- stimmungen für diesen Beitrag ist Prof. Dr. med. Andreas Stengel, Tübingen. Zitierweise für diesen Artikel Weingärtner A-L, Stengel A. Fatigue bei Long COVID. Psycho- ther Psych Med 2021; 71: 515–527. DOI: 10.1055 /a-1544- 8349. Literatur [1] Burke RM et al. Symptom profiles of a convenience sample of patients with COVID-19 – United States, January–April 2020. Morbidity and Mortality Weekly Report 2020; 69: 904 [2] Lopez-Leon S et al. More than 50 Long-term effects of COVID-19: a systematic review and meta-analysis. Available at SSRN 3769978 2021. [3] Tenforde MW et al. Symptom duration and risk factors for delayed return to usual health among outpatients with COVID-19 in a multistate health care systems network – United States, March–June 2020. Morbidity and Mortality Weekly Report 2020; 69: 993 [4] Carfì A et al. 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Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Unter https://eref.thieme.de/CXHU3NB oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests und zum Artikel Sie finden dort auch den genauen Einsendeschluss. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführ- liche Anleitung. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! VNR 2760512021160211987 Frage 1 Welches ist kein Risikofaktor für vaskuläre Long COVID-Symp- tome? Frage 5 Welcher der folgenden Faktoren kann als additiv wirksam bei der biopsychosozialen Genese der Long COVID-Fatigue gelten? höheres Lebensalter A Schwere der initialen SARS-CoV-2-Infektion B C Weibliches Geschlecht D höherer Body-Mass-Index E Vorbestehende Lungenerkrankungen Abwesenheit von somatische Vorerkrankungen hohe Emotionsregulationsfähigkeit A Freisetzung von Zytokinen B C D hohe intellektuelle Differenzierungsfähigkeit E positive Beziehungserfahrungen Frage 2 Welche sind die 5 häufigsten Long COVID-Symptome? A Fatigue, Kopfschmerzen, Aufmerksamkeitsstörungen, B C Haarausfall, Atembeschwerden Fatigue, Kopfschmerzen, Aufmerksamkeitsstörungen, Atembeschwerden, Husten Fatigue, Kopfschmerzen, Atembeschwerden, Depressivität, Husten Frage 6 Welche Aussage zur diagnostischen Einordnung von Fatigue ist falsch? A Fatigue gehört zu den funktionellen Körperbeschwerden. Funktionelle Körperbeschwerden sind immer im Rahmen B einer somatoformen Störung zu sehen. Long COVID Fatigue kann Symptom einer somatoformen Störung sein. C D Fatigue, Kopfschmerzen, Depressivität, Ängstlichkeit, D In der ICD-11 wird Fatigue der neuen Kategorie Bodily Dis- E Übelkeit Fatigue, Kopfschmerzen, Aufmerksamkeitsstörungen, Atembeschwerden, Geruchs- und Geschmacksstörungen Frage 3 Welche Aussage zum Vorkommen von Fatigue ist falsch? A Fatigue gehört zu den häufigsten Beschwerden in der Pri- B C märversorgung. Fatigue ist ein Hauptsymptom bei verschiedenen psycho- somatischen Erkrankungen. Personen mit idiopathischer Fatigue benötigen keine spe- zifische Behandlung. D 70–100 % der onkologischen Patient*innen mit multimo- daler Behandlung leiden unter Fatigue. Frauen sind häufiger von Fatigue betroffen als Männer. E Frage 4 Welches ist ein Risikofaktor für die Long COVID Fatigue? E tress Disorder (BDD) zugeordnet. Bei der Behandlung von Personen mit somatoformen Stö- rungen kommt es oft zu einer problematischen Arzt-Pa- tienten-Beziehung. Frage 7 Welche ICD-10-Diagnose fällt in der ICD-11 nicht in die Katego- rie der Bodily Distress Disorder? Fatigue Somatisierungsstörung A Neurasthenie B C D Somatoforme autonome Funktionsstörung E Hypochondrische Störung A Schwere der initialen Erkrankung B männliches Geschlecht C D Depression in der Vorgeschichte E höherer Body-Mass-Index höheres Lebensalter Weingärtner Anna-Lena et al. Fatigue bei Long … PSYCH up2date 2022; 16: 37–52 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 51

PSYCH up2date 1 · 2022 Persönlichkeitsstörungen, Impulskontrollstörungen und dissoziative Störungen 7 Impulskontrollstörungen, Verhaltenssüchte und körperbezogene Zwangserkrankungen Daniel Turner Oliver Tüscher Thieme VNR: 2760512022161725595 DOI: 10.1055/a-1143-0096 PSYCH up2date 2022; 16 (1): 53–70 ISSN 2194-8895 © 2022. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Impulskontrollstörungen, Verhaltenssüchte und körperbezogene Zwangserkrankungen Daniel Turner, Oliver Tüscher Störungen dieser Art zeichnen sich durch impulsive, sich wiederholende Hand- lungen aus. Bis auf die Impulskontrollstörungen im engeren Sinne werden die meisten der einzelnen Störungsbilder heutzutage entweder dem Spektrum der Verhaltenssüchte oder den Zwangsstörungen zugeordnet und unterscheiden sich phänomenologisch u. a. durch die mit ihnen einhergehenden ich-syntonen oder ich-dystonen Affekte. Unbehandelt nehmen die Störungen meist einen chroni- schen Verlauf. Einführung Dysfunktionale Verhaltensweisen, wie die Pyromanie, die Kleptomanie oder die Trichotillomanie, wurden in der 10. Version der International Classification of Diseases (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) noch im Kapitel der „Abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“ zusammenge- fasst. Einendes Charakteristikum ist, dass das gezeigte pathologische Verhalten auf der Mikroebene (kurzfris- tige Verhaltensausübung) immer wieder impulshaft auftritt und von den Patienten als unkontrollierbar er- lebt wird. Die Betroffenen erleben einen intensiven un- widerstehlichen Drang, das entsprechende Verhalten auszuführen, sodass kurz vor der Handlung eine zuneh- mende innere Anspannung und Erregung auftritt. Die Ausführung des Verhaltens ist i. d. R. mit einem Gefühl der Euphorie und Lust verbunden und verschafft kurz- fristig Erleichterung. Unmittelbar nach der Handlung können (müssen aber nicht) Reue, Scham, Selbstvor- würfe und/oder Schuldgefühle auftreten. Mit dem ge- zeigten Verhalten wird kein längerfristiges Ziel (im Sin- ne eines persönlichen Nutzens) verfolgt, sondern die Handlungen führen meist zu persönlichem Schaden oder zur Schädigung anderer Menschen. Ähnlichkeiten in der Psychopathologie, Unterschiede in der Pathogenese Trotz der psychopathologischen Ähnlichkeiten besteht mittlerweile Einigkeit darüber, dass die ursprünglich unter den Impulskontrollstörungen subsumierten Krankheitsbilder einige bedeutende pathogenetische Unterschiede vor allem auf der Makroebene (Pathoge- nese und Krankheitsverlauf) aufweisen. Daher kam es mit der Veröffentlichung der 5. Version des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) so- wie der ICD-11 zu einer vollständigen Revision des Ka- pitels der Impulskontrollstörungen [1, 2]. Merke Die ICD-11 unterscheidet nun zwischen Impulskon- trollstörungen im engeren Sinne, den nicht stoffge- bundenen Suchterkrankungen (Synonym: Verhal- tenssüchte) und den Störungen, die dem Zwangs- spektrum zugeordnet werden können. Die Impulskontrollstörungen im engeren Sinne zeich- nen sich durch impulsives Verhalten aus, welches sich meist, aber nicht notwendigerweise, auf einige Episo- den pro Jahr beschränkt. Das impulsive Verhalten dient dabei der kurzfristigen Bedürfnisbefriedigung und wird trotz der damit einhergehenden langfristigen negati- ven Folgen (z. B. im persönlichen, familiären, schuli- schen oder beruflichen Bereich) fortwährend gezeigt. Demgegenüber sind die Verhaltenssüchte (vergleich- bar den stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen) durch einen zunehmenden Kontrollverlust bezüglich Beginn, Frequenz, Intensität, Dauer und Beendigung des Verhaltens charakterisiert sowie dadurch, dass das Verhalten immer mehr an Priorität im Leben der Betrof- fenen erlangt und dieses trotz negativer Konsequenzen fortgeführt oder sogar intensiviert wird. Bei den Impulskontrollstörungen, die dem Zwangsstö- rungsspektrum zugeordnet werden, erleben die Be- troffenen vor der Handlung eher ängstliche Gefühle oder eine hohe innere Anspannung, die durch die Handlung Erleichterung finden. Die impulsiven Verhal- tensweisen werden hier entsprechend den anderen Zwangserkrankungen eher als ich-dyston wahrgenom- men. Nach der Handlung verspüren die Betroffenen häufig Scham- und Schuldgefühle, sodass sie aktiv ver- Turner Daniel et al. Impulskontrollstörungen, Verhaltenssüchte und … PSYCH up2date 2022; 16: 53–70 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 55

Klinik und diagnostische Besonder- heiten der einzelnen Störungsbilder Pathologische Brandstiftung Klinik Die Betroffenen legen entweder häufig Feuer an Ge- bäuden oder anderem Eigentum und/oder beschäfti- gen sich anhaltend mit dem Thema Feuer oder Brand- stiftung (z. B. brennbare Utensilien aber auch Brandbe- kämpfung durch die Feuerwehr). Die Betroffenen kön- nen beispielsweise bei Bränden in der Umgebung im- mer wieder als Schaulustige auftreten oder auch selbst der Feuerwehr beitreten, um immer wieder in die Nähe von Bränden und Feuer zu geraten. Dem eigentlichen Feuerlegen geht meist eine Episode mit hoher innerer Anspannung oder Erregung voraus, während sich beim Feuerlegen Vergnügen, Befriedigung oder Entspan- nung einstellt. Den verursachten Schäden an Personen oder Gegenständen stehen die Betroffenen emotional indifferent gegenüber. Die Pyromanie als isolierte Diagnose ist insgesamt sel- ten. Selbst in forensisch-psychiatrischen Stichproben von Personen, die aufgrund von Brandstiftung verur- teilt wurden, weisen i. d. R. weniger als 1% die Diagnose einer Pyromanie auf. Die Störung beginnt häufig im Kindes- oder Jugendalter und tritt episodisch auf. Bei der Pyromanie findet man ein deutliches Überwiegen des männlichen Geschlechts (etwa 8:1). Diagnostik und Differenzialdiagnostik Viel häufiger als die Brandstiftung im Rahmen einer Pyromanie ist eine Brandstiftung aufgrund anderer Motive, z. B. politische Motivation. Die Brandstiftung im Rahmen der Pyromanie ist ein impulsiver Akt und dient in erster Linie dem Abbau der eigenen inneren Anspannung. Bei Kindern sollten außerdem wiederhol- te Episoden des Feuerlegens im Rahmen einer Störung des Sozialverhaltens von der Pyromanie abgegrenzt werden. Bei einer Störung des Sozialverhaltens treten neben dem Feuerlegen auch in anderem Kontext ag- gressive oder impulsive Verhaltensweisen auf, z. B. zu Hause oder in der Schule. Gleiches gilt für Erwachsene mit einer dissozialen Per- sönlichkeitsstörung. Bei diesen Personen wird mit der Brandlegung i. d. R. ein höheres Motiv verfolgt, z. B. das Verdecken einer Straftat oder Versicherungsbe- trug. Auch die wiederholte Brandstiftung als Reaktion auf eine wahnhafte Verkennung oder Halluzinationen im Rahmen psychotischer Erkrankungen sollten diffe- renzialdiagnostisch berücksichtigt werden. So findet man bei Patienten, die aufgrund eines Brandstiftungs- delikts in einer forensisch-psychiatrischen Klinik unter- gebracht sind, bei gut ⅓ der Patienten eine psychoti- sche Erkrankung. Bei Remission der psychotischen Symptomatik lässt sich bei diesen Patienten kein Hang zum Feuerlegen mehr beobachten. Merke Bei der Pyromanie wird mit dem Akt der Brandstif- tung kein höheres Motiv verfolgt, sondern sie ist ein impulsives Verhalten, das dem Spannungsabbau dient. Pathologisches Stehlen Klinik Die Betroffenen erleben immer wieder den Impuls, Dinge zu stehlen. Die gestohlenen Gegenstände wer- den allerdings nicht benötigt und das Stehlen an sich dient auch nicht der persönlichen Bereicherung. Viel- mehr werden die gestohlenen Gegenstände häufig weggeworfen, verschenkt, gehortet oder sogar zu- rückgebracht. Der Akt des Stehlens wird von einem Ge- fühl der Befriedigung oder des Spannungsabbaus be- gleitet. Merke Die Betroffenen sind sich darüber bewusst, dass das Stehlen verboten ist und können das Stehlen i. d. R. auch vermeiden, wenn eine unmittelbare Gefahr droht (z. B. Anwesenheit der Polizei). Typischerweise liegt der Beginn der Erkrankung im Ju- gend- oder jungen Erwachsenenalter. Frauen sind in etwa 3-mal so häufig betroffen wie Männer. Das DSM- 5 unterscheidet 3 Verlaufsformen: 1. sporadisches Auftreten mit kurzen Episoden, in denen impulshaft geklaut wird, und langen Zeit- spannen der Remission 2. episodisches Auftreten mit langanhaltenden Perioden des Stehlens und Perioden der Remission 3. chronisches Auftreten ohne zwischenzeitliche Remission Nur ein überaus geringer Anteil der Personen, die auf- grund eines Ladendiebstahls verurteilt wurden, weist eine Kleptomanie auf. Diagnostik und Differenzialdiagnostik Der gewöhnliche Diebstahl muss abgegrenzt werden. Dieser wird mit einer klaren Zielsetzung durchgeführt, z. B. motiviert durch den Gebrauchs- oder Geldwert des gestohlenen Gegenstands. Auch Diebstähle im Rah- men einer Störung des Sozialverhaltens oder einer dis- sozialen Persönlichkeitsstörung müssen abgegrenzt werden. Auch bei diesen Störungsbildern kann das Stehlen impulshaften Charakter annehmen, jedoch dient es nicht dem Spannungsabbau, sondern der An- eignung fremden Eigentums zur eigenen Bereiche- rung. Auch wiederholtes Stehlen im Rahmen einer ma- nischen oder psychotischen Episode muss berücksich- Turner Daniel et al. Impulskontrollstörungen, Verhaltenssüchte und … PSYCH up2date 2022; 16: 53–70 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 57

gende menschliche Partner [1]. Beide Störungen kön- nen komorbid nebeneinander auftreten. Merke Patienten mit einer zwanghaften sexuellen Verhal- tensstörung weisen ein erhöhtes Risiko auf, an einer sexuell übertragbaren Erkrankung zu leiden. Bei be- gründetem Verdacht sollte daher eine Abklärung er- folgen, inklusive HIV-Testung. Intermittierend explosibles Verhalten Klinik Bei der intermittierend explosiblen Störung zeigen die Betroffenen wiederholte aggressive Impulsdurchbrü- che, die sich in verbaler Aggression (z. B. Wutausbrü- che, verbale Auseinandersetzungen) oder körperlicher Aggression gegen Gegenstände, Tiere oder andere Per- sonen richten können [1]. Vor dem aggressiven Aus- bruch verspüren die Betroffenen eine starke innere An- spannung, die sich durch den Verhaltensausbruch wie- der abbaut. Typischerweise sind die aggressiven Aus- brüche impulsiv, d. h. sie dienen nicht der Erreichung bestimmter Ziele und treten für gewöhnlich als Reakti- on auf eine unbedeutende Provokation auf. Sie dauern i. d. R. nicht länger als 30 Minuten. Merke Zentrales Merkmal der intermittierend explosiblen Störung ist das Versagen der Kontrolle über impulsiv- aggressives Verhalten als Reaktion auf eine geringfü- gige Provokation, meist durch nahe Angehörige. Die Störung findet ihren Beginn meist in der späten Kindheit oder im Jugendalter. Nur sehr selten tritt sie erstmals bei Erwachsenen nach dem 40. Lebensjahr auf. Männer sind hierbei im Verhältnis 2:1 doppelt so häufig betroffen wie Frauen. Meist äußert sich die Stö- rung episodisch, kann unbehandelt aber auch einen chronisch-persistierenden Verlauf nehmen. Diagnostik und Differenzialdiagnostik Differenzialdiagnostisch sollte zuerst an wiederkehren- de impulsive Ausbrüche im Rahmen einer Persönlich- keitsstörung gedacht werden. Auch bei der Borderline- sowie bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung ge- hört impulsives Verhalten zu den diagnostischen Merk- malen. Bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung stellt sich das impulsiv-aggressive Verhalten allerdings meist zielgerichtet dar, z. B. um die eigenen Bedürfnis- se durchzusetzen. Die Abgrenzung zur Borderline-Per- sönlichkeitsstörung ist schwieriger, da hier die aggres- siv-impulsiven Verhaltensausbrüche ebenfalls oft als Reaktion auf eine Nichtigkeit auftreten und sich häufig gegen enge Angehörige richten. Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zeigen neben Wut- ausbrüchen noch andere impulsive Verhaltensweisen, FALLBEISPIEL Intermittierend explosible Störung Herr B., Ende 20, stellt sich in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie vor. Er berichtet, dass er einen kleinen, aber gut gehenden Handwerksbetrieb habe und glücklich verheira- tet sei. Als Grund für seine Vorstellung nennt Herr B. „schlim- me“ Wutausbrüche, die seit ungefähr 1 Jahr auftreten würden. Zunächst habe er gedacht, dass er einfach zu viel Stress habe und deswegen etwas „dünnhäutig“ geworden sei. Nach einem 3-wöchigen Urlaub seien die Wutausbrüche aber auch nicht weniger geworden und auch während des Urlaubs habe er sei- ne Frau mehrfach angeschrien. Dies belaste die Beziehung zu- nehmend. Mittlerweile würden sich seine Aggressionen und seine Wut auch gegen seine Mitarbeiter richten. Neulich habe er einem Mitarbeiter sogar seinen Schlüssel an den Kopf ge- worfen. Den Grund für seine „Ausraster“ wisse er, wenn er sich beruhigt habe, meist gar nicht mehr. In der psychiatrischen Exploration ergeben sich außer den wiederholten Wutausbrüchen keine psychopathologischen Auffälligkeiten. Insbesondere sind Aufmerksamkeit und Kon- zentration in der Norm und Herr B. zeigt neben den Wutaus- brüchen kein anderes impulsives Verhalten. Ebenso sind Stim- mung und Antrieb in der Norm. Herr B. war bisher noch nie in psychiatrischer Behandlung und trinkt nur selten Alkohol. So- mit können ADHS, eine Persönlichkeitsstörung, eine Suchter- krankung und eine affektive Störung ausgeschlossen werden und die Diagnose einer intermittierend explosiblen Störung gestellt werden. z. B. rücksichtsloses Fahren, Substanzmissbrauch, Ess- anfälle [1]. Merke Auch die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist durch wiederholte Wutausbrüche und impulsives Verhalten gekennzeichnet. Darüber hinaus besteht ein Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehun- gen, im Selbstbild und in den Affekten, welches bei der intermittierend explosiblen Störung fehlt. Auch ADHS oder Störungen aus dem Autismus-Spek- trum müssen differenzialdiagnostisch bedacht werden, lassen sich auch bei diesen Störungsbildern bei man- chen Patienten aggressive Ausbrüche beobachten. Gleiches gilt für Menschen mit einer Intelligenzminde- rung. Eine intermittierend explosible Störung sollte nicht diagnostiziert werden, wenn die impulsiven Aus- brüche ausschließlich im Rahmen einer akuten Alkohol- oder Drogenintoxikation bzw. während des Entzugs von einer dieser Substanzen auftreten. Turner Daniel et al. Impulskontrollstörungen, Verhaltenssüchte und … PSYCH up2date 2022; 16: 53–70 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 59

Differenzialdiagnostisch sollte noch spezifiziert wer- den, ob hauptsächlich online oder offline gespielt wird, wobei mittlerweile die Anzahl der Betroffenen, die on- line spielen, deutlich überwiegen dürfte. Komorbid tre- ten häufig ADHS, affektive Störungen und Angster- krankungen auf. Auch komorbide Suchterkrankungen sind häufig. Merke Mit dem strukturierten klinischen Interview zu inter- netbezogenen Störungen (AICA-SKI:IBS) existiert ein auch im deutschsprachigen Raum validiertes Instru- ment zur sicheren Diagnostik der Computer- und Videospielsucht [6]. Pathologisches Kaufen Klinik Das pathologische Kaufen findet sich weder im DSM-5 noch in der ICD-11 als eigenständige diagnostische En- tität, dennoch wurde eine Inklusion rege diskutiert. Die Betroffenen zeigen wiederkehrende und nicht zu kon- trollierende Impulse, immer wieder einkaufen zu müs- sen. Das Kaufverhalten wird fortgesetzt und sogar wei- ter gesteigert, trotz bereits eingetretener negativer fi- nanzieller oder psychosozialer Folgen. Es werden i. d. R. unsinnige oder nicht benötigte Dinge gekauft oder Dinge in ungewöhnlich hoher und nicht benötigter Stückzahl. Die gekauften Gegenstände werden nur sel- ten tatsächlich genutzt und werden meist versteckt oder gehortet. Dem Kaufen an sich geht eine hohe in- nere Anspannung voraus, die durch das Kaufen ab- nimmt. Merke Die Betroffenen kaufen nicht nur unkontrolliert ein, sondern verbringen auch viel Zeit des Tages damit, nach den neuesten Angeboten zu suchen oder Ange- bote zu vergleichen. Die Störung beginnt meist im späten Jugend- oder frü- hen Erwachsenenalter, obwohl auch ein Beginn nach dem 30. Lebensjahr beschrieben wurde. Auch wenn vermutet wird, dass Frauen häufiger betroffen sind als Männer, gibt es ebenso Untersuchungen, die keinen Geschlechterunterschied gefunden haben. Zum Ver- lauf der Erkrankung ist noch relativ wenig bekannt. Ge- nerell kann aber zwischen Personen unterschieden werden, die täglich impulshaft und unkontrolliert ein- kaufen, und Personen, die nur episodisch im Rahmen von „Kaufattacken“ unkontrolliert einkaufen, dann aber überproportional viel einkaufen und/oder Geld ausgeben. Zu Beginn der Erkrankung ist das Kaufen noch mit positiven Gefühlen verbunden, im Verlauf wird das Kaufen aber immer häufiger dazu eingesetzt, um negative Gefühle zu vermeiden oder abzubauen. Außerdem treten psychische Entzugssymptome auf, wenn nicht eingekauft werden kann. Merke Aufgrund der psychodiagnostischen Ähnlichkeiten wurde vorgeschlagen, dass das pathologische Kaufen am ehesten den Verhaltenssüchten zuzuordnen ist. Diagnostik und Differenzialdiagnostik Differenzialdiagnostisch muss insbesondere an die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung gedacht werden. Bei manchen Patienten mit Borderline-Persön- lichkeitsstörung kann das wiederholte impulsive Kau- fen zum Abbau von Anspannung und zur Emotions- regulation eingesetzt werden. Eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung findet sich aber auch häufig als komorbide psychische Störung, ebenso wie eine ängst- lich-vermeidende oder zwanghafte Persönlichkeits- störung. Weitere häufig anzutreffende komorbide psy- chische Erkrankungen sind depressive Störungen, Angststörungen, Suchterkrankungen und andere Impulskontrollstörungen. Wichtig ist zu unterscheiden, ob die komorbide psychische Störung bereits vor dem Beginn des pathologischen Kaufverhal- tens bestanden hat oder reaktiv auf die erlebten finan- ziellen und psychosozialen Folgen aufgetreten ist. Ins- besondere depressive Erkrankungen können häufig als auslösender Faktor des unkontrollierten Kaufens ge- funden werden. Essstörungen, Trichotillomanie Klinik Bei der Trichotillomanie verspüren die Betroffenen einen drängenden und quälenden Impuls, sich die Haa- re ausreißen zu müssen. Bei vielen Betroffenen geht dies langfristig mit einem beachtlichen Haarverlust einher, wobei häufig versucht wird, den Haarverlust vor anderen zu verstecken, z. B. durch das Tragen von Perücken oder Make-up. Im Verlauf der Erkrankung kommt es zum wiederholten und erfolglosen Versuch, das Haareausreißen einzuschränken oder zu unterlas- sen. Ähnlich wie bei den Impulskontrollstörungen und den Verhaltenssüchten tritt vor dem eigentlichen Ver- halten eine erhöhte innere Anspannung und Erregung auf, die sich durch das Haareausreißen abbaut. Im Ge- gensatz zu den Impulskontrollstörungen und den Ver- haltenssüchten wird das Verhalten allerdings als ich- dyston empfunden oder es kann gänzlich automatisiert ablaufen. Daher besteht bei der Trichotillomanie eine Nähe zu den Zwangserkrankungen. Merke Das Ausreißen der Haare kann sich auf alle behaarten Körperregionen beziehen, am häufigsten sind aller- dings Kopfbehaarung, Augenbrauen und Wimpern betroffen [1]. Turner Daniel et al. Impulskontrollstörungen, Verhaltenssüchte und … PSYCH up2date 2022; 16: 53–70 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 61

Diagnostik und Differenzialdiagnostik Im Rahmen eines Dermatozoenwahns bei psycho- tischer Erkrankung oder von taktilen Halluzinationen, z. B. beim Alkoholentzugsdelir, können ebenfalls Haut- verletzungen durch Hautzupfen/-quetschen entste- hen. Bei Remission der psychotischen Symptomatik sis- tiert aber auch das Hautzupfen/-quetschen. Wieder- holtes Hautzupfen/-quetschen kann auch im Rahmen von Bewegungsstereotypien bei verschiedenen Ent- wicklungsstörungen auftreten (besonders häufig beim Prader-Willi-Syndrom). Auch wiederholte Verletzungen der Haut als Ausdruck von ausgeprägtem selbstverlet- zendem Verhalten, z. B. im Rahmen einer Borderline- Persönlichkeitsstörung, können sich klinisch ähnlich zur Dermatillomanie präsentieren. Bei der Borderline- Persönlichkeitsstörung werden die Selbstverletzungen aber häufig bei Vorliegen eines chronischen Leerege- fühls eingesetzt, um sich selbst zu spüren. Substanzen wie Kokain können zu starkem Juckreiz führen, wo- durch die Betroffenen versuchen, sich durch wieder- holtes Hautzupfen/-quetschen Linderung zu verschaf- fen. Komorbid finden sich häufig andere Zwangsstörungen und affektive Störungen. Sehr häufig findet man eine komorbide Trichotillomanie (bis zu 35%). Somatische Erkrankungen, die differenzialdiagnostisch zur Dermatillomanie bedacht werden sollten, da sie zu starkem und konstantem Juckreiz führen können, sind Skabies, atopisches Ekzem, Psoriasis, Dermatomyko- sen, Urämie, Leukämien, Lymphome und ein Ikterus unterschiedlichster Genese. Therapie Übergeordnetes Therapieziel sind die Reduktion der exzessiven Verhaltensweisen und die Wiedererlangung der Kontrolle über das pathologisch-impulsive Verhal- ten. Bewährt haben sich insbesondere gruppenthera- peutische Verfahren, in Kombination mit Einzelsitzun- gen bei besonders ausgeprägter Symptomatik. Das Ge- fühl, mit der Störung nicht allein zu sein, sowie die Möglichkeit zum Modelllernen zählen zu den Vorteilen einer Gruppentherapie. Berücksichtigt werden sollte, dass die Betroffenen häufig die Tendenz zeigen, das pa- thologische Verhalten zu bagatellisieren oder bezüg- lich schambehafteter Themen (z. B. Schulden, Straffäl- ligkeit) nicht die „ganze Wahrheit“ zu sagen. Daher hilft insbesondere zu Beginn des therapeutischen Pro- zesses die Erhebung einer Fremdanamnese. Im weite- ren Verlauf der Therapie können die Angehörigen auch in den therapeutischen Prozess integriert werden, was sich besonders bei Jugendlichen als zielführend gezeigt hat. Darüber hinaus ist eine wertfreie, akzeptierende sowie wohlwollende Haltung gegenüber den Patienten wichtig, um eine vertrauensvolle Atmosphäre für kriti- sches Nachfragen und die Bearbeitung schambesetzter Themen zu schaffen. Merke Insbesondere hinsichtlich kognitiv-verhaltensthera- peutischer Interventionen und der Akzeptanz- und Commitment Therapie konnten in kontrollierten Stu- dien positive Effekte bzgl. einer Symptomreduktion nachgewiesen werden. Kognitive Verhaltenstherapie Die Inanspruchnahme einer Psychotherapie ist zu Be- ginn meist extrinsisch motiviert, z. B. aufgrund des Drängens von Familienangehörigen oder einer drohen- den Sanktion aufgrund von Straffälligkeit oder Ver- schuldung. Daher steht zu Beginn der Therapie die För- derung einer intrinsischen Änderungsmotivation. Die Förderung der Therapiemotivation kann durch psycho- edukative Maßnahmen über das Störungsbild und die therapeutischen Möglichkeiten unterstützt werden. Im weiteren Therapieverlauf können dann die bekann- ten verhaltenstherapeutischen Techniken der Selbstbe- obachtung, Verhaltensanalysen, kontextuelle Analy- sen, Stimuluskontrolle, kognitive Umstrukturierung und Exposition zur Anwendung kommen (s. Infobox). INFO Verhaltenstherapeutische Techniken in der Behandlung der dargestellten psychischen Störungen: ▪ Selbstbeobachtung Identifikation der Frequenz und Intensität der problemati- schen Verhaltensweisen, der begleitenden Gedanken und Gefühle sowie der Auslöser des Verhaltens. ▪ Verhaltensanalysen Erarbeitung der Zusammenhänge zwischen Auslösern des Verhaltens und dessen positiver und negativer Folgen (z. B. nach dem SORKC-Modell). ▪ Kontextuelle Analysen Identifikation übergeordneter Motive sowie biografischer und psychosozialer Aspekte. ▪ Stimuluskontrolle Identifikation störungsrelevanter Trigger und der Umgang mit diesen. ▪ Kognitive Umstrukturierung Wahrnehmung, Hinterfragen und Veränderung automati- sierter irrationaler Kognitionen. ▪ Exposition Konfrontation mit störungsrelevanten Triggern in vivo und Anwendung der erlernten Stimuluskontrollstrategien zur Stärkung der Selbstwirksamkeit. Turner Daniel et al. Impulskontrollstörungen, Verhaltenssüchte und … PSYCH up2date 2022; 16: 53–70 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 63

nungsverfahren und von Coping-Mechanismen bei einem Rückfall (z. B. Time-outs) [10]. Bisher existiert nur eine doppelblind-kontrollierte Stu- die zur Behandlung der intermittierend explosiblen Störung, in der eine Behandlung mit Fluoxetin bereits nach 2 Wochen zu einer stärkeren Reduktion aggressi- ver Verhaltensweisen führte im Vergleich zu Placebo [11]. Darüber hinaus gibt es positive Fallberichte be- züglich einer Reduktion aggressiven Verhaltens unter der Behandlung mit dem 5-HT2c-Agonisten Lorcaserin (20 mg/d). Außerdem können für die Behandlung im- pulsiv-aggressiven Verhaltens, ohne das zwangsläufig eine intermittierend explosible Störung vorliegt, noch Stimmungsstabilisierer und Antipsychotika empfohlen werden, wobei Letztere nur eine niedrige Effektstärke aufweisen und somit nicht als 1. Wahl angesehen wer- den sollten [12, 13]. Merke Aktuell können für die pharmakologische Behand- lung der intermittierend explosiblen Störung nur SSRIs empfohlen werden. Pathologisches Glücksspiel Psychotherapeutisch existieren mittlerweile ausrei- chend fundierte positive Ergebnisse bezüglich der Wirk- samkeit kognitiver Verhaltenstherapie. Hierbei führte die kognitive Verhaltenstherapie 3 Monate nach Been- digung der Therapie zu einer stärkeren Abnahme in der Symptomschwere (große Effektstärke, ES = –1,82) im Vergleich zu keiner Therapie. Darüber hinaus liegen po- sitive Befunde für das Motivational Interviewing vor, welches ebenfalls 3 Monate nach Beendigung der The- rapie zu geringeren finanziellen Verlusten auf Seiten der Patienten führte (mittlere Effektstärke, ES = –0,41) [14]. Bezüglich der pharmakologischen Behandlung des pa- thologischen Glücksspiels können folgende Substan- zen empfohlen werden: SSRIs, Opioid-Rezeptor-Anta- gonisten (z. B. Naltrexon) und Stimmungsstabilisatoren (z. B. Lithium oder Valproinsäure). Im Vergleich zu Placebo führen diese Substanzen ebenfalls zu einer signifikant stärkeren Abnahme der Symptomschwere nach Beendigung der Therapie (große Effektstärke, ES = 0–78) [15]. Merke Zur Behandlung des pathologischen Glücksspiels können SSRIs, Naltrexon und stimmungsstabilisie- rende Psychopharmaka empfohlen werden. Zwischen den einzelnen Substanzen fand sich kein Unterschied in der Wirksamkeit. Computer- und Videospielsucht Therapiestudien mit verschiedenen kognitiv-verhal- tenstherapeutischen Techniken konnten eine signifi- kante Abnahme in der Symptomintensität bei den The- rapieteilnehmern feststellen. Allerdings war die Symp- tomabnahme in der kognitiv-verhaltenstherapeuti- schen Intervention nicht größer als in den Vergleichs- gruppen (z. B. Psychoedukation). Erfolgsversprechend scheinen familientherapeutische Interventionen zu sein, dies insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Psychopharmakotherapeutisch wurden bisher haupt- sächlich Präparate untersucht, die ursprünglich zur Be- handlung von affektiven Störungen oder einer ADHS eingesetzt wurden. So führen sowohl Methylphenidat, Atomoxetin sowie Buproprion zu einer Abnahme in der Symptomschwere bei Jugendlichen. Hierbei zeigte sich Buproprion auch überlegen gegenüber Escitalopram. Pathologisches Kaufen Kognitive Verhaltenstherapie in der Gruppe führte im Vergleich zu einer Wartelistenkontrollgruppe mit einer hohen Effektstärke (ES = –1,51) zu einer signifikant stärkeren Reduktion in der Intensität der Impulse, ein- kaufen zu müssen – auch noch 6 Monate nach Beendi- gung der Therapie. Ähnlich gute Effekte wurden auch für eine interaktive Selbsthilfe gefunden, die durch ge- legentliche therapeutische Telefontermine unterstützt wurde [16]. Mittlerweile existiert mit dem „Stopping Overshopping Program“ auch ein spezifisch auf Patien- ten mit pathologischem Kaufverhalten zugeschnitte- nes Therapieprogramm, das Elemente aus der kogniti- ven Verhaltenstherapie, der ACT und psychodynami- sche Elemente vereint [17]. Auch SSRIs führen zu einer Abnahme in der Intensität des impulshaften Kaufverhaltens, zumindest existieren positive Befunde für Fluvoxamin und Citalopram [16]. Darüber hinaus existieren auch erste positive Befunde aus kleineren kontrollierten Studien für Memantine und Topiramat sowie für Fluoxetin, Buproprion, Nor- triptylin, Clomiparmin und Naltrexon aus Einzelfallstu- dien [16]. Trichotillomanie Insgesamt zeigen verschiedene Formen der Psychothe- rapie einen positiven Effekt auf die Schwere der Symp- tomatik im Vergleich zu einer Wartelistenkontrollgrup- pe (ES = 1,41). Die untersuchten Therapieprogramme umfassten das Habit Revearsal Learning, die ACT und die dialektisch-behaviorale Therapie. Hierbei hatte neben der Psychotherapie auch die Häufigkeit der wö- chentlichen Kontakte einen positiven Einfluss auf die Symptomintensität [18]. Turner Daniel et al. Impulskontrollstörungen, Verhaltenssüchte und … PSYCH up2date 2022; 16: 53–70 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 65

KERNAUSSAGEN ▪ Die Impulskontrollstörungen nach ICD-10 wer- den in DSM-5 und ICD-11 in die Impulskontroll- störungen im engeren Sinne, die nicht stoffge- bundenen Suchterkrankungen und die den Zwangsstörungen nahestehenden, körperbezo- genen impulsiven Verhaltensweisen aufgeteilt. ▪ Kernmerkmal aller Störungsbilder ist impulsives Verhalten, das nicht kontrolliert werden kann und das zu eigenem Schaden führt oder zur Schädigung anderer. ▪ Die Störungen beginnen mit wenigen Ausnah- men in der Jugend oder im jungen Erwachse- nenalter. ▪ Der Verlauf kann periodisch oder kontinuierlich chronisch sein. ▪ Psychotherapeutisch führen kognitiv-verhal- tenstherapeutische Verfahren zu einer signifi- kanten Symptomreduktion. Hierbei scheinen insbesondere die Akzeptanz- und Commitment- Therapie sowie das Motivational Interviewing einen positiven Einfluss auf die Symptom- schwere zu entfalten. Autorinnen/Autoren Daniel Turner Dr. rer. biol. hum. Dr. med. Daniel Turner ist Diplom-Psychologe und seit 2016 Assistenz- arzt an der Klinik für Psychiatrie und Psycho- therapie der Universitätsmedizin Mainz. Er leitet gemeinsam mit Prof. Tüscher die Am- bulanzen für Impulskontrollstörungen und für Sexuelle Gesundheit. Seit 2021 ist er Generalsekretär der International Association for the Treatment of Sexual Of- fenders (IATSO) und Mitherausgeber der Zeitschrift Sexual Offender Treatment. Oliver Tüscher Prof. Dr. med. Oliver Tüscher ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und für Neu- rologie und ist stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz. Seit 2016 hat er eine Professur für Klinische Resilienzfor- schung inne und ist seit 2020 AG-Leiter am Leibniz-Institut für Resilienzforschung Mainz. Wissenschaftlicher Schwer- punkt ist die Neurobiologie der Impulskontrolle. ▪ Die Psychotherapie sollte im Gruppensetting Korrespondenzadresse durchgeführt werden. Auch familientherapeu- tische Verfahren eignen sich, insbesondere bei jugendlichen Patienten. ▪ Pharmakologisch sind SSRIs, Opioid-Antagonis- ten und Stimmungsstabilisatoren Medikamente der ersten Wahl, allerdings bestehen zwischen den einzelnen Störungsbildern deutliche Unter- schiede hinsichtlich deren Wirksamkeit. Prof. Dr. med. Oliver Tüscher Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Mainz Untere Zahlbacher Str. 8 55131 Mainz Deutschland Oliver.Tuescher@unimedizin-mainz.de Interessenkonflikt Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Be- rater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an im Bereich der Medizin aktiven Firma: nein; Pa- tent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an zu Sponsoren dieser Fortbildung bzw. durch die Fortbildung in ihren Geschäftsinteressen berührten Firma: nein Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht. Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbe- stimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Oliver Tüscher, Mainz. Literatur [1] American Psychiatric Association (APA). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5). Arlington: American Psychiatric Publishing; 2013 [2] World Health Organization (WHO). International Classifica- tion of Diseases (ICD-11). 2018: doi: 10.1111/all.14468 [3] Turner D, Briken P. Wenn unkontrollierbares sexuelles Ver- halten negative Folgen hat. Diagnostik und Therapie der hypersexuellen Störung. InFo Neurol Psychiatr 2017; 19: 28–36 [4] Lorains FK, Cowlishaw S, Thomas SA. Prevalence of comor- bid disorders in problem and pathological gambling: systematic review and meta-analysis of population surveys. Addiction 2011; 106: 490–498 doi: 10.1111/j.1360- 0443.2010.03300.x Turner Daniel et al. Impulskontrollstörungen, Verhaltenssüchte und … PSYCH up2date 2022; 16: 53–70 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 67

Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Unter https://eref.thieme.de/CXETUNE oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests und zum Artikel Sie finden dort auch den genauen Einsendeschluss. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführ- liche Anleitung. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! VNR 2760512022161725595 Frage 1 Welche Aussage ist falsch? A Haareausreißen wird von den Betroffenen i. d. R. als ich- dyston erlebt. B Unter den „Brandstiftern“ in forensisch-psychiatrischen Kliniken findet man häufig die Diagnose Pyromanie. C Die zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung beginnt meist später als die anderen Impulskontrollstörungen. D Von der Dermatillomanie sind mehr Frauen als Männer betroffen. E Das pathologische Glückspiel findet man in der ICD-11 bei den nicht stoffgebundenen Suchterkrankungen. Frage 2 Welche Störung stellt weder im DSM-5 noch in der ICD-11 eine eigene diagnostische Entität dar? Pyromanie Computer- und Videospielsucht A Kleptomanie B C D pathologisches Kaufen E zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung Frage 3 Welche Aussage ist richtig? A Die narzisstische Persönlichkeitsstörung ist eine wichtige Differenzialdiagnose des zwanghaften Sexualverhaltens. B Unter einer Therapie mit Dopamin-Antagonisten lässt sich C häufig impulsives Verhalten beobachten. Psychodynamische Interventionen weisen die höchsten Effektstärken bezüglich einer Symptomreduktion bei den Patienten auf. D Trizyklische Antidepressiva sind Psychopharmaka der 1. Wahl in der Behandlung der Kleptomanie. E Nach traumatischen Hirnläsionen finden sich gehäuft impulsive Verhaltensweisen. Frage 4 Welche Störung gehört nicht zu den Impulskontrollstörungen in der ICD-11? Computer- und Videospielsucht intermittierend explosible Störung A Pyromanie B C D zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung E Kleptomanie Frage 5 Welche Aussage ist richtig? A Die zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung stellt einen wesentlichen Risikofaktor für die Begehung einer Sexual- straftat dar. Patienten mit einer Pyromanie ängstigen sich vor Feuer. Patienten mit einer Kleptomanie stehlen häufig unsinnige Dinge. B C D Viele professionelle Poker-Spieler leiden an einer Glücks- spielsucht. E Die Verhaltenssüchte beginnen i. d. R. deutlich später als die Impulskontrollstörungen. Frage 6 Welche Erkrankung stellt keine Differenzialdiagnose einer Dermatillomanie dar? A Skabies B Urämie C D Kokainabhängigkeit zerebrale Ischämie E atopisches Ekzem Turner Daniel et al. Impulskontrollstörungen, Verhaltenssüchte und … PSYCH up2date 2022; 16: 53–70 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 69

Einfach faszinierend: Neuropsychologische Psychotherapie Mit einem Abo verpassen Sie keine Ausgabe und haben Online-Zugriff auf alle PiD-Hefte. Ein Thema – viele Perspektiven Das Fachgebiet der Neuropsychologie hat sich in den letzten Jahren zügig weiterentwickelt und etabliert – und in der Muster-Weiterbildungsordnung für Psychotherapeut*innen wurde die Neuropsychologische Psychotherapie jüngst sogar als drittes eigenständiges Gebiet eingeführt. Aber was ist unter Neuropsychologischer Psychotherapie genau zu verstehen und in welchen Arbeitsfeldern, Versorgungsbereichen und Behandlungssettings sind Neuropsycholog*innen tätig? PiD informiert und bietet einen Überblick über das faszinierende und ungemein vielfältige neue Fachgebiet. Nutzen Sie die Vielfalt an Wissen und Erfahrung, um sich Anregungen für Ihre Praxis zu holen – u.a. zu den folgenden Themen: • Neuropsychologische Psychotherapie – ein Überblick über therapeutische Ansätze • Diagnostik und Behandlung von Demenzsyndromen: ein Kerngebiet der Klinischen Neuropsychologie • Neuropsychologische Störungsbilder • Stimulationsverfahren und Neurofeedback: neue Möglichkeiten zur Therapie und Rehabilitation • Neuropsychologische Diagnostik: von Tests bis zur Evaluation • Neuropsychologische Versorgung im deutschsprachigen Raum • Längerfristige Folgen neuropsychologischer Störungen im Kindes- und Jugendalter • Komorbide psychische Störungen bei Personen mit erworbenen Hirnschädigungen • Neuropsychologische Symptome bei psychischen Erkrankungen • Die Begutachtung des leichten Schädelhirntraumas • Belastungen, Herausforderungen und Unterstützungsmöglichkeiten der Angehörigen von Menschen mit erworbenen, nicht-degenerativen Hirnverletzungen • Therapeutische Beziehung in der Neuropsychologie: Gemeinsamkeiten und Besonderheiten • Psychopharmakotherapie bei Patienten mit neuropsychologischen Beeinträchtigungen Psychotherapie im Dialog Neuropsychologie 2021. 1. Aufl. 110 S., 25 Abb., kart. ISBN 978 3 13 244357 0 49,00 € [D] 50,40 € [A] Jetzt zum Einstiegspreis abonnieren. www.thieme.de/pid . o t o h p k c o t S – m o c . e b o d a . k c o t s – d o v o s © o t o F l . 9 9 4 3 A R H , t r a g t t u t S r e t s i g e r s l e d n a H d n u - z t i S , G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . t e n h c e r e b r e t i e w n e t s o k d n a s r e V n e d n e l l i a f n a e d n e d r e w ] D l [ b a h r e ß u a n e g n u r e f e i L i e B . n e t l a h e b r o v r e m ü t r r I d n u n e g n u r e d n ä s i e r P

PSYCH up2date 1 · 2022 Störungsübergreifende Themen und Methoden 8 Gemeindepsychiatrie Raoul Borbé VNR: 2760512022161725587 DOI: 10.1055/a-1428-4361 PSYCH up2date 2022; 16 (1): 73–90 ISSN 2194-8895 © 2022. Thieme. All rights reserved. Thieme

CME-Fortbildung Gemeindepsychiatrie Raoul Borbé Gemeindepsychiatrie ist essenzieller Teil der klinischen Arbeit, insbesondere bei der Behandlung schwerer psychischer Störungen, die die Betroffenen in ihren Teilhabechancen einschränken. Ohne Vernetzung in die Gemeinde können hier keine tragfähigen, langfristigen Perspektiven eröffnet werden, da der Krank- heitsverlauf häufig mit einem Verlust des Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes ein- hergeht, häufig neuer Wohnraum gesucht werden muss und Unterstützungsbe- darf bei der Tagesstrukturierung besteht. Einleitung Gemeindepsychiatrie ist im klinischen Alltag wenig präsent, nur ein Teil der dort behandelten Patienten bedürfen einer Weiterversorgung in der Gemeindepsy- chiatrie. Die Bedeutung der Gemeindepsychiatrie für diese Patienten ist aber erheblich, da es sich um jene handelt, die noch vor einem halben Jahrhundert meh- rere Jahre, manchmal den Rest ihres Lebens in „Psychi- atrischen Anstalten“ verbracht haben. Seitdem hat sich viel getan in der psychiatrischen Versorgungsland- schaft und immer noch bedürfen diese Patienten in kri- senhaften Situationen zur Akutbehandlung einer er- neuten Phase, eines Rezidivs, der Klinik. Hauptmittel- punkt des Lebens soll aber auf Dauer das Lebensfeld des Patienten sein, in dem er möglichst gleichberech- tigt an der Gesellschaft teilhaben soll. Dies ist bei dem Schweregrad der psychischen Störung mancher Patien- ten nur durch niederschwellige aufsuchende Arbeit eines multidisziplinären Teams, Vernetzung aller Betei- ligten einschließlich des Lebensumfelds und Beachtung der individuellen Bedürfnisse im Rahmen einer perso- nenzentrierten Hilfeplanung möglich. Und nicht immer gelingt das und es bleibt nur die basale Sicherung des Überlebens. Der historische Hintergrund der Gemeindepsychiatrie und ihr Verhältnis zur Sozialpsychiatrie sollen beleuch- tet werden. Gesetzliche Grundlagen und Psychiatrie- politik sollen erläutert werden. Strukturen und Arbeits- weisen der gemeindepsychiatrischen Versorgung wer- den dargestellt. Definition der Gemeindepsychiatrie Gemeindepsychiatrie wird häufig in Abgrenzung zur Sozialpsychiatrie definiert, weil beide Begriffe nicht trennscharf sind. Historisch betrachtet ist Gemeinde- psychiatrie heute der Teil des psychiatrischen Versor- gungssystems, der sich nach den Psychiatriereformen außerhalb der Psychiatrischen Kliniken entwickelt hat. Etwa 50 Jahre früher kam der Begriff der Sozialpsychia- trie erstmals auf und wurde zu einer wissenschaftlichen Disziplin, einer politischen Bewegung und einer thera- peutischen und unterstützenden Praxis [1]. Die Sozial- psychiatrie war mit ihren Ideen, soziale Faktoren für die Entstehung psychischer Störungen zu untersuchen und soziale Folgen psychischer Störungen therapeutisch anzugehen, im Sinne eines theoretischen Überbaus Wegbereiter der Gemeindepsychiatrie. Gemeindepsychiatrie kann man daher auch als prakti- zierte Sozialpsychiatrie beschreiben. Räumlich betrachtet begann Gemeindepsychiatrie au- ßerhalb der Klinikmauern, mittlerweile verstehen sich aber viele Kliniken als Teil des gemeindepsychiatri- schen Versorgungssystems. ABKÜR ZUNGEN ACT APK BGB BTHG GPV IBB IBRP ICF ICHI Assertive Community Treatment Aktion Psychisch Kranke e. V. Bürgerliches Gesetzbuch Bundesteilhabegesetz Gemeindepsychiatrischer Verbund Integrierte Beratungs- und Beschwerdestelle Integrierter Behandlungs- und Rehabilitationsplan International Classification of Functioning Internationale Klassifikation der Gesundheitsinter- ventionen Sozialpsychiatrischer Dienst Stationsäquivalente Behandlung Therapeutische Wohngruppen SpDi StäB TWG UN-BRK UN-Behindertenrechtskonvention WfbM Werkstätten für behinderte Menschen Borbé Raoul. Gemeindepsychiatrie … PSYCH up2date 2022; 16: 73–90 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 75

FALLBEISPIEL 2 Ein 26-jähriger Suchpatient wird nach 12-mona- tiger Haft am Entlasstag rückfällig und erstmalig in einer Psychiatrischen Klinik aufgenommen. In den folgenden 5 Jahren kommt es zunächst zu mehrmaligen Aufnahmen pro Jahr, die nur weni- ge Tage dauern. Der Patient wohnt wechselweise in Notunterkünften und bei ebenfalls abhängigen Freunden. Dann kommt es zum ersten längeren, 3-monatigen Aufenthalt, in dem neben der suchtspezifischen Therapie auch erhebliche De- fizite kognitiver Grundfunktionen festgestellt werden. Nach spezifischem arbeitstherapeuti- schem Training gelingt es, eine Dauerbeschäfti- gung in einer Werkstätte für behinderte Men- schen (WfbM) zu etablieren, er bezieht ein Zim- mer im Männerwohnheim. In 2 weiteren länge- ren Aufenthalten wurde noch eine psychotische Störung diagnostiziert und eine antipsychotische Medikation etabliert. In den folgenden 3 Jahren erfolgen erneut rezidivierende kurze Krisenauf- nahmen, bis es schließlich gelingt, dem Patien- ten über die Hilfeplankonferenz einen Platz im stationär betreuten Wohnen zu vermitteln. Am- bulant erfolgt die Betreuung durch die Instituts- ambulanz, er geht regelmäßig in die WfbM, die Rückfälle sind deutlich seltener geworden. FALLBEISPIEL 3 Eine 58-jährige Patientin wird in der Hilfeplankonferenz vor- gestellt. Vor 32 Jahren war sie nach einer einmaligen floriden paranoiden Psychose in das betreute Wohnen gekommen, wo sie allerdings nur 2 Jahre verbrachte, da sie aufgrund der chro- nisch-progredienten Negativsymptomatik bei der geringen Betreuungsintensität immer wieder Schwierigkeiten in der Selbstversorgung hatte. Das Knüpfen sozialer Kontakte fiel ihr auch sehr schwer, sodass sie kaum Freizeitaktivitäten wahr- nahm, was den Rückzug noch verstärkte und das Selbstwert- gefühl weiter schwächte. Zunächst war eine Kriseninterventi- on in der Psychiatrischen Klinik angedacht, dann erfolgte da- mals über die Hilfeplankonferenz die Genehmigung eines Platzes in der Psychiatrischen Familienpflege. Innerhalb eines Jahres änderte sich das Verhalten der Patientin grundlegend. Über eine ambulante Ergotherapie wurde ein WfbM-Platz ge- funden in einer Kreativwerkstatt. Dies und die regelmäßige Teilnahme an Freizeitangeboten, u. a. einer gemischten Thea- tergruppe, führten zu einer anhaltenden Stabilisierung, sodass die ambulante Betreuung über einen niedergelassenen Ner- venarzt durchweg ausreichend war. Nachdem nun die Pflege- mutter gestorben war und der Pflegevater, selbst auch ge- sundheitlich sehr angeschlagen, mittelfristig in ein Pflegeheim ziehen möchte, wird für die Patientin nun ein Platz in einer intensiver betreuten Wohnform gesucht. in Wien. Einzig im belgischen Geel gab es die Psychi- atrische Familienpflege schon seit dem 13. Jahrhundert [4]. Bis zu 4000 Menschen mit psychischen Störungen wurden dort gleichzeitig in Pflegefamilien betreut. Heute liegt diese Zahl bei 500, bei einer Einwohnerzahl von knapp 40 000. Die WHO beschreibt Geel als eines der besten Beispiele dafür, wie eine Gemeinde als Gan- zes Pflege psychisch kranker Menschen realisieren kann. Im Zuge der Aufklärung kam es europaweit zu einer Be- wegung, die die reine Verwahrung von Menschen mit auffälligem Verhalten infrage stellte, was schließlich in der Befreiung der Irren von ihren Ketten kulminierte. Ikonografisch steht dafür der französische Arzt Philippe Pinel (1745–1826), der in Paris und Frankreich eine grundlegende Reform der Irrenanstalten anstieß. Maß- geblich dafür waren seine und die Arbeiten seines Schülers Jean Étienne Esquirol zur Beschreibung psy- chischer Störungen, die nun eine Diagnose erlaubten und aus dem „Irren“ einen Patienten machten, für den ein Versorgungsangebot geschaffen werden musste. Im frühen 19. Jahrhundert hatte die Entwicklung des medizinischen Fachgebiets der Psychiatrie in der Folge zum Entstehen großer Anstalten geführt, die häufig entfernt von städtischen Ballungsräumen etabliert wurden [5]. Auch in dieser Zeit wurde schon erkannt, dass die Teilhabe am Arbeitsleben, das Angebot von Freizeitaktivitäten und der Einbezug familiärer Struktu- ren einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung nach akuten Krankheitsphasen und zur Rezidivprophylaxe leisten können. Max Fischer prägte 1919 die Feststel- lung „ohne soziale Psychiatrie keine Psychiatrie“ [6], unterstrich damit die Bedeutung des Sozialen, d. h. auch des Lebensfelds von Menschen mit psychischen Störungen, und forderte dazu auf, auf dieses Einfluss zu nehmen im Sinne einer sozialen Hygiene und allge- meinen Wohlfahrtspflege. Entsprechende Strukturen bildeten sich aber nicht flächendeckend heraus und la- gen eben meist fernab der Gemeinden, da sie innerhalb der Anstalten angeboten wurden. Die Überfüllung der Kliniken, der zunehmende Einfluss der Sozialwissen- schaften auf die Psychiatrie und die politische Rezep- tion der Problemlage führte schließlich dazu, dass in vielen Ländern Kommissionen oder Untersuchungsaus- schüsse gebildet wurden, die Vorschläge zur Reform des psychiatrischen Versorgungssystems vorlegten. Borbé Raoul. Gemeindepsychiatrie … PSYCH up2date 2022; 16: 73–90 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 77

nächst politische und sozialrechtliche Einflüsse auf das Versorgungssystem für Menschen mit psychischen Stö- rungen. Sozialrechtliche und psychiatrie- politische Grundlagen Die Beschäftigung mit dem Sozialrecht zählt nicht zu den primären Interessensfeldern oder gar den Kern- kompetenzen von angehenden Psychiatern. Wenn überhaupt, würde in der klinischen Ausbildung das So- zialgesetzbuch V von Bedeutung sein, das die Behand- lung akuter Erkrankungen umfasst. Viel wichtiger er- scheint aber im klinischen Alltag die Unterweisung in das Unterbringungs- und Betreuungsrecht. Darüber hinaus können für gutachterliche Tätigkeiten auch das Strafrecht und das Sozialrecht zentral sein. Für die ge- meindepsychiatrische Arbeit mit Erwachsenen sind die in ▶ Tab. 1 aufgeführten Sozialgesetzbücher von wich- tiger Bedeutung. Psychiatriepolitik ist in Deutschland weitestgehend Län- dersache. Der Bund regelt den gesetzlichen Rahmen in den Sozialgesetzbüchern und das Betreuungsrecht im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). In den Ländern regeln die Psychisch-Kranken-(Hilfe)-Gesetze die Aufgaben und Strukturen der psychiatrischen Versorgung vor Ort. Beispielhaft kann man hier Sozialpsychiatrische Dienste nennen. Diese wurden in den 1960er-Jahren in Berlin und Nordrhein-Westfalen als aufsuchende wohnortna- he ambulante Dienste etabliert. Alle anderen Bundes- länder folgten, auch weil die Experten-Kommission der Bundesregierung 1988 Sozialpsychiatrische Diens- te als Bestandteil gemeindepsychiatrischer Verbünde beschrieb [11]. Die Ausgestaltung, was das Aufgaben- spektrum und die Organisationsprinzipien betrifft, er- folgt aber auf Länderebene. So ist der Sozialpsychiatri- sche Dienst (SpDi) in manchen Bundesländern dem öf- fentlichen Gesundheitsdienst zugeordnet, hat hoheit- liche Aufgaben wie die Zwangseinweisung in die Klinik und wird in der Regel ärztlich geleitet. In anderen Bun- desländern wie in Baden-Württemberg werden die SpDi je nach Land- und Stadtkreis durch unterschied- liche Träger gestellt und umfassen vor allem Sozial- pädagogen als Berufsgruppe. Diese Vielfalt setzt sich in anderen Bereichen fort, so- dass jeder Land- und Stadtkreis quasi ein eigenes Versor- gungssystem darstellt und eine kreisübergreifende Hil- feplanung dadurch erschwert wird, beispielsweise, wenn ein Betroffener über eine größere Distanz umzie- hen will. Die Kostenträgerschaft verbliebe dann beim Herkunftskreis, die Hilfeplanung beträfe aber den neu- en Wohnort. ▶ Tab. 1 Übersicht Sozialgesetzbücher und Leistungsträger. Sozialgesetzbuch Leistungsträger SGB II Grundsicherung für Er- werbsfähige (Hartz IV) Bundesagentur für Arbeit SGB III Arbeitsförderung Bundesagentur für Arbeit SGB V Gesetzliche Krankenversi- cherung SGB VI Gesetzliche Rentenversi- cherung Gesetzliche Krankenversicherung Gesetzliche Rentenversicherung SGB IX Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen * SGB XI Soziale Pflegeversicherung Pflegekassen SGB XII Sozialhilfe Träger der Sozialhilfe * Im SGB IX gibt es mehrere Leistungsträger. Leistungen zur Teilhabe sind durch den Träger der Eingliederungshilfe finanziert. Komplizierter wird es bei Leistungen zur Rehabilitation: Unfallversicherungsträger sind bei Arbeitsunfällen, Wegeunfäl- len und anerkannten Berufskrankheiten zuständig. Für alle anderen Fälle sind Ren- tenversicherungsträger vorrangig vor dem Krankenversicherungsträger zuständig, wenn die Voraussetzungen vorliegen. Wenn diese für beide Träger nicht erfüllt sind, könnte noch die Bundesagentur für Arbeit zuständig sein. Die Träger der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe sind allen Trägern nachrangig. Angesichts dieser Trägervielfalt gibt es ein abgestimmtes Verfahren zur Klärung der Zuständigkeit, was weiter unten für das Teilhabeplanverfahren genauer erläutert wird. UN-Behindertenrechtskonvention Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wurde 2006 von den Vereinten Nationen verabschiedet, 2007 von der Bundesrepublik ratifiziert und trat im Jahr 2009 in Kraft. Die UN-BRK formuliert keine Sonderrechte, sondern konkretisiert die Rechte von Menschen mit Behinde- rung vor dem Hintergrund der allgemein gültigen Men- schenrechte. Merke Damit geht ein neuer Behinderungsbegriff einher: Behinderung entsteht „aus der Wechselwirkung zwi- schen Menschen mit Beeinträchtigungen und ein- stellungs- und umweltbedingten Barrieren“ [12]. Es sollen daher keine Sonderbereiche geschaffen, son- dern die Umwelt, die Gemeinde so verändert werden, dass Behinderte trotz ihrer Einschränkungen am Leben in der Gemeinschaft teilhaben können. Dies bedeutet eine Abkehr von einer Defizit-orientierten hin zu einer Ressourcen-orientierten Behindertenpolitik. Borbé Raoul. Gemeindepsychiatrie … PSYCH up2date 2022; 16: 73–90 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 79

ZUSATZINFO Bundesteilhabegesetz „Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnes- beeinträchtigungen haben, die sie in Wechsel- wirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“ (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Das BTHG hat auch die Hilfeplanung neu geregelt. Um möglichst „Leistungen wie aus einer Hand“ gewähren zu können und für den Betroffenen einen „Gang durch die Institutionen“ zu vermeiden, wurde im Gesetz ver- bindlich festgelegt, wie das Teilhabeplanverfahren zu erfolgen hat. Durch enge Fristen sollte eine zeitliche Verzögerung, wie sie im bisherigen Alltag der Leis- tungsbeantragung nicht selten war, ausgeschlossen sein. Für alle Rehabilitationsträger gilt das gleiche Ver- fahren [15]: 1. Die Klärung, welcher Rehabilitationsträger zustän- dig ist, muss auch bei Beteiligung mehrerer Träger nach 6 Wochen abgeschlossen sein. Wenn die Frist überschritten ist, gilt die beantragte Leistung als genehmigt. 2. Bei der Bedarfsermittlung ist zunächst zu prüfen, ob eine Behinderung vorliegt oder einzutreten droht und welche Auswirkungen diese hat. Dann sind die Ziele zu formulieren und die Leistungen zur Teilhabe konkret zu benennen. Grundlage dieses Schrittes ist ein ICF-basiertes Bedarfsermittlungsinstrument. 3. Im letzten Schritt muss ein Teilhabeplan oder Ge- samtplan erstellt werden, dies in Abhängigkeit, welche Leistungsträger beteiligt sind. Der Betroffene hat grundsätzlich ein Wunsch- und Wahlrecht, das aber in der Praxis eingeschränkt sein kann durch eine beschränkte Auswahl an Leistungen. Zudem gilt auch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Die Leistungserbringung folgt normalerweise dem Sachleistungsprinzip, d. h. der Betroffene erhält vom Leistungserbringer eine Sachleistung, die vom Leis- tungsträger (d. h. dem Kostenträger) diesem erstattet wird. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dem Betroffe- nen Geldleistungen zur Verfügung zu stellen. Eine be- sondere Form ist das persönliche Budget, das alle Teilha- beleistungen einer betroffenen Person umfasst und dieser als Geldbetrag zur Verfügung gestellt wird. Die entsprechenden Leistungen organisiert sie sich dann selbst. HINTERGRUND Exkurs: Chancen und Risiken des Bundesteilhabegesetzes Das BTHG wird zurecht als eine der größten Reformen des So- zialrechts bezeichnet und birgt auch, wie weiter unten noch ausgeführt wird, große Chancen, das Leistungsgeschehen im Sinne des personenzentrierten Ansatzes individueller zu ge- stalten. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass individuelle Lösungen, die häufig eine besondere Finanzierung erfordern, an eben diesen scheitern. Der Gesetzgeber hat für die Umset- zung des BTHG grundsätzlich Kostenneutralität angemahnt, wenngleich dies kaum eingehalten werden kann, auch durch die Schaffung zusätzlicher Stellen für Fallmanager in den Ver- waltungsbehörden. Am Ende könnte dies aber bedeuten, dass auf Seite der Leistungsempfänger gespart werden muss. Mit diesem Beispiel vor Augen soll nochmals auf die Bedeutung der Politik für eine gelingende psychiatrische Versorgung hin- gewiesen werden. Der renommierte australische Psychiater Assen Jablensky formulierte das so: „Das Ausmaß, in dem die Patienten durch aktuelle Ansätze in der Versorgung psychisch Kranker profitieren werden, ist nicht so sehr von der Psychia- trie als medizinischer Disziplin abhängig, sondern von den Wahrnehmungen und Handlungen der Politik.“ ([16], eigene Übersetzung) Strukturen und Funktionen der Gemeindepsychiatrie Über die letzten fast 50 Jahre nach dem Abschlussbe- richt der Psychiatrie-Enquete hat sich ein differenzier- tes System an gemeindepsychiatrischen Angeboten in Deutschland entwickelt. Die Verteilung dieser Angebo- te ist allerdings sehr heterogen. Träger gemeindepsychiatrischer Angebote sind meist Organisationen, Einrichtungen und Initiativen der frei- en Wohlfahrtspflege, sowohl nicht konfessionelle als auch kirchliche Träger. Viele kleinere und mittelgroße Einrichtungen sind als Vereinsgründungen im Zuge der Psychiatriereform entstanden, nicht selten durch engagierte Psychiater aus den Kliniken heraus. In eini- gen Bundesländern betreiben Psychiatrische Kliniken selbst gemeindepsychiatrische Angebote, von betreu- ten Wohnformen bis hin zu Werkstätten und beruf- lichen Qualifizierungsangeboten. In der Gemeindepsy- chiatrie arbeiten verschiedene Berufsgruppen, deren Verteilung sich gänzlich anders als in der Klinik dar- stellt. Sozialpädagogen, Heilpädagogen und Pflege- kräfte stellen den größten Anteil. Schauen wir uns zunächst aus Sicht der Patienten eine idealtypische Versorgungsmatrix an (▶ Abb. 1). Diese geht über rein gemeindepsychiatrische Angebote hi- naus und umfasst jegliche Versorgungsbereiche. Sie ist angelehnt an das „Funktionale Basismodell der ge- Borbé Raoul. Gemeindepsychiatrie … PSYCH up2date 2022; 16: 73–90 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 81

Defizite, Ressourcen und Interventionen umfassend abbildet [19]. Eine gemeinsame Verständigung über Ressourcen und Defizite ermöglicht eine gezieltere, in- dividuelle Hilfeplanung. Die ICF basiert in ihrer Grund- struktur auf dem biopsychosozialen Krankheitsmodell. Die ICF umfasst folgende Komponenten: ▪ Körperfunktion und Körperstrukturen: beschreiben Funktionen und Strukturen anhand der Organsyste- me. Im Bereich des Nervensystems bspw. spezifi- sche mentale Funktionen in Analogie zum psy- chischen Befund (u. a. Gedächtnis, Emotionen, Wahrnehmung). ▪ Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe): beschrei- ben die Person in ihrem aktiven Handeln, alleine und in gesellschaftlichen Bezügen und damit auch in ihren Teilhabechancen bzw. -defiziten. ▪ Umweltfaktoren: beschreiben externe Einflüsse auf den Betroffenen, z. B. die Wohnumgebung (Nähe zu öffentlichen Verkehrsmitteln, Naherholungsgebiete usw.), das Netzwerk von Unterstützern und perso- nelle Beziehungen, aber auch gesellschaftliche Werte (Vorurteile gegenüber Behinderten u. a.). ▪ Personenbezogene Kontextfaktoren: Hier werden Eigenschaften der betroffenen Person beschrieben, aber auch erlernte Faktoren wie die Schuldbildung. Folgende Bereiche der Aktivitäten und Partizipation werden abgedeckt: ▪ Lernen und Wissensanwendung, ▪ allgemeine Aufgaben und Anforderungen, ▪ Kommunikation, ▪ Mobilität, ▪ Selbstversorgung, ▪ häusliches Leben, ▪ interpersonelle Interaktion und Beziehungen, ▪ bedeutende Lebensbereiche, ▪ Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben. Mit Bezug auf die Aktivitäten wird zwischen Capacity und Performance unterschieden, also das, was eine Per- son tun könnte und was sie tatsächlich tut. Ersteres be- schreibt die Leistungsfähigkeit, zweiteres wird durch die Motivationslage maßgeblich beeinflusst, betrifft die Arbeit mit Betroffenen in jedem Setting und ist von hoher Bedeutung für die Planung einer gezielten Förderung. Steuerungsfunktion Der Fallsteuerung kommt eine zentrale Rolle zu, da es im Versorgungssystem immer wieder zu Wechseln des Personals, der Zuständigkeit und des Behandlungsset- tings sowie zu Behandlungsabbrüchen kommt. Dies zeigt, dass auch in einem idealen Versorgungssystem die Behandlungskontinuität kaum durchgehalten wer- den kann, wenngleich sie neben der Beziehungsarbeit ZUSATZINFO Exkurs: Beziehungsarbeit/Behandlungskontinuität Der gelingende Aufbau einer Beziehung erfordert gerade in der aufsuchenden gemeindepsychiatrischen Arbeit Durchhal- tevermögen, da man initial nicht immer bekannt ist mit dem Patienten: „Durch vorsichtiges Herantasten ist das richtige Maß an emotionaler Nähe und professioneller Distanz heraus- zufinden; ein erstes Gespräch kann 5 Minuten dauern und im Türspalt stattfinden.“ [20] Neben der Fähigkeit, sich auf indi- viduelle Lebenslagen und Bedürfnisse einzustellen, um den Patienten „dort abzuholen, wo er sich gerade befindet“, ist der Faktor Zeit von großer Bedeutung. Da es immer wieder zu Be- ziehungsabbrüchen kommen kann, ist es für die Behandlungs- kontinuität sehr wichtig, ein einheitliches Dokumentations- system zu verwenden und in Teams zu arbeiten, sodass die Leistung „wie aus einer Hand“ erbracht wird. als ein Kernkriterium gelingenden gemeindepsychiatri- schen Arbeitens gilt. In Abb. 1 ist Steuerung als Funk- tion angegeben. Diese kann durch verschiedene Be- rufsgruppen wahrgenommen werden und wird unter- schiedlich benannt, koordinierende Bezugsperson, Lotse, Case-Manager usw. Auch gesetzliche Betreuer können diese Funktion wahrnehmen. Eine saubere Be- griffstrennung ist hier nicht möglich, daher ist es wich- tiger, die Funktion genau zu beschreiben und ihren Stellenwert in einem lokalen Versorgungssystem ge- nau zu definieren. Systemisches Arbeiten hat sich in der Gemeindepsychia- trie bewährt, da es den Betroffenen in seinen lebens- feldnahen Bezügen betrachtet, Netzwerkarbeit leistet und bedürfnisorientiert vorgeht. Auch akute auf- suchende Interventionen wie „Need-Adapted-Treat- ment“, in Finnland entwickelt, oder die Stationsäquiva- lente Behandlung (StäB), orientieren sich an der syste- mischen Therapie. Die systemische Psychotherapie ist seit 2019 als Richtlinienpsychotherapie und als Leis- tung der GKV anerkannt. Wohnen Man unterschied bisher Wohnangebote, bei denen eine Betreuungsperson stundenweise in die Wohnung des Patienten kommt, von solchen, bei denen immer eine Fachkraft anwesend ist: ambulant betreutes Wohnen und stationär betreutes Wohnen, letzteres meist im Rahmen eines Heimes. Es gibt aber auch dezentrale stationär betreute Wohnformen, meist Wohngemein- schaften. Das Bundesteilhabegesetz unterscheidet nun das ambulant betreute Wohnen, bei dem der Be- troffene selbst Mieter sein sollte und die Fachleistung von einem entsprechenden Dienst erbracht wird, von den besonderen (stationären) Wohnformen, bei denen Borbé Raoul. Gemeindepsychiatrie … PSYCH up2date 2022; 16: 73–90 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 83

ser Rehabilitationsform, was den Übergang auf den ers- ten Arbeitsmarkt angeht. Soziale Teilhabe/Tagesstruktur Werden die Voraussetzungen zur Aufnahme in eine WfbM nicht erfüllt, bieten Tages(förder)stätten die Mög- lichkeit einer basalen Betreuung und Förderung. Diese sind häufig räumlich einer WfbM zugeordnet oder einer ambulanten Ergotherapie, was eine weitere Maßnahme ist, um eine Tagesstruktur zu etablieren. In solchen Ein- richtungen haben Betroffene auch die Möglichkeit einer Sozialberatung, können dort essen und an den Freizeitangeboten partizipieren. Tagesstruktur kann aber auch über inklusive Angebote realisiert werden, die nicht Menschen mit psychischer Störung vorbehalten sind, sondern im Gegenteil be- wusst Angebote für die ganze Bevölkerung vorhalten, z. B. kunsttherapeutische Ateliers. Assistenzleistungen Individuelle Leistungen für Betroffene wurden bisher in Leistungspaketen, z. B. im Rahmen des ambulant be- treuten Wohnens, erbracht. Auch hier konnten schon individuelle Leistungen, entsprechend den Wünschen und dem Bedarf, erbracht werden. Die Steuerung war aber letztlich dem Leistungserbringer überlassen und die Leistung, wenn man sie zusätzlich erbracht hat, möglicherweise unter- oder nicht finanziert, weil nicht vorgesehen. Assistenzleistungen nach § 78 SGB IX bieten nun die Möglichkeit, zusätzliche Leistungen bei entsprechen- den Teilhabebedarfen zur erbringen. Dies ist ein weite- rer Schritt in der Umsetzung des personenzentrierten Ansatzes. Wie dies bei angedachter Kostenneutralität umgesetzt werden soll, werden die nächsten Jahre zei- gen. Im Sinne der Betroffenen sollte aber jeder Teil- habebedarf, der noch nicht gedeckt ist oder neu hinzu- gekommen ist, Auslöser eines neuen Bedarfsermitt- lungsverfahrens sein. Empowerment und Recovery Diese beiden Begriffe sind „Haltung, Prozess und politi- sches Programm“ [20]. Sie drücken den Anspruch der Psychiatrieerfahrenen aus, nicht nur dabei zu sein, qua- si integriert, sondern vollumfänglich auch in Entschei- dungsprozesse eingebunden zu werden: ▪ Empowerment bildet den persönlichen und struktu- rellen Anspruch Psychiatrieerfahrener ab, ernst ge- nommen zu werden, Entscheidungen selbst zu tref- fen bzw. an politischen Entscheidungen beteiligt zu werden. Sowohl auf kommunaler, als auch auf Lan- desebene oder in Fachgesellschaften gibt es mitt- lerweile Beiräte von Betroffenen, die unterschiedlich in Entscheidungen eingebunden werden. In einigen Regionen haben Betroffene Sitz und teils Stimm- recht bei lokalpolitischen Entscheidungen, z. B. im Gemeindepsychiatrischen Verbund. Die Betroffe- nenbeteiligung ist in Deutschland aber bei weitem noch nicht so ausgebaut, wie z. B. in Großbritannien. ▪ Recovery sollte das langfristige Ziel eines jeden ein- zelnen sein, der an einer psychischen Störung leidet und durch diese sich verändert, im positiven Sinne das Leben neu gestaltet und dadurch möglicherwei- se sogar einen Gewinn für seine persönliche Ent- wicklung daraus zieht. Die Kritik, dass dies für viele Betroffene aufgrund der Erkrankungsschwere nicht realistisch ist, verfehlt die eigentliche Idee von Re- covery, nämlich die Ablösung einer defizitorientier- ten Sichtweise auf Menschen mit psychischer Stö- rung. Recovery ist damit in einer Linie mit der Res- sourcen-betonenden Herangehensweise der ICF, geht aber weit darüber hinaus. Selbsthilfe/Peers/EX-IN Die Selbsthilfebewegung hat vor einigen Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten begonnen. Auch in Deutsch- land gibt es eine Reihe von Selbsthilfeorganisationen. Eine der bekanntesten ist die „Irren-Offensive Berlin“, die 1996 das Weglaufhaus eröffnete, eine Einrichtung für Menschen, „die von psychiatrischen Behandlungen betroffen sind, diese aber ablehnen“. Solche kranken- hausalternativen Orte zur Versorgung akuter psy- chischer Störungen gibt es aber nur wenige in Deutsch- land. Peerarbeit hat sich aus der Selbsthilfebewegung entwi- ckelt und betont das Erfahrungswissen der Psychiatrie- erfahrenen, die in vielen, vor allem akuten Situationen einen besseren Zugang zum Patienten bekommen als die sogenannten „Profis“. Für diese Experten aus Erfah- rung gibt es mittlerweile bundesweit strukturierte Aus- bildungsgänge zum Genesungsbegleiter, bspw. in der EX-IN-Ausbildung (experienced involvement). Mittler- weile stellen immer mehr Kliniken und Anbieter ge- meindepsychiatrischer Leistungen Genesungsbegleiter ein. Trialog/Angehörigenarbeit Der Begriff des Trialogs beschreibt zunächst einmal den gemeinsamen Austausch zwischen Betroffenen, Ange- hörigen und Fachleuten. Das Konzept wurde für die Be- handlung psychotischer Störungen entwickelt, mittler- weile aber für andere Diagnosen adaptiert. Eigentlich sollte dieser Austausch auf Einzelfallebene zur „good clinical practice“ gehören und ist ja bspw. fester Be- standteil systemischen Arbeitens. Darüber hinaus gibt es noch Gruppenangebote, bei denen ein regelmäßiger offener Austausch möglich ist. Borbé Raoul. Gemeindepsychiatrie … PSYCH up2date 2022; 16: 73–90 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 85

nischen Möglichkeiten zudem den Versorgungsradius. Betroffene, die persönliche Begegnungen nicht oder selten wahrnehmen, Unterstützung aber durchaus wünschen, könnten ebenfalls besser versorgt werden. Die Gemeindepsychiatrie muss sich daher mit E-Health intensiv auseinandersetzen und im Austausch mit den Betroffenen Offenheit diesbezüglich zeigen, zumal vie- le Anwendungen von den Betroffenen einfach selbst in- stalliert werden und dies wenn möglich mit einer fach- lichen Beratung einhergehen sollte. KERNAUSSAGEN ▪ Gemeinde- und Sozialpsychiatrie sind essen- zielle Bestandteile klinischer Arbeit. ▪ Gemeindepsychiatrie umfasst psychiatrische Versorgungsstrukturen, die Menschen mit komplexem Hilfebedarf versorgen. ▪ Gemeindepsychiatrische Angebote entwickel- ten sich in vielen Ländern nach den Psychiatrie- reformen in der zweiten Hälfte des letzten Jahr- hunderts. ▪ Die Teilhabeplanung orientiert sich im Sinne einer personenzentrierten Versorgung an den individuellen Wünschen und Vorstellungen des Betroffenen. ▪ Die UN-BRK sieht einstellungs- und umweltbe- dingte Barrieren als Hauptursache für Behinde- rung von Menschen mit Beeinträchtigungen. ▪ Das Bundesteilhabegesetz verfolgt als Ziel die „volle, wirksame und gleichberechtigte Teil- habe am Leben in der Gemeinschaft“. ▪ Die ICF ermöglicht eine Ressourcen-orientierte Hilfeplanung statt einer Defizit-orientierten. ▪ Neben den „klassischen“ Angeboten in den Bereichen Wohnen, Arbeit und Tagesstruktur werden Assistenzleistungen an Bedeutung gewinnen. ▪ Der Einbezug Psychiatrieerfahrener im Sinne von Empowerment bzw. Recovery erweitert die Perspektive multiprofessioneller Teams. Interessenkonflikt Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Be- rater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an im Bereich der Medizin aktiven Firma: nein; Pa- tent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an zu Sponsoren dieser Fortbildung bzw. durch die Fortbildung in ihren Geschäftsinteressen berührten Firma: nein Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht. Autorinnen/Autoren Raoul Borbé Dr. med., MHBA. 1993–2000 Medizinstudi- um. 2001 Promotion. 2000–2001 AiP Innere Medizin und Psychiatrie und Psychotherapie. 2002–2006 Assistenzarzt Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Tübingen. Ab 2006 Oberarzt am Zentrum für Psychiatrie Die Weissenau, Ravensburg. 2007 Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. 2014 Master of Health Business Admi- nistration. Von 2013–2021 Chefarzt der Abteilung Allge- meine Psychiatrie und Psychotherapie Ravensburg. Seit 2018 Regionaler Geschäftsbereichsleiter der gemeindepsy- chiatrischen Angebote Ravensburg-Bodensee am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg. Korrespondenzadresse Dr. med. Raoul Borbé ZfP Südwürttemberg Klinik I für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Ulm (Weissenau) Weingartshoferstr. 2 88214 Ravensburg Deutschland raoul.borbe@zfp-zentrum.de Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbe- stimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Raoul Borbé, Ravensburg. Borbé Raoul. Gemeindepsychiatrie … PSYCH up2date 2022; 16: 73–90 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 87

Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Unter https://eref.thieme.de/CXGYGRD oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests und zum Artikel Sie finden dort auch den genauen Einsendeschluss. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführ- liche Anleitung. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! VNR 2760512022161725587 Frage 1 Welche Aussage trifft zu? A Gemeindepsychiatrie hat sich als Vorläufer der Kranken- B hauspsychiatrie entwickelt. Kliniken können selbst Träger gemeindepsychiatrischer Angebote sein. C Die Psychiatrie-Enquete forderte den Aufbau von Groß- krankenhäusern. D Leistungsträger (Kostenträger) der Eingliederungshilfe sind E die Krankenkassen. Sozialpsychiatrie entspricht in der Klinik der Gemeinde- psychiatrie. Frage 2 Welche Aussage zur Psychiatrie-Enquete trifft nicht zu? A Es sollten Standardversorgungsgebiete eingerichtet wer- den. B Menschen mit psychischer Störung sollten denen mit einer C körperlichen Erkrankung gleichgestellt werden. Suchterkrankungen waren aus der Versorgungsplanung ausgenommen. D Psychiatrische Abteilungen sollten auch an Allgemeinkran- E kenhäusern eingerichtet werden. Forderungen der Enquete-Kommission befinden sich jetzt noch in Umsetzung. Frage 3 Was gehört nicht zu den Funktionsbereichen nach Eikelmann? A Therapie Freizeit/Tagesstruktur B C Assistenz D Wohnen E Arbeit Frage 4 Was trifft nicht zu? Der personenzentrierte Ansatz… A wurde von der Aktion Psychisch Kranke entwickelt. B C sollte die Reha-Kette ersetzen. soll individuellen Wünschen der Betroffenen entgegen- kommen. D hat die Hilfeplanung mit dem IBRP umgesetzt. E ist nur für lang anhaltende (chronifizierte) Störungen geeignet. Frage 5 Von welcher Annahme geht der Behindertenbegriff der UN-BRK aus? A Behinderung entsteht durch krankheitsbedingte Defizite. B Die subjektive Wahrnehmung des Behinderten bestimmt C maßgeblich den Grad der Behinderung. Behinderung entsteht aus der Wechselwirkung zwischen Behinderten und umweltbedingten Barrieren. D Behinderung ist immer ein dauerhaftes Merkmal. E Die Definition von Behinderung obliegt den Mitglieds- staaten der UN. Frage 6 Welches Prinzip gehört nicht zu moderner gemeindepsychia- trischer Arbeit? A Aufsuchende Arbeit. B Niederschwellige Erreichbarkeit. C Systemische Sichtweise. D Trialogischer Austausch. E Exklusion herausfordernder Patienten. Frage 7 Die Steuerungsfunktion in der Gemeindepsychiatrie… A wird in der Regel vom Case-Management der Krankenkasse B C übernommen. gilt nicht für das Krankenhaus. kann auch von einem niedergelassenen Facharzt übernom- men werden. D erfolgt auf Basis eine Bedarfsermittlungsinstrumentes. E bedarf einer systemischen Ausbildung. Borbé Raoul. Gemeindepsychiatrie … PSYCH up2date 2022; 16: 73–90 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 89

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DIE WICHTIGSTEN PSYCHOPHARMAKA DIE WICHTIGSTEN PSYCHOPHARMAKA IM POCKETFORMAT IM POCKETFORMAT Das bewährte Nachschlagewerk auf dem neuesten Stand . n e d n e l l i a f n a e d n e d r e w ] D l [ b a h r e ß u a n e g n u r e f e i L i e B . n e t l a h e b r o v r e m ü t r r I 9 9 4 3 A R H , t r a g t t u t S r e t s i g e r s l e d n a H d n u - z t i S , G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . t e n h c e r e b r e t i e w n e t s o k d n a s r e V d n u n e g n u r e d n ä s i e r P max. 50 Anschläge iuntiaturesi dolorro blaborporro Praxisorientiert und gut verständlich erhalten Sie einen Überblick über die wichtigsten Psychopharmaka. Geeignete • 600 Anschläge aut eum quist es perum aut aut qui Präparate werden mit Indikation, Dosierung, Pharmakologie, ullautemolut quas eum rem eum dolor ad quides eat- Nebenwirkungen und Praxistipps des Autors vorgestellt. quatem imporeicipsa id quam, officae rruptatiur sectas re plaborr oreste nonserum hari a dusam samusciis. Namenducimus et laut pero torerio nsequi dolorrunt ratur maximi, sum consequiscia velecatibus, ommolup tatur, quatibu scidundi aspeles asint et ut laborro vitati officim oluptaqui dolesci blabo. Neque auta culpa nobitat Wichtige Aspekte • Udae ipsandam idipsa que eum explit, • Depressionen, Angststörungen, Psychosen • legale und illegale Drogen • medikamentöse Therapien in der Entzugsbehandlung • Behandlung in der Gerontopsychiatrie • Psychopharmaka in der Schwangerschaft • Ur re nonserum volupie nimodis sum iellabo. Xime • psychiatrische Notfälle • Wechselwirkungen von Medikamenten natemqui tem nem es non pliatur? Ditatemporum inimolore occatatur? Alis dolupta ne labo. Int Diese Neuauflage ist sorgfältig überarbeitet und um ein Kapitel über Schmerztherapie erweitert. Buch + Online-Version in der eRef ISBN 978 3 13 xxxxxx x 00,00 € [D] Buch + Online-Version in der eRef ISBN 978 3 13 243571 1 39,99 € [D] www.thieme.de/shop