Wie können wir uns das zeitlich vorstellen? Schünke: Im März 2021 habe ich Herrn Haag-Wackernagel angesprochen. Rund neun Monate sind wir dann mit der Idee zur neuen Lerneinheit für den PROMETHEUS schwanger gegangen [schmunzelt] und zum Ende des Jahres konnten wir schließlich die „Geburt“ der ersten detailgetreuen Abbildungen der weiblichen Klitoris feiern, die jetzt ihren Weg in die Neuauf- lage des PROMETHEUS finden. Dieser erscheint Anfang Septem- ber 2022. interpretieren und auch tradieren, hilft dabei, einen eigenen Weg, einen eigenen Ausdruck zu finden. Für das Bulboklitoralorgan waren die Literatur- und Bildhinweise und besonders das 3D-Modell der Klitoris von Herrn Haag-Wa- ckernagel mehr als hilfreich. Die Zeichnungen beziehungsweise Kupferstiche von Franz Wagner Band von Kobelt5 mit ihrer feinen präzisen Strichführung lassen die tiefe Einsicht des Zeichners in das erkennen, was er da abbildet. Das hat mich schon sehr beeindruckt und lässt einen demütig werden. Einen ganz wesentlichen Anteil daran hat Karl Wesker, der bereits seit 1996 an der Erstellung der PROMETHEUS Abbildungen arbeitet. Herr Wesker, gemeinsam mit Ihrem Kollegen Markus Voll konzipieren und erstellen Sie die Abbildungen für den PROMETHEUS. Dabei arbeiten Sie eng mit den Autoren zusammen. Wesker: Das ist richtig. Für jede einzelne Zeichnung, die wir für den PROMETHEUS erstellt haben, standen und stehen mein Kollege Markus Voll und ich in überaus engem Austausch mit Herrn Professor Schünke und den anderen beiden Autoren. Zunächst besprechen wir den Sachverhalt oder den Bereich, der dargestellt werden soll. Das ist für uns Zeichner dann so etwas wie eine Privatvorlesung oder eine von Experten geführte Expedition in tiefe Wissensbereiche. Nach diesen ersten Besprechungen gehen wir, je nach Komplexität des Gegen- stands, auch selbst noch auf die Suche nach weiteren geeigneten Beschreibungen und Abbildungen, die das Verständnis von der Materialität, der Farbe, der genauen Erscheinung sowie der Lagebeziehungen des Gegenstands umfassender klären können. Am besten ist es natürlich, wenn wir direkten Zugang zu einem Präparat haben, zum Beispiel in einer der guten Schausammlun- gen oder die Anschauung im Präpariersaal. Was aber in diesem Fall, wie Herr Schünke und Herr Haag-Wackernagel schon erläutert haben, nicht möglich war. Darüber hinaus finde ich es sehr hilfreich, die Abbildungen anderer Zeichner zu studieren, insbesondere in historischen Atlanten. Zu erkennen, wie sich die Sicht auf das Präparat oder die anatomischen Strukturen im Laufe der Zeit immer wieder ändern, wie die Zeichner die Sachverhalte unterschiedlich Dreidimensionale Strukturen zweidimen- sional so darzustellen, dass sie begreifbar werden, setzt voraus, dass ich verstehe, was ich zeichne. Karl Wesker Wie sind Sie bei der Darstellung des Bulboklitoralorgans vorgegangen? Wesker: Um die physiologische Beziehung der Klitoris zur Umgebung richtig zu erfassen, musste ich zunächst das weibliche Becken in der Position zeichnen, die möglichst viel vom Organ selbst und seiner Lage offenlegt. Hierbei war es besonders wertvoll, das von Herrn Haag-Wackernagel entwickelte Modell immer wieder bildlich einpassen zu können. Für solche Arbeiten habe ich immer knöcherne Präparate, in diesem Fall ein weibliches Becken, zur Verfügung. Kunststoffmodelle sind hier nicht sehr hilfreich, da ihnen zumeist die feinen Prägungen fehlen, die die anliegenden Strukturen im Knochen hinterlassen. Die ersten skizzenhaften Zeichnungen werden dann erneut detailliert besprochen. Bei der Klitoris war dieser Austausch besonders intensiv und langwierig. Erst mit der Korrektur und erneutem Skizzieren sowie abermaligen Besprechungen und Überarbeitung bildete sich langsam ein klareres Bild und ein Verständnis, auch von den umgebenden Strukturen. Und wie Herr Schünke schon sagte, man kann nur lehren, was man weiß, so kann man auch nur zeichnen, was man erkennt, begreift oder weiß. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dass wir je an einer Lerneinheit für PROMETHEUS so breit angelegt, so umfassend intensiv und auch ein wenig nervenaufreibend Im Gespräch mit ... Karl Wesker ist Grafiker, Künstler und begeisterter Anatomie-Zeichner. Das Bedürfnis, wirklich zu verstehen, was er zeichnet, und seine Liebe zum Detail sind Voraussetzung und Grundlage seines Schaffens. Er war von Anfang an maßgeblich an der Entstehung des PROMETHEUS beteiligt. Gemeinsam mit seinem Kollegen Markus Voll hat er dem LernAtlas Anatomie von Thieme seine unverwechselbare, anschauliche Anmutung gegeben.