Dokument wird geladen
Psychotherapie im Dialog 1 · 2025 Psychodynamische Therapie, Systemische Therapie, Verhaltenstherapie, Humanistische Therapien Transkulturelle Psychotherapie Multikulturelle Orientierung Eine prozessorientierte therapeutische Haltung Seite 29 Mikroaggressionen Erkennen – verstehen – bewältigen Seite 42 Narrative Expositions- therapie Traumata effektiv und prag- matisch bearbeiten Seite 59 10
m o c . e b o d a . k c o t s – y o h c u i l l © DIE NEUE Fortbildungszeitschrift für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen 4-MAL JÄHRLICH INKLUSIVE DIGITALZUGANG Fortbildung pur Prozesse, Techniken, Methoden: Schritt-für-Schritt erklärt, wie es geht Leitliniengerecht und ausgerichtet am Curriculum: alle wichtigen Themen und Krankheitsbilder, systematisch und mit multiaxialem Ansatz SOPs, Handlungsanweisungen, Fallbeispiele: voneinander lernen gibt Sicherheit bei der Behandlung CME-zertifizierte Fortbildung: 4 Fortbildungsbeiträge pro Ausgabe mit klarem Bezug zu Ihrem Alltag und zu Ihren Patient*innen. Sammeln Sie bis zu 48 CME-Punkte pro Jahr! Abonnieren Sie jetzt zum Einstiegspreis mit Wunschgutschein als Prämie! thieme.com/kjp-up2date
Editorial Dr. phil. Barbara Stein, Dipl.-Psych., Schriftleitung PiD Liebe Leserin, lieber Leser, ich lebe in einer Stadt, in der etwas mehr als jeder oder jede zweite einen Migrationshintergrund hat. In der U-Bahn vom Bahnhof nach Hause höre ich in der Regel mir meist unbekannte Sprachen, treffe selten auf Deutsch miteinander sprechende Mitreisende. Manchmal frage ich mich dann, ob dieser Bias an der Selektion möglicher U-Bahn Fahrer*innen liegt oder ob Deutsch sprechende Men- schen, zumindest in der U-Bahn, weniger miteinander sprechen. In der Schule meiner Tochter war es so „normal“, familiäre Wurzeln außerhalb Deutschlands zu haben, dass sie in diesem Zusammen- hang auf die Übersiedelung ihres Ur-Ur-Urgroßvaters von Polen nach Deutschland verwies, um einen Außenseiterstatus zu vermeiden. In meinem Berufsalltag als Psychotherapeutin ist dies anders. Wir alle wissen um die Zugangsbar- rieren für Menschen mit Migrationshintergrund zu unserem deutschen Gesundheitssystem, ins- besondere zu psychotherapeutischen Versorgungsangeboten. Auch wenn wir an uns den Anspruch haben, diskriminierungsfrei und kultursensibel zu sein, so leben und arbeiten wir doch, wenn man ehrlich ist, häufig in einer „Blase“. Selbst gut gemeinte, aber unbedachte Fragen nach Herkunft usw. können zu Kränkungen, Entwertungen und Ausgrenzungen führen. Auch als Psychotherapeut*in- nen sind wir vor Vorurteilen, Stereotypien und latent rassistischen Gedanken nicht gefeit. Bevor Sie protestieren: Haben Sie mal einen Rassismus-Test gemacht? Die Fragen dort sensibilisieren für aus- grenzende Denkmuster und stellen unser Selbstbild möglicherweise in Frage. Das ist unbequem, unangenehm und manchmal auch beschämend. In der Auseinandersetzung mit Themen wie Kul- tursensibilität, Gendergerechtigkeit oder Diversität müssen wir unsere Komfortzone verlassen. Und das ist gut so. Ich freue mich, dass, gerade in Zeiten oft rauer politischer Diskussionen und Stimmungsmache gegen Mitbürger mit Migrationserfahrungen, die PiD ein Heft zum Thema der interkulturellen Psy- chotherapie vorlegt. Auch das ist gut so! Ich wünsche Ihnen anregende Impulse! Ihre Barbara Stein PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 1
Herausgeber Univ.-Prof. Dr. phil. Sylke Andreas, Dipl.-Psych. * 1973, ist Psychologische Psychotherapeutin, Schwerpunkt psychoanalytisch-orientierte Psychotherapie, Mentalisie- rungsbasierte Psychotherapie, Dynamic Interpersonal Therapy, Supervisorin und Referentin an Ausbildungsinsti- tuten in Österreich und in Deutschland. Sie ist Abteilungs- leiterin für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psy- choanalyse des Instituts für Psychologie der Universität Klagenfurt in Österreich und Leiterin der Psychotherapeutischen Forschungs- und Lehr- ambulanz der Universität Klagenfurt (PUK). Claudia Dahm-Mory, Dipl.-Psych. *1972, ist Psychologin, systemische Einzel-, Paar- und Fami- lientherapeutin (SG), systemische Supervisorin (SG) und CBASP-Therapeutin und -Trainerin. Nach 20 Jahren klinischer und Forschungstätigkeit in der psychiatrischen Klinik der Universität Leipzig ist sie seit 2017 selbständig. Hier hat sie drei Standbeine: die Supervision psychosozialer Einrichtun- gen, eine Lehrtrainertätigkeit an systemischen (ABIS Leipzig) und verhal- tenstherapeutischen Instituten und die therapeutische Arbeit in der Praxis Mehrblick, die sie 2002 mit drei Kollegen gegründet hat. Prof. Dr. phil. Christoph Flückiger, Dipl.-Psych. *1974, ist Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor und Referent an Ausbildungsinstituten für kognitive Verhaltens- therapie in der Schweiz, Deutschland und den USA. Er ist Abteilungsleiter des Lehrstuhls für Klinische Psychologie II an den Universitäten Kassel und Co-Leiter der ange glie- derten Institutsambulanz und Editor der Wissenschaftszeit- schrift „Psychotherapy Research“. Prof. Dr. med. Volker Köllner *1960, ist Facharzt für Psychosomatische Medizin. Er war u. a. Oberarzt am Universitätsklinikum Dresden und Chefarzt der Fachklinik für Psychosomatische Medizin in Blieskastel. Seit 2015 ist er Chefarzt der Abteilung Verhaltenstherapie und Psychosomatik und ärztlicher Direktor am Rehazentrum Seehof der DRV (Deutsche Rentenversicherung Bund) in Teltow bei Berlin. Er ist Professor für Psychosomatische Medizin an der Medizinischen Fakultät Homburg/Saar und Lehrbeauftragter der Univer- sitätsmedizin Charité, Berlin. Wissenschaftlich ist er in der Forschungs- gruppe Psychosomatische Rehabilitation der Charité aktiv. Prof. Dr. med. Henning Schauenburg *1954, ist Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Arzt für Psycho somatische Medizin, Psychoanalytiker (DGPT), analyti- scher Familientherapeut. Er ist apl. Professor für Psychosoma- tik und Psychotherapie an der Universität Heidelberg, dort war er bis 8/2020 Stellvertreter des ärztlichen Direktors der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik. Aktuell ist er Co-Leiter des Heidelberger Instituts für Psycho- therapie (Tiefenpsychologie und Systemische Therapie) und arbeitet in privater Praxis. Dr. phil. Barbara Stein, Dipl.-Psych. Schriftleitung, *1960, ist Psychologische Psychotherapeutin und seit 2005 Leitende Psychologin der Klinik für Psychoso- matische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg/ Paracelsus Medizinische Privatuniversität (PMU). Ihre Schwer- punkte sind tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie, Paar- und Familientherapie, psychologische Beratung und Behandlung von körperlich Kranken, Supervision sowie Fort- und Weiter- bildungstätigkeit. Prof. Dr. rer. nat. Silke Wiegand-Grefe, Dipl.-Psych *1964, ist Psychologische Psychotherapeutin (Psychoana- lyse, Tiefenpsychologie), Paar- und Familientherapeutin und hat die Professur für Klinische Psychologie und Psychothe- rapie der MSH Medical School Hamburg, University of Ap- plied Sciences and Medical University, inne. Sie leitet die Forschungsgruppe für Psychotherapie- und Familienforschung am Univer- sitätsklinikum Hamburg Eppendorf in der Klinik für Kinder- und Jugend- psychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik. Außerdem ist sie als Dozentin und Supervisorin an mehreren Ausbildungsinstituten tätig. Dr. med. Bettina Wilms *1964, ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie (Systemische Familientherapie und Verhaltenstherapie). Nach 11-jähriger Chefarzttätigkeit am Südharz Klinikum Nordhausen ist sie seit Februar 2016 Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Carl- von-Basedow Klinikum Saalekreis am Standort Querfurt. Ihre Schwerpunkte sind die psychiatrisch-psychotherapeutische Versor- gung und berufliche Belastungssyndrome. Dr. phil. Alexandra Zaby, Dipl.-Psych. *1971, ist Psychologische Psychotherapeutin, Schwerpunkt Verhaltenstherapie; nach beruflichen Stationen in der psycho somatischen Rehabilitation und als wissenschaftliche Mit arbeiterin an der Universität Koblenz-Landau (For- schungsbereich Somatoforme Störungen) war sie Geschäfts- führerin des dortigen universitären Ausbildungsinstitutes für Psychologische Psychotherapeut*innen, sowie der Ausbildungsambu- lanz; seit 2017 ist sie freiberuflich im Bereich Ausbildung und Psychothe- rapie tätig; seit 2020 ist sie als Psychotherapeutin in der kassenärztlichen Versorgung in der Pfalz (Böhl-Iggelheim) niedergelassen. Gründungsherausgeber Wolfgang Senf, Essen Michael Broda, Dahn Steffen Fliegel, Münster Arist von Schlippe, Witten Ulrich Streeck, Göttingen Jochen Schweitzer, Heidelberg Beirat Cord Benecke, Kassel Ulrike Borst, Zürich Stephan Doering, Wien Ulrike Ehlert, Zürich Johannes Ehrenthal, Köln Michael Geyer, Erfurt Sabine Herpertz, Heidelberg Jürgen Hoyer, Dresden Johannes Kruse, Gießen Hans Lieb, Edenkoben Wolfgang Lutz, Trier Andreas Maercker, Zürich Babette Renneberg, Berlin Martin Sack, München Silvia Schneider, Bochum Bernhard Strauß, Jena PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26 | © 2025. Thieme. All rights reserved. Kirsten von Sydow, Hamburg Martin Teufel, Essen Kerstin Weidner, Dresden Ulrike Willutzki, Witten/Herdecke Leserbeirat Karl Mayer, Freren Heinz-Peter Olm, Wuppertal Uta Preissing, Stuttgart Jessica Schadlu, Düsseldorf Verlag Georg Thieme Verlag KG Oswald-Hesse-Straße 50 70469 Stuttgart Postfach 301120 · 70451 Stuttgart www.thieme-connect.de/products www.thieme.de/pid Besuchen Sie die PiD im Internet! Private Abonnenten können dort alle bisher veröffentlichten Artikel über das Online-Archiv abrufen. Indexiert in: PSYNDEX 3
Inhaltsverzeichnis PiD Psychotherapie im Dialog März 2025 · 26. Jahrgang · Seite 1–104 Kulturelle Diversität gehört in unserer zunehmend pluralistischen Welt zum Alltag. Umso wichtiger ist es auch für Psychotherapeut*innen, sich mit daraus entstehenden Fragen und Themenfeldern auseinanderzuset- zen: Was zeichnet kultursensible Psychotherapie aus? Mit welchen Herausforderungen sind Ratsuchende und Psychotherapeut*innen in modernen transkulturellen Gesellschaften konfrontiert? Und wie können Zugangsbarrieren zu einer bedürfnis- und bedarfsgerechten psycho- sozialen Versorgung unter dem Aspekt der Diversität reduziert werden? PiD möchte dazu beitragen, Kultursensitivität und transkulturelle Kompetenzen im psychotherapeutischen Handeln zu etablieren und stellt sich diesen und anderen Fragen. 6 7 8 9 Für Sie gelesen | Covid-19: Stressresilienz beeinflusst Verlauf von Atemwegserkrankungen Für Sie gelesen | Depressionen: Cluster von Kindesmisshandlung beeinflussen Therapieerfolg Für Sie gelesen | Komplexe PTBS: Remission nach Regulationskompetenztraining Für Sie gelesen | ADHS bei Erwachsenen – Behandlungsakzeptanz und Therapietreue entscheidend 11 Alles was Recht ist | Audio-Video-Dokumentation in der Psychotherapie: Sichern, Schützen, Archivieren Transkulturelle Psychotherapie 13 Editorial | Transkulturelle Psychotherapie Barbara Stein, Christoph Flückiger 16 Essentials | Transkulturelle Psychotherapie Helene Huber 18 24 29 34 38 42 Standpunkte | Transkulturelle Klinische Psychologie: Zurück in die Zukunft? Eva Heim, Ulrike von Lersner Standpunkte | Jenseits von „Kultur“: Rassismuskritik als Leerstelle in Therapie und Beratung Jessie Mmari, Ilja Gold Standpunkte | Multikulturelle Orientierung als prozessorientierte therapeutische Haltung Berrin Özlem Otyakmaz Standpunkte | Betrachtungen einer interkulturell systemisch-ethnologischen Haltung Christina Hunger-Schoppe, Chawwah Yael Grünberg Aus der Praxis | Transkulturelle Gesundheitssysteme: ein stufengerechter Ansatz Rilana Tanja Stöckli, Julia Nöthinger, Martine Scholer, Monia Aebersold Aus der Praxis | Mikroaggressionen im therapeutischen Kontext: erkennen, verstehen und bewältigen Eva M. Klein, Timo Slotta, Sarah Wilker, Lars Dumke, Laura Nohr 4 PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
46 50 55 59 64 68 72 Aus der Praxis | Muss eine diskriminierungssensible Haltung erlernt werden? Birsen Kahraman Aus der Praxis | Psycho-emotionale Phasen der Migration Jan Ilhan Kizilhan, Claudia Klett Aus der Praxis | Verantwortungsübernahme im Kontext von Krieg und Flucht: Wie kann die Psych*-Profession helfen? Sarah Stapel, Eva-Lotta Brakemeier Aus der Praxis | Die Narrative Expositionstherapie – Praktische Anwendung Sarah Wilker, Frank Neuner Aus der Praxis | Lebensrealitäten und Behandlungserfahrungen von LGBTQ + Personen Jan Schürmann-Vengels Aus der Praxis | Schmerz und Psychotherapie – eine kultursensitive Perspektive Özgür Tamcan 85 Interview | Unter dem Strich hat es sich eben nichtdestotrotz gelohnt – Interview mit Jonny Fischer, Schweizer Komiker Christoph Flückiger 87 Dialog Links | Transkulturelle Psychotherapie – Informationen, Anlaufstellen und Hilfe im Internet Nadine Oberländer 91 Dialog Books | Bücher zum Thema Katharina A. C. Helgerth 95 Resümee | Transkulturelle Psychotherapie Christoph Flückiger, Barbara Stein Ein Fall – verschiedene Perspektiven 97 Fallbericht Obdachlosigkeit und Inobhutnahme Aus der Praxis | Ressourcen zur Bewältigung von Sprachbarrieren in der psychosozialen Versorgung Mike Mösko Sehenswert 76 Über den Tellerand | Die Mauer in unseren Köpfen – Über DDR-Opfer-/Täternarrative Kerstin Weidner 81 CME Fragen 102 All of us Strangers – Einsamkeit und Verlust als Blutsauger Backflash 103 Eine besondere Erfahrung… 104 Vorschau Impressum auf der letzten Seite Covergestaltung: © Thieme Bildnachweis Cover: Quelle: © melita/stock.adobe.com ALLES ONLINE LESEN Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: online wie offline, am PC und mobil, alle bereits erschienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! https: //eref.Thieme.de/3CTDU JETZT FREISCHALTEN Sie haben Ihre Zeitschrift noch nicht freigeschaltet? Ein Klick genügt: www.thieme.de/eref-registrierung. PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 5
Für Sie gelesen Thieme Covid-19: Stressresilienz beeinflusst Verlauf von Atemwegserkrankungen Geijerstam AA et al. Poor stress resilience in adolescence predicts higher risk of severe COVID-19 and other respiratory infections: A prospective cohort study of 1.4 million Swedish men. J Psychosom Res 2024. doi: 10.1016/j. jpsychores.2024.111935 Gibt es Assoziationen zwischen der Stressresilienz in der Adoleszenz und dem späteren Risiko für schwere COVID-19-Erkrankungen und andere Infektionen der unteren Atemwege? Geijerstam et al. sind dieser Frage nach- gegangen und haben eine prospektive Kohortenstudie initiiert. Dabei legten sie den Fokus auch auf die Unter- suchung möglicher Störfaktoren zwi- schen geringer kardiorespiratorischer Fitness und Stressresilienz in Bezug auf Atemwegsinfekte. Die langsam ausklingende Covid-19-Pan- demie hat die globale Gesundheit gera- dezu auf den Kopf gestellt. Gleichzeitig deuten die Ergebnisse verschiedener Stu- dien darauf hin, dass psychologische Fakto- ren – darunter die Stressresilienz – die An- fälligkeit für Infektionskrankheiten beein- flussen könnten. Geijerstam et al. wollten vor diesem Hintergrund untersuchen, ob die Stressresilienz in der späten Adoleszenz das Risiko für schwere Verläufe einer Co- vid-19-Erkrankung sowie von anderen In- fektionen der unteren Atemwege im späten Erwachsenenalter beeinflussen kann, und haben eine prospektive Kohortenstudie mit über 1,4 Millionen schwedischen Männern durchgeführt. resilienz und einer geringen kardiorespira- torischen Fitness belegen. Dazu erfasste das Forschungsteam die Stress- resilienz der Männer im Jugendalter mittels standardisierter psychologischer Tests und sammelten verschiedene Gesundheitsdaten mit Bezug zur Häufigkeit und Schwere von Atemwegserkrankungen über einen Zeit- raum von mehreren Jahrzehnten. Als primä- ren Endpunkt definierten Geijerstam et al. schließlich die Häufigkeit besonders schwe- rer Atemwegsinfekte einschließlich Covid-19 in Abhängigkeit von der im Adoleszenzalter erfassten Stressresilienz. Auf methodischer Ebene griffen die Autor*innen auf verschie- dene Regressionsanalysen zurück. Stress als zusätzlicher Risikofaktor Im Hauptergebnis dieser Kohortenstu- die ging eine geringe Stressresilienz in der späten Adoleszenz mit einem höheren Ri- siko für schwere Infektionen der unteren Atemwege im späteren Erwachsenenalter einher. So erhöhte sich bei besonders nied- rigen Resilienzwerten das Risiko für Todes- fälle in Verbindung mit Atemwegsinfekten, für Krankenhausaufenthalte aufgrund bak- terieller Lungenentzündungen und das Risi- ko für virale Lungenentzündungen. Gegen- sätzlich dazu konnte das Forschungsteam allerdings wider Erwarten keine signifikan- ten Wechselwirkungen zwischen der Stress- Geijerstam et al. kommen daher zu dem Schluss, dass eine schlechte Stressresilienz ein prospektiver Risikofaktor für schwere COVID-19-Erkrankungen sowie für bakte- rielle und virale Atemwegsinfekte sei. Sie erklären sich diese Effekte durch den nega- tiven Einfluss von extremem Stress in der Jugend auf das Immunsystem im Erwach- senenalter und sehen an dieser Stelle gute Ansatzpunkte für die Entwicklung gezielter Präventionsmaßnahmen. FA ZIT In dieser prospektiven Kohorten- studie mit über 1,4 Mio. schwe- dischen Männern zeigte das Ausmaß der Stressresistenz in der späten Adoleszenz einen erheblichen Einfluss auf das Risiko für schwere Verläufe einer Covid-19-Erkrankung und von anderen Infektionen der unteren Atemwege. Gezielte Maßnahmen zur Stressreduktion und zur Verbes- serung der Stressresistenz bei dieser Altersgruppe könnten folglich die Krankheitslast durch Atemwegsinfek- tionen im späteren Erwachsenenalter reduzieren. Dipl.-Psych. Annika Simon, Braunschweig Anzeige THIEME für AUTOREN Was Sie erwartet, wenn Sie bei Thieme publizieren www.thieme.de/autorenlounge Das Thieme Herz schlägt für Autoren 6 PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 6–6 | © 2025. Thieme. All rights reserved. © jannoon028/stock.adobe.com – Stock photo. Posed by a model
Für Sie gelesen Thieme Depressionen: Cluster von Kindesmisshandlung beeinflussen Therapieerfolg Goerigk S et al. Childhood Trauma Question- naire-based child maltreatment profiles to predict efficacy of the Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy versus non-specific psychotherapy in adults with early-onset chronic depression: cluster analysis of data from a randomised controlled trial. Lancet Psychiatry 2024. doi: 10.1016/S2215- 0366(24)00209-8 Kindesmisshandlung ist heute ein be- stätigter Risikofaktor für psychische und physische Erkrankungen. Obgleich einige psychologische Behandlungen speziell auf Diagnosen mit Assoziatio- nen zur Kindesmisshandlung fokussie- ren, bleibt der Einfluss der Beurteilung von Kindesmisshandlung auf die per- sonalisierte Therapie immer noch un- klar. Goerigk et al. wollten daher diese Lücke schließen und haben eine Cluster- analyse zum Thema durchgeführt. Kindesmisshandlung ist ein wichtiger Risi- kofaktor für die Beeinträchtigung der psy- chischen und physischen Gesundheit und kann negative klinische Ergebnisse – z. B. chronische Verläufe depressiver Störun- gen – prognostizieren. Da es in diesem Kon- text eine anhaltende Debatte darüber gibt, ob Informationen über Kindesmisshand- lung bei der Personalisierung von Diagnos- tik und Behandlung nützlich sein können, haben Goerigk et al. eine Clusteranalyse auf Basis einer randomisierten kontrollierten Studie durchgeführt. Dabei wollten sie die Frage beantworten, ob ein Clusteransatz für Kindesmisshand- lung unterschiedliche Ergebnisse nach einer Behandlung mit dem kognitiven Ver- haltensanalysesystem der Psychotherapie (CBASP) im Vergleich zur unspezifischen unterstützenden Psychotherapie bei Pa- tient*innen mit früh einsetzender chroni- scher Depression vorhersagen könnte. Die Basis bildete eine Clusteranalyse der Daten einer Studie mit nicht medikamentös be- handelten ambulanten Patient*innen mit früh einsetzender chronischer Depression, die an 8 Universitätskliniken und psycho- logischen Instituten in Deutschland mit je- weils 32 CBASP-Sitzungen oder unspezifi- Wer als Kind misshandelt wurde, leidet später häufiger unter Depressionen. Wie erfolgreich diese therapiert werden können, hängt wiederum mit verschie- denen Clustern von Kindesmisshandlung zusammen. (Quelle: © John Gomez/ stock.adobe.com) scher unterstützender Psychotherapie be- handelt wurden. Das wichtigste Einschlusskriterium für die Clusteranalyse war die ausgefüllte Kurz- form des Childhood Trauma Question- naires (CTQ). Mit Hilfe eines agglomerati- ven hierarchischen Clusteransatzes iden- tifizierten die Autor*innen verschiedene Cluster von Kindesmissbrauch auf Grund- lage individueller Mustern in den 5 Domä- nen des CTQ und verwendeten lineare ge- mischte Modelle zur Analyse möglicher Zu- sammenhange zwischen den Clustern und dem klinischen Ergebnis bis zu 2 Jahre nach Behandlungsbeginn. 7 identifizierte Cluster Die Datensätze von 253 Patient*innen konnten berücksichtigt werden, 129 von ihnen in der CBASP- und 123 in der Grup- pe mit unterstützender Psychotherapie. Sie waren durchschnittlich 46 Jahre alt mit einem Anteil männlicher Personen von 33 %. Die umfangreiche Datenanalyse resultierte in 7 Clustern von Kindesmisshandlung, zwi- schen denen sich signifikante Unterschiede in den Behandlungseffekten von CBASP und unterstützender Psychotherapie ergaben. Diese Unterschiede zeigten sich zum einen nach der Behandlung und blieben auch im Verlauf der 2-jährigen Nachbeobachtungs- zeit konstant. Bei Betrachtung der einzelnen Cluster zeig- te das CBASP in einigen Fällen eine deut- liche Überlegenheit. Diese waren vorherr- schende emotionale Vernachlässigung, vorherrschende emotionale Vernachlässi- gung und Missbrauch, emotionale Vernach- lässigung, sowie emotionaler und körperli- cher Missbrauch. In ihren Schlussfolgerungen bezeichnet das Forschungsteam ihre CTQ-basierte Cluster- analyse als wertvolles Hilfsmittel zur Identi- fizierung von Patient*innen mit früh einset- zender chronischer Depression, die speziell von CBASP profitieren könnten. Die Integra- tion solcher Cluster in die klinische Unter- suchung vor Planung einer Psychotherapie könne folglich die Entwicklung und Perso- nalisierung einer traumalinformierten Ver- sorgung stärken. FA ZIT In dieser Datenanalyse zeigten die 7 identifizierten Cluster von Kindes- misshandlung bei Patient*innen mit frühzeitiger chronischer Depression einen signifikanten Einfluss auf die Behandlungseffekte des kognitiven Verhaltensanalysesystems der Psychotherapie (CBASP) und einer unterstützenden Psychotherapie. Die Autor*innen empfehlen daher eine Integration solcher Cluster in die kli- nische Untersuchung zur Entwicklung einer traumainformierten Versorgung im Bereich der psychischen Gesund- heit. Dipl.-Psych. Annika Simon, Braunschweig PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 7–7 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 7
Für Sie gelesen Thieme Komplexe PTBS: Remission nach Regulationskompetenztraining Karatzias T et al. Enhanced Skills Training in Affective and Interpersonal Regulation versus Treatment as Usual for ICD-11 Complex PTSD: A Pilot Randomised Controlled Trial (The RESTORE Trial). Psychother Psychosom 2024. doi: 10.1159/000538428 Die komplexe posttraumatische Be- lastungsstörung (KPTBS) wird in der ICD-11 erstmals als eigene Diagnose genannt und unterscheidet von der klassische PTBS durch ein noch breite- res Spektrum kognitiver, affektiver und psychosozialer Beeinträchtigungen. Karatzias et al. wollten nun mehr über die Durchführbarkeit eines Kompetenz- trainings in affektiver und zwischen- menschlicher Regulierung bei KPTBS erfahren und haben eine Pilotstudie initiiert. In der 11. Version der internationalen Klas- sifikation der Krankheiten (ICD-11) wer- den mit der posttraumatischen Belastungs- störung (PTBS) und der komplexen PTBS (KPTBS) erstmals 2 verschiedene Trauma- folgestörungen differenziert. Da Betroffe- ne der letztgenannten Diagnose in einigen Studien von etablierten Verfahren zur Be- handlung der klassischen PTBS hinsicht- lich der zusätzlich bei der PS vorhandenen Symptome (Störung der Selbstorganisati- on) nicht immer profitieren konnten, wer- den alternative Therapieverfahren für die KPTBS gesucht. Karatzias et al. wollten vor diesem Hinter- grund die Durchführbarkeit, Sicherheit und Wirksamkeit eines auf die speziellen Symp- tome der KPS abzielenden Kompetenztrai- nings in affektiver und zwischenmenschli- cher Regulation mit dem Kürzel ESTAIR mit der üblichen Standardbehandlung verglei- chen, und haben eine randomisierte und kontrollierte Pilotstudie durchgeführt. Diese sogenannte RESTORE-Studie schloss dabei erwachsene Veteranen ein, die die aktuellen Kriterien für die Diagnose einer KPTBS erfüllten. Sie wurden per Zufall einer von 2 Studien- gruppen zugeteilt und nahmen entweder an dem verbesserten Kompetenztraining teil oder erhielten die übliche Standardbe- handlung. Das Kompetenztraining umfass- te dabei eine vierteilige Intervention, bei der alle in der ICD-11 genannten KPTBS- Symptome berücksichtigt wurden. Die In- tervention bestand aus 25 Sitzungen mit zuvor geschulten Therapeut*innen, Pa- tient*innen der Kontrollgruppe mit Stan- dardbehandlung erhielten entweder eine klassische Einzel- oder Gruppentherapie, oder nahmen an EMDR-Sitzungen teil. Als primäres Behandlungsergebnis definier- te das Forschungsteam den Schweregrad der speziellen Symptome der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung auf Basis des internationalen Traumafragebo- gens (ITQ) nach der Therapie und im An- schluss an eine 3-monatige Nachbeobach- tungszeit. Auf methodischer Ebene kamen lineare gemischte Modelle zum Einsatz. Keine schweren Nebenwirkungen Insgesamt nahmen 56 Veteranen an der Pilotstudie Teil, 28 pro Studiengruppe. Sie waren durchschnittlich 47 Jahre alt mit einem Männeranteil von gerundet 93 %. Mit über 90 % hatten die meisten Patient*innen in der klassischen Armee gedient. In Hinblick auf die Akzeptanz zeigte sich in beiden Studiengruppen mit 18 % bei ESTAIR und 11 % bei der Standardbehand- lung eine ähnliche Häufigkeit von Behand- lungsabbrüchen ohne statistisch signifikan- ten Gruppenunterschied. Da ferner weder schwerwiegende Nebenwirkungen noch Nebenwirkungen mit möglichem Zusam- menhang zur Studie in Erscheinung tra- ten, attestierten die Autor*innen dem er- weiterten Kompetenztraining zudem eine gute Durchführbarkeit. Darüber hinaus führte das Kompetenz- training zu einer statistisch bedeutsamen stärkeren Reduktion des Schweregrads der komplexen posttraumatischen Belas- tungsstörung als die Standardbehandlung und mündete in den meisten Fällen in einer Remission. So konnte der Anteil von Perso- nen, die ihre einschlägige Diagnose auch nach der Studie behielten, in der Interven- tionsgruppe auf 13,6 % im Vergleich zu 84 % in der Kontrollgruppe berechnet werden. Das Forschungsteam zieht daher zur Ak- zeptanz, Sicherheit und Durchführbarkeit das erweiterten Kompetenztrainings zur Behandlung der komplexen posttraumati- schen Belastungsstörung ein positives Fazit und hält daher die Durchführung weiterer prospektive Studien für angebracht und wünschenswert. FA ZIT In dieser Pilotstudie mit Veteranen mit KPTBS erwies sich ein verbesser- tes Kompetenztraining in affektiver und zwischenmenschlicher Regulie- rung als durchführbar und sicher. Da die Autor*innen ferner eine hohe Ak- zeptanz auf Seiten der Patient*innen belegen konnten und die Behand- lung in vielen Fällen eine Remission induzierte, könnten entsprechende Interventionen eine wertvolle neue Therapieoption darstellen. Dipl.-Psych. Annika Simon, Braunschweig 8 PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 8–8 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Für Sie gelesen Thieme ADHS bei Erwachsenen – Behandlungsakzeptanz und Therapietreue entscheidend López-Pinar C et al. Exploring the Relationship between Adherence to Therapy, Treatment Acceptability, and Clinical Outcomes in Adults with Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder: Results from the COMPAS Multicenter Randomi- zed Controlled Trial. Psychotherapy and Psychosomatics 2024; 93: 46–64. DOI: 10.1159/000532043 Weltweit sind Schätzungen zufolge cir- ca 2,6 % der Erwachsenen von ADHS be- troffen. In der Behandlung kommen oft Stimulanzien zum Einsatz. Psychothera- pie gilt ebenfalls als wirksam, auch hin- sichtlich komorbider Beschwerden. Wie hängt das Behandlungsergebnis mit der subjektiven Patientenbewertung der Therapie und der Treue hinsichtlich der dort erlernten Methoden zusammen? Eine multizentrische Studie liefert in- teressante Erkenntnisse. Die Wissenschaftler untersuchten dazu 433 erwachsene Patienten mit Aufmerk- samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) an 7 Forschungskliniken in Deutsch- land. Sie verglichen eine DBT (Dialektisch- Behaviorale Therapie) -basierte Interven- tion mit einer unspezifischen Behandlung als Kontrollgruppe. Die Teilnehmenden der DBT-Gruppe erhielten eine wöchentli- che Gruppentherapie über 12 Wochen und anschließend monatliche Gruppentherapie über 10 Monate. Die Teilnehmenden der unspezifischen Behandlung erhielten den gleichen Rhythmus an Gruppentherapie, jedoch ohne DBT-Inhalte und ohne Skills- training. Diese beiden Gruppen wurden in dem 4-armigen Design erneut unterteilt in eine kombinierte Behandlung mit Methyl- phenidat oder einem Placebo. Die Thera- pietreue beziehungsweise Adhärenz wurde in bisherigen Studien meist mit der Anwe- senheitsquote bei den Sitzungen gemes- sen. In dieser kontrollierten, randomisier- ten Untersuchung führten die Forschenden zusätzlich Fragebögen durch. Diese sollten zum Beispiel erfassen, wie effektiv die Pa- tienten die Behandlung selbst einschätzten und wie häufig sie die erlernten Techniken einsetzten. Die Studie fand zwischen 2007 und 2013 statt. Psychotherapie gilt als wirksamer Therapieansatz bei ADHS. Unter welchen Voraussetzungen hilft sie wirklich? (Bildquelle: © Berit Kessler/stock.adobe.com) Ergebnisse ▪ Die Teilnehmenden stuften die Thera- pie über alle Gruppen hinweg insge- samt als moderat wirksam ein. ▪ Insgesamt nahmen die Probanden zu 78,40–94,37 % an den Sitzungen teil und nutzten die Techniken regelmäßig. ▪ Die am besten akzeptierten Methoden waren Sport und Achtsamkeit. ▪ Die Gruppen, die ein Placebo und/oder eine unspezifische Behandlung ohne Skillstraining erhielten, schätzten ihren Gesundheitszustand und die Wirk- samkeit der Medikamente deutlich schlechter ein als die DBT- und Methyl- phenidat-Gruppen. ▪ Die Verbesserungen der klinischen Er- gebnisse waren signifikant mit der Ak- zeptanz der Behandlung verbunden. ▪ Die subjektive (selbstberichtete) The- rapietreue stand in signifikantem Zu- sammenhang mit Verbesserungen der ADHS-Symptome, der klinischen Ge- samtwirksamkeit und des Ansprechens auf die Behandlung. FA ZIT Die Ergebnisse sprechen dafür, dass ADHS-Patienten eine DBT-basierte Therapie gut akzeptieren. Die Ak- zeptanz wiederum hing mit besseren Behandlungsergebnissen zusammen. Daneben sei auch die selbstberich- tete Therapietreue relevant. Diese müsse laut den Autoren in der Praxis besser adressiert werden, um den Behandlungserfolg zu maximieren. Die Bewertungen der Behandlungs- akzeptanz und -adhärenz sei jedoch retrospektiv erfolgt, was bei der Interpretation der Ergebnisse berück- sichtigt werden müsse. Annkatrin Wagner, M.Sc. Psychologie, Stuttgart PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 9–9 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 9
Alles was Recht ist Thieme Audio-Video-Dokumentation in der Psychotherapie: Sichern, Schützen, Archivieren In der modernen Psychotherapie gewin- nen Audio- und Videoaufzeichnungen zunehmend an Bedeutung. Sie ermögli- chen tiefere Einblicke, unterstützen Su- pervisionen und fördern die Qualitätssi- cherung. Doch mit diesen Vorteilen geht auch eine große Verantwortung einher: der Schutz sensibler Daten. Dieser Ar- tikel beleuchtet die Herausforderungen und gibt praxisnahe Beispiele, wie sich Datenschutz und Sicherheit in der Praxis umsetzen lassen. Die Bedeutung der Audio- Video-Dokumentation Audio- und Videoaufzeichnungen sind in der Psychotherapie ein wertvolles Instru- ment. Sie erlauben es, Sitzungen im Detail zu analysieren, Behandlungsverläufe nach- zuvollziehen und therapeutische Techniken zu verbessern. Gerade in der Supervision oder bei der Fallbesprechung bieten sie eine Möglichkeit, das Erlebte noch einmal aus der Distanz zu betrachten und so tie- fere Einsichten zu gewinnen. Doch genau diese Detailliertheit macht den Umgang mit solchen Aufzeichnungen auch beson- ders heikel. Datenschutz: ein zentrales Anliegen Das Grundprinzip beim Umgang mit Audio- und Videoaufzeichnungen in der Psycho- therapie lautet: Schutz der Privatsphäre. Jede Aufzeichnung ist ein sensibles Doku- ment, das die intimen Gedanken und Ge- fühle eines Patienten widerspiegelt. Daher sind strenge Maßnahmen erforderlich, um sicherzustellen, dass diese Daten nicht in falsche Hände geraten. Praktisches Beispiel: In einer psychothe- rapeutischen Praxis wird bei der Aufnah- me von Sitzungen ausschließlich auf ver- schlüsselte Speichermedien gesetzt. Die Aufzeichnungen werden direkt nach der Sitzung auf einem speziellen, gesicherten Server abgelegt, der nur durch autorisier- tes Personal zugänglich ist. Eine Zwei-Fak- tor-Authentifizierung (2FA) gewährleistet, dass nur berechtigte Personen auf die Da- teien zugreifen können. Ein typisches Ver- fahren könnte hier eine Kombination aus Passwort und einem Token sein, das an ein mobiles Gerät gesendet wird. Technologie, die schützt Zur sicheren Speicherung von Audio- und Videoaufzeichnungen gibt es verschiede- ne technische Lösungen, die sich bewährt haben: 1. Verschlüsselte Festplatten und Ser- ver: Eine NAS (Network Attached Stor- age) ist ein Speichersystem, das über ein Netzwerk zugänglich ist und es Nutzern ermöglicht, Daten zentral zu speichern, zu verwalten und darauf zu- zugreifen, bietet eine sichere Möglich- keit zur Speicherung sensibler Daten. Diese Systeme verschlüsseln die Daten sowohl im Ruhezustand als auch bei der Übertragung und sind nur mit den entsprechenden Berechtigungen zu- gänglich. 2. Zugangskontrollen durch Benutzer- verwaltungssysteme: Systeme wie Microsoft Active Directory ermögli- chen es, den Zugriff auf die sensiblen Daten durch klar definierte Benutzer- rollen und -gruppen zu steuern. Nur autorisierte Personen, wie der behan- delnde Therapeut oder in Ausnahme- fällen eine externe Supervision, erhal- ten Zugriff. 3. Gesicherte Kommunikationskanäle: Wenn es notwendig ist, Audio- und Vi- deodateien zu übermitteln, etwa für eine externe Supervision, sollte dies immer über gesicherte Kommunika- tionskanäle erfolgen. Hier haben sich Lösungen wie ProtonMail oder Tresorit bewährt, die eine Ende-zu-Ende-Ver- schlüsselung bieten. Praktisches Beispiel: In einer Praxis für Verhaltenstherapie wird jede Aufzeich- nung nach der Sitzung auf einem NAS ge- speichert, das in einem eigens dafür vor- gesehenen, abschließbaren Serverraum untergebracht ist. Der Raum ist zusätzlich mit einer Zugangskontrolle ausgestattet, die nur durch berechtigte Mitarbeiter mit einer RFID-Karte betreten werden kann. Selbst innerhalb der Praxis hat nur der be- handelnde Therapeut Zugang zu den Auf- zeichnungen, was durch eine differenzier- te Benutzerrechteverwaltung gewährleis- tet wird. Archivierung: Ordnung ist das halbe Leben Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die lang- fristige Archivierung der Aufzeichnun- gen. Psychotherapeuten sind gesetzlich verpflichtet, bestimmte Dokumente über einen festgelegten Zeitraum aufzubewah- ren. Für Audio- und Videoaufzeichnungen gelten ähnliche Vorschriften wie für schrift- liche Patientendokumentationen. Diese Fristen können je nach Land und spezifi- scher Gesetzgebung variieren, liegen aber i. d. R. zwischen 5 und 10 Jahren. Praktisches Beispiel: In einer Praxis wird ein zentraler Archivierungsprozess ver- wendet, bei dem jede Aufzeichnung nach der Erstellung automatisch in ein verschlüs- seltes Archiv verschoben wird. Eine Daten- sicherungssoftware wird genutzt, um re- gelmäßige Backups zu erstellen und diese auf einem externen, ebenfalls verschlüssel- ten Speichermedium zu sichern. Nach Ab- lauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist werden die Dateien automatisch aus dem Archiv entfernt und endgültig gelöscht. Sicherheitsmaßnahmen im Alltag Neben der technischen Sicherung der Daten spielt die praktische Handhabung im Alltag eine große Rolle. Hier einige Bei- spiele, wie der Datenschutz konkret umge- setzt werden kann: ▪ Sensibilisierung der Mitarbeiter: Jeder Mitarbeiter, der mit Audio- und Video- Grühn M. Audio-Video-Dokumentation in der ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 11–12 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 11
Alles was Recht ist Thieme Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen konflikt besteht. Autorinnen/Autoren Manfred Grühn Dipl. Inf., Jahrgang 1976; 1997–2001 Studium Medieninformatik in Berlin; 2001–2005 IT-Training, Administration und Support im Deutschen Bundestag; 2005–2014 Entwicklung der elektronischen Gesundheitskarte und Betrieb des Rechenzentrums; seit 2014 Auditor für Informationssicherheit (international) und Datenschutz (D-A-CH); 2023 Gründung der brenn.online mit Schwerpunkt TISAX, KRITIS, BSI, ISO 27001, NIS, SOC und Cyberkriminalität. Korrespondenzadresse Manfred Grühn brenn.online Heiligenhafener Chaussee 48/50 23758 Oldenburg in Holstein Deutschland E-Mail: manfred.gruehn@brenn.online Bibliografie PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 11–12 DOI 10.1055/a-2287-4699 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany aufzeichnungen zu tun hat, sollte re- gelmäßig in Datenschutzfragen ge- schult werden. Diese Schulungen be- inhalten praktische Übungen wie das sichere Speichern und Verwalten von Daten sowie den Umgang mit sensi- blen Informationen im täglichen Ar- beitsablauf. ▪ Einwilligung der Patienten: Vor jeder Aufzeichnung muss die ausdrückliche, schriftliche Einwilligung des Patienten eingeholt werden. Diese Einwilligung sollte detailliert dokumentieren, zu welchem Zweck die Aufzeichnung ge- macht wird, wie lange sie aufbewahrt wird und wer Zugriff darauf hat. Praktisches Beispiel: Eine Praxis, die sich auf Traumatherapie spezialisiert hat, hat ein standardisiertes Verfahren eingeführt, bei dem jeder Patient vor Beginn der Aufzeich- nung umfassend über die Nutzung und den Schutz seiner Daten informiert wird. Die Einwilligung wird in einem verschlüsselten digitalen Formular erfasst und sicher ge- speichert. Bei jeder weiteren Sitzung wird der Patient erneut gefragt, ob er der Auf- zeichnung zustimmt. Löschung: wenn Daten nicht mehr benötigt werden Die sichere Löschung von Daten ist genauso wichtig wie deren Schutz während der Auf- bewahrung. Nach Ablauf der gesetzlichen Fristen oder wenn der Patient seine Ein- willigung widerruft, müssen die Aufzeich- nungen so gelöscht werden, dass sie nicht wiederhergestellt werden können. Dies kann durch spezielle Software geschehen, die eine sichere, unwiderrufliche Daten- löschung gewährleisten. Praktisches Beispiel: In einer Praxis für Kinder- und Jugendpsychotherapie wird bei der Beendigung der Therapie oder auf Wunsch des Patienten die Aufzeichnung so- fort gelöscht. Dies erfolgt durch den Einsatz einer Löschsoftware, die sicherstellt, dass die Daten vollständig und unwiderruflich entfernt werden. Die IT-Abteilung führt da- rüber Protokoll, sodass jede Löschung nach- vollzogen und dokumentiert werden kann. Der Blick in die Zukunft Mit dem zunehmenden Einsatz digitaler Technologien in der Psychotherapie wird die Bedeutung von Datenschutz und Si- cherheit weiter steigen. Künftige Entwick- lungen, wie die Integration von KI-gestütz- ten Analyse-Tools oder die zunehmende Nutzung von Teletherapie, werden neue Herausforderungen, aber auch Chancen bieten. Wichtig ist, dass Psychotherapeu- ten und ihre Praxisteams weiterhin sensibi- lisiert bleiben und sich an den besten ver- fügbaren Technologien und Praktiken ori- entieren. Praktisches Beispiel: Eine Praxis plant, in naher Zukunft ein KI-gestütztes Tool zur Analyse von Therapiesitzungen einzufüh- ren. Schon jetzt werden die Datenbestände darauf vorbereitet, indem alle sensiblen In- formationen durch Pseudonymisierung ge- schützt werden. Dieses Verfahren stellt si- cher, dass selbst bei einem möglichen Da- tenleck keine direkten Rückschlüsse auf die Identität der Patienten gezogen wer- den können. FA ZIT Der Umgang mit Audio- und Video- aufzeichnungen in der Psycho- therapie erfordert ein hohes Maß an Sorgfalt und Verantwortung. Durch den Einsatz moderner Technologie, die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben und die kontinuierliche Schulung des Personals lässt sich der Schutz sensibler Daten sicherstellen. In einer Welt, in der digitale Dokumentation immer mehr an Bedeutung gewinnt, bleibt der Datenschutz ein zentrales Thema – und eine Herausforderung, der sich jede psychotherapeutische Praxis stellen muss. 12 Grühn M. Audio-Video-Dokumentation in der ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 11–12 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Editorial Transkulturelle Psychotherapie Dr. Barbara Stein Prof. Christoph Flückiger Anerkennung der Vielfalt Wir verinnerlichen von Kindheit an zumeist unbemerkt kulturell geprägte Denk- und Verhaltensmuster. Elemente einer Kultur sind nicht nur Sprache, Gewohnheiten, Ritua- le oder Ähnliches, sondern auch moralische, normative und wertbezogene Vorstellun- gen. Unser Denken, Fühlen, Interpretieren und Handeln ist durch unsere kulturellen Hin- tergründe beeinflusst. Der Kleidungsstil, die Art und Weise, wie wir uns ausdrücken, oder unser Verhalten in Konfliktsituationen sind Ausdruck unseres soziokulturellen Kontex- tes. Kultur kann soziale Zugehörigkeit signalisieren und reproduzieren – oder eben Gren- zen und Unterschiede markieren. Wir alle haben feine Antennen dafür, welche soziokul- turellen Kodexe unser Gegenüber markiert. Problematisch wird es dann, wenn dies zur Stigmatisierung, Entwertung, Diskriminierung oder Ausgrenzung und zu einer dichoto- men Wahrnehmung von „Wir“ und „Andere“ führt. Dies betrifft Menschen aus unter- schiedlichsten sozialen Milieus, wie Angehörige anderer Generationen, sexueller Ori- entierungen, Bildungsschichten, Genderzugehörigkeiten, Sprachen und Dialekten, Re- gionen usw. Wir leben in einer zunehmend pluralistischen Welt, in der kulturelle Diversität zum All- tag gehört. Rund 25 % der Bewohner in Deutschland weisen einen Migrationshinter- grund auf. In den letzten Jahren führten politischen Unruhen und Kriege, Wirtschafts- krisen und die klimatischen Veränderungen zu erheblichen Migrations- und Flüchtlings- bewegungen. Viele der Geflüchteten sind traumatisiert oder leiden unter anderen psychischen Problemen und Erkrankungen. Der Verlust der Heimat, die Notwendigkeit, in der neuen Welt zurechtzukommen, sich anzupassen und auch abzugrenzen, Identi- tätsfragen und Generationskonflikte, wirtschaftliche und arbeitsbezogene Probleme, die Sorge um Angehörige im Ursprungsland, langwährende aufenthaltsrechtliche Un- sicherheiten oder Diskriminierungserfahrungen führen zu erheblichen Belastungen und gesundheitlichen Problemen. Die Zahl der Menschen mit transkulturellem Hintergrund, die psychotherapeutische Unterstützung benötigen, nimmt entsprechend ihrem wach- senden Anteil an der Bevölkerung ständig zu – aber noch immer gibt es viele Barrieren hinsichtlich einer adäquaten psychosozialen Versorgung. Vielfältige Faktoren erschwe- ren die Behandlung von Patient*innen aus anderen Kulturen, etwa sprachliche Kommu- nikationsprobleme, Verzerrungen im Diagnoseprozess oder kulturell unterschiedliche Krankheitskonzepte. Kultursensibilität als Schlüsselkompetenz Hinzu kommt: Auch Psychotherapie kann keinen Raum gewährleisten, der vor norma- tiven und wertbezogenen Vorstellungen und gesellschaftlichen Diskriminierungs- und Privilegierungsverhältnissen vollständig geschützt ist. Das Verhalten von Psychothera- peut*innen ist durch persönliche Erfahrungen und der Darstellung kultureller Kodexe mitbeeinflusst, die sich sowohl in empathischem Verständnis als auch gleichzeitig in kränkenden und stigmatisierenden Mikroaggressionen manifestieren können. Um sol- che Prozesse zu erkennen, wird Kultursensibilität mit kritischer Selbstreflexion der ei- genen eben auch verstörenden internalisierten Werte und Normen als eine Schlüssel- kompetenz vorausgesetzt. Daher wird zunehmend eine vertiefte Auseinandersetzung mit transkulturellen Kompetenzen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Psychothe- rapeut*innen gefordert. PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 13
Editorial Was heißt das nun konkret? Was zeichnet kultursensible Psychotherapie aus? Mit wel- chen Herausforderungen sind Ratsuchende und Psychotherapeut*innen in modernen transkulturellen Gesellschaften konfrontiert? Wie können Zugangsbarrieren zu einer bedürfnis- und bedarfsgerechten psychosozialen Versorgung unter dem Aspekt der Di- versität reduziert werden? Diesen Fragen möchten wir in diesem Heft nachgehen. Unsere vier Beiträge in der Rubrik Standpunkte spannen einen weiten Diskussionsbo- gen: Eva Heim und Ulrike von Lersner führen uns in die Thematik ein, indem sie die Be- deutung von Kultursensitivität als therapeutisches Wirkfaktor im therapeutischen Han- deln beschreiben. Jessie Mmari und Ilja Gold untersuchen, welche Prozesse auch in der Psychotherapie zu Diskriminierung und Rassismuserfahrungen führen können. Die zwei weiteren Beiträge beschäftigen sich mit den konzeptionellen Grundlagen der Berück- sichtigung kultureller Diversität im Therapieprozess durch eine multikulturelle Orien- tierung (Berrin Özlem Otyakmaz) sowie einer systemisch-ethnologischen Haltung als prozessorientierte therapeutische Haltung (Christina Hunger-Schoppe und Chawwah Yael Grünberg). In der Rubrik „Aus der Praxis“ werden vielfältige Ansätze vorgestellt, wie eine transkul- turelle psychotherapeutische Versorgung strukturell, konzeptionell und interaktionell realisiert werden kann: Rilana Stöckli und Monia Aebersold beschreiben ein psychoso- ziales Stepped-Care-Modell in der Versorgung traumatisierter Geflüchteter, das in der Schweiz implementiert wurde. Die psychotherapeutische Beziehung und dort auftre- tende Mikroaggressionen untersuchen Eva Klein und ihre Kollege*innen, Birsen Kahra- man weist auf die Bedeutung einer diskriminierungssensiblen Haltung der Psychothe- rapeut*innen hin. Die multiplen Herausforderungen im Verlauf verschiedener Migrati- onsphasen werden durch Jan Ilhan Kizilhan und Claudia Klett dargestellt. Sarah Stapel und Eva-Lotta Brakemeier diskutieren, wie psychotherapeutische Expertise in aktuellen Kriegskonflikten eingebracht werden kann – am Beispiel niederschwelliger Beratung, interpersoneller Psychotherapie und digitaler Schulung von Psychotherapeut*innen in der Ukraine. Thematisch passend dazu stellen Sarah Wilker und Frank Neuner die Nar- rative Expositionstherapie (NET) zur Verarbeitung und Integration traumatischer Erfah- rungen in die Lebensgeschichte dar. Diskriminierungserfahrung und Diversität sind eng verbunden – das erleben auch queere Personen. Der Beitrag von Jan Schürmann-Ven- gels widmet sich den Herausforderungen der psychotherapeutischen Versorgung von LGBTQ + Personen. Özgür Tamcan fokussiert auf Schmerzstörung und Migrationserfah- rung und Mike Mösko bietet in seinem Beitrag hilfreiche Strategien zur Überwindung von Sprachbarrieren an. Sie sehen, das vorliegende Heft der PiD Heft ist bunt, vielfältig und reichhaltig – aber wir haben noch zwei weitere Highlights, die geprägt sind von den persönlichen Erfahrun- gen der Autorin bzw. des Interviewpartners: Kerstin Weidner lädt zu einer kritischen Re- flexion unserer deutsch-deutschen Stereotypien ein und der Schweizer Komiker Jonny Fischer zeigt im Gespräch mit Christoph Flückiger, dass das Überwinden von persönli- chen Grenzen zwar schmerzhaft ist, sich aber lohnt. Nun, wir sind gespannt auf unser Heft – und freuen uns auf Ihre Reaktionen! Barbara Stein, Christoph Flückiger 14 14 PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Drogen verstehen: Wirkungen, Gesetze und Hintergründe Aufklärung für Jedermann Von Alkohol bis Zigaretten, von Anabolika bis Zauberpilze – die Vielfalt der legalen und illegalen Versuchungen ist groß. Mit diesem Buch haben Sie den Überblick: • Klare Erklärungen zur körperlichen und psychischen Wirkungsweise von Drogen • Einblicke in Herkunft, Pharmakologie und Toxikologie der in Europa gängigen Suchtmittel • Strukturierte Darstellung moderner Verfahren zum Nachweis von Drogenkonsum • Behandlung der Gesetzeslage von Drogengeschäften sowie ökonomische, soziale und politische Hintergründe Der perfekte Begleiter für alle, die mit Suchtkranken in Kontakt kommen! Buch plus Online-Version in der eRef ISBN 978 3 13 245673 0 shop.thieme.de n e d n e l l i a f n a e d n e d r e w 9 9 4 3 A R H , t r a g t t u t S r e t s i g e r s l e d n a H d n u - z t i S , G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . t e n h c e r e b r e t i e w n e t s o k d n a s r e V ] D l [ b a h r e ß u a n e g n u r e f e i L i e B . n e t l a h e b r o v r e m ü t r r I d n u n e g n u r e d n ä s i e r P
Essentials Transkulturelle Psychotherapie Definitionen, Fakten, Relevantes – die PiD-Essentials fassen die wichtigsten Informationen zum Thema des Heftes knapp und übersichtlich für Sie zusammen. Kulturelle Vielfalt ist eine europäische Realität und Selbst- verständlichkeit. So hat etwa ein Viertel aller in Deutsch- land lebenden Menschen kulturelle Bindungen zu mindes- tens 2 Ländern, d. h. mindestens ein Elternteil ist nicht in Deutschland geboren. [1]. Kulturelle Vielfalt ist, wie der Begriff verspricht, äußerst vielschichtig. Über kulturelle Nuancen zu sprechen, kann ein heikles Terrain sein. Wel- che Worte in welchem Kontext wie verwendet werden und konnotiert sind – dies kann innerhalb und außerhalb der Therapie verunsichern und einen zu einem gewissen Grad sprachlos machen. Definition Kultur und Subkultur ist ein psychosoziales Konstrukt und umfasst Erwartungen an Überzeugungen, Werte, Normen und alltägliche Praktiken, etwa die Art der Begrüßung, die das Verhalten und die Wahrnehmung von Menschen zu einem großen Teil implizit modulieren. Kulturelle Kom- petenz setzt ein breites Bewusstsein und Wissen um die kulturelle Komplexität von (Sub-)Kulturen voraus [2]. Das Verständnis kultureller Kontexte von Patient*innen ist in der Psychotherapie omnipräsent. Sich der eigenen kultu- rellen Wertvorstellungen und Handlungsimpulse bewusst zu sein und diese zu hinterfragen, ist Teil der kontinuierli- chen Selbstreflexion von Psychotherapeut*innen in Wei- terbildung, Fortbildung und Selbsterfahrung. Migrationsprozesse Migrationsprozesse sind oft mit massiven Veränderungen im Alltag verbunden und manifestieren sich in den klei- nen und feinen Routinen des täglichen Lebens. Sie gehen mit einem Wechsel des kulturellen Umfelds, einer Verän- derung der Lebensbedingungen und sozialer Umstellung einher. Migrationsprozesse können Schwierigkeiten mit sich bringen, bspw. Orientierungslosigkeit, eine unsiche- re Zukunftsperspektive, Identitätskonflikte, ..., sozioöko- nomische Probleme, Verständigungsprobleme und erleb- te Diskriminierung. Flucht ist ein erzwungener Migrations- prozess, der oftmals mit stark erhöhtem Stresserleben und reduziertem Kontrollbewusstsein verbunden sein kann [3]. Sluzki unterteilte Migrationsprozesse in folgende nicht li- near verlaufende Phasen: Vorbereitung, Migrationsakt, Überkompensation, Dekompensation, Akkulturation. Die finale Phase der Akkulturation kann eine Sortierung der verschiedenen kulturellen Identitätsaspekte beinhalten. Die unterschiedlichen Migrationsprozesse können mit hö- heren Prävalenzraten psychischer Störungen einhergehen; besonders häufig werden affektive und somatoforme Stö- rungen diagnostiziert [4]. Psychotherapeutische Versorgungssituation Psychotherapie mit Migrant*innen ist eine Herausforde- rung. Hilflosigkeit, Überforderung vonseiten der Thera- peut*innen, u. a. durch mangelndes kulturelles Wissen, fehlende Erfahrungen und Vorurteile, sind eine therapeu- tische Realität. Die Suche nach einem Therapieplatz ge- staltet sich für Migrant*innen oftmals als schwierig und langwierig. Sprachbarrieren können den Erstkontakt er- schweren, und oftmals fehlt der Zugang zu einfachen und verständlichen Informationen zu Leistungen des Ge- sundheitssystems. Besonders kritisch zeigt sich die Ver- sorgungssituation für Asylsuchende und Geflüchtete, da diese Behandlungen häufig mit einem hohen Zeitaufwand einhergehen und finanzielle Mittel sowie klare Regelun- gen für Dolmetscher*innen fehlen [5]. Die Finanzierung der Psychotherapie Geflüchteter ist abhängig vom Aufent- haltsstatus. Das Asylbewerbergesetz regelt in den ersten 15 Monaten des Aufenthaltes die Kostenübernahme aku- ter Störungen und in Ausnahmefällen auch psychothera- peutische Behandlung. Je nach Aufenthaltsstatus ist ent- weder das Jobcenter, die gesetzliche Krankenversicherung oder das Sozialamt (Asylbewerber) zuständig. Die Unge- wissheit einer Abschiebung kann die Planung eines thera- peutischen Prozesses erschweren. Psychotherapeutische Praxis Je nach kulturellem Hintergrund der Patient*innen können sich die Schilderungen von Symptomen, das Krankheits- verständnis und die Behandlungserwartungen deutlich un- terscheiden. Eine kultursensible Diagnostik mit Beachtung 16 Huber H. Transkulturelle Psychotherapie ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 16–17 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Korrespondenzadresse M. Sc. Helene Huber Kreuzstraße 60 67434 Neustadt an der Weinstraße E-Mail: helene-huber@posteo.de Literatur [1] BAMF Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Migrations- bericht 2019. Im Internet: www.bamf.de/SharedDocs/ Anlagen/DE/Forschung/Migrationsberichte/MB-2019/mi- grationsbericht-2019-kap7.pdf?__blob=publicationFile&v=3; Stand: 30.05.2024 [2] Sue DW, Bernier JE, Durran A et al. Position Paper: Cross-Cul- tural Counseling Competencies. The Counseling Psycho- logist; DOI: 10.1177/0011000082102008 [3] Lersner U von, Kızılhan Jİ. Kultursensitive Psychotherapie. Göttingen: Hogrefe; 2017 [4] Bermejo I, Ruf D, Mösko M et al. Epidemiologie psychischer Störungen bei Migranten. In: Machleidt , Heinz A, Hrsg. Praxis der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie. Elsevier; 2011: 209–215 [5] Gaitanides S. Zugangsbarrieren von Migrant(inn)en zu den sozialen und psychosozialen Diensten und Strategien inter- kultureller Öffnung. In: Auernheimer G, Hrsg. Migration als Herausforderung für pädagogische Institutionen. Wiesba- den: VS Verlag für Sozialwissenschaften; 2001: 181–194 Bibliografie PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 1–17 DOI 10.1055/a-2289-6132 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany individueller Krankheitskonzepte und Erklärungsmodelle ist unerlässlich. Weiterhin ist die Einordnung in bestehende Klassifikati- onssysteme eine Herausforderung. Sie erfordert ein ge- wisses Maß an Pragmatismus, den starken Leidensdruck in bestehenden Konzepten mit Krankheitswert abzubil- den. So steht beispielsweise die Frigophobie, ein v. a. im südostasiatischen Kulturraum beschriebener psychischer Zustand, der eine übermäßige Angst vor Kälte und Wind beschreibt, konzeptionell den spezifischen Phobien nahe. Weiterhin bietet sich eine pragmatische Verwendung der bestehenden Z-Diagnosen an. Das „Cultural Formu- lation Interview (CFI, APA 2013)“ bietet einen systemati- schen Leitfaden zur Exploration kultureller Kontexte von Patient*innen. Es bietet so Möglichkeiten zum besseren Verständnis von Erklärungsmodellen, Krankheitskonzep- ten, Einflussfaktoren und Bewältigungsstrategien. Weiter- hin müssen bestehende standardisierte Messinstrumente auf kulturelle Äquivalenz hin überprüft werden. Eine sorg- fältige, am individuellen Verständnis orientierte Diagnos- tik und Psychotherapie bleibt zentraler Bestandteil jeder Behandlung [3]. Interkulturelle Psychotherapie erfordert, je nach Sichtwei- se, eine Weiterentwicklung bzw. Rückbesinnung auf die Es- sentials der psychotherapeutischen Grundprinzipien. Eine kontinuierliche Selbstreflexion und Anpassung des psycho- therapeutischen Vorgehens an die Bedürfnisse und die kul- turellen Kontexte der Patient*innen sind unerlässlich, um die Versorgung psychischer Leiden inklusiver und zugäng- licher gestalten zu können. Autorinnen/Autoren Helene Huber M. Sc. Psychologin. Studium der Psychologie an der Philipps-Universität Marburg und der Universität in Aarhus/Dänemark. Seit 2021 in Weiterbildung zur psychologischen Psycho- therapeutin (VT). Tätig als Psychologin im Pfalzklinikum in Klingenmünster auf einer Station für affektive Erkrankungen und ambulant im WiPP in Landau. Huber H. Transkulturelle Psychotherapie ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 16–17 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 17
Standpunkte Transkulturelle Klinische Psychologie: Zurück in die Zukunft? Eva Heim, Ulrike von Lersner Quelle: © melita/stock.adobe.com Im Juni 2024 fand in Berlin der 3. Deutsche Psychotherapiekongress statt. Dabei wurde deutlich: Die transkulturelle Psychotherapie (TKP) lebt und gewinnt an Bedeutung. Bisher wurde die TKP in den Subdisziplinen der Klinischen Psychologie unterschiedlich verfolgt. Wir erachten die Kultursensitivität als allgemeinen schulenübergreifenden Wirkfaktor, dem die klinisch-psychologische Forschung und Praxis vermehrt Beachtung schenken sollte. Psychologie als Wissenschaft – eine historische Rückbesinnung tanz zu betrachten – ganz so, wie wir das oftmals unseren Patient*innen vorschlagen. Aus der Psychotherapie wissen wir, dass es unabdingbar ist, auf die Lebensgeschichte der Patient*innen zurück- zublicken, um ihr aktuelles Erleben und Verhalten besser einordnen zu können. Für diesen Artikel wollen wir eben- falls kurz auf die Entstehungsgeschichte der Psychologie zurückblicken. Diese Herangehensweise soll uns dabei be- hilflich sein, unser eigenes Denken aus einer gewissen Dis- In den Anfängen der Psychologie als Wissenschaft wurde darüber debattiert, ob sie eher in den Natur- oder in den Geistes- und Sozialwissenschaften anzusiedeln sei. Dabei sprachen sich wichtige Pioniere wie Wilhelm Wundt dafür aus, dass wir zwei „Psychologien“ brauchen, die sich ge- genseitig ergänzen: Die eine, welche mithilfe von Experi- menten die allgemein gültigen Gesetze menschlichen Er- 18 Heim E et al. Transkulturelle Klinische Psychologie: ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 18–23 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
lebens und Verhaltens erforscht, und eine andere, welche den historischen, sozialen und kulturellen Kontext berück- sichtigt [1]. Dieser Vorschlag hat auch heute eine weitreichende Be- deutung für die psychologische Wissenschaft, und insbe- sondere für die psychologische Psychotherapie, denn diese historische Debatte ist sinnbildlich für einen der zentral- sten Aspekte der transkulturellen Psychologie und Psycho- therapie: Die Konzeption des Selbst bzw. der Person. Unser psychologisches Fachwissen basiert im Wesentlichen auf einem „westlich“ geprägten Menschenbild, welches histo- risch, sozial und kulturell verankert ist. Dazu gehören bei- spielsweise die Betonung der Einzigartigkeit, Unabhängig- keit und Selbstverantwortung jedes Individuums [2] oder die Wichtigkeit des emotionalen Geschehens und Aus- drucks [3]. Dieses Menschenbild spiegelt sich in der Po- litik, in unseren Gesetzen, im Bildungswesen und in un- serem Wirtschaftssystem wider. Es ist um uns und in uns wie die Luft, die wir atmen, und wir nehmen es als selbst- verständlich wahr. Dieses Menschenbild entspricht der „ersten“ Psycholo- gie: Das Individuum, der Geist, die Psyche werden als vom Kontext losgelöste Entitäten wahrgenommen, Menschen wird ein abstrakter Charakter, eine einzigartige und kon- textunabhängige Persönlichkeit zugeschrieben. Gleich- zeitig werden Menschen als Inkarnation einer abstrakten Menschheit betrachtet [4], deren Gesetze sich mithilfe ex- perimenteller Methoden erforschen lassen. Persönlichkeit, Emotionen, Kognitionen, Motive – diese Konzepte werden als abstrakte Kategorien, kontextunabhängig erforscht [5]. In der „anderen“ Psychologie wird das Individuum, d. h. seine Gedanken, Gefühle oder sein Verhalten, immer in Bezug gesetzt zu seinem Kontext [1]. Diese „andere“ Psychologie verwendet heute vor allem qualitative Me- thoden und kommt zu anderen Resultaten als die „erste“ Psychologie. Interessanterweise ist die Grundannahme der „zweiten“ Psychologie, wonach der Mensch nur in seinem Kontext verstanden werden kann, in den meisten Gesell- schaften weltweit eine Selbstverständlichkeit [4]. Wichtige Pioniere der Psychologie waren der Ansicht, dass wir beide Sichtweisen brauchen, um die menschliche Psy- che wirklich zu verstehen [1]. Da die „erste“ Psychologie jedoch eher dem westlichen Verständnis einer Person ent- spricht, wird heute an den Universitäten hauptsächlich diese „eine“ Psychologie gelehrt, gelernt und erforscht, und ihre Befunde werden als „universelle“ Gesetzmäßig- keiten propagiert. Wir und die anderen Die meisten Erkenntnisse der Psychologie basieren auf Forschungsergebnissen aus den USA, Europa und Aus- tralien [6] und bilden innerhalb dieser Regionen lediglich einen kleinen Ausschnitt der Bevölkerung ab, nämlich in vielen Fällen Studierende an den Universitäten [5]. Diese Kohorte der Weltbevölkerung ist uns sehr vertraut, da wir Teil von ihr sind, was uns dazu verleitet, die Erkenntnis- se der Psychologie als „universell“ anzusehen. Diese An- nahme hält der empirischen Überprüfung jedoch nicht stand. Henrich et al. [5] haben eine Vielzahl von psycho- logischen Konstrukten (z. B. Fairness, moralisches Denken, Selbstwert, Konformität) in vielen Regionen der Welt un- tersucht. Die Resultate zeigen, dass die sog. „WEIRD“-Re- gionen (western, educated, industrialised, rich, and dem- ocratic; WEIRD = englisches Wort für „komisch“) im inter- nationalen Vergleich häufig einen Ausreißer bilden, sich also stark von anderen Gruppen abheben, während sich die anderen Gruppen untereinander bei aller Variabilität doch ähnlicher sind. Wie oben dargestellt besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen „uns“ (den WEIRD-Regionen) und „den ande- ren“ darin, wie wir den Menschen betrachten, nämlich als autonomes Individuum. Der herausragende Kultur- anthropologe Cliffort Geertz bezeichnet diese Denkwei- se aus dem Blickwinkel anderer soziokultureller Gruppen als eine „ziemlich eigentümliche“ Idee [7]: „Die westliche Vorstellung von der Person als einem begrenzten, einzig- artigen, mehr oder weniger integrierten motivationalen und kognitiven Universum, einem dynamischen Zentrum des Bewusstseins, der Emotionen, des Urteils und des Han- delns, das zu einem unverwechselbaren Ganzen organi- siert ist und sich sowohl gegen andere solche Ganzheiten als auch gegen einen sozialen und natürlichen Hintergrund abgrenzt, ist, so unverbesserlich sie uns auch erscheinen mag, eine ziemlich eigentümliche Idee im Kontext der Kul- turen der Welt. (S. 48) “ In vielen soziokulturellen Gruppen kann das Selbst nur als Teil eines Ganzen verstanden werden [2]. Der Fokus liegt eher auf der Außenwelt als auf dem inneren Geschehen, sozialer Status und Ansehen werden durch das Erfüllen von Rollen erreicht. Umgekehrt kommt der Verlust des sozialen Ansehens und der damit verbundene Ausschluss aus der Gemeinschaft einem Verlust des Selbst gleich, was u. U. mit dem Tod gleichgesetzt wird [8]. Menschen werden nicht im Sinne eines abstrakten, überdauernden Charak- ters wahrgenommen, sondern anhand ihres Verhaltens in bestimmten Situationen und vor dem Hintergrund ihrer Rolle und ihres Status [4]. Entsprechend werden auch Emo- tionen als „zwischen Menschen“ wahrgenommen, und nicht als „in Menschen drin“ [9]. Diese unterschiedlichen Sichtweisen werden in der Lite- ratur oft als „Individualismus“ und „Kollektivismus“ bzw. „Independenz“ und „Interdependenz“ beschrieben. Hier gilt es allerdings auch anzumerken, dass sich weltweit viele verschiedene „Spielarten“ von Independenz und Interde- pendenz finden, weshalb die Dichotomie zu kurz greift [10]. Doch die grundlegende Auffassung eines autonomen vs. eines eingebundenen Individuums, mit all seinen Kon- Heim E et al. Transkulturelle Klinische Psychologie: ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 18–23 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 19
Standpunkte sequenzen, ist sicherlich ein Grundpfeiler der transkultu- rellen Psychologie. Wenn wir uns auf diesen Gedanken einlassen, dann erge- ben sich daraus auch wichtige Erkenntnisse für die Psycho- therapie. Wir nähern uns damit nicht nur dem Selbstkon- zept der „anderen“ (also nicht westlichen Gesellschaften) an, sondern wir verpflichten uns gleichzeitig dem Anliegen von Wilhelm Wundt und seinen Weggefährten, welche das Individuum in seinem einzigartigen sozialen und histori- schen Kontext betrachten wollten [1]. Kultur und Psyche Nach neueren Erkenntnissen der kulturellen Neurowis- senschaften ist der menschliche Geist (engl. „mind“) kon- textgebunden [11]. Die neuronale Bahnung, die allen psy- chologischen Prozessen zugrunde liegt, findet innerhalb einer soziokulturellen Nische statt und ist von dieser ge- prägt [12]. Die eingehende Information wird im Sinne die- ses „Mind-Sets“ wahrgenommen, gefiltert, gespeichert und abgerufen, und das Verhalten anderer wird entspre- chend bewertet und eingeschätzt. In diesem Sinne kann Kultur auch als „Interpretationsrahmen“ verstanden wer- den (s. Infobox), der dazu dient, die eingehende Informa- tion zu strukturieren und ihr einen Sinn zu verleihen. Ohne das Verständnis des Kontexts ist es daher schwierig, das menschliche Erleben und Verhalten zu verstehen. Dies gilt auch für die Psychopathologie [13]. Die soziokulturelle Nische, wie sie in der Literatur auch ge- nannt wird [12], entspricht der Schnittmenge verschie- dener Gruppen, denen sich ein Mensch zugehörig fühlen kann, also z. B. Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Sta- tus, Religion, Sprache, ethnische Gruppe, sexuelle Identi- tät und Orientierung etc. Die Sozialisierungserfahrungen aus diesen Lebenswelten bilden sich im Gehirn in Form von Schemata (auch kulturelle Skripte oder Modelle ge- nannt) ab. Körperliche Erfahrungen (z. B. Herzrasen) wer- den in einem bestimmten Kontext wahrgenommen, in- terpretiert (z. B. Prüfung, erstes Date, Sport, Herzinfarkt) und ggf. kommuniziert [11]. Hierbei werden Symbole wie Sprache, Gestik, Mimik oder andere Formen der Kommu- nikation verwendet, welche uns die Zugehörigkeit zu einer Gruppe sichern. Komplexe Konstrukte wie Emotionen werden mithilfe eines Wortes, einer Geste oder eines Gesichtsausdrucks transportiert. Dies funktioniert nur dann, wenn diese Sym- bole für beide Seiten denselben Sinn beinhalten. Stellen wir uns vor, wir möchten telefonisch eine Pizza bestellen, doch der Verkäufer am anderen Ende der Leitung hat keine Ahnung, worum es sich bei einer Pizza handelt. In diesem Fall müssten wir erklären, was mit einer Pizza gemeint ist. Das Wort „Pizza“ verkürzt diesen Prozess erheblich, da das Wissen darüber, was ich gerne möchte, geteilt wird [11]. Wenn wir die Bedeutung eines Begriffs nicht kennen, dann kann die Kommunikation erheblich gestört sein. Ähnliches gilt auch für Gesten, Mimik oder andere Ausdrucksweisen, die nur dann dekodiert werden können, wenn alle Betei- ligten in einer Situation dasselbe Wissen über deren Be- deutung teilen. Kultur als „Interpretationsrahmen“ meint dieses geteilte Verständnis über den Sinn, die Bedeutung von Symbolen. Im Bereich der Psychopathologie sprechen wir z. B. von „kulturell gebundenen Leidensbegriffen“ [14]. Diese Lei- densbegriffe transportieren die Botschaft von psychischer Belastung, bedienen sich dabei häufig eines somatischen Vokabulars, sind meist kontextgebunden und beinhalten manchmal ein komplexes Geflecht von Bedeutungen, die Beziehungen, Hierarchien, Lebensbedingungen, Stigma oder andere Aspekte mit einbeziehen [8]. Ein Beispiel wäre der Leidensbegriff einer „geplatzten Gallenblase“, welcher im türkischen Sprachraum verwendet wird, um einen Zu- stand von Überarbeitung voller Sorgen und Kummer zu kommunizieren. INFO Kulturbegriff(e) In den Sozialwissenschaften findet sich eine Vielzahl von Kulturdefinitionen. Diese beinhalten häufig die in einer Gruppe geteilten Werte, Normen und Praktiken, welche von einer Generation zur anderen weitergegeben werden und sich in stetiger Ver- änderung befinden, also dynamisch sind [15]. In der TKP wird Kultur auch als „Interpretationsrahmen“ [16] verstanden. Der soziokulturelle Kontext gibt einen Rahmen vor, innerhalb dessen die in der sozialen Welt vorhandenen Symbole (z. B. Wörter, Gesten, Mimik, Bilder) interpretiert und verstanden werden. In diesem Artikel verwenden wir den Begriff soziokulturell anstelle von kulturell, um damit auszudrücken, dass die kulturelle Identität weit mehr beinhaltet als die ethnische Zugehörig- keit. Zur soziokulturellen Identität gehören u. a. auch Alter, Geschlecht, Religion, sozialer Status, Bildungsniveau, städtischer vs. ländlicher Lebens- raum und sexuelle Orientierung [17]. Auch ver- wenden wir den Begriff „transkulturell“. Der Begriff der Transkulturalität verdeutlicht, dass Kultur(en) dynamisch und untrennbar ineinander verwoben sind. Damit löst er frühere Konzepte wie „Inter“- oder „Multikulturalität“ ab, welche von voneinander abgrenzbaren, lediglich miteinander interagieren- den Kulturen ausgingen. Transkulturelle Psychotherapie in der Praxis Die Psychotherapie basiert auf Kommunikation, sowohl verbal wie nonverbal. In der TKP besteht u. U. weniger 20 Heim E et al. Transkulturelle Klinische Psychologie: ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 18–23 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
geteiltes Wissen zwischen Therapeut*in und Patient*in, wodurch Behandler*innen sich viel mehr erklären lassen und nachfragen müssen, als dies in der Psychotherapie mit Menschen aus einer ähnlichen soziokulturellen Nische der Fall ist. Es braucht eine Haltung von Offenheit und Neu- gierde, um das Erleben und Verhalten von Patient*innen aus anderen soziokulturellen Nischen zu verstehen. Dieses systematische Erfragen des soziokulturellen Kontexts wird auch als „kulturelle Formulierung“ bezeichnet. Im Anhang des DSM-5 findet sich ein Interviewleitfaden als eine Mög- lichkeit zur soziokulturellen Formulierung psychischer Stö- rungen, in der die Patient*innen sehr konkret zum sozio- kulturellen Kontext ihrer Schwierigkeiten befragt werden. Unseren vertrauten Bezugsrahmen zu verlassen kann erst einmal Unbehagen auslösen. Wir sind es gewohnt, als Ex- pert*innen aufzutreten und als solche angesehen zu wer- den. Auch der Begriff „kulturelle Kompetenz“ suggeriert erst einmal eine neue „Kompetenz“, die wir uns aneignen müssen. In der neueren Zeit hat sich der Begriff der „kultu- rellen Bescheidenheit“ herausgebildet [18]. Kulturelle Be- scheidenheit bedeutet, dass wir uns unserer blinden Fle- cken und unseres Nichtwissens bewusstwerden, den Mut haben, nachzufragen, und uns unbekannte Sachverhalte erklären lassen. Aus unserer Sicht bedeutet dies auch, dass wir uns auf das Bild des kontexteingebundenen Individu- ums in aller Konsequenz einlassen. Die unterschiedlichen Psychotherapieschulen weisen auf- grund ihrer theoretischen Verankerung unterschiedliche Ansatzpunkte für die Auseinandersetzung mit dem Indi- viduum in seinem Kontext auf und blicken auch auf sehr divergente historische Entwicklungen in diesem Bereich zurück. So leistete z. B. die Ethnopsychoanalyse bereits in den 1960er Jahren wichtige Pionierarbeit in der TKP, wäh- rend die Verhaltenstherapie in ihren frühen Phasen das In- dividuum dekontextualisierte und sich vor allem auf die individuelle Lern- und Lebensgeschichte konzentrierte. Der systemische Ansatz denkt den Kontext von vorher- ein als unabdingbar für das Verständnis psychischen Er- lebens mit. Aus unserer Sicht stellt die Kultursensitivität einen all- gemeinen schulenübergreifenden Wirkfaktor dar. Um- gekehrt kann eine fehlende Kultursensitivität die Akzep- tanz und Wirksamkeit der Psychotherapie erheblich ein- schränken. Dazu gehört auch, dass wir uns mit unserer eigenen kulturellen Eingebundenheit, mit unserem im- plizit als „normal“ angenommenen Menschenbild, aber auch mit unseren Privilegien und mit unserer historischen Herkunft auseinandersetzen. Sollte uns dies in Zukunft in breitem Umfang gelingen, dann wird der Begriff der TKP laut Andrew Ryder eines Tages nicht mehr notwendig sein [19]: „Eine Psychologie, die eine ganzheitliche Sichtweise von Kultur, Geist und Gehirn vertritt und insbesondere zur Erforschung dieser Ebenen beiträgt, bräuchte die Bezeich- nung ‚kulturell‘ nicht mehr. Die kulturell-klinische Psycho- logie hätte dann einen einfachen und vertrauten Namen: ‚klinische Psychologie‘. (S. 229)“ Die Psychologie beschäftigte sich von Beginn an mit Fra- gen von Individuum und Kontext. Unabhängig vom jewei- ligen schulenspezifischen Hintergrund hat sich die Psycho- therapie stetig weiterentwickelt. Die TKP stellte sich in den vergangenen Jahren zunehmend auch unangenehmen Fra- gen von Rassismus und Ethnozentrizität. Wir betrachten unsere Patient*innen und ihre Symptomatik nicht mehr nur vor dem Hintergrund ihrer individuellen Lebensge- schichte, sondern beziehen ihren (und unseren eigenen) sozioökonomischen, kulturellen oder historischen Hin- tergrund zunehmend in unsere Diagnostik und Therapie mit ein. Dies alles verdeutlich, dass wir uns der „zweiten“ Psychologie, wie sie von Pionieren der Psychologie vorge- schlagen wurden, annähern. Fallbeispiel Eine 35-jährige Patientin mit Migrationsgeschichte be- gibt sich aufgrund von depressiven Verstimmungen in die Psychotherapie. Im Erstgespräch berichtet sie Symp- tome wie Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, Kon- zentrationsschwierigkeiten und Prokrastination im Stu- dium, Affektlabilität und phasenweise Gereiztheit, die Konflikte im sozialen Umfeld zur Folge hätten. Ihr eige- ner Erklärungsansatz für diese Schwierigkeiten ist, dass sie schlicht „zu dumm“ und „zu faul“ sei, um sich „auf- zuraffen und ihr Leben in den Griff zu kriegen“. Die kul- tursensitive Behandlerin führt neben einer strukturierten Diagnostik auch das Cultural Formulation Interview (CFI) durch, um das Erleben der Patientin vor ihrem kulturel- len Kontext besser einordnen zu können. Hierbei stellt sich heraus, dass sie als Tochter von Migrant*innen in einem kollektivistisch orientierten Familiensystem auf- gewachsen ist. Hinsichtlich ihrer kulturellen Identität verortet sie sich in Deutschland, was ein Schamgefühl der Herkunftsfami- lie gegenüber verursache. Die Eltern hätten sehr große Entbehrungen hingenommen, um ihrer Tochter ein gutes Leben zu ermöglichen. Sie vertreten traditionelle, sehr familienorientierte Wertvorstellungen, die die Patientin grundsätzlich teilt, die jedoch auch widersprüchliche Er- wartungen an sie formulieren, die langfristig zu Schuldge- fühlen, Hilflosigkeit und nicht zuletzt Überarbeitung ge- führt haben. Das Konzept psychischer Erkrankungen ist in der Herkunftsfamilie nicht üblich und stigmatisiert, der offene Umgang mit der Depression der Tochter wird als Tabubruch aufgenommen, der zu Gesichtsverlust gegen- über anderen Familienmitgliedern führen kann. Bei einer früheren Psychotherapeutin stieß sie auf Unver- ständnis, es wurde ihr vorgeworfen, nicht angemessen für sich selbst einzustehen. Im Rahmen des CFI berichtet sie weitere Diskriminierungserfahrungen als muslimische Mi- Heim E et al. Transkulturelle Klinische Psychologie: ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 18–23 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 21
Standpunkte grantin aus ihrem Alltag, die in den vergangenen Jahren zu- nehmend zu Versagens- und Einsamkeitsgefühlen geführt hätten und die ihr das Gefühl gegeben hätten, „nirgends zu genügen oder einen Platz zu haben“. Auf die Frage nach einem Erklärungsansatz für ihre Symptomatik benennt sie zunächst Fachwissen über Depressionen, welches sie den sozialen Medien entnommen habe, möchte diese Erklä- rung jedoch nicht auf sich selbst anwenden, sondern nennt ihre Symptomatik eine Strafe Allahs als Reaktion auf ihr Un- vermögen, den an sie gestellten Anforderungen im Leben gerecht zu werden. Die Durchführung des CFI ermöglichte es Patientin und Behandlerin, gemeinsam ein umfassen- des Verständnis und Störungsmodell der psychischen Pro- bleme der Patientin unter Einbezug des soziokulturellen Kontexts zu erlangen. Dieses berücksichtigte den Einfluss der kulturellen Identität, divergierenden Erwartungshal- tungen und Erklärungsmodellen relevanter Bezugsperso- nen, sowie aktuelle Erfahrungen mit Minderheitenstatus und Diskriminierungserfahrungen auf die Symptomatik und ermöglichte somit eine kultursensitive Behandlungs- planung. FA ZIT Aus einer Public-Mental-Health-Perspektive ist es unerlässlich, uns als Berufsstand mit diversen Lebenswelten auseinandersetzen und damit den gleichberechtigten Zugang zu einer psychothera- peutischen Versorgung zu ermöglichen. Bedauer- licherweise sind diese Themen jedoch (noch) nicht feste Bestandteile der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Um die Kultursensitivität im psychotherapeutischen Handeln zu etablieren, braucht es aus unserer Sicht eine vermehrte Auseinandersetzung mit der Thematik, auch in Supervision und Selbsterfahrung. Dies sollte aus unserer Sicht kein Zusatz sein, sondern ein integraler Bestandteil unseres psycho- therapeutischen Selbstverständnisses [20]. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkon- flikt besteht. Autorinnen/Autoren Eva Heim Prof. Dr.; Psychotherapeutin und Professorin für Transkulturelle Klinische Psychologie an der Universität Lausanne, Schweiz. In ihrer aktuellen Forschung beschäftigt sie sich mit der Diagnostik und Behandlung der komplexen posttraumatischen Belastungs- störung bei Geflüchteten. Ulrike von Lersner PD Dr.; Verhaltenstherapeutin und Dozentin für Transkulturelle Klinische Psychologie in Berlin, Deutschland. Sie hat sich zu Fragen der Transkulturellen Klinischen Psychologie an der Humboldt Universität zu Berlin habilitiert und in diesem Rahmen u. a. Leitlinien für Trainings transkultureller Kompetenzen von Psychotherapeut*innen entwickelt. Korrespondenzadresse Prof. Dr. Eva Heim Transkulturelle Klinische Psychologie Universität Lausanne Géopolis, 4114 1015 Lausanne Schweiz eva.heim@unil.ch Literatur [1] Cahan ED, White SH. Proposals for a second psychology. Am Psychologist 1992; 47: 224–235 [2] Markus HR, Kitayama S. Culture and the self: Implications for cognition, emotion and motivation. Psychol Rev 1991; 98: 224–253 [3] Eid M, Diener E. Norms for experiencing emotions in differ- ent cultures: Inter- and intranational differences. J Pers Soc Psychol 2001; 81: 869–885 [4] Shweder RA, Bourne EJ. Does the concept of the person vary cross-culturally? In: Shweder RA, LeVine RA, eds. Culture theory. Cambridge: University Press; 1984: 158–199 [5] Henrich J, Heine SJ, Norenzayan A. The weirdest people in the world? Behav Brain Sci 2010; 33: 61–83 [6] Thalmayer AG, Toscanelli C, Arnett JJ. The neglected 95 % revisited: Is American psychology becoming less American? Am Psychologist 2021; 76: 116–129 [7] Geertz C. On the nature of anthropological understanding. Am Scientist 1975; 63: 47–53 [8] Kohrt BA, Hruschka DJ. Nepali concepts of psychological trauma: The role of idioms of distress, ethnopsychology, and ethnophysiology in alleviating suffering and preventing stigma. Cult Med Psy 2010; 34: 322–352 [9] Mesquita B. Between us: How cultures create emotions. London: WW Norton; 2022 [10] Vignoles VL, Owe E, Becker M et al. Beyond the “east–west” dichotomy: Global variation in cultural models of selfhood. J Experim Psychol 2016; 145: 966–1000 [11] Barrett LF. Wie Gefühle entstehen. Eine neue Sicht auf unsere Emotionen. Reinbek: Rowohlt; 2023 [12] Gendron M, Mesquita B, Barrett LF. The Brain as a cultural Ar- tifact: Concepts, Actions, and Experiences within the human Affective Niche. In: Kirmayer LJ, Worthmann CM, Kitayama S, Lemelson R, Cummings CA, eds. Culture, Mind, and Brain: Emerging Concepts, Models, and Applications. Cambridge: University Press; 2020: 188–222 [13] Chentsova-Dutton YE, Ryder AG. Cultural models of normal- cy and deviancy. Asian J Soc Psychol 2020; 23: 187–204 22 Heim E et al. Transkulturelle Klinische Psychologie: ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 18–23 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
i e g e z n A [14] Nichter M. Idioms of distress: Alternatives in the expression of psychosocial distress: A case study from South India. Cult Med Psy 1981; 5: 379–408 [15] Lehman DR, Chiu C-Y, Schaller M. Psychology and culture. Ann Rev Psychol 2004; 55: 689–714 [16] Geertz C. Dichte Beschreibung. 15. Aufl. Berlin: Suhrkamp; 2022 [17] Markus HR, Hamedani MG. People are culturally shaped Shapers: The psychological Science of Culture and Culture Change. In: Kitayama S, Cohen D, eds. Handbook of cultural Psychology. New York: Guilford; 2019: 11–52 [18] Robinson D, Masters C, Ansari A. The 5 Rs of cultural humil- ity: A conceptual model for health care leaders. Am J Med 2021; 134: 161–163 [19] Ryder AG, Doucerain MM, Zhou B et al. On dynamic contexts and unstable categories: Steps toward a cultural-clinical psy- chology. In: Gelfand MJ, Chiu C-Y, Hong Y-Y, eds. Handbook of Advances in Culture and Psychology. Oxford: University Press; 2021: 195–243 [20] von Lersner U, Baschin K, Wormeck I et al. Leitlinien für Trainings inter-/transkultureller Kompetenz in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Psychotherapeuten. Psychother Psychosom Med Psychol 2016; 66: 67–73 Bibliografie PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 18–23 DOI 10.1055/a-2289-5790 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany Thieme ist für Sie da Einfach zu Hause. www.thieme.com Als Startseite empfohlen. Das ganze Programm. shop.thieme.de Und ab ins Körbchen. cme.thieme.de Punkten und verwalten. Anmelden und nichts mehr verpassen. www.thieme.de/newsletter Für alle Fälle. kundenservice.thieme.de Heim E et al. Transkulturelle Klinische Psychologie: ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 18–23 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 23
Standpunkte Jenseits von „Kultur“: Rassismuskritik als Leerstelle in Therapie und Beratung Jessie Mmari, Ilja Gold Quelle: © Наталья Маяк/stock.adobe.com Kulturalisierende Perspektiven verstellen den Blick auf wichtige Faktoren und Zusammenhänge in Psychotherapie und Beratung. Sie werden v. a. dann ein- genommen, wenn Menschen adressiert werden, die als „anders“ oder einer „fremden Kultur“ angehörig konstruiert werden. Der zugrundeliegende, erlernte Rassismus, seine Mechanismen und die Auswirkungen auf die Menschen und den professionellen Prozess bleiben allzu häufig verdeckt und unbesprochen. Die praktische Auseinandersetzung mit „Kultur(en)“ im Rahmen von Psychotherapie und Beratung weist im deutschsprachigen Kontext Leerstellen in Bezug auf rassis- musrelevante Annahmen und Bilder bis hin zu Strukturen und Diskriminierungsverhältnissen auf. Aus einer macht- und rassismuskritischen Perspektive lässt sich dies mit ge- sellschaftlich erlernten Distanzierungs- [1] und weißen1 1 Weiß bzw. Weißsein ist die Benennung der im Machtverhält- nis Rassismus dominanten und privilegierten Positioniertheit von Menschen, die gleichzeitig als Norm meist unbenannt und unhinterfragt bleibt. Es ist keine Selbstbezeichnung, weswegen wir weiß klein schreiben. Kursiv geschrieben ver- weist es auf ein soziales Konstrukt und nicht auf weiß als reale Hautfarbe. Abwehrmechanismen [2] erklären – auch dann, wenn Ras- sismus als gesamtgesellschaftlich wirksames Ordnungs- system im Zuge von fachspezifischen Professionalisie- rungsprozessen angesprochen werden soll und gleichsam häufig unbesprochen bleibt. Es zeigt sich, dass Machtver- hältnisse und ihre Dynamiken bei Rassismus und anderen Diskriminierungsformen oft stärker wirken als die Bereit- schaft und der Anspruch an die eigene, kritische und v. a. professionsbezogene Reflexion. Ebenso wird des Öfteren der Vorwurf laut, dass es sich beim Einbezug macht- und diskriminierungskritischer Perspektiven lediglich um die illegitime Fokussierung von Partikularinteressen oder „in Wahrheit“ um die Politisierung und aktivistische Umfor- mung von Professionen handele – deren Entstehung, An- 24 Mmari J et al. Jenseits von „Kultur“: ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 24–28 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
sätze, Strukturen und Routinen scheinbar abgekoppelt von gesellschaftlichen Machtverhältnissen imaginiert werden [3]. Macht- und Rassismuskritik bedeutet nicht Politisierung, sondern Fokussierung grundlegender Aspekte von Bera- tung und Therapie: die Anerkennung von Lebensrealitäten, die Validierung von Erfahrungen und Emotionen sowie der Aufbau einer vertrauensvollen und professionellen Bezie- hung. Denn dies steht dem Alltagserleben von Black, indi- genous People and People of Color (Bi_PoC)2 sehr häufig entgegen, in dem „das öffentliche Abstreiten, Relativieren, Bagatellisieren und Kulturalisieren rassistischer Realitäten“ [4] real ist. Macht- und Rassismuskritik richtet den Blick auf uns Berater*innen und Therapeut*innen mit all unseren Positioniertheiten und verortet uns nicht außerhalb gesell- schaftlicher Verhältnisse. Hieraus leiten wir eine intersek- tionalitätsinformierte3 Verantwortung für die Prozesse ab, innerhalb derer wir Menschen begleiten. Rassismus und „Kultur“ Rassismus spielt sich auf unterschiedlichen Ebenen ab. Fo- kussiert wird oft die individuelle – v. a. dann, wenn es zu einem als rassistisch wahrgenommenen Verhalten kommt. Die Hürden der Benennung von Rassismus sind heute immer noch im Zuge eingeübter Tabuisierungen hoch, auch wenn es bei grobem Rassismus eine mittlerweile hö- here Sensibilität und Bereitschaft gibt, diesen anzuspre- chen. Schwieriger wird es bei der strukturellen bzw. insti- tutionellen sowie der ideologisch-diskursiven Ebene. Also z. B. staatliches Handeln, Arbeitsroutinen und Stellenbe- setzungen in Unternehmen oder die gesellschaftliche Kon- struktion und Nutzung rassistischer Bilder und Wissensbe- stände sowie der diskursive Umgang mit Kritik daran. Eher selten spielen bei letzterem öffentlich formulierte Vorstel- lungen und Argumentationen eine Rolle, die sich biologis- tischer „Rasse“-Konstruktionen bedienen. Vielmehr die- nen im Sinne des Otherings kulturelle Zuschreibungen und Kategorisierungen zur Konstruktion vermeintlich wesen- hafter „Andersartigkeit“. Menschen werden vorgeblich nicht mehr nach bioligistischen Merkmalen in Gruppen eingeteilt, sondern anhand der Idee geteilter „nationaler“ und „ethnischer“ Herkünfte und „Kulturen“. Diese „na- tio-ethno-kulturell kodierten Unterscheidungen zwischen Menschen“ [5] fungieren im System Rassismus weiterhin als Parameter hinsichtlich des jeweiligen Zugangs zu Res- 2 3 Bi_PoC (Black, indigenous People and People of Color) ist eine politische Selbstbezeichnung von Menschen, die durch Ras- sismus diskriminiert werden. Dabei geht es nicht um die Be- nennung von Hautfarben, sondern um gemeinsam geteilte Erfahrungen von Zuschreibungen und Rassifizierungen. Das Konzept der Intersektionalität kommt aus Schwarzen aktivistischen Bewegungen und wurde insb. von Kimberlé Crenshaw geprägt. Es beschreibt, wie verschiedene Formen der Diskriminierung und Marginalisierung zusammenwirken und sich gegenseitig in ihren Verschränkungen verstärken. sourcen, des gesellschaftlichen Ansehens und der aner- kannten Teilnahme an Diskursen. Daran ändert auch der Begriff der „Kultur“ wenig, denn der weiterhin darunter- liegende Rassismus „lässt die Naturalisierung und Essen- tialisierung von Kulturen unhinterfragt und manifestiert vermeintliche Unterschiede zwischen Menschen, indem er die soziale Konstruiertheit von Rassismus verschleiert“ [6]. Berücksichtigung von Rassismus- erfahrungen in Therapie und Beratung Rassismuserfahrungen zeigen sich unterschiedlich und werden in der Forschung sowie konkret von Menschen, die sie tagtäglich erleben, vielfältig beschrieben. Von Kon- taktvermeidung und abschätzigen Blicken über double- bind Erfahrungen zwischen „Anpassungsdruck“ und Exo- tisierung, Benachteiligung durch Behörden, bei der Arbeit und auf Wohnungssuche bis hin zu Anfeindungen auf offe- ner Straße, körperlichen Übergriffen und dem Verlust von Angehörigen durch rassistische Morde. Zu den Ressourcen, deren Zugänge anhand rassistischer Markierungen verteilt werden, zählt auch die Gesundheits- versorgung im Allgemeinen und die psychotherapeutische Versorgung im Spezifischen. Dass sich Rassismuserfahrun- gen v. a. auf die psychische Gesundheit auswirken, konn- te in internationalen Studien bereits sehr deutlich heraus- gearbeitet werden [7]. Im Vergleich hierzu steht die For- schung in Deutschland noch am Anfang. Die Ergebnisse werden nur marginal in Aus- und Weiterbildung integriert. Rassismuskritische Praktiker*innen nutzen sie jedoch für ihre Arbeit. Dabei zentral ist der Zusammenhang von Ras- sismuserfahrungen, Mikroaggressionen und rassismusin- duziertem Stresserleben, das bis hin zu Symptomen von Erschöpfung, Depression, Angst und Panik führen kann. Als ein Stressor zählt hier die beständige Konfrontation mit Fremdzuschreibungen in Otheringprozessen [8]. Nichternstnehmen, Infragestellen und Absprechen Im Afrozensus 2020 gaben 66,7 % der Befragten (n = 2108) an, dass ihre jeweiligen Ärzt*innen ihre Beschwerden nicht ernstnehmen. Hinsichtlich psychotherapeutischer Versor- gung gefragt, gaben 62 % (n = 819) an, dass ihre Rassis- muserfahrungen bei der Psychotherapie nicht ernstge- nommen und in Frage gestellt werden [9]. In unserer Praxis wird uns von ähnlichen Erlebnissen erzählt. So berichten Bi_PoC Klient*innen, dass im Rahmen ihrer Psychothera- pie oder in Beratungsstellen ihre Wahrnehmungen und Le- bensrealitäten im Kontext von Rassismus abgesprochen werden. Oft geschieht dies über eine Individualisierung der geschilderten Situation, indem darauf mit Aussagen rea- giert wird, wie: „Da sind Sie aber sehr sensibel. Das haben die bestimmt nicht so gemeint.“ – oder aber auch die be- nannte Rassismuserfahrung z. B. durch Reframing in Frage gestellt wird. Mit solchen Entgegnungen werden struktu- Mmari J et al. Jenseits von „Kultur“: ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 24–28 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 25
Standpunkte relle Aspekte und deren erhebliche Effekte auf das Leben der Menschen ignoriert. Dies kann in manchen Fällen bis zu einer signalisierten Täter*innen-Opfer-Umkehr reichen, wenn wiederum die Benennung von Rassismus skanda- lisiert wird. Klient*innen berichten, dass sich in diesem Zuge das Angebot häufig auf Resilienzstärkung bezieht, was abermals die Verantwortung zum Umgang mit Ras- sismus nur auf das Individuum überträgt. Durch die Ver- nachlässigung der strukturellen Ebene können dabei die Rassismuserfahrungen und ihre Auswirkungen auf die psy- chische Konstitution nicht adäquat validiert werden. Für Bi_PoC stellt sich hier ganz konkret die Frage nach der Sinn- haftigkeit des Settings. Hier berichten Bi_PoC von Abbrü- chen oder von langen kraftraubenden Phasen des Zwei- felns, den jeweiligen Prozess fortzuführen – nicht selten verbunden mit der Hoffnung, durch das eigene Bereitstel- len von Wissen zu Rassismus(kritik) ihr professionelles Ge- genüber zu sensibilisieren. Ein weiterer Aspekt des nicht Ernstnehmens von geäu- ßerten Rassismuserfahrungen ist die sekundäre Viktimi- sierung, im Zuge derer „Opfer“ erneut zu „Opfern“ wer- den – v. a. durch Reaktionen im sozialen Umfeld sowie in Beratung und Therapie [10]. Dies erschwert den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung und reproduziert die Wirkmechanismen von Rassismus, inkl. ihn nicht sankti- onsfrei benennen zu können. Da ein Sprechen über Rassismus gesamtgesellschaftlich kaum erlernt und eingeübt ist, treten auch in Therapie und Beratung häufig Situationen auf, in denen weiße Ab- wehrreaktionen sichtbar werden. Klient*innen berichten davon, dass wenn sie Begriffe wie weiß oder Weißsein ver- wenden, sich ihr weiß positioniertes Gegenüber persön- lich angegriffen fühlt. Neben direkten Effekten einer sol- chen Reaktion auf der Beziehungsebene, ist es häufig die damit einhergehende Aberkennung einer wichtigen Res- source. Nämlich gelernt zu haben, die eigenen Erlebnis- se im Kontext von Macht- und Unterdrückungsverhältnis- sen verstehen zu können sowie dafür Worte gefunden zu haben. Denn: Abgesprochen werden kann nur, was zuvor konkret benannt worden ist. Stereotype und Othering: (un)sichtbare Distanzen Rassismus ist aber auch dann Thema, wenn er nicht als sol- cher benannt wird. Z. B. wenn Therapeut*innen und Bera- ter*innen ihr professionelles Handeln durch unreflektierte Stereotype leiten lassen, die im Zweifel sogar Bestandteil ihrer eigenen Ausbildung waren. Klient*innen beschrei- ben Erfahrungen von Othering aufgrund zugeschriebener, meist kultureller, Markierungen. Durch die Überbetonung des „Andersseins“ und der Konstruktion eines „wir/ihr“ bzw. „hier/dort“ wird eine für die Beziehung hinderliche und meist unbewusste Distanz geschaffen [11][12]. Darü- ber hinaus ist es gerade in vertrauensvollen Räumen ver- letzend, durch Othering außerhalb einer vermeintlichen Norm platziert zu werden und dass damit ggf. auch die Be- rechtigung der eigenen Anwesenheit angezweifelt wird. Eine durch Othering geleitete Sicht auf Klient*innen ver- engt oder gar schließt Möglichkeitsräume sowohl im Pro- zess als auch für deren Entwicklungen hinsichtlich Lebens- entwürfen, Identitätsbildung und Ressourcenstärkung. Weiter ist auch zu fragen, in welchem Zusammenhang Othering und Diagnostik stehen. Welche Aspekte werden vor dem Hintergrund der eigenen „kulturellen“ Landkar- te berücksichtig und welche nicht? Findet auch hier eine Überbetonung von „Anderssein“ statt und/oder werden im Gegensatz dazu Rassismuserfahrungen als Teil von Le- bensrealität ignoriert? An welcher Stelle verhindert eine kulturalisierende Perspektive die Wahrnehmung der facet- tenreichen Persönlichkeit von Klient*innen und verdeckt andere wichtige Faktoren? AlSabah beschreibt einen Fall, in dem einer Person abgesprochen wurde gesunden zu können, und zwar wegen der traumatischen Fluchterfah- rungen ihrer Eltern. Auf Grund eines zugeschriebenen hohen Grades an Traumatisierung sei eine stationäre Be- handlung notwendig. „Daraufhin kam sie zu mir, sie war weder selbst- noch fremdgefährdend, und es ging im We- sentlichen um Ablösung und Erwachsenwerden“ [13]. Auch in der Paarberatung kann Kulturalisierung deutlich werden – besonders dann, wenn es sich um unterschied- lich positionierte Paare handelt. Die beschriebene Dis- tanz durch Othering kann hier zu (un)bewussten Allian- zen führen und gleichsam zu einer Entfremdung inner- halb der Paarbeziehung. Auch wird in diesen Settings im Zuge rassismusrelevanter Stereotypisierungen häufig die vermeintliche Herkunft aus „patriarchalen Kulturen“ be- tont – bei gleichzeitiger Imagination einer Abwesenheit von patriarchalen Strukturen in der eigenen/hiesigen „Kul- tur“. Klient*innen berichten wiederkehrend davon, im Pro- zess durch kulturalisierende Perspektiven hinsichtlich ihrer Beziehungsgestaltung eingeengt zu werden. Erschwerte Bedingungen: Rassismus und Therapieplatzsuche Rassismuserfahrungen haben auch einen Effekt auf die In- anspruchnahme von Psychotherapie und Beratung durch Bi_PoC. Die Sorge vor sekundärer Viktimisierung und ras- sistischen Mikroaggressionen stellt eine Zugangsbarriere dar. Hier kann auch von antizipiertem Rassismus [14] ge- sprochen werden: das Abwägen und, wenn möglich, das Vermeiden von Situationen, in denen eigener Erfahrung nach potenziell Rassismus erlebt werden könnte. In einer Untersuchung des Nationalen Diskriminierungs- und Ras- sismusmonitors wird aufgezeigt, dass sich Diskriminie- rungserfahrungen im Gesundheitswesen auf die Psycho- therapieplatzssuche auswirken. Über 50 % der Befragten, „die sich selbst einer rassistisch markierten Gruppe zu- ordnen oder einen Migrationshintergrund besitzen“, be- 26 Mmari J et al. Jenseits von „Kultur“: ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 24–28 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
enden die Suche früher, wenn sie entsprechende Erfah- rungen häufig machen. Weiter wurde in einem bundes- weiten Feldexperiment festgestellt, dass der Zugang zu psychotherapeutischer Versorgung durch eine namens- basierte Diskriminierung bei der Terminvergabe erschwert wird [15]. Über all dem stehen Realitäten von Menschen, die keinen Zugang zu psychotherapeutischer Versorgung haben, weil sie z. B. auf Grund ihres Aufenthaltsstatus keine Versiche- rung haben oder wegen Sprachbarrieren keine Psychothe- rapie in ihrer Erstsprache finden. Und auch wenn dies ge- geben ist: Wer kann sich eine zusätzliche, kostenpflichtige, rassismuskritische Beratung/Therapie leisten, um entspre- chende Themen adäquat aufgehoben zu wissen? Kontext Aus- und Weiterbildung Unseres Wissens gibt es kaum Aus- und Weiterbildungs- gänge in Deutschland, in denen Macht- und Rassismuskri- tik explizit im Curriculum verankert sind. Diese Leerstelle trägt zum Fortbestehen und zur Verfestigung struktureller Rassismen bei. Ein Sprechen über Rassismus und seine Fol- gen wird somit auch im professionellen Kontext nicht nor- malisiert. In unseren Workshops, aber auch in Arbeitskrei- sen und Netzwerken, erzählen Bi_PoC-Kolleg*innen von Vereinzelung, Othering, der Dethematisierung rassismus- relevanter Anliegen und Weiterbildungsabbrüchen. Häufig klaffen in unserer Praxis die Wissensstände und Dringlich- keitsempfindungen stark auseinander. Das Bedürfnis, sich über Unsicherheiten hinsichtlich des eigenen Vokabulars auszutauschen, steht dabei neben dem Umgang mit tag- täglicher struktureller Gewalt bis hin dazu, die Koffer für das eigene Exil gepackt zu haben. Hier bedarf es macht- und rassismuskritischer Öffnungs- prozesse in den Instituten und Verbänden. Neben der in- haltlichen Auseinandersetzung und einer intersektiona- litätsinformierten Personalpolitik benötigt es eine ent- sprechende Überprüfung und Weiterentwicklung der Lehrkonzepte und -materialien sowie die Implementierung eines Beschwerdemanagements, das diskriminierungsre- levante Aspekte gleichsam in den Fokus nimmt. Weitere Schritte sind die institutionelle Ermöglichung von (grup- penübergreifenden) Peer-, Empowerment- und Netzwerk- räumen sowie das Angebot machtkritischer (Lehr-) Su- pervision. Besonders diese Aspekte werden häufig durch Bi_PoC in notwendiger, extra-curricularer Mehrarbeit ge- leistet und bezahlt, um in den Strukturen überhaupt beste- hen zu können. Um hier eine gemeinsame Verantwortung entwickeln zu können, muss eine strukturelle Verände- rungsperspektive eingenommen werden, denn „bisherige Versäumnisse in diesem Bereich […] [sind] nicht dem Un- vermögen einzelner Psychotherapeut*innen [Berater*in- nen, Kolleg*innen] geschuldet“ [16]. Sie zeigen vielmehr die fehlende Verankerung professionsbezogener Macht- und Rassismuskritik sowie die entsprechende Leerstelle in der Reflexion der Professionsgeschichten auf. FA ZIT Die Auseinandersetzung mit Rassismus in Psycho- therapie und Beratung bleibt im deutschsprachigen Raum stark defizitär. Trotz wachsenden Bewusst- seins für die Bedeutung und Auswirkung von Diskri- minierungserfahrungen auf die Gesundheit, fehlen rassismuskritische Perspektiven in der Praxis sowie in Aus- und Weiterbildungskontexten. Dies führt zu einer strukturellen Reproduktion von Ungleichheiten und erschwert eine angemessene Versorgung für Bi_PoC. Notwendig sind u. a. ein Verständnis der Wirkmechanismen von strukturellem Rassismus und Reflexion eigener Involviertheit. Es braucht zudem machtkritische strukturelle Veränderungen in In- stituten und Verbänden, um intersektionale Ansätze als zentrale Elemente professioneller Kompetenz an- zuerkennen und eine inklusive psychotherapeutische und beraterische Versorgung zu ermöglichen. Interessenskonflikte Die Autor*innen geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Autor*innen Jessie Mmari (keine Pronomen) Dipl. Sozialpädagog*in und systemische Familientherapeut*in [DGSF]. Projektrefe- rent*in in einer intersektional arbeitenden Fachstelle und Gründungsmitglied des Schwarzen Beratungskollektiv‘s MAїNGA. Berufs- und Lebenserfahrung u. a. geprägt von der gesellschaftlichen Positioniertheit und langjährigen Tätigkeit in psychosozialer Beratung und ambulant aufsuchender Arbeit. Freiberuflicher Fokus: Beratung von Bi_PoC, Durchführung von Workshops zu Macht und Rassismuskritik in Teams und Institutionen. Ilja Gold (er) Studierte Politik- und Erziehungswissenschaft sowie Organisationsentwicklung. Er arbeitet freiberuflich als Systemischer Berater (DGSF) und Supervisor sowie als Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln. Im NS-Dokumentati- onszentrum der Stadt Köln ist er als wiss. Mitarbeiter tätig. Im Kontext systemischer Praxis und Weiterbildung bietet er aus einer als weiß gelesenen Perspektive mit familiärer Migrationsbiographie Workshops zu Macht- und Rassismuskritik an und begleitet Teams und Einrichtungen. (© Jörn Neumann) Mmari J et al. Jenseits von „Kultur“: ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 24–28 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 27
Standpunkte Korrespondenzadresse Ilja Gold c/o Beratungspraxis Köln Lindenthal Klosterstr. 27 50931 Köln ilja.gold@sbmm.koeln Literatur [1] Messerschmidt A. Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus. In: Broden A, Mecheril P, Hrsg. Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesell- schaft. Bielefeld: transcript; 2010: 41–57 [2] Hamacher C. Widerstand gegen Weißen Widerstand. Familiendynamik 2024; 49(1): 16–24 [3] Kourabas V. Rassismuskritik in umkämpften Zeiten. Zur Produktivität des aktuellen Normativitätsvorwurfs an machtkritische Forschung. In: Bücken S, Streicher N, Velho A, Mecheril P, Hrsg. Migrationsgesellschaftliche Diskriminie- rungsverhältnisse in Bildungssettings. Analysen, Reflexionen, Kritik. Wiesbaden: Springer VS; 2020: 213–232 [4] Kourabas V, Mecheril P. Über Rassismus sprechen. Auf dem Weg zu einer rassismuskritischen Professionalität. In: Stock M, Hodaie N, Immerfall S, Menz M, Hrsg. Arbeitstitel: Migrationsgesellschaft. Pädagogik – Profession – Praktik. Wiesbaden: Springer VS; 2022: 13–33 [5] Kooroshy S, Mecheril P, Shure S. Rassismus in der Migrations- gesellschaft. In: Fereidooni K, Hößl SE, Hrsg. Rassismus- kritische Bildungsarbeit. Reflexionen zu Theorie und Praxis. Frankfurt a. M.: Wochenschau; 2021: 15–33 [6] Nguyen T, Puhlmann F. Wissenschaftlicher Rassismus in den Natur- und Lebenswissenschaften: Geschichte und Gegen- wart. In: NaDiRa, Hrsg. Rassismusforschung I. Theoretische und interdisziplinäre Perspektiven. Bielefeld: transcript; 2023: 169–189 [7] Kluge U, Aichberger MC, Heinz E et al. Rassismus und psy- chische Gesundheit. Nervenarzt 2020; 91: 1017–1024 [8] Khoury D. Rassismusbedingter Stress in Deutschland. Bewältigungsstrategien und Ressourcen aus der Sicht von Menschen mit Rassismuserfahrungen. Wiesbaden: Springer; 2022 [9] Aikins MA, Bremberger T, Aikins JK et al. Afrozensus 2020: Perspektiven, Anti-Schwarze Rassismuserfahrungen und Engagement Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland (2021). Im Internet: www. afrozensus.de; Stand: 24.08.2024 [10] Louw E, Schwabe K. Rassismussensible Beratung und Therapie von geflüchteten Menschen. Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten. Göttingen: V & R; 2021 [11] Martin, M. Interview mit Dipl.-Psych. Stephanie Cuff-Schött- le, Expertin für rassismussensible Therapie: „Diskriminie- rungserfahrungen werden häufig bagatellisiert“. Deutsches Ärzteblatt 2022; 21: 217 [12] Waschke N, Akbunar S. „Ich hatte den Eindruck, meine Therapeutin glaubt mir nicht“ (Mai 2024). Im Internet: www. psylife.de/magazin/ich-hatte-den-eindruck-meine-therapeu- tin-glaubt-mir-nicht; Stand: 30.08.2024 [13] AlSabah S. Interview mit Souzan AlSabah. In: Gold I, Wein- berg E, Rohr D, Hrsg. Das hat ja was mit mir zu tun!? Macht- und rassismuskritische Perspektiven für Beratung, Therapie und Supervision. Heidelberg: Carl Auer; 2021: 89–102 [14] Soulié M, Yoken M. Abgestempelt. Ein Blick auf Rassismus als Lebensrealität (2022). Im Internet: www.djonrw.de/ wp-content/uploads/sites/13/2022/09/Broschuere_Abge- stempelt_djoNRW.pdf; Stand: 30.08.2024 [15] Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrations- forschung (DeZIM). Rassismus und seine Symptome. Bericht des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors. Berlin: DeZim; 2023 [16] Kahraman B. Wozu Rassismuskritik in der Psychotherapie- Profession? Psychoterapeuthenjorunal 2023; 22: 345–353 Bibliografie PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 24–28 DOI 10.1055/a-2289-6044 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany 28 Mmari J et al. Jenseits von „Kultur“: ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 24–28 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Standpunkte Multikulturelle Orientierung als prozessorientierte therapeutische Haltung Berrin Özlem Otyakmaz Quelle: © Porzmezz/stock.adobe.com. Posed by models. Der Beitrag befasst sich mit den konzeptionellen Grundlagen der Berücksichtigung kultureller Diversität in der Psychotherapie. Das vorgestellte Konzept der multikulturellen Orientierung mit Fokus auf prozessorientierte psychotherapeutische Haltungen versucht, Schwächen des vorhergehenden Ansatzes der multikulturellen Kompetenzen zu überwinden. Studien zur Psychotherapie-Prozessforschung bieten Hinweise für die empirische Fundierung des Konzeptes der multikulturellen Orientierung. Einleitung Gemäß aktueller Muster-Weiterbildungsordnung für Psy- chotherapeut*innen sollen im Rahmen der Ausbildung als gebietsübergreifende Kompetenzen aller therapeuti- schen Fachgebiete auch vertiefte Fachkenntnisse zur „Be- rücksichtigung menschlicher Diversität in der Psychothe- rapie in Bezug auf Gender, Ethnie bzw. Kultur, sexuelle Ori- entierung, Beeinträchtigung und andere Aspekte“ ([1], S. 16) sowie Handlungskompetenzen zur „Gestaltung einer therapeutischen Beziehung (…) unter Berücksichtigung menschlicher Diversität“ [[1], S. 17] erworben werden. Doch wird weder ausgeführt, welche Kenntnisse und Kom- petenzen in der Ausbildung vermittelt werden sollen, noch, mit welchen Konzepten sich der psychotherapeutischen Be- fassung mit (ethnisch-kultureller) Diversität angenähert werden soll. Hier hilft auch der Blick in die deutschsprachi- ge Fachliteratur nur wenig weiter. Es existiert zwar über ver- schiedene Disziplinen hinweg eine Vielzahl an Publikatio- nen zum professionellen Umgang mit (ethnisch-kultureller) Diversität, doch größtenteils stellen die Texte theoretisch- konzeptionelle Ausführungen und Reflexionen dar. Otyakmaz B. Multikulturelle Orientierung als ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 29–33 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 29
Standpunkte Insbesondere in der psychologischen Psychotherapiefor- schung sind kaum empirische Studien zur Thematik vorzu- finden. Anders in den USA, wo zunächst eine rege theore- tisch-konzeptionelle und später zunehmend empirische Aus- einandersetzung mit psychotherapeutischer Professionalität im Kontext von (ethnisch-kultureller) Diversität erfolgt ist. Das Konzept der multikulturellen Kompetenzen Ab Anfang der 1980er-Jahre wurde in den USA vermehrt die Berücksichtigung ethnischer bzw. kultureller Diversität in Beratung und Psychotherapie und der dazu benötigten ethisch, gerechtigkeitstheoretisch, ethnozentrismus- und rassismuskritisch begründeten „multicultural counseling competencies“ gefordert [2]. Die in den Folgejahren kontinuierlich erschienenen Publi- kationen zum (ständig weiterentwickelten) Ansatz von Sue et al. [3] führten dazu, dass im Jahr 2003 die APA [4] so- genannte multikulturelle Richtlinien für die Theorie, For- schung, Ausbildung und Praxis von Psycholog*innen for- mulierte, welche sich an die „multicultural competencies“ von Sue und Kolleg*innen anlehnten. Das Rahmenmodell der „multicultural compencies“ beruht auf der Grundidee, dass trotz der Realität einer multikultu- rellen Gesellschaft Menschenbild, Theorien, Konstrukte, For- schung, Interventionsansätze, Praxis und Institutionen der Psychotherapie in den USA sich vornehmlich an der Kultur der dominanten weißen anglo-amerikanischen Mittelschicht orientieren. Damit werden nicht nur die kulturellen Entwürfe und spezifischen Bedürfnisse minorisierter Gruppen in den USA ignoriert sondern auch ihre durch gesellschaftlichen Ras- sismus gekennzeichneten Lebensrealitäten. Diese Ignoranz stellt infolgedessen selbst eine Diskriminierung dar. Multikulturelle Kompetenzen in Beratung und Therapie ba- sieren laut Sue et al. [3][5] auf den 3 Dimensionen 1. Überzeugungen und Haltungen (beliefs and attitu- des; später awareness genannt) 2. Wissen (knowledge) 3. Fähigkeiten (skills). Mit der 1. Dimension „awareness“ ist gemeint, dass Psy- chotherapeut*innen sich bewusst sind ihrer eigenen kul- turellen Überzeugungen, Werte und Haltungen, die ihre Wahrnehmungen und Deutungen und damit auch thera- peutischen Prozesse beeinflussen. Ebenso sollen Psycho- therapeut*innen sich ihrer rassistischen, sexistischen, he- terosexistischen und anderen gruppenbezogenen abwer- tenden Überzeugungen und Haltungen bewusst sein und sich kritisch mit diesen auseinandersetzen [3][5]. Die 2. Dimension fokussiert das Wissen von Psychothera- peut*innen über und ihr Verstehen von Klient*innen in deren individuell wie gruppenspezifisch kulturell diversen Werten, Überzeugen und Vorstellungen. Hierzu gehört auch Wissen zum soziopolitischen Umgang mit margina- lisierten Gruppen in der Gesellschaft und den institutionel- len Barrieren, die kulturell diversen Klient*innen den Zu- gang zur psychischen Gesundheitsversorgung erschweren. Die 3. Dimension bezieht sich auf die Fähigkeiten von Psy- chotherapeut*innen in ihren Interaktionen und Interven- tion auf Bedürfnisse kulturell diverser Klient*innen einzu- gehen, dabei die mögliche Begrenztheit der Wirksamkeit des eigenen Hilfestils zu reflektieren und die eigene Rolle als Helfende*r nicht auf das konventionelle therapeutische Handeln zu begrenzen [3][5]. Denn Sue et al. [3][5] sehen es als Aufgabe von Psycho- therapeut*innen an, multikulturelle Kompetenzen über die individuelle Ebene hinaus auf die organisationale und gesellschaftliche Ebene auszuweiten und sich für die Ent- wicklung neuer Theorien, Praktiken, Politiken sowie orga- nisationaler Strukturen der psychischen Gesundheitsver- sorgung einzusetzen, um diese entsprechend den Bedürf- nissen aller zu gestalten. Diese Art multikultureller Kompetenzen entwickeln sich in stetigen aktiven Aneignungsprozessen mit keinem de- finierten Endpunkt, (an)erkennen eigene Begrenztheiten sowie die Notwendigkeit ständiger Weiterentwicklung der eigenen Kompetenzen und berücksichtigen dabei die Komplexität der Diversität einzelner Klient*innen wie Klient*innengruppen [3]. Empirische Studien zu multikulturellen Kompetenzen Auf die frühen theoretisch-konzeptionellen Publikationen folgten Studien zur Untersuchung der Auswirkung multi- kultureller Kompetenzen bzw. kulturell adaptierter psy- chotherapeutischer Interventionen auf den Psychothe- rapieprozess oder die Therapie-Outcomes. Zwei Meta- analysen von Vergleichsstudien zur Wirksamkeit kulturell adaptierter psychotherapeutischer Behandlungen mit her- kömmlichen Ansätzen bestätigten die Überlegenheit von kulturellen Adaptationen, wobei an die kulturellen Krank- heitsmythen von Klient*innen angepasste Störungsmo- delle sich als die entscheidenden Elemente erwiesen [6]. In einer Metaanalyse von Studien zum Zusammenhang von multikulturellen Kompetenzen von Therapeut*innen und verschiedenen Therapieprozessvariablen bzw. Outcomes zeigten sich zwar deutlich höhere Korrelationen zwischen multikulturellen Kompetenzen und anderen Prozessvari- ablen jedoch weniger eindeutige Zusammenhänge mit Outcomes [8]. Es wird vermutet, dass multikulturelle Kompetenzen mit an- deren therapeutischen Prozessvariablen gemeinsam zu posi- tiven Outcomes beitragen bzw. mögliche Mediationseffekte vorliegen. Die vorgefundenen hohen Interkorrelationen der 30 Otyakmaz B. Multikulturelle Orientierung als ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 29–33 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
verschiedenen Prozessvariablen erfordern weitere Untersu- chungen zur Validität der Konstrukte [8]. Auch bestehen of- fene Fragen bezüglich der Validität und Reliabilität der In- strumente zur Erfassung multikultureller Kompetenzen [9]. Wissen und Fähigkeiten beziehen, sondern verstärkt an der Dimension Haltung ansetzen und diese weiterentwickeln, da aus Sicht der Autor*innen diese Dimension in der Um- setzung zu wenig berücksichtigt wurde. Kritik am Konzept multikultureller Kompetenzen Neben konzeptionellen und methodologischen Vorbehal- ten [10][11] wird ein besonderes Problem im Zusammen- hang mit dem Modell der multikulturellen Kompetenzen gesehen: Bei dem Vorgehen kulturell adaptierte Interven- tionen für spezifische ethnische Gruppen zu entwickeln und damit „Handlungsanweisungen“ für Psychotherapien mit diesen Gruppen zu formulieren, wird nahegelegt, dass alle einer Gruppe zugeordneten Personen spezifische kul- turelle Werte, Überzeugungen und Haltungen teilen. Die Betrachtung von Menschen als mit feststehende Sets von Eigenschaften unabhängig ihrer individuellen Lebens- geschichte oder ihres sozialen Kontextes führt zur kulturellen Essentialisierung, die rassistische Stereotypisierungen beför- dert und intersektionelle Verschränkungen in den Identitäten der Menschen ignoriert [12]. Zudem wird mit einem Kompe- tenzbegriff, der impliziert, mit spezifischen Fähigkeiten den therapeutischen Umgang mit bestimmten Klient*innen- gruppen „beherrschen“ zu können, die Machtasymmetrie zwischen Klient*innen und Therapeut*innen verstärkt [13]. Andererseits gehören Items zur kulturellen Insensitivi- tät von Psychotherapeut*innen zu der von Constantine [14] entwickelten Skala zur Erfassung rassistischer Mikro- aggressionen in der Psychotherapie. Rassistische Mikro- aggressionen bzw. das Ignorieren von Klient*innen ein- gebrachter kultureller Aspekte in der Therapie weisen Zusammenhänge auf mit schlechteren Werten für the- rapeutische Allianz und Therapie-Outcome [14][15][16]. Es kann folglich nicht die Zielsetzung sein, sich von der Ma- jorität unterscheidende Sinn- und Bedeutungssysteme von Klient*innen aus Theorie und Praxis von Psychotherapie auszuschließen, während mehrheitsgesellschaftliche Kon- strukte sowohl die theoretisch-konzeptionellen Grundlagen als auch das Therapiegeschehen selbst definieren, sondern eine nicht-stereotypisierende Art der Einbeziehung kulturel- ler Diversität in die Psychotherapie zu ermöglichen. Multikulturelle Orientierung als Überarbeitung multikultureller Kompetenz Die Entwickler*innen des Konzeptes der multikulturellen Orientierung (multicultural orientation) verstehen sich als in der Tradition des Ansatzes der multikulturellen Kompe- tenz stehend, sehen jedoch Schwächen und Veränderungs- bedarf [11][17][18]. So soll multikulturelle Orientierung in der Psychotherapie sich weniger auf die Dimensionen Kulturelle Aspekte sollen in der Therapie prozess- und in- teraktionsorientiert fokussiert werden und sich auf das Sein der Psychotherapeut*innen in der Interaktion mit ihren Klient*innen während des Therapieprozesses kon- zentrieren [19]. Multikulturelle Orientierung besteht aus den 3 Säulen 1. kulturelle Demut (cultural humility), 2. kulturelle Gelegenheit (cultural opportunity), 3. kulturelles Behagen (cultural comfort). Kulturelle Demut Kulturelle Demut stellt eine grundsätzliche Haltung des Willens und der Offenheit von Psychotherapeut*innen dar, die die kulturellen Hintergründe des Gegenüber zu erken- nen und verstehen sucht und gleichzeitig sich der eigenen kulturellen Einbettung bewusst ist. Die kulturellen Hin- tergründe des Gegenübers können sich auf verschiedene Gruppenzugehörigkeiten wie Ethnizität, Gender, sexuelle Orientierung, Beeinträchtigung, Alter und Religion bezie- hen sowie aus deren intersektionellem Zusammenwirken resultieren. Fundamental ist eine neugierige und respekt- volle Haltung gegenüber Klient*innen sowie die bewuss- te Wahrnehmung und Lenkung eigener vordeterminierter Annahmen der Psychotherapeut*innen [20]. Kulturelle Demut bezieht sich damit einerseits auf inter- personelle Aspekte, indem den kulturellen Vorstellungen, Werten und Überzeugungen des Gegenübers mit Offen- heit, Respekt und Neugier begegnet wird und anderer- seits auf intrapersonelle Aspekte, die sich in der kritisch reflektierenden Wahrnehmung eigener kultureller Vorstel- lungen, Werte und Überzeugungen äußern [20]. Das Ver- ständnis von kultureller Demut im Rahmen multikulturel- ler Orientierung lehnt sich an das Konzept von Tervalon und Murray-García an [21]. Die beiden Autorinnen formulierten bereits 1998 kultu- relle Demut als Alternative zur multikulturellen Kompe- tenz für den medizinischen Bereich. Dabei schließen die Autorinnen nicht aus, dass Professionelle möglichst viel Wissen um kulturelle Überzeugungen und Praktiken ihrer Klient*innen erwerben sollten, erachten es aber als not- wendig, dass dieses Wissen von ständiger Selbstreflexion begleitet werden sollte. Die Selbstreflexionsprozesse sol- len die Entwicklung einer bescheidenen und flexiblen Hal- tung fördern, die auf die vermeintliche Sicherheit von ste- reotypem Wissen verzichtet, die kulturelle Dimension der Erfahrungen der einzelnen Patient*innen immer wieder neu zu erfassen sucht, die Grenzen des eigenen Wissens erkennt und neues Wissen zum Wohl von Patient*innen erkundet. Dabei soll neues Wissen stets mit Veränderun- gen in Haltung und Handeln einhergehen [21]. Otyakmaz B. Multikulturelle Orientierung als ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 29–33 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 31
Standpunkte Kulturelle Gelegenheit Kulturelle Gelegenheit, als 2. Säule der multikulturellen Ori- entierung, meint, dass Psychotherapeut*innen statt am Anfang einer Therapie den ethnischen Hintergrund von Klient*innen zu identifizieren, um dann die „passende“ kul- turell adaptierte Intervention auszuwählen, die Momente in den Therapiesitzungen, in denen behandlungsrelevante kul- turelle Bezugnahmen von Klient*innen erfolgen, zu nutzen und die Vorstellungen und Überzeugungen der Klient*innen genauer zu explorieren, um sie in die Therapie zu integrieren. Da Kultur begriffen wird als Produkt eines dynamischen und aktiven Prozesses der gemeinschaftlichen Ko-Konstrukti- on von Sinn- und Bedeutungssystemen und der individuel- len Rekonstruktion dieser, welche sich in individuellen und gruppenspezifischen Überzeugungen, Haltungen, Werten, Normen, Vorstellungen, Praktiken, Symbolen, Sprechwei- sen und eben auch in dysfunktionalen Grundüberzeugun- gen niederschlagen, sollen störungs- und heilungsrelevante Vorstellungen von Klient*innen in ihrer individuellen Bedeu- tung eruiert werden, wenn sie in der Therapiesitzung salient werden. Oft werden Gelegenheiten zum situativen Einbe- ziehen kultureller Aspekte in den therapeutischen Prozess übergangen, weil Psychotherapeut*innen diese Momente nicht erkennen oder sich nicht zutrauen, bestimmte The- men mit ihren Klient*innen zu besprechen. Ebenso kann es vorkommen, dass Klient*innen (noch) nicht bereit sind, sich mit bestimmten kulturellen Ge- sichtspunkten zu befassen [22], doch das Übergehen von Klient*innen thematisierter kultureller Aspekte durch Psychotherapeut*innen bedeutet nicht nur das Verpas- sen therapierelevanter Informationen, es kann sich auch negativ auf die therapeutische Beziehung auswirken. Die durch diese Art der Mikroaggressionen erzeugten Brüche in der therapeutischen Beziehung müssen nicht unaus- weichlich zu einem schlechteren Ausgang der Psychothe- rapie führen. Wichtig ist ein offenes Besprechen des zu den Rupturen führenden Verhaltens der Psychotherapeut*in- nen, welche einen Repair-Prozess anstoßen können [16]. Multikulturelle Orientierung Die 3. Säule multikultureller Orientierung ist das kulturelle Be- hagen, welches den Grad der Entspanntheit, Gelassenheit und Selbstverständlichkeit von Psychotherapeut*innen darstellt, Gespräche zu kulturellen Aspekten überhaupt zu initiieren und diese Konversationen zu gestalten. Psychotherapeut*innen, denen kulturelle Themen kein Unbehagen bereiten, können ihre Klient*innen in einem angenehmen und natürlichen the- rapeutischen Klima anregen, therapierelevante kulturelle As- pekte ihrer Person oder ihres Problems zu erkunden. Kulturelles Behagen und die Sicherheit, diesen Themen in der Psychotherapie Raum zu geben, kann entstehen durch vielfältige Erfahrungen mit unterschiedlichen kulturellen Lebensgestaltungen – vor allem auch außerhalb des The- rapieraumes und außerhalb einer eigenen soziokulturellen Lebenswelt mittels persönlicher Begegnungen, intellektu- eller und künstlerischer Auseinandersetzungen und anderer Wege, sich mit der Vielfalt menschlicher Lebensentwürfe zu befassen [22]. Dieses Erfahrungswissen soll, neben der För- derung kulturellen Behagens, auch dazu beitragen, kultu- relle Themen von Klient*innen nicht aus einer Haltung des völligen Nicht-Wissens, welches das Potential birgt, die Le- benswelten von Klient*innen zu exotischen Fremdwelten zu deklarieren, sondern des Nicht-ganz-so-genau-Wissens und respektvollen Genauer-Wissen-Wollens zu erkunden. Empirische Studien zur multikulturellen Orientierung Die Entwicklung des Ansatzes multikultureller Orientierung geht einher mit der Absicht, diese an die Psychotherapie-Pro- zessforschung anzubinden [10][11][22] und Zusammenhänge zwischen kultureller Demut, kultureller Gelegenheit und kul- turellem Behagen mit psychotherapeutischen Prozessvariab- len zu untersuchen. Mit verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass eine höhere kulturelle Orientierung von Psycho- therapeut*innen positive Zusammenhänge mit Arbeitsalli- anz und psychischem Wohlbefinden der Klient*innen aufweist [10][11] und höhere Werte in kultureller Demut selbst dann noch mit einem besseren Therapie-Outcome einhergehen, wenn kulturelle Gelegenheiten ungenutzt blieben [16]. Eine höhere kulturelle Demut von Psychotherapeut*innen korrespondiert mit selteneren rassistischen Mikroaggres- sionen in der Therapie und ihrer geringeren negativen Aus- wirkung, selbst wenn sie auftreten [19]. Hohe Werte im kulturellen Behagen konnten die Qualität der Arbeitsalli- anz und einen günstigen Therapiefortschritt vorhersagen [23]. Die genannten Studien bieten bereits einige Hinweise für die Relevanz und Validität des Gesamtkonstruktes wie auch der einzelnen Komponenten. Weitere Studien auch in Deutschland sind sicherlich perspektivreich. FA ZIT Der Ansatz der multikulturellen Orientierung bietet eine Möglichkeit, kulturelle Aspekte von Klient*in- nen situativ und individuell in die Psychotherapie einzubeziehen und kulturelle Stereotypisierungen zu vermeiden. Er erfordert die Bereitschaft, sich auf einen selbstreflektierenden Auseinandersetzungs- prozess einzulassen, der beispielsweise in kontinu- ierlichen themenspezifischen Selbsterfahrungen und Supervisionen ermöglicht werden sollte. Für die psychotherapeutische Aus- und Weiter- bildung, die menschliche Diversität berücksichtigt, stellt das Konzept der multikulturellen Orientierung in Kombination mit einem rassismuskritischen An- satz einen guten Zugang dar. Unerlässlich ist hierfür eine entsprechende Psychotherapieforschung, die die Implementierung, Evaluierung und Verbesserung dieser Konzepte unterstützt. 32 Otyakmaz B. Multikulturelle Orientierung als ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 29–33 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkon- flikt besteht. Autorinnen/Autoren Berrin Özlem Otyakmaz Prof. Dr., ist psychologische Psychotherapeu- tin und Professorin für psychologische Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Universität Kassel. Zu ihren Forschungs- schwerpunkten zählen u. a. rassismuskritische und diversitätssensible Psychotherapie und Beratung. Korrespondenzadresse Prof. Dr. Berrin Özlem Otyakmaz Universität Kassel Institut für Sozialwesen Arnold-Bode-Str. 10 34127 Kassel Deutschland berrin.otyakmaz@uni-kassel.de Literatur [1] Bundespsychotherapeutenkammer (2022). Muster-Weiter- bildungsordnung Psychotherapeut*innen. Im Internet: https://www.dptv.de/fileadmin/Redaktion/Bilder_und_Do- kumente/Psychotherapie/Junge_PT/Muster_Weiterbildungs- ordnung_Nov_2022.pdf; Stand: 16.12.2024 [2] Sue DW, Bernier JE, Durran A et al. Position Paper: Cross-Cul- tural Counseling Competencies. The Counseling Psychologist 1982; 10 (2): 45–52 [3] Sue DW, Arredondo P, McDavis R. Multicultural counseling competencies and standards: A call to the profession. Journal of Counseling & Development 1992; 70: 477–486 [4] American Psychological Association. Guidelines on multicul- tural education, training, research, practice, and organiza- tional change for psychologists. American Psychologist 2003; 58(5): 377–402 [5] Sue DW, Sue D, Neville HA et al. Counseling the culturally diverse: Theory and practice (9th ed.). Hoboken, NJ: Wiley; 2022 [6] Benish SG, Quintana S, Wampold BE. Culturally adapted psychotherapy and the legitimacy of myth: A direct-compa- rison meta-analysis. Journal of Counseling Psychology 2011; 58: 279–289 [7] Griner D, Smith TB. Culturally adapted mental health in- tervention: A meta-analytic review. Psychotherapy: Theory, Research, Practice, Training 2006; 43: 531–548 [8] Tao KW, Owen J, Pace BT, Imel ZE. A meta-analysis of multicultural competencies and psychotherapy process and outcome. Journal of Counseling Psychology 2015; 62: 337–350 [9] Fuertes JN, Stracuzzi TI, Bennett J et al. Therapist multicul- tural competency: A study of therapy dyads. Psychotherapy: Theory, Research, Practice, Training 2006; 43: 480–490 [10] Hook JN, Davis DE, Owen J et al. Cultural humility: Measuring openness to culturally diverse clients. Journal of Counseling Psychology 2013; 60: 353–366 [11] Owen J, Tao K, Leach M et al. Clients’ perceptions of their psychotherapists’ multicultural orientation. Psychotherapy 2011; 48: 274–282 [12] Kirmayer LJ. Rethinking cultural competence. Transcultural Psychiatry 2012; 49 (2): 149–64 [13] Tervalon M, Murray-García J. Cultural humility versus cultural competence: a critical distinction in defining physician trai- ning outcomes in multicultural education. Journal of Health Care for the Poor and Underserved 1998; 9(2): 117–125 [14] Constantine MG. Racial microaggressions against African American clients in cross-racial counseling relationships. Journal of Counseling Psychology 2007; 54: 1–16 [15] Owen J, Tao K, Imel Z et al. Addressing racial and ethnic microaggressions in therapy. Professional Psychology: Research and Practice 2014; 45: 283–290 [16] Owen J, Tao KW, Drinane JM et al. Client perceptions of therapists’ multicultural orientation: Cultural (missed) opportunities and cultural humility. Professional Psychology: Research and Practice 2016; 47 (1): 30–37 [17] Davis DE, DeBlaere C, Owen J et al. The multicultural orient- ation framework: a narrative review. Psychotherapy 2018; 55: 89–100 [18] Watkins CE Jr, Hook JN, Owen J et al. Multicultural orient- ation in psychotherapy supervision: Cultural humility, cul- tural comfort, and cultural opportunities. American Journal of Psychotherapy 2019; 72 (2): 38–46 [19] Hook JN, Farrell JE, Davis DE et al. Cultural humility and racial microaggressions in counseling. Journal of Counseling Psycho- logy 2016; 63 (3): 269–277 [20] Zhang H, Watkins CE Jr, Hook JN et al. Cultural humility in psychotherapy and clinical supervision: A research re- view. Counselling & Psychotherapy Research 2022; 22 (3): 548–557 [21] Tervalon M, Murray-García J. Cultural humility versus cul- tural competence: A critical distinction in defining physician training outcomes in multicultural education. Journal of Health Care for the Poor and Underserved 1998; 9: 117–125 [22] Owen J. Early career perspectives on psychotherapy research and practice: Psychotherapist effects, multicultural orient- ation, and couple interventions. Psychotherapy 2013; 50: 496–502 [23] Pérez-Rojas AE, Bartholomew TT, Lockard AJ et al. Develop- ment and initial validation of the Therapist Cultural Comfort Scale. Journal of Counseling Psychology 2019; 66 (5): 534–549 Bibliografie PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 29–33 DOI 10.1055/a-2289-6014 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany Otyakmaz B. Multikulturelle Orientierung als ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 29–33 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 33
Standpunkte Betrachtungen einer interkulturell systemisch-ethnologischen Haltung Christina Hunger-Schoppe, Chawwah Yael Grünberg Quelle: © noche/stock.adobe.com Gregory Bateson [1] schrieb einst, dass Interessantes v. a. dann entsteht, wenn mindestens zwei Muster in Beziehung miteinander treten. In diesem Beitrag sind es zwei wissenschaftliche Disziplinen, die sich begegnen: die Systemische Therapie und die Ethnologie. Der Beitrag beschäftigt sich mit ausgewählten Besonderheiten beider Sichtweisen und wie eine ethnologisch-systemische Haltung die Praxis und Forschung bereichern kann. Informationsgenerierung „Es bedarf zweier Etwasse, um einen Unterschied hervor- zubringen.“ In diesem von Gregory Bateson stammenden Zitat liegt der Sinn jeder ethnologischen wie systemtherapeutischen Handlung: die Entdeckung neuer bedeutsamer Informa- tionen durch Unterschiedsbildung. In der Ethnologie geht es darum, die alltäglichen Hand- lungsweisen eines Gesellschaftssystems um neue Perspek- tiven zu erweitern. Das Ziel ist hierbei, die als selbstver- ständlich wahrgenommenen Sachverhalte der eigenen Kultur durch Reflexion des Fremden aufzuweichen [1]. Ähnlich gilt auch in der interkulturellen systemischen The- rapie die Wahrnehmung einer neuen, paradox erscheinen- den Sichtweise als grundlegender Mechanismus der be- 34 Hunger-Schoppe Cr et al. Betrachtungen einer interkulturell ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 34–37 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
deutsamen Unterschiedsbildung [2]. Veränderung ge- schieht, wenn Alterativen im Fühlen, Denken und Handeln möglich werden, vor allem auf der Seite der Klient*innen. Therapeut*innen erfahren dabei die Besonderheit, mit vielen kulturellen Kontexten unvertraut zu sein. Dies birgt die Ge- fahr, an der Oberfläche der strukturbedingten Dynamiken zu bleiben, wenn der Anschluss an das soziale System, mit dem es zu arbeiten gilt, nicht gelingt [3]. Gleichzeitig ermöglicht es Spielräume für die im nächsten Abschnitt beschriebene Neu- gierde, die wiederum der Bildung vielfältiger neuartiger Hy- pothesen über das, was innerhalb des Systems und zwischen den Systemmitgliedern verhandelt wird, dienlich ist [4]. FALLBEISPIEL 1 Ein geschiedenes Elternpaar kommt mit einem stark zu Verhaltensauffälligkeiten motivierten Jugendlichen zum Gespräch. Der Vater ist in Tunesien, die Mutter und der Sohn sind in Deutschland aufgewachsen. Der Sohn lebt zeitweise beim Vater, nimmt jedoch Reißaus, sobald ihm die vom Vater gesetzten Regeln zu eng erscheinen. Mutter und Sohn erzählen von weniger Strenge des Vaters in der Kindheit des Sohnes. Im Verlauf der Gespräche entdecken die Klient*in- nen, dass die Strenge des Vaters mit der Pubertät des Jungen einsetzte. Als zweite neue Information entdecken sie, dass mit Eintritt in das 14. Lebens- jahr der Vater seinen Sohn als erwachsen erlebte. Diese Sichtweise sei in der tunesischen Kultur tief verankert. Als dritte neue Information entdecken Vater, Mutter und Sohn, dass der Vater sich in seiner Erziehung auch immer an deutschen Normen ori- entiert habe, die aus seiner Sicht eine wesentlich strengere Erziehung einfordern als in Tunesien. Umso mehr habe er mit Eintritt seines Sohnes in das „Mannesalter“ alles richtig machen wollen und zur Tilgung seines möglicherweise zu nachlässigen tunesischen Erziehungsstils besonders auf die vom Großvater mütterlicherseits seines Sohnes betonten „deutsch-preußischen Erziehungsmöglichkeiten“ ge- setzt – und dadurch oft auch „überstreng“ reagiert. Im Unterschied zu den Vater-Sohn-Interaktionen in Deutschland entdeckten die Klient*innen als vierte neue Information, dass es keine Erziehungskonflikte bei Reisen nach Tunesien gebe. Als Grund hierfür er- klärt der Vater, dass er dort auch nicht habe deutsch erziehen wollen, sondern zu seiner tunesischen „heimatlichen Haltung“ als Vater stehen könne. Neugierde Zur Erzeugung neuer Informationen kann Neugierde als eine der treibenden Kräfte angesehen werden: Eine Per- son versucht, Neues zu entdecken, indem sie einen Sach- verhalt aus einem anderen Blickwinkel anschaut. Für systemische Therapeut*innen ist dies besonders in- teressant, wenn das Gefühl entsteht, in einer Sackgasse oder Problemtrance gelandet zu sein [4]. Wichtig ist dabei, mit diesem Neuen professionell vertraut zu werden und es nicht als etwas Fremdes zu exotisieren im Sinn einer vo- yeuristischen Neugierde. Ethnolog*innen ist diese Haltung als mittleres Maß zwi- schen einer ethnozentristischen versus die Einzigartigkeit des Fremden verherrlichenden Haltung bekannt. Ethno- zentrismus steht für die Grundüberzeugung, dass der ei- gene Lebensstil der beste Bezugspunkt ist, an dem sich jeder andere Lebensstil zu messen hat. Beispiele hierfür sind die koloniale Gewalt der Kreuzzüge im Mittelalter wie auch jede faschistische Bewegung. Beispiele für die Ver- herrlichung anderer Lebensstile sind der „edle Wilde“ zur Zeit der Eroberung Lateinamerikas und das „Zurück zur Natur!“ des Jean-Jacques Rousseau [5]. Professionelle Neugierde hingegen leitet Suchprozesse ein, die sich vor allem zur Hypothesenbildung anbieten. Dabei ist nicht bedeutsam, ob der Inhalt der Hypothesen aus Perspektive der Therapeut*innen wahr oder falsch ist. Vielmehr kommt es darauf an, wie die Hypothesen mit den Klient*innen verhandelt und je nachdem angenommen oder verworfen werden. Dazu bedarf es einer gut ausge- bildeten Neutralität als professioneller Haltung [6]. Neutralität In der interkulturellen systemischen Therapie steht Neu- tralität dafür, dass Therapeut*innen Klient*innensyste- me dabei unterstützen, Informationen und somit Unter- schiedsbildungen herauszuarbeiten, ohne dabei selbst einer bestimmten Sichtweise anzuhaften. Therapeut*in- nen dürfen hierbei durchaus eigene Meinungen haben. Verlieben sie sich jedoch in ihre Hypothesen, haben sie ver- loren in dem Sinn, dass alternative Denk-, Fühl- und Ver- haltensweisen nicht mehr zulässig erscheinen [3,4]. Neu- tralität bietet so eine Orientierungsmöglichkeit. In der Konstruktneutralität werden verschiedene Sicht- weisen, Problem- und Lösungserklärungen gleicherma- ßen wertgeschätzt. In der Beziehungsneutralität (soziale Neutralität) kann sich das Therapeut*innensystem auf die verschiedenen Systemmitglieder und ihre Beziehungsan- gebote gleichermaßen (non-)verbal einlassen. In der Pro- blem-Lösungs-Neutralität (Ergebnisneutralität oder auch Ver- änderungsneutralität) darf ausbalanciert gelten, welche Lö- sung von wem, und ob überhaupt, sich wie durchsetzt. So darf auch eine sogenannte Gesundung, wer auch immer diese definiert, als (nicht) attraktiver Zustand erlebt wer- den. Hier werden die Wirkungen von (Nicht-)Veränderun- gen besonders bedeutsam [6]. Neutralität fordert gerade in interkulturell systemthera- peutischen Kontexten alle Beteiligten heraus, über das Hunger-Schoppe Cr et al. Betrachtungen einer interkulturell ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 34–37 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 35
Standpunkte Vertraute hinauszuschauen, entsprechend zu handeln und zu wachsen (u. a. [2]). FALLBEISPIEL 2 Die Psychiater Roland Littlewood und Maurice Lip- sedge beschäftigen sich in ihren Publikationen mit den „Verwirrungen“, die aus dem Versuch von Psy- chiater*innen entspringen, psychische Anomalitäten in religiösen Minderheitengruppen zu sehen. Sie be- schreiben den Fall einer in Jamaika geborenen, gut integrierten und schon lange in London lebenden Migrantin, die Mitglied einer Pfingstgemeinde ist. Bald nach ihrem Eintritt begann sie, in Zungen zu sprechen. Sie arbeitete weiterhin im Krankenhaus, lebte allein und scheinbar ohne größere Sorgen in einer gemieteten Wohnung, die sie ausschließlich zur Arbeit oder zum Kirchgang verließ. Die Jamaikanerin wurde aufgrund „exzessiver Religiosität“ und „Zuständen der Ekstase“ in der Psy- chiatrie vorstellig. Bereits in der ersten Begegnung gab sie einen Aufschrei von sich, rollte sich auf den Boden und schrie Dinge, die die behandelnden Psychiater*innen nicht verstanden. Sie fragten sich, ob die Klientin in Zungen sprach. Daher suchten sie nach Mitgliedern ihrer Kirche, um diese zu fragen, was zu tun sei. Ungefähr zehn Kirchenfreund*innen kamen der Einladung nach. Jedoch berichteten sie, dass die Jamaikanerin nicht in Zungen spreche, sondern im Kopf krank sei („sick in the head“). Mit dieser Information kamen die Psychiater*innen zu der Überzeugung, dass in der Tat eine psychia- trische Behandlung angezeigt sei. Gleichzeitig be- suchte ihre Klientin weiterhin ihre Pfingstgemeinde, in die sie sich zunehmend besser integrierte. Im Rahmen der kirchlichen Kontexte begann sie wie früher in Zungen zu sprechen. Rückbezogenheit Alles, was gesagt wird, wird von und zu einem/einer Be- obachter*in gesagt. Rückbezogenheit ist in der Ethnologie als eine Form der Ehrerbietung gegenüber einem anderen Lebewesen zu verstehen [5]. Sie kann nur aktiv betrieben werden und impliziert die Bedingtheit verschiedener Erlebensweisen. Gregory Bateson machte dies als erster deutlich. Während seiner Feldforschungen bei den Iatmul (Papua Neuguinea) galt seine größte Sorge der „‚richtigen“ Interpretation der Daten. Er befürchtete, dass die Art und Weise, wie er seine Beobachtungen interpretierte und für Wissenschaft offenleg- te, nicht mit der Interpretation durch die Iatmul übereinstim- men könne [1]. Damit legte er den Grundstein für das heuti- ge Verständnis ethnologischer Betrachtungen. Dies beinhal- tet sowohl die Beschreibungen des beobachteten sozialen Systems als auch des/der Beobachter*in, der/die als Teil und Einflussgröße innerhalb dieses Systems verstanden wird [2]. Ähnliches findet sich in dem Erklärungsmodell der interkultu- rell arbeitenden systemischen Therapeut*innen. Diese Rück- koppelungsdynamik von Beobachter*in und Beobachtetem/ Beobachteter wird in dem Zitat von Umberto Maturana [7] und Heinz von Förster [8] deutlich, dass alles, was gesagt wird, von und zu einem/einer Beobachter*in gesagt wird. „Das Gesagte lässt sich unter keinen Umständen von dem- jenigen trennen, der etwas sagt; es gibt keine überprüfbare Möglichkeit, die eigenen Behauptungen mit einem Bezug zu einer beobachterunabhängigen Realität zu versehen, [und] niemand vermag einen privilegierten Zugang zu einer exter- nen Wirklichkeit oder Wahrheit zu beanspruchen.“ So gelten Unberechenbarkeiten in der Wahrnehmung der Mitglieder des therapeutischen Systems und seiner Sub- systeme als erwartbar. Das Ziel interkultureller systemi- scher Therapie ist, diese Instabilitäten und Unterschiede zu nutzen und zu reflektieren. FALLBEISPIEL 3 Ein deutsch-nepalesisches Paar kommt zum Ge- spräch. In der ersten Sitzung berichten beide, sie seien einander sehr zugewandt. Jedoch komme es stets zu Konflikten. So fordere der deutsche Mann aus Sicht seiner nepalesischen Freundin zu häufige Liebesbeweise, z. B. „dass ich ihm sage, dass ich ihn liebe“. Die Nepalesin fühle sich aus Sicht des deutschen Mannes durch dessen ständige Liebes- bezeugungen eingeengt, z. B. „wenn ich ihr sage, dass ich sie liebe“. Erst seit „der Alltag in die Part- nerschaft“ eingezogen sei, komme es diesbezüglich zu immer häufigeren Auseinandersetzungen. Im Verlauf der Gespräche entdecken die Klient*in- nen zunehmend, wie verschieden in ihrer jeweiligen Heimatkultur miteinander kommuniziert wird. Die Nepalesin stellt fest, dass sie sich in ihrer Liebe zu ihrem deutschen Partner sicher ist. Aus ihrer Sicht braucht sie ihm das aber weniger häufig explizit zu machen, da er es an ihrem zugewandten Ver- halten wahrnehmen könne, auch wenn sie es nicht zusätzlich verbal betone. Der Deutsche stellt fest, dass ihm die weniger verbale Betonung der Liebe seiner Partnerin ein Gefühl der Unsicherheit bereite. Er brauche „das gesprochene Wort“. Unter Rückbezug auf die kulturelle Dimension der Un- sicherheitsvermeidung [9] stellen beide fest, dass die Nepalesin ein geringeres Bedürfnis nach kommuni- kativer, d. h. verbaler Struktur hat als der Deutsche und gleichzeitig weniger unsicher wird, wenn ihre gegenseitige Liebe nicht verbal kommuniziert wird. Der Deutsche erlebt diese Situationen als Bedrohung 36 Hunger-Schoppe Cr et al. Betrachtungen einer interkulturell ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 34–37 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Korrespondenzadresse Univ.-Prof. Dr. Christina Hunger-Schoppe Fakultät für Gesundheit (Department für Psychologie und Psychotherapie) Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie III Alfred-Herrhausen-Str. 44 58455 Witten Deutschland Christina.Hunger-Schoppe@uni-wh.de Literatur [1] Bateson G: Naven: A Survey of the Problems suggested by a Composite Picture of the Culture of a New Guinea drawn from Three Points of View. Cambridge, UK: University Press; 1936 [2] Krause IB: Culture and Reflexivity in Systemic Psychotherapy: Mutual Perspectives. London, UK: Karnac; 2012 [3] Pirmoradi S:Interkulturelle Familientherapie und –beratung: Eine systemische Perspektive. Göttingen: Vandenhoeck & Ru- precht; 2012 [4] von Schlippe A, El Hachimi M, Jürgens G: Multikulturelle systemische Praxis: Ein Reiseführer für Beratung, Therapie und Supervision. Heidelberg: Carl-Auer; 2022 [5] Bernard HR: Research methods in anthropology. Qualitative and quantitative methods. New York, USA: Altamira; 2006 [6] Hunger-Schoppe C: Systemische Therapie. Stuttgart: Kohl- hammer; 2021 [7] Maturana U: Vom Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Frankfurt: Fischer; 2012 [8] v. Förster: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners: Ge- spräche für Skeptiker. Heidelberg: Carl-Auer; 2011 [9] Hofstede G: Culture’s consequences: Comparing values, behaviors, institutions and organizations across nations. 2nd ed. Thousand Oaks, USA: Sage Publications; 2001 Bibliografie PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 34–37 DOI 10.1055/a-2289-6028 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany und erhofft sich eine schnelle Beendigung solcher Situationen, indem er bei seiner Freundin nachfragt. Die entscheidende Wendung hin zu einer Lösung des Paarkonflikts ergab sich in der Frage, ob das verbal weniger expressive Liebeskommitment sub- jektiv wahrgenommen für die Nepalesin nicht das gleiche Kommitment wie die verbale Expressivität des Deutschen sei, die dieser zum Ausdruck seines Kommitments benötigt. FA ZIT FÜR DIE PR A XIS Wenn interkulturelle systemische Therapeut*innen in der Praxis neugierig in das Weltbild und die Erfahrungswelt ihrer Klient*innen einsteigen und diesen Prozess und ihre Teilhaber*innen gleichzeitig beobachten wollen, kann Erfahrungswissen rund um die ethnologische Arbeit unterstützend sein. Wir wünschen Ihnen damit und in Ihren weiteren zwischenmenschlichen Begegnungen viel Freude! Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkon- flikt besteht. Autorinnen/Autoren Christina Hunger-Schoppe Prof. Dr. phil., M. Sc., Dipl.-Psych. Psycho- logische Psychotherapeutin (Systemische Therapie, Verhaltenstherapie), Lehrtherapeu- tin für Systemische Therapie (SG, DGSF) und Verhaltenstherapie, Supervisorin. Promotion zu Religiosität und Spiritualität bei Patient*in- nen mit depressiver Störung im deutsch-chilenischen Vergleich (Universität Heidelberg). Habilitation zur Wirksamkeit Systemischer Therapie und Methodenentwick- lung (Mentor: Jochen Schweitzer, Beate Ditzen; Universitäts- klinikum Heidelberg). Seit 2020 Lehrstuhlinhaberin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke. Chawwah Yael Grünberg M. Sc. Systemische Therapeutin (SG), Systemische Sexualtherapeutin (IGST), M. Sc. in Klinischer Psychologie und Psychotherapie an der Universität Kassel. Promotionsstipen- diatin an der Universität Witten/Herdecke. Teil des sysTelios Think Tanks (Forschung und Lehre zu Complexity Science und der Verschneidung mit systemisch-konstruktivischen Perspektiven). Research Fellow an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin (IPU). In Weiterbildung in systemischer Pädagogik bei Mechthild Reinhard (HSI). Ab 2025 in systemischer Supervisionsausbildung (IGST). Hunger-Schoppe Cr et al. Betrachtungen einer interkulturell ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 34–37 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 37
Aus der Praxis Transkulturelle Gesundheitssysteme: ein stufengerechter Ansatz Rilana Tanja Stöckli, Julia Nöthiger, Martine Scholer, Monia Aebersold Ein bedürfnisorientiertes, transkulturell anwendbares Gesundheitssystem ermöglicht traumatisierten geflüchteten Menschen einen chancengerechten Zugang. Geschulte Laien und Fachpersonen können in einer kultursensitiven Weise frühzeitig mit Orientierung und Ressourcen unterstützen – eine notwendige Investition angesichts der überlasteten hochschwelligen Therapieangebote. Prävalenz von Traumafolgeerkrankungen Geflüchtete erleben häufig traumatische Ereignisse vor und während der Flucht, sind aber auch im Aufnahme- land postmigratorischen Belastungsfaktoren ausgesetzt. Dazu zählen ein unsicherer Aufenthaltsstatus, die Angst um zurückgelassene Familienangehörige in Konfliktgebie- ten, Schwierigkeiten bei der sozialen und beruflichen Inte- gration oder erlebte Diskriminierung in der Gesellschaft. Solche Erfahrungen erhöhen bei Asylsuchenden und Ge- flüchteten das Risiko für psychische Störungen [1]. Studi- en berichten Prävalenzraten der posttraumatischen Belas- tungsstörung (PTBS) bei Geflüchteten von 9–36 % [2][3]. Psychologische Gesundheitsversorgung Hohe Prävalenzen von psychischen Belastungen bei Ge- flüchteten stehen auch in wirtschaftsstarken Ländern vie- len strukturellen und individuellen Hürden in der Gesund- heitsversorgung gegenüber. Zu diesen Hürden zählen z. B. ein überlastetes Gesundheitssystem, fehlende Maßnah- men zur Früherkennung und Überweisung aufgrund man- gelnder transkultureller Sensibilität, Diskrepanz zwischen dem «westlichen» Diagnose- und Behandlungssystem und den Gesundheitskonzepten von Geflüchteten, Sprachbar- rieren sowie die fehlende Kostenübernahme von Dolmet- scherleistungen [4]. Die Unterversorgung von Geflüchte- ten wird durch ihre sozioökonomisch schwierige Situati- on, fehlendes Bewusstsein über Störungen und die Angst vor Stigmatisierung verschärft. In der Folge verfügen Ge- flüchtete oft nicht über ausreichend Ressourcen und Infor- mationen, um sich selbständig über verfügbare Angebote zu informieren und ihr Recht auf Gesundheitsversorgung wahrzunehmen [5]. der Betroffenen darstellen können. Darüber hinaus ist in der Praxis zu beobachten, dass psychologische Fachkräfte häufig ein einseitiges Verständnis des Begriffs Traumapsy- chotherapie haben, wobei viele darunter nur die eigentli- che Traumaexposition verstehen. Der Prozess der Therapie mit traumatisierten Menschen beginnt jedoch viel früher und umfasst mehrere Stufen. Stepped-Care: mehrere Stufen zur bedürfnisorientierten Gesundheitsversorgung Die vorgeschlagene Versorgungspyramide (▶Abb. 1) zeigt 3 integrative Stufen einer Traumatherapie, die aufeinan- der aufbauen und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit des Gesundheits-, Sozial- und Integrationsbereichs, sowie den Ausbau zugänglicher, innovativer und skalierbarer An- sätzen erfordern [6]. Die unterste Stufe bildet die grundle- gende psychosoziale Unterstützung, die möglichst nieder- schwellig zugänglich sein muss. Sie bildet das Fundament für alle, die Unterstützung benötigen und beinhaltet Mass- nahmen zur Orientierung. In der zweiten Stufe werden Res- sourcen in einem therapeutischen Setting erarbeitet. Die Spitze der Pyramide stellt dar, dass nur ein Teil der Betroffe- nen eine Traumaexposition benötigt, die spezifische Trau- ma-therapeutische Methoden verlangt. Die Stufen sind in der Praxis nicht strikt getrennt, sondern gehen fliessend ineinander über, wobei untere Stufen oft in höhere ein- gebunden werden. Im Kontakt mit potenziell traumati- sierten Geflüchteten geht es zunächst darum, ihre sozia- le Situation und psychische Disposition zu verstehen und darauf basierend die passenden, bedürfnisorientieren Un- terstützungsangebote aus der richtigen Stufe abzuleiten. Angesichts der steigenden Zahlen von Geflüchteten, der bestehenden Versorgungslücke und des Fachkräfteman- gels wird deutlich, dass hochschwellige, spezialisierte The- rapien allein keine ausreichende Lösung für die Mehrheit Eine Traumatherapie mit geflüchteten Menschen setzt die Phasen der Orientierung und Ressourcenarbeit voraus, gleich wie bei der Klientel ohne Migrationshin- tergrund. Merke 38 Stöckli R et al. Transkulturelle Gesundheitssysteme: ein ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 38–41 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
TRAUMAEXPOSITION spezialisierte psycho- therapeutische Angebote RESSOURCEN psychotherapeutisches Grundangebot ORIENTIERUNG niederschwellige psychosoziale Unterstützungsangebote % der Personen, die Unterstützung benötigen ▶Abb. 1 Integrative Stufen einer Traumatherapie. Niederschwellige psychosoziale Unterstützungsangebote: Orientierung Postmigratorische Faktoren dominieren oft den Alltag von Geflüchteten und sind äusserst herausfordernd. Für Be- troffene mit PTBS kann diese belastende Gegenwart so überwältigend sein, dass ihr Stress-Toleranzfenster für eine spezialisierte Traumaexposition derzeit nicht geeig- net ist. Niederschwellige psychosoziale Angebote (unters- te Stufe) können hier bereits einen therapeutischen Effekt haben, weil sie mittels Alltagsunterstützung und Orien- tierung zur Stabilisierung und einem verbesserten Sicher- heitsgefühl beitragen [7]. Psychoedukation kann z. B. Ori- entierung bieten, indem sie Betroffene über ihre norma- le Reaktion auf ein abnormales Ereignis aufklärt. Sie kann von therapeutischen Fachpersonen durchgeführt werden, auch wenn diese keine spezialisierte Fortbildung in Trau- matherapie haben. Genauso erfolgreich können psycho- edukative Inhalte durch geschulte Laien aus der Zielgrup- pe (Peers) in der jeweiligen Erstsprache vermittelt werden (Task-Sharing) [8]. INFOBOX Wirkung von Psychoedukation Psychoedukation „normalisiert“ das erlebte Lei- den – nicht im Sinne einer Bagatellisierung, sondern durch Bezugnahme auf eine objektive Norm. Das diffus wahrgenommene Leiden bekommt einen Namen und bis anhin unspezifische Symptome wie plötzliche Schreckhaftigkeit und das chro- nische Gefühl auf der Hut sein zu müssen, werden als Symptome erkannt, anerkannt und benannt. Zusammenhängend können praktische Skills zur Stressregulation vermittelt werden. Dazu zählen die Anwendung von Atemübungen, Übungen zur Körperwahrnehmung, Gedanken- und Emotions- regulierung. Diese Skills können in Momenten des Stresserlebens angewandt dazu beitragen, dass sich die jeweilige Person selbst beruhigen oder aus einer Gefühlsstarre aktivieren kann. Dies führt zu einer besseren Stressregulierung und einem Gefühl der Sicherheit und Kontrolle. Auch digitale Dienste können eine effektive erweiternde Alternative zu herkömmlichen Psychotherapien darstellen und psychoedukative Inhalte vermitteln [9]. Weil digitale Angebote anonym, flexibel und unabhängig im eigenen Tempo genutzt werden können, können einige Hürden in der Versorgung von Geflüchteten überwunden werden. Ein Ansatz für ein niederschwelliges digitales Unterstützungs- angebot mit der Einbindung von Task-Sharing wurde vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) mit der „Sui SRK“ App verfolgt. Sie bietet Geflüchteten psychologische Selbst- hilfe, Informationen zum Leben in der Schweiz und Peer- Unterstützung per Chat [10]. Die App ist jetzt auf Ara- Stöckli R et al. Transkulturelle Gesundheitssysteme: ein ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 38–41 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 39
Aus der Praxis bisch und Deutsch in den App-Stores verfügbar und wei- tere Sprachen werden laufend entwickelt. ment-Kompetenzen zur Reduktion von Belastung im All- tag anhand der WHO-Kurzintervention Problem Manage- ment Plus. FALLBEISPIEL Herr B. nimmt regelmäßig an einem gruppen- therapeutischen Angebot in der Natur teil. Gemein- sam mit anderen geflüchteten Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern trifft er sich wöchentlich draußen, besucht verschiedene Orte rund um seinen Wohnort und erlernt einfache Acht- samkeits-Übungen, die er selbst praktizieren und als Ressourcen nutzen kann. Herr B. ist durch die Gruppe sozial besser vernetzt, lernt Naherholungs- gebiete kennen, macht die Erfahrung, mit seinem Erleben nicht allein zu sein und lernt, seinen Stress mittels praktischer Übungen zu regulieren. Spezialisiertes psychotherapeutisches Angebot: Traumaexposition Die Spitze der Versorgungspyramide, die Durchführung einer Traumaexposition, bedarf speziellen Fachwissens in der Anwendung von Trauma-psychotherapeutischen Me- thoden. Unabhängig von der gewählten Methode (z. B. EMDR, NET, Life-Span Integration) wird ein traumatisches Ereignis in die Lebenschronologie eingeordnet und die traumatischen Inhalte durch dosierte und kontrollierte Exposition und unter stetem Einbezug der Gegenwart in- tegriert. Ein stabiler Zustand der betroffenen Person und eine gute Therapiebeziehung sind unabdingbar für diese intensive und emotionale Auseinandersetzung. FALLBEISPIEL Frau S. ist als „Flüchtling“ anerkannt und verfügt somit über einen gesicherten Aufenthaltsstatus. Sie geht einer beruflichen Tätigkeit nach und lebt zusammen mit ihrer Familie. Sie hat gelernt, was passiert, wenn sie plötzlich Panikattacken erlebt (Orientierung) und hat einen Umgang damit gefunden (Ressourcen). Mit Hilfe von EMDR kommt sie nochmals kontrolliert in Kontakt mit ihren traumatischen Erlebnissen, während sie mittels bilateraler Stimulation (Augenbewegungen) im Hier und Jetzt verankert bleibt. Sie berichtet, dass die Er- innerung an die Ereignisse in der Folge „weiter weg“ erscheinen und somit weniger störend sind. FALLBEISPIEL Frau D. lebt mit ihren beiden kleinen Kindern in ei- nem abgelegenen Asylzentrum, das nach 14:30 Uhr aus der Stadt nicht mehr mit öffentlichen Verkehrs- mitteln erreichbar ist. Sie leidet unter Schreck- haftigkeit, Magenschmerzen, Schlafstörungen und erlebt täglich Alltagsstress. Vermittelt durch die Sui SRK App versteht sie ihre Schmerzen, hat einfache Bewältigungsstrategien für ihre Schlafhygiene und den Umgang mit Stress gelernt, sich Videos von an- deren Betroffenen mit hilfreichen Tipps angesehen und kommuniziert per Chat mit einer Begleitperson auf Arabisch. Das hilft ihr, sich weniger verloren und allein zu fühlen. Psychotherapeutisches Grundangebot: Ressourcen Merke Die Ressourcenarbeit ist zentral für die Funktionsfähig- keit im postmigratorischen Lebenskontext und kann sowohl von geschulten Laien wie auch Fachpersonen durchgeführt werden. Im psychotherapeutischen Grundangebot (2. Stufe) spie- len nach der Orientierung die Stärkung und Aktivierung von Ressourcen im therapeutischen Sinne in der Traumaar- beit mit Geflüchteten eine bedeutende Rolle. Ressourcen, die dazu beitragen Stress abzubauen, sind essenziell, um die notwendige Kraft aufzubringen, überhaupt die eige- nen traumatischen Inhalte bearbeiten zu können. Zudem lernen Betroffene in dieser Stufe mit dem Unveränderli- chen umzugehen. Eine verfrühte Traumaexposition bei fehlenden Ressourcen kann Betroffene unerwünscht de- stabilisieren und verfehlt somit das Ziel [11]. Wie auch in der ersten Stufe können therapeutische Fach- personen ohne spezialisierte Traumapsychotherapie durch Ressourcenarbeit einen wichtigen Beitrag zur Stabilisie- rung leisten. Als Ressourcen können z. B. Fertigkeiten, so- ziale Kontakte, Objekte, religiöse Rituale oder Kraftorte identifiziert werden. Die Festigung dieser Ressourcen und das Erlernen des Verständnisses für den eigenen Gesund- heitszustand sind wesentliche Voraussetzungen für eine spätere Traumaexposition. Daher sollte die Unterstützung rund um Orientierung und Ressourcen wertgeschätzt und priorisiert werden. Diese ist unabhängig vom Schwere- grad der PTBS elementar und durch ihre greifbaren und anschaulichen Schritte für Betroffene jeder Herkunft an- wendbar. Ein Projekt der Universität Zürich, „SPIRIT“, das der zweiten Stufe zugeordnet werden kann, zielt darauf ab, die Resilienz von Geflüchteten zu stärken [12]. Geschul- te Peers vermitteln anderen Geflüchteten Selbstmanage- 40 Stöckli R et al. Transkulturelle Gesundheitssysteme: ein ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 38–41 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
FA ZIT Eine bedürfnisorientierte und stufengerechte Gesundheitsversorgung für Geflüchtete ermöglicht traumatisierten geflüchteten Menschen einen chan- cengerechteren Zugang. Durch die Einbindung von innovativen Angeboten, geschulten Laien und Fach- personen kann frühzeitig kultursensitiv orientiert und unterstützt werden. Die Versorgungspyramide, bestehend aus psychosozialer Unterstützung, Ressourcenarbeit und spezialisierter Traumaexpo- sition, bietet ein flexibles und integratives Modell, das den vielfältigen Bedürfnissen der Geflüchteten gerecht wird und auf eine nachhaltige Gesund- heitsversorgung abzielt. Dieser Ansatz fördert die Stabilität der Betroffenen und trägt zur Überwin- dung der strukturellen und individuellen Hürden in der psychologischen Gesundheitsversorgung bei. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkon- flikt besteht. Autorinnen/Autoren Rilana Tanja Stöckli 2014–2021 Studium der Psychologie an den Universitäten Freiburg i. Ü., Salamanca und Bern. Seit 2015 Freiwilligenarbeit im Flüchtlingsbereich. Seit 2021 Doktorandin der Klinischen Psychologie und Psychotherapie an der Universität Bern und Projektmitarbeit beim Schweizerischen Roten Kreuz (SRK). Schwerpunkt: Digitale psychosoziale Unterstützung für Geflüchtete. Julia Nöthiger Martine Scholer Monia Aebersold Schweizerisches Rotes Kreuz (SRK) Korrespondenzadresse Rilana Stöckli Schweizerisches Rotes Kreuz (SRK) Werkstr. 18 3084 Wabern Schweiz Rilana.stoeckli@redcross.ch Literatur [1] Jannesari S. Post-migration Social–Environmental Factors Associated with Mental Health Problems Among Asylum Seekers: A Systematic Review. J Immigr Minor Health 2020; 10 [2] Turrini G, Purgato M, Ballette F, et al. Common mental dis- orders in asylum seekers and refugees: umbrella review of prevalence and intervention studies. Int J Ment Health Syst 2017; 11: 51. doi:10.1186/s13033-017-0156-0 [3] Blackmore R, Boyle JA, Fazel M et al. The prevalence of mental illness in refugees and asylum seekers: A systematic review and meta-analysis. PLoS Med 2020; 17: e1003337. doi:10.1371/journal.pmed.1003337 [4] Kiselev N, Pfaltz M, Haas F et al. Structural and socio-cultural barriers to accessing mental healthcare among Syrian refu- gees and asylum seekers in Switzerland. European Journal of Psychotraumatology 2020; 11: 1717825. doi:10.1080/2000 8198.2020.1717825 [5] Bartolomei J, Baeriswyl-Cottin R, Framorando D, et al. What are the barriers to access to mental healthcare and the primary needs of asylum seekers? A survey of mental health caregivers and primary care workers. BMC Psychiatry 2016; 16: 16–336. doi:10.1186/s12888-016-1048-6 [6] Munz D, Melcop N. The psychotherapeutic care of refugees in Europe: treatment needs, delivery reality and recommen- dations for action. Eur J Psychotraumatol 2018; 9: 1476436. doi:10.1080/20008198.2018.1476436 [7] Einführung in die Integrative Körperpsychotherapie IBP (In- tegrative Body Psychotherapy). 1. Aufl. Bern: Hogrefe; 2016 [8] Patel V, Saxena S, Lund C et al. The Lancet Commission on global mental health and sustainable development. The Lancet 2018; 392: 1553–1598. doi:10.1016/S0140- 6736(18)31612-X [9] Sijbrandij M, Kunovski I, Cuijpers P. Effectiveness of Internet- Delivered Cognitive Behavioral Therapy for Posttraumatic Stress Disorder: A Systematic Review and Meta-Analysis: Review: Internet-Delivered CBT for PTSD. Depress Anxiety 2016; 33: 783–791. doi:10.1002/da.22533 [10] Stoeckli RT, Berger T, Aebersold M et al. Development and Cultural-Contextual Adaptation of a Low-Threshold Digital Psychosocial Service for Refugees Living in Switzerland: Sui App. JMIR Form Res [Preprint] [11] Reddemann L, Piedfort-Marin O. Stabilization in the treat- ment of complex post-traumatic stress disorders: Concepts and principles. European Journal of Trauma & Dissociation 2017; 1: 11–17. doi:10.1016/j.ejtd.2017.01.009 [12] SPIRIT – Scaling-Up Psychological Interventions in Refugees in Switzerland (2024). Im Internet: https://www.spirit-net- work.ch. Stand: 03.12.2024 Bibliografie PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 38–41 DOI 10.1055/a-2289-6086 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany HINWEIS Dieser Artikel wurde gemäß des Erratums vom 27.03.2025 geändert. In diesem Beitrag wurde der Name einer Co-Autorin korrigiert. Stöckli R et al. Transkulturelle Gesundheitssysteme: ein ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 38–41 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 41
Aus der Praxis Mikroaggressionen im therapeutischen Kontext: erkennen, verstehen und bewältigen Eva M. Klein, Timo Slotta, Sarah Wilker, Lars Dumke, Laura Nohr Mikroaggressionen sind subtile, oft unbeabsichtigte Formen der Diskriminierung, die auch im therapeutischen Kontext weit verbreitet sind und die Arbeitsbeziehung negativ beeinflussen können. Das Erkennen und proaktive Ansprechen von Mikroaggressionen sind entscheidende Schritte, um einen möglichen Bruch in der therapeutischen Beziehung zu reparieren und Vertrauen herzustellen. Was sind Mikroaggressionen? Mikroaggressionen sind ein Phänomen, das in jeder zwi- schenmenschlichen Begegnung auftreten kann, in der eine Form gesellschaftlichen Machtungleichgewichts vorhan- den ist. Damit gehören Mikroaggressionen für bestimm- te Personengruppen zu ihrem Alltag. Unter rassistischen Mikroaggressionen verstehen wir Formen von Diskrimi- nierung gegenüber Personen, die als nicht-Weiß gelesen werden, u. a. aufgrund ihrer Herkunft, Nationalität, phäno- typischen Merkmalen, Sprache oder Religion. Mikroaggressionen werden als geringfügig und teilweise uneindeutig im Vergleich zu offener Diskriminierung oder physischer Gewalt wahrgenommen. Jedoch sind sie gera- de deshalb mit besonderem Stress verbunden, da sie für Menschen mit Rassismuserfahrungen allgegenwärtig sind und häufig abgestritten werden [1, 2]. Rassistische Mikroaggressionen und ihre Konsequenzen wurden bislang insbesondere im anglophonen Raum be- forscht und weiterentwickelt. Im deutschsprachigen Raum hingegen gibt es bisher kaum Forschung und Diskussion zu diesem Thema, was sich in den letzten Jahren langsam zu ändern beginnt. In einer aktuellen Taxonomie werden 16 Formen von Mikroaggressionen definiert [1,3], von denen eine Auswahl in ▶Tab. 1 dargestellt ist. Mikroaggressionen sind Teil der rassistischen Lebensrea- lität vieler Menschen in Deutschland und sollten vor dem Hintergrund verstanden werden, dass die deutsche Ge- sellschaft und ihre Institutionen durch strukturellen und kulturellen Rassismus geprägt sind. Somit werden wir alle in einer rassistischen Umgebung sozialisiert und kön- nen selbst jederzeit rassistische Mikroaggressionen zei- gen – teilweise auch unbewusst [3]. Diese Allgegenwär- tigkeit von Mikroaggressionen und ihre negativen Kon- sequenzen für die Gesundheit und das Wohlbefinden Betroffener sind durch zahlreiche Studien belegt [vgl. 2]. Im deutschen Sprachraum gibt es bislang wenig Studien und Auseinandersetzung mit dem Thema rassistische Dis- kriminierung und psychische Gesundheit [vgl. 4]. Wichtige Ausnahmen sind Studien wie der Afrozensus [5] oder des Rassismusmonitors [3, 6]. Hier hatten nicht-Weiße Men- schen durchschnittlich höhere Werte von Angst und De- pression, die mit zunehmenden Rassismuserfahrungen steigen [6]. Zudem gaben sie häufiger an, die Suche nach einem Therapieplatz aufzugeben [6] sowie oft die Erfah- rung zu machen, dass ihre Rassismuserfahrungen im psy- chotherapeutischen Setting nicht ernst genommen wur- den [5]. Daraus leitet sich die hohe Relevanz von Mikroaggressio- nen für den therapeutischen Kontext ab. Zum einen kön- nen rassistische Mikroaggressionen ein Risiko- oder auf- rechterhaltender Faktor für psychische Störungen sein und sollten in der Anamnese und Therapieplanung Berücksich- tigung finden. Zum anderen zeigen Studien, dass erleb- te Mikroaggressionen das Hilfesuch- und Inanspruchnah- meverhalten beeinträchtigen [vgl. 6]. Mikroaggressionen können auch im therapeutischen Kontext – wie in allen zwischenmenschlichen Begegnungen – stattfinden. Mikroaggressionen im therapeutischen Kontext Mikroaggressionen sind im therapeutischen Kontext ein weit verbreitetes Phänomen. In US-amerikanischen Un- tersuchungen berichten zwischen 53 % und 81 % der Pa- tient*innen, die einer Minderheit angehören, von rassis- tischen Mikroaggressionen seitens ihrer Therapeut*innen [7]. Erste deutsche Daten bestätigen diesen Eindruck [8]. Die Erfahrung von Mikroaggressionen kann zu Gefüh- len der Abwertung und Geringschätzung führen, die als Bruch („rupture“) in der Arbeitsbeziehung verstanden wer- den können. Zahlreiche Studien belegen, dass Mikroag- gressionen die therapeutische Arbeitsbeziehung und den Therapie-Outcome negativ beeinflussen sowie die Wahr- 42 Klein EM et al. Mikroaggressionen im therapeutischen ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 42–45 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
▶Tab. 1 Übersicht über Mikroaggressionen, wie nicht-weiße Patient*innen sie häufig im Alltag erfahren und wie sie in der Psychotherapie re- produziert werden können. Mikroaggression im Alltag von Patient*innen im therapeutischen Kontext eine stereotype Kategorisierung erzwingen falsche Farbignoranz Absprechen von rassistischen Erfahrungen „Wo kommst du eigentlich her?“ „Ich sehe nur den Menschen, nicht die Hautfarbe!“ eigene Stereotype verleugnen „Ich bin doch nicht rechts. Ich bin eng mit unseren russischen Nachbarn befreundet.“ Vermuten von Kriminalität und Gefährlichkeit Pathologisierung von Kultur oder Aussehen Eine nicht-weiße Person wird von der Polizei im Stadtpark angehalten und nach Drogen durchsucht. Die Chefin legt einer muslimischen Mitarbeiterin nahe, das Kopftuch abzulegen, damit sie als kom- petenter und selbstständiger wahrgenommen wird. Vermeidung und Distanzierung Eine Person steigt nicht in den Aufzug ein, in dem schon eine nicht-weiße Person ist, obwohl genug Platz wäre. „Sie sind doch sicherlich nicht in Deutschland auf- gewachsen?“ Eine Patientin berichtet, dass es ihr schwerfällt, diskrimi- nierende Erfahrungen in der Therapie zu berichten. Die Therapeutin antwortet: „Für mich spielt die Herkunft in der Therapie keine Rolle – die Seele hat doch keine Hautfarbe!“ Ein Patient spricht zögerlich an, er habe das Gefühl, dass seine Therapeutin ihm aufgrund seiner Herkunft das Studium nicht zutraut. Die Therapeutin sagt, sichtlich bewegt: „Das trifft mich sehr, dass Sie so von mir denken. Als Therapeutin habe ich all meinen Patienten gegenüber die gleiche Wertschätzung.“ Ein Therapeut führt bei seinem Patienten eine sehr aus- führliche Drogenanamnese durch. Ein Therapeut befragt seine Patientin intensiv nach Unterdrückung in der Partnerschaft und ermuntert sie immer wieder, sich zu trauen, „ihren eigenen Weg zu gehen“. Therapeut*innen vergeben Therapieplätze häufiger an Menschen mit deutsch klingenden Namen. Es wurde eine für den Therapiekontext besonders relevante Auswahl getroffen. Eine ausführliche Übersicht findet sich bei [1]. scheinlichkeit von Therapieabbrüchen erhöhen [vgl. 9]. Vor diesem Hintergrund ist es von zentraler Bedeutung, dass Therapeut*innen in der Lage sind, Mikroaggressio- nen zu erkennen – insbesondere auch deshalb, weil Mikro- aggressionen oft unbewusst und unbeabsichtigt sind. Um dies zu untersuchen, wurde ein Experiment durchgeführt, bei dem sich Psychotherapeut*innen Videos einer Thera- piesitzung ansahen [10]. Ein Video beinhaltete Mikroag- gressionen, welche bis zu 52 % der Teilnehmenden kor- rekt identifizierten. Die Therapeut*innen bewerteten den Psychotherapeuten in der Mikroaggressionsbedingung als weniger sensibel und transkulturell inkompetenter als in der Kontrollbedingung ohne Mikroaggressionen. Das Erkennen von Mikroaggressionen ist entscheidend, um ihre Auswirkungen auf die therapeutische Beziehung zu verstehen und sie im therapeutischen Kontext thema- tisieren zu können. Denn obwohl die Mehrheit der minori- sierten Patient*innen Mikroaggressionen erlebt, wird nur etwa ein Viertel dieser Vorfälle anschließend zwischen Therapeut*in und Patient*in besprochen [7]. Die Studie zeigt jedoch auch, dass die Arbeitsbeziehung besser be- wertet wurde, wenn Patient*in und Therapeut*in die Mi- kroaggressionserfahrung erfolgreich besprachen. Daher sollten Mikroaggressionen im psychotherapeutischen Kon- text erkannt und aktiv besprochen werden. Besprechen von Mikroaggressionen im therapeutischen Kontext Wie oben dargestellt, ist es aufgrund der Sozialisierung in einer rassistischen Gesellschaft wahrscheinlich, dass Mi- kroaggressionen von Therapeut*innen ausgeübt werden. Ein erster, entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer rassismussensiblen Psychotherapie ist Offenheit gegen- über dem Thema und die damit verbundene selbstkriti- sche Reflexion eigener Privilegien und stereotyper Annah- men (Anregungen zur Selbstreflexion s. [11]). Für viele Therapeut*innen ist es schwer vereinbar mit ihrem therapeutischen Selbstbild, (unbeabsichtigt) rassis- tische Mikroaggressionen ausgeübt zu haben. Eine häufi- ge Reaktion ist daher die Abwehr und damit die Absprache der Realität dieser Erfahrung. Somit kann das Ansprechen einer Mikroaggression seitens der Patient*innen die Er- fahrung einer erneuten Mikroaggression nach sich ziehen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass viele Patient*innen zögern, erlebte Mikroaggressionen in der Therapie zu the- matisieren. Wenn Therapeut*innen vermuten, dass sie eine Mikroag- gression verübt haben, sollten sie dies daher unbedingt selbst ansprechen. Wichtige Schritte sind dabei das Erken- nen und Benennen der Mikroaggression, die Übernahme von Verantwortung für die Wiederholung diskriminieren- Klein EM et al. Mikroaggressionen im therapeutischen ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 42–45 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 43
Aus der Praxis der Erfahrungen in der Psychotherapie und den dadurch verursachten Beziehungsbruch sowie eine aufrichtige Ent- schuldigung [vgl. 2, 11]. Ein solches proaktives Handeln kann den zuvor entstandenen Bruch in der therapeuti- schen Beziehung reparieren [7]. Im folgenden Fallbeispiel wird gezeigt, wie eine Mikroag- gression von einer Therapeutin durch intensive Selbstre- flexion und Supervision in der folgenden Sitzung erfolg- reich besprochen werden konnte. FALLBEISPIEL Die 32-jährige Frau begab sich wegen anhaltender depressiver Symptomatik in Therapie. Die Pat. wird aufgrund ihres Aussehens und Namens nicht-Weiß gelesen. Sie ist in Deutschland geboren und auf- gewachsen, aber Teile ihrer Familie stammen aus Indien. Die Patientin berichtete von wiederholten sexuellen Übergriffen im Kindesalter durch einen Verwandten. Die Taten seien von der Familie gedeckt worden, z. B. habe ihre Großmutter die Patientin gebeten, nicht über die Übergriffe zu sprechen, um die Familie nicht zu beschmutzen. Außerdem seien „Männer halt so“. Als die Therapeutin nach soziokulturellen Einflussfaktoren auf das Verhalten der Großmutter fragte, antwortete die Patientin sichtlich irritiert: „Wegen des Patriarchats? Meinen Sie das?“ Worauf- hin die Therapeutin etwas verunsichert zu anderen Fragen überleitete. In der Familienanamnese war zuvor nicht geklärt worden, welche Seite der Familie Weiß, und welche indischstämmig ist. Die Therapeutin war offenbar implizit davon ausgegangen, dass die Täterfamilie aus Indien stammen müsse. Sie hatte durch ihre Fra- ge eine rassistische Stereotypisierung ausgedrückt. Die Therapeutin begab sich in Supervision. Dort wurde ein gemeinsames Verständnis des (non-in- tentionalen) rassistischen Gehalts ihres Vorgehens erarbeitet. Außerdem wurde dem Schamgefühl der Therapeutin Raum geboten, um anschließend einen für die Patientin hilfreichen Umgang mit dem möglicherweise erfolgten Bruch der therapeutischen Allianz zu entwickeln. Die Therapeutin setzte sich das Ziel, die Mikroaggression anzusprechen, Verant- wortung für ihr Verhalten zu übernehmen und sich zu entschuldigen. In der darauffolgenden Sitzung entwickelte sich folgender Dialog: Th.: Ich habe über unsere letzte Sitzung nach- gedacht und mir ist klar geworden, dass ich etwas Unsensibles gesagt habe. Pat.: Sie meinen die Frage nach der Kultur, oder? Das ist schon okay. Th.: Sie wissen direkt, wovon ich spreche. Was hat diese Frage von mir in Ihnen ausgelöst? Pat.: Ich kenne das ja schon. Mir wird wegen meiner Herkunft oft unterstellt, dass ich ein unterwürfiges, von Männern unterdrücktes Ding bin. Es macht mich … traurig wahrscheinlich? Die Leute sehen mich immer als schwach an und merken es nicht einmal. Th.: Danke, dass Sie mir das so offen erklären, insbesondere nachdem ich selbst diesen Fehler gemacht habe. Es muss ja unheimlich frustrierend sein, immer wieder so ignorant abgewertet zu werden. Haben Sie diese Traurigkeit denn auch in unserem Gespräch gespürt? Pat.: Hm … Ich glaube, ganz kurz vielleicht. Wir haben dann über etwas anderes gesprochen und dann ging es auch wieder. Th.: Ich bin darüber hinweggegangen – das passiert Ihnen ohnehin ständig und dann habe ich es hier wiederholt. Es tut mir aufrichtig leid, dass ich so etwas Verletzendes gesagt habe. Ich möchte, dass Sie sich hier sicher fühlen – wenn sich Patientinnen hier von mir abgewertet fühlen, mache ich etwas falsch. [Pat. grinst.] Th.: Sie lächeln? Pat.: Ja, das hat so noch nie jemand zu mir gesagt. Das war irgendwie süß, danke! Th.: Können Sie sich vorstellen, dass wir noch einmal über den Umgang mit den sexuellen Übergriffen innerhalb Ihrer Familie sprechen? FA ZIT FÜR DIE PR A XIS Mikroaggressionen sind ein häufiges Phänomen, auch in der psychotherapeutischen Arbeit. Behan- delnde können Mikroaggressionen trotz aller Bemü- hungen nicht vollständig verhindern, auch weil sie oft unbewusst ablaufen. Wenn Mikroaggressionen in der Therapie auftreten, lösen sie in Therapeut*innen häufig Scham und Schuldgefühle aus. Gezielte Interventionen sind entscheidend, um negative Auswirkungen zu minimieren. Das Adressieren und proaktive Besprechen, auch in Form einer Reflexion der Mikroaggression als Teil der alltäglichen Lebensrealität der Person, sind dabei wichtige Schritte. Die dadurch vermittelte Haltung ist oft wichtiger als das perfekte Vorgehen. Im Ideal- fall kann durch eine proaktive, kollaborative Haltung der zuvor entstandene Bruch in der therapeutischen Arbeit repariert werden. Für die Entwicklung einer diskriminierungssensiblen Haltung sind Supervision, Intervision, Selbst- erfahrung sowie Fortbildungsangebote hilfreich und notwendig. 44 Klein EM et al. Mikroaggressionen im therapeutischen ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 42–45 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
LITER ATUREMPFEHLUNGEN ▪ Ogette T. exit RACISM. Rassismuskritisch denken lernen. Münster: Unrast; 2017 ▪ Schütteler C, Slotta T. Diskriminierungssensible Psychotherapie und Beratung. Berlin: Springer; 2023. ▪ Williams MT. Managing microaggressions: Addressing everyday racism in therapeutic spaces. Oxford University Press; 2020 Interessenkonflikte Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkon- flikt besteht. Autorinnen/Autoren Eva M. Klein Jun.-Prof. Dr. Psychologische Psychotherapeu- tin, Psychoanalytikerin. Seit 2023 TT-Professo- rin für Psychodynamische Psychosomatik an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Migration und psychische Gesundheit, Persönlichkeitsfunktion, Körper- selbst und Psychodiagnostik. Timo Slotta Dr. Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität zu Köln Literatur [1] Osman M, Williams MT, Alftieh A. State of the science on racial microaggressions. Behav Ther 2024; 55: 1172–1188 [2] Williams MT. Microaggressions: Clarification, evidence, and impact. Persp Psychol Sci 2020; 15: 3–26 [3] Foroutan, N., Ha, N., Kalter, F., Shooman, Y., and Sinanoglu, C. (2022). Rassistische Realitäten: Wie setzt sich Deutsch- land mit Rassismus auseinander? Deutsches Zentrum fur Integrations-und Migrationsforschung DeZIM e.V., Berlin [4] Yeboah A (2017) Rassismus und psychische Gesundheit. In: Fereidooni K, El M (Hrsg) Rassismuskritik und Widerstands- formen. Springer, Wiesbaden, S. 143–161 [5] Aikins JK, Gyamerah D, Matysiak J et al. Wer nicht gezählt wird, zählt nicht. Empirische Forschung zu Schwarzen Men- schen in Deutschland. WZB Mitteilungen 2020; 169: 18–21 [6] Ateş M, Bouaoud K, Freitag N et al. Rassismus und seine Symptome. Bericht des Nationalen Diskriminierungs-und Rassismusmonitors 2023 [7] Owen J, Tao KW, Imel ZE et al. Addressing racial and ethnic microaggressions in therapy. Prof Psychol 2014; 45: 283–290 [8] Hallmann-Perez C, Gerlach A, Slotta T. Racial Microag- gressions in Psychotherapy Dyads – Addressing Subtle Forms of Racism Mitigates Their Negative Relation with Working Alliance and Improvement. submitted [9] Owen, J., Tao, K. W., & Drinane, J. M. (2019). Microaggressi- ons: Clinical impact and psychological harm. In G. Torino et al (Hrs.), Microaggression theory: Influence and implications (S. 67–85). Wiley. [10] Owen J, Drinane JM, Tao KW et al. An experimental test of microaggression detection in psychotherapy: Therapist multicultural orientation. Prof Psychol 2018; 49: 9–21 [11] Schütteler C, Slotta T. Diskriminierungssensible Psycho- therapie und Beratung. Berlin: Springer; 2023 Sarah Wilker Dr. Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität Bielefeld Bibliografie Lars Dumke Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätskli- nikum Hamburg-Eppendorf, und Koordinierendes Zentrum für Traumatisierte Geflüchtete (Centra) Hamburg Laura Nohr Dr. Klinisch-Psychologische Intervention, Freie Universität Berlin PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 42–45 DOI 10.1055/a-2289-6427 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany Korrespondenzadresse Juniorprof. Dr. Eva M. Klein Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universitätsklinikum Freiburg Hauptstr. 8 79104 Freiburg Deutschland eva.klein@uniklinik-freiburg.de Klein EM et al. Mikroaggressionen im therapeutischen ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 42–45 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 45
Aus der Praxis Muss eine diskriminierungssensible Haltung erlernt werden? Birsen Kahraman Während „Kultursensibilität“ in den vergangenen Jahren zunehmend Eingang in Curricula der Aus- und Weiterbildung von Psychotherapeut*innen gefunden hat, werden Diskriminierungsstrukturen wie Rassismus und Antisemitismus immer noch selten adressiert. Dieser Beitrag möchte Kolleg*innen ermutigen, sich antisemitismus- und rassismuskritisch weiterzubilden, um ihre Expertise diskriminierungssensibel und menschenrechtsorientiert einbringen zu können. Leerstelle Rassismus und Antisemitismus in der Psychotherapie FALLBEISPIEL „Ich habe ihn gebeten, Exit Racism zu lesen, weil er überhaupt nicht verstanden hat, was ich meine. Er sagte, er lässt sich nicht sagen, was er lesen soll.“ (Schwarze Patientin, die ihre frühen Rassismuserfah- rungen bearbeiten möchte, über ihre Erfahrungen in Probatorik) „Ich sei doch Deutsche, mit Israel hab´ ich doch gar nichts mehr zu tun. Ich könnte ja jüdisch glauben, aber mich deutsch fühlen, damit mich das alles nicht so belastet.“ (Jüdische Patientin, deren Herkunfts- familie teilweise in Israel lebt, über Interaktion in psychotherapeutischer Sprechstunde) „Ich hatte das Gefühl, ich muss ihr alles `zig Mal erklären, dass das alles keine Zufälle sind [zeigt auf Kopftuch] – warum bin ich dann hier? Sie soll mich doch verstehen!“ (Muslimische Patientin mit handgreiflichen Diskriminierungserfahrungen über vorangegangene Kurzzeittherapie) Zu jeder der o. g. Patientinnen gäbe es vieles Differenzie- rendes zu berichten; ihnen allen ist jedoch gemeinsam, dass sie in Deutschland geboren, aufgewachsen und aka- demisiert sind. Sie präsentieren sich überwiegend jung, eloquent und beruflich erfolgreich, also im besten Sinne „integriert“, sodass sie grundsätzlich die gängigen Krite- rien von YAVIS-Patient*innen (young, attractive, verbal, intelligent, successful) erfüllen. Von YAVIS-Patient*innen wird vermutet, dass sie auch in Deutschland privilegierte Zugänge zur Psychotherapie haben [1]. Gleichzeitig ist be- kannt, dass v. a. ältere Menschen, aber auch Kinder und Ju- gendliche, trans-, inter- und non-binäre Menschen, Men- schen mit sinnlichen und/oder körperlichen und/oder mit geistigen Behinderungen, sowie sozio-ökonomisch be- nachteiligte Menschen es schwerer haben, adäquate psy- chotherapeutische Versorgung zu finden. Ebenso haben Menschen bei (angenommener) „Kulturverschieden- heit“, Migrations- und Fluchtgeschichte eingeschränkten Zugang zur ambulanten und stationären Psychotherapie. Selbst wenn „Migrationsandere“, also als nicht deutsch wahrgenommene Menschen [2] in Psychotherapie gelan- gen, berichten sie, dass ihre Diskriminierungserfahrungen nicht adäquat wahrgenommen werden [3][4]. Mind the empathy gap Situiertes Fachwissen wurde in den vergangenen beiden Jahrzehnten mithilfe kultur- und kontextsensibler Model- le zur Verfügung gestellt [5][6][7][19]. Situiertes Wissen lässt sich beschreiben als Wissen, das durch soziale Zu- schreibungen wie Geschlecht, Klasse, Herkunft bzw. damit einhergehenden wiederholten Erfahrungen implizit erwor- ben wird. Während strukturell diskriminierte Personen die „Norm“ bzw. ihre Dominanzprinzipien zwangsläufig ken- nen müssen, um im sozialen Umfeld zurecht zu kommen, können Mehrheitsangehörige bestehende Herrschaftsver- hältnisse, eigene Privilegien bzw. die Benachteiligung an- derer zu ihren Gunsten ausblenden, um sich in einer ge- rechten Welt zu imaginieren („Happyland“ nach Ogette [8]). Kolleg*innen in Aus- und Fortbildungskontexten be- richten häufig, dass ihnen Wissens- und Empathielücken zwar generell, jedoch nicht konkret bewusst sind und fürchten, dass diese unwillkürlich in der Interaktion mit Klient*innen zu Tage treten könnten. Wenn Wissenslücken bewusst werden, gehen sie zudem häufig mit Schuld- und Schamgefühlen einher. Diese können in machtkritisch re- flektierender Supervision genutzt werden, um weißer bzw. professioneller Fragilität gewahr zu werden [9][10] und emotionale Abwehr und Empathielücken zu verringern. Empathielücken bzw. selektive Empathie treten in der the- rapeutischen Beziehung auf, wenn Therapeut*innen Ras- sismus und/oder Antisemitismuserfahrungen und deren weitreichende Folgen nicht (ausreichend) nachvollziehen 46 Kahraman B. Muss eine diskriminierungssensible ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 46–49 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
und anerkennen können (siehe auch Perspektivendiver- genz bei Chernivsky 2020 [11]). Infolgedessen werden ne- gativ Betroffene nicht angemessen verstanden, sodass sie in der Therapie unwillkürlich erneut verunsichert werden können mit gravierenden Folgen, da Psychotherapeut*in- nen qua Profession eine umfassende Empathie zugeschrie- ben wird [12]. Machtkritische Weiterbildungen in Antise- mitismus und Rassismus sollten zunächst zum Ziel haben, die Historie, aktuelle Lebensumstände und Perspektiven von negativ betroffenen Patient*innen zu erlernen und an- zuerkennen, um häufig beklagte Empathielücken zu ver- ringern und einen geschützten Entwicklungsraum anbie- ten zu können. Merke Antisemitismus und Rassismus stellen omnipräsente gesellschaftliche Unrechtsverhältnisse dar, die fatale individuelle, soziale wie gesamtgesellschaftliche Folgen haben und nur mit gemeinsamer Anstrengung aufgelöst werden können. Antisemitismus und Rassismus sind die Regel Antisemitismus und verschiedene Formen von Rassismus sind jahrhundertelang tradierte Ideologien, die die Un- gleichwertigkeit von Menschen nach Hautfarbe, Kultur, Religion etc. behaupten und damit Ungleichbehandlung und Gewalt gegen sie legitimieren. Da Antisemitismus und Rassismus inzwischen weltweit geächtet werden, werden sie gesellschaftlich meist radikalen Gruppen, vergange- nen Zeiten oder fernen Orten zugeschrieben [13], zudem werden Antisemitismus und Rassismus häufig gegeneinan- der ausgespielt, was eine weitere Verschiebung bedeutet. Diese Externalisierungen entlasten zwar Mehrheitsange- hörige, führen aber gleichzeitig dazu, dass subtil diskri- minierende Strukturen oder Verhaltensweisen fortbeste- hen. Immerhin erkennt eine große Mehrheit in Deutsch- land an, dass Rassismus im Alltag, in Institutionen, Ämtern und wichtigen Lebensbereichen wie Wohnen und Bildung existiert [14]. Zudem sind rassistische Praktiken auch in der Versorgung zu finden; so vergeben Fachärzt*innen, allen voran Psycho- therapeut*innen, bei nicht-deutsch assoziierten Namen seltener Termine [15]. Dies mag dazu beitragen, dass jede 3. von Rassismus negativ betroffene (= rassifizierte) Person die Suche nach einem benötigten Psychotherapieplatz auf- gibt. Wenig überraschend geben am häufigsten diejeni- gen Menschen auf, deren Zugehörigkeit in der deutschen Gesellschaft am häufigsten infrage gestellt wird, nämlich schwarz, muslimisch und asiatisch gelesene Personen. Dies ist besonders alarmierend, da seit Langem belegt ist, dass Rassismuserfahrungen mit gravierenden psychischen Fol- gen einhergehen wie Angststörungen, Depressionen und Traumafolgestörungen [16]: „Rassismus, Fremdenfeind- lichkeit und Diskriminierung existieren in jeder modernen Gesellschaft und verursachen vermeidbare Krankheiten und Übersterblichkeit in Gruppen, die häufig schon be- nachteiligt sind.“ [17] Merke Rassismus und Antisemitismus werden von negativ Betroffenen im gesamten Lebensverlauf und alltäglich erlebt, da sie strukturell in der Gesellschaft verankert sind. Mehrheitsangehörige sind sich über das Ausmaß häufig nicht bewusst (z. B. Vernichtungsangst) bewusst und neigen zur Verharmlosung. Von der Leere zu Lehre Der diskriminierungsfreie Zugang zur Gesundheitsver- sorgung ist in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft ein gesetzlich verankertes Menschenrecht und wird von allen Vertretungen unserer Profession aner- kannt. Dennoch ist die psychotherapeutische Versorgung von Antisemitismus und Rassismus betroffenen Personen in Deutschland nicht ausreichend gewährleistet, weil dis- kriminierungskritische Inhalte nicht in der Lehre, Aus- bzw. Weiterbildung verankert sind. Die Folgen von Diskriminie- rung auf psychische Gesundheit sind unbestritten, die un- zureichende Versorgung negativ betroffener Menschen ebenso. Folglich müssen Menschen, die im Alltag mit viel- fältigen Formen von Rassismus und/oder Antisemitismus konfrontiert werden, in der psychotherapeutischen Lehre, Aus- und Weiterbildung bzw. Versorgung stärker in den Fokus gerückt werden. Da alltägliche subtile Rassismus- erfahrungen schwer erkennbar sind, herrscht häufig Ver- unsicherung bei Therapeut*innen. Es braucht zeitintensive Trainings, um historische Kontinuitäten und strukturelle Zusammenhänge zu erkennen und mittels Selbsterfah- rung die negativ betroffene Perspektive nachzuvollziehen. Trainings dürfen ihrerseits nicht „kulturalisierend“, also auf vermeintliche Andersartigkeit gerichtet sein [18], son- dern müssen geeignet sein, soziale Konstruktionsprozes- se und Bewertungsmuster zu identifizieren und aufzuwei- chen. Diese Prozesse sind häufig mit unangenehm erleb- ten Emotionen sowie ihrer Abwehr verbunden, so dass sie neben hoher Kompetenz ausreichend Zeit, kleine Grup- pengrößen bzw. doppelbesetzte Leitungen benötigen, um individuellen Prozessen und Gruppendynamik gerecht zu werden. Hohe Hürden zum psychotherapeutischen Berufsstand, z. B. Numerus clausus, Studieneignungstest, mehrjährige Aus- bzw. Weiterbildung bei geringer bis fehlender Finan- zierung und rare Praktikumsplätze können für von struk- tureller Diskriminierung benachteiligte Berufsinteressierte schier unüberwindbar sein. In der Folge ist situiertes Wis- sen kaum in der Psychotherapie repräsentiert bzw. wenig anerkannt. In den vergangenen Jahren, insbesondere nach antisemitischen und rassistischen Anschlägen wie in Mün- chen, Halle oder Hanau bzw. der Black Lives Matter Bewe- gung, formierten sich zunehmend kritische Studierenden- und Intervisionsgruppen, die eigeninitiativ machtkritische Kahraman B. Muss eine diskriminierungssensible ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 46–49 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 47
Aus der Praxis Veranstaltungen durchführen. Gleichzeitig zeigt die globa- le Zunahme von Antisemitismus und Rassismus, dass für nicht Betroffene oftmals unsichtbare Kontinuitäten und Wirkweisen in unserer Gesellschaft und Profession beste- hen, die es so früh als möglich selbstkritisch u. a. in regu- lären Curricula zu adressieren gilt. Merke Strukturelle Barrieren können nur – top down – durch strukturelle Maßnahmen zum Gerechteren verändert werden. Therapeut*innen müssen fortbestehende Ge- waltverhältnisse i. S. v. kontinuierlichen Traumatisie- rungen erkennen und adressieren können. FA ZIT Diskriminierungssensibles Verhalten wird nicht allein durch den Wunsch nach einer entsprechenden Haltung erreicht, sondern muss systematisch erlernt und selbstreflexiv trainiert werden. Sie setzt eine professionelle machtkritische Auseinandersetzung mit historisch wirksamen Herrschaftsstrukturen vo- raus. Dazu ist die Reflexion der eigenen gesellschaft- lichen Positioniertheit und damit einhergehenden Privilegien bzw. Benachteiligungen unabdingbar. Im Zuge von Bemühungen um Wiedergutmachung ist es u. a. notwendig, bislang Benachteiligte bevorzugt zur Versorgung bzw. zu Studium, Weiterbildung und Praktika zuzulassen, sowie aktiv in Lehre und Leitung zu hören und zu fördern, um Antidiskrimi- nierungs- und Inklusionsstrategien glaubwürdig voranzubringen. Interessenskonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkon- flikt besteht. Autorinnen/Autoren Birsen Kahraman Dr. phil. Dipl.-Psych., 2003 Approbation (PP, VT; 2014 Zusatzqual. KJP), 2006 Promotion an LMU München zu Kultur- & Machtsensibilität in der Therapiebeziehung. Niederlassung in eigener Praxis seit 2008. Weiterbildungen u. a. in ACT, FAP, EFT. Korrespondenzadresse Dr. Birsen Kahraman Praxis für Psychotherapie & Supervision Waltherstr. 23 80337 München Deutschland kahraman@praxis-kahraman.de Literatur [1] Strauß B. Chancenungleichheit auf der Suche nach einem Therapieplatz Schlussfolgerungen für die zukünftigen Auf- gaben der Psychotherapieforschung. Psychotherapeut 2015; 60: 389–396 [2] Mecheril P. Prekäre Verhältnisse: Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-) Zugehörigkeit. Münster: Waxmann Verlag; 2003 [3] Aikins MA, Bremberger T, Aikins JK et al. Afrozensus 2020. Perspektiven, Anti-Schwarze Rassismuserfahrungen und Engagement Schwarzer, afrikanischer und afrodia- sporischer Menschen in Deutschland (2021). Berlin: Each One Teach One (EOTO). Im Internet: https://afrozensus.de/ reports/2020; Stand: 05.09.2023 [4] Kahraman B. Wozu Rassismuskritik in der Psychotherapie- Profession? Psychotherapeutenjournal 2023; 22: 344–354 [5] Erim Y. Klinische Interkulturelle Psychotherapie. Klinische In- terkulturelle Psychotherapie: Migration und Fluchterfahrung in der therapeutischen Arbeit – Ein Lehr- und Praxisbuch. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer Verlag; 2024 [6] Gün AK. Interkulturelle therapeutische Kompetenz: Möglich- keiten und Grenzen psychotherapeutischen Handelns. Stutt- gart: Kohlhammer Verlag; 2007 [7] Kahraman B. Die kultursensible Therapiebeziehung. Störun- gen und Lösungsansätze am Beispiel türkischer Klienten. Gießen: Psychosozial-Verlag; 2008. [8] Ogette T. Exit racism. Rassismuskritisch denken lernen. Münster: Unrast Verlag; 2017 [9] DiAngelo R. Wir müssen über Rassismus sprechen: Was es bedeutet, in unserer Gesellschaft weiß zu sein. Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag; 2020 [10] Obisesan LT. Professional Fragility? Abwehrmechanismen (weißer) Sozialarbeiter*innen in rassismuskritischen Trai- nings [Bachelor-Thesis]. Frankfurt am Main: gFFZ – Gender- und Frauenforschungszentrum der hessischen Hochschulen Frankfurt University of Applied Sciences; 2020 [11] Chernivsky M. Antisemitismus als biographische Erfahrungs- kategorie. Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 2020; 1: 18–25 [12] Louw E, Schwabe K. Rassismussensible Beratung und Therapie von geflüchteten Menschen. Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten. Göttingen: Vandenhoeck & Ru- precht; 2021 [13] Messerschmidt A. Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus. In: Broden A, Mecheril P, Hrsg. Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesell- schaft. Bielefeld: transcript; 2010 [14] Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrations- forschung (DeZIM). Rassistische Realitäten: Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander? Auftaktstudie zum Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDi- Ra) (2022). Im Internet: https://www.rassismusmonitor.de/ 48 Kahraman B. Muss eine diskriminierungssensible ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 46–49 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
fileadmin/user_upload/NaDiRa/CATI_Studie_Rassistische_ Realit%C3%A4ten/DeZIM-Rassismusmonitor-Studie_Ras- sistische-Realit%C3%A4ten_Wie-setzt-sich-Deutschland-mit- Rassismus-auseinander.pdf. Stand: 05.12.2024 i e g e z n A [15] Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrations- forschung (DeZIM). Rassismus als Symptom. Bericht des Na- tionalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) (07.11.2023). Im Internet: https://www.rassismusmonitor. de/fileadmin/user_upload/NaDiRa/Rassismus_Symptome/ Rassismus_und_seine_Symptome.pdf. Stand: 05.12.2024 [16] Devakumar D, Selvarajah S, Abubakar I et al. Racism, xeno- phobia, discrimination, and the determination of health. Lancet 2022; 400: 2097–2108. [17] Titelblatt. The Lancet 2022; 400 (10368) [18] Mmari J, Gold I, Rohr D. Warum wir bei „Kultur“ nicht stehen bleiben dürfen! Rassismuskritische Möglichkeitsräume für systemische Beratung und Therapie. Zeitschrift für systemi- sche Therapie und Beratung 2023; 41(1): 3–15. [19] van Keuk E, Ghaderi C, Joksimovic L et al. Diversity: Transkul- turelle Kompetenz in klinischen und sozialen Arbeitsfeldern. Stuttgart: Kohlhammer Verlag; 2010. Bibliografie PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 1–49 DOI 10.1055/a-2289-5944 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany Beruflich weiterkommen! THIEME NEWSLETTER Ausgewählt und exklusiv: • Fortbildungsbeiträge und Studienübersichten • Neues aus der Welt der digitalen Wissens- plattformen • aktuelle Literatur- empfehlungen Kostenlos in Ihr Postfach! thieme.com/newsletter Kahraman B. Muss eine diskriminierungssensible ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 46–49 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 49
Aus der Praxis Psycho-emotionale Phasen der Migration Jan Ilhan Kizilhan, Claudia Klett So unterschiedlich die individuellen Migrationserfahrungen und deren Erleben sind, lassen sich dennoch gewisse Regelhaftigkeiten bei den psycho-emotionalen Dynamiken feststellen. Das Wissen um diese – auch lange nach der eigentlichen Migration wirksamen – Prozesse hilft, psychische Störungen und seelisches Er- leben, aber auch Ressourcen und Resilienzfaktoren von Menschen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte im Kontext dieser zu verstehen. Migration als Bewältigungsprozess Eines der bekanntesten psychologischen Modelle zu Mi- gration ist das Phasenmodell der „Emotionslogik des Mi- grationsprozesses“, das auf Sluzki [1] basierend von Mach- leidt und Calliess [2] entwickelt wurde. Es stellt die psycho- emotionalen Grunddynamiken von Migration dar. Kizilhan [3] entwickelte das Modell weiter und bezog systematisch individuelle und kollektive Belastungen wie transgenera- tionale Traumata mit ein. Das für diesen Beitrag weiterent- wickelte Modell umfasst zehn Phasen und bildet die migra- tionsbezogenen Stressbelastungen und zu bewältigenden Herausforderungen ab (vgl. ▶Abb. 1). Grundsätzlich sind Stressbelastungen und Vulnerabilität umso höher, je weniger Entscheidungsspielräume und Freiwilligkeit wahrgenommen werden. Von einem hohen Grad an Freiwilligkeit lässt sich bei Arbeitsmigrant*innen ausgehen, bei den sogenannten Gastarbeiter*innen, die insbesondere in den 1960er-Jahren von Deutschland an- geworben wurden, aber z. B. auch bei Zugewanderten im Rahmen der EU-Freizügigkeit. Auch bei der Gruppe der hochgebildeten Geflüchteten, die vorwiegend aus poli- tischen oder ökonomischen Gründen ihre Heimat verlas- sen und über vergleichsweise viele Ressourcen, z. B. Bil- dung, Sprachkenntnisse, Netzwerke, verfügen, ist von einer gewissen Freiwilligkeit und Selbstbestimmung aus- zugehen. Als aufgezwungen und fremdbestimmt wird Migration ins- besondere von geflüchteten Menschen erlebt. Sie treffen zusätzlich auf schwierige politische und gesellschaftliche Gegebenheiten im Aufnahmeland. Geflüchtete, für die aus humanitären Gründen Sonderregelungen gelten, haben hier gewisse Vorteile, da die gesetzlichen und rechtlichen Regelungen für sie etwas günstiger sind. Exilpolitiker*in- nen und Menschenrechtsaktivist*innen bekommen eine vergleichsweise rasche Anerkennung und Aufenthaltssi- cherheit. Von der Vormigrationsphase bis zur Phase der Überkompensation Zentrales emotionales Thema der ersten vier Phasen ist die Auseinandersetzung mit dem Verlassen bzw. Verlust der Heimat und die Ablösung von der Herkunftskultur. Sie wird geprägt durch vorherige Migrationserfahrungen, sowohl der eigenen als auch der Eltern oder Großeltern. Es gibt Be- völkerungsgruppen, die seit Generationen immer wieder auf der Flucht sind, was sowohl Risiko- als auch Schutzfak- tor für psychische Belastungen sein kann. Diese Vorerfahrungen beeinflussen nicht nur die Entschei- dung zur Flucht und das mögliche Ziel, sondern auch die Vorstellungen über das Aufnahmeland und den Verlauf der weiteren Phasen [4, 5]. Auch ohne Migrationsvorer- fahrungen hat die Lebenssituation in der Vormigrations- phase einen Einfluss darauf, wie gut nachfolgende Heraus- forderungen bewältigt werden können. Merke Der Blick auf die Zeit vor der Migration (auf Ressourcen wie auch Belastungen) kann in der Therapie eine wich- tige Ressource sein, um aktuelle Thematiken besser verstehen und einordnen zu können. Sowohl die Vorbereitungsphase als auch der Migrationsakt selbst können sehr unterschiedlich in Bezug auf Dauer und Belastung sein. Bei einer Flucht kann die Vorbereitung sehr kurz und der Migrationsakt sehr lang sein, zum Teil über mehrere Monate oder Jahre. Als Phase der Überkompensation wird die erste Ankunfts- zeit im Zielland bezeichnet, etwa das erste Jahr, sie kann aber durchaus auch länger dauern. In dieser Phase sind die Anpassungsbereitschaft und der Energieaufwand be- sonders hoch, um die Erfüllung der grundlegenden Be- dürfnisse, z. B. eine adäquate Unterkunft, eine Arbeits- 50 Kizilhan JI et al. Psycho-emotionale Phasen der ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 50–54 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
▶ A b b . 1 P h a s e n d e r i M g r a t i o n Kizilhan JI et al. Psycho-emotionale Phasen der ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 50–54 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 51
Aus der Praxis stelle oder soziale Kontakte, zu sichern. Viele erleben sich in dieser Zeit in einer Art „Überlebensmodus“ und „funk- tionieren“ [6]. Für viele geflüchtete Menschen bedeutet die Ankunft in Deutschland einen Zugewinn an Sicherheit und wird oft durch Euphorie und Erleichterung begleitet. Gleich- zeitig lässt die Situation in den Aufnahmeeinrichtungen und die lange Unsicherheit in Bezug auf die Bleibeper- spektiven in den ersten Monaten und z. T. Jahren kaum ein Zur-Ruhe-Kommen und Ankommen zu. Die Anpas- sungsbemühungen werden insbesondere durch gesetz- liche Regelungen und behördliche Abläufe immer wieder stark ausgebremst, was zu großen Frustrationen führt. In dieser Phase, die auch eine Phase von großen Unklar- heiten und Ungewissheiten ist, kann es zur Entwicklung oder Verstärkung von Traumafolgestörungen, Depres- sionen, Ängsten oder psychosomatischen Schmerzen kommen. Merke In der Phase der Überkompensation ist die psychische und soziale Stabilisierung sowie die Schaffung eines sicheren äußeren Rahmens (z. B. in Bezug auf Aufent- halt, Wohnung, finanzielle Absicherung) zunächst oft vorrangig. Kritische Anpassung und Trauerphase Mit zunehmender Normalität (im seelischen Erleben) kann der Überlebensmodus aufgegeben werden, dann beginnt die Phase der kritischen Anpassung. Sie ist geprägt durch die Auseinandersetzung mit dem Fremden und das Ringen um die Bewahrung des Eigenen. In dieser Phase wird realisiert, dass die bisherigen Bewäl- tigungsmechanismen nicht mehr funktionieren und Res- sourcen und Netzwerke nicht mehr verfügbar sind oder anerkannt werden, wie Bildungsabschlüsse oder die Her- kunftssprache. Infolge von Überforderung oder auch als Abwehrmechanismen gegenüber dem Fremden können in dieser Phase vermehrt kulturelle Konflikte sowie an- haltende innerliche Ambivalenzen und Zerwürfnisse, Ge- fühle von Verunsicherung, Unwohl- und Fremdsein oder Isolation auftreten [7]. Dies wird oft als „Kulturschock“ bezeichnet. In dieser vulnerablen Phase muss das psychische Gleichge- wicht immer wieder neu hergestellt werden. Kommen be- lastende Ereignisse und weitere Herausforderungen hinzu, wie z. B. der Verlust von nahestehenden Menschen oder fi- nanzielle Krisen, kann dies zu einer Dekompensation füh- ren und langfristig die Integration im Migrationsland er- schweren [8, 9]. Für viele Geflüchtete ist aufgrund der viel- fältigen Belastungen vor, während und nach der Flucht in der Phase der kritischen Anpassung eine Dekompensati- on bereits angelegt. Merke Traumafolgen, z. B. Verzweiflung, Schlafstörungen, Ängste oder Depressionen, können plötzlich, ohne erkennbaren äußeren Auslöser, auftreten, wenn die psychosoziale Stabilisierung die innerpsychische Ver- arbeitung zulässt. Eine (trauma)therapeutische Begleitung kann sehr wich- tig sein, um das langfristige Ankommen und Fußfassen in der Aufnahmegesellschaft zu unterstützen. FALLBEISPIEL 1 Der 30-jährige D. erzählt: „Ich musste wegen dem Krieg Syrien verlassen. Ich wurde gezwungen, als Soldat zu kämpfen, und hatte Angst um mein Leben. Ich floh zunächst in die Türkei, wo es jedoch auch wieder Kämpfe gab. Mit einem völlig überfüllten Schmugglerboot konnte ich dann nach Griechen- land flüchten und von dort weiter nach Deutschland. Ich bekam am Anfang nur Duldungen für jeweils 3 Monate. Ich sollte nach Griechenland zurück, da ich dort registriert war. Ich wusste nie, was in der kommenden Zeit passieren würde. Bis heute habe ich diese Angst, obwohl ich in- zwischen einen sicheren Aufenthalt habe. In dieser schwierigen Zeit hatte ich alle 4 Wochen ein Ge- spräch in einem Traumazentrum. Über das, was ich erlebt hatte, konnte ich nicht sprechen, aber über meine ständigen Schlafstörungen, Alpträume und Ängste. Ich ging hauptsächlich hin, weil ich einfach nicht allein sein wollte. Jetzt, nachdem ich einen sicheren Aufenthalt habe und auch eine Arbeit in einem Restaurant gefunden habe, würde ich gerne über die schlimmen Erlebnisse sprechen, um sie aus meinem Kopf zu bekommen.“ Ist das Selbst- und Weltbild durch traumatische Erfahrun- gen erschüttert, wird dies durch weitere Ohnmachts-, Aus- grenzungs- und Gewalterfahrungen verstärkt [11]; eine Negativspirale kann sich entwickeln. Merke Für viele Geflüchtete sind die Anerkennung der belas- tenden Erlebnisse, Geduld, sich die Geschichten an- zuhören, Wertschätzung, die behutsame Stärkung von Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung sowie die Initiierung von Empowerment-Prozessen wesentlich. In der Trauerphase steht die Trauer über den Verlust des Zurückgelassenen im Vordergrund, wenn bewusst wird, dass eine Rückkehr in die Heimat für längere Zeit – oder für immer – nicht ansteht [10]. Die beiden Phasen lassen sich oft nicht eindeutig vonei- nander trennen, sondern gehen (immer wieder) ineinan- 52 Kizilhan JI et al. Psycho-emotionale Phasen der ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 50–54 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
der über. Sie dauern manchmal über Jahre oder sogar Jahr- zehnte bzw. treten nach langer Zeit wieder auf. Generationsübergreifende Anpassungs- prozesse bis zur Inklusionsphase Die letzten vier Phasen, die generationsübergreifenden Anpassungsprozesse, die Phase der Auseinandersetzung mit Integrationsproblemen und Rassismus sowie die He- rausbildung einer hybriden transkulturellen Identität (diese umfasst die Bikulturalitätsphase und die Inklusions- phase), weisen auf ein zunehmend gelungenes Angekom- men-Sein hin. Die Flucht- bzw. Migrationsgeschichte und die damit verbundenen Kompetenzen, z. B. Mehrsprachig- keit, Multikulturalität, werden als Ressource erlebt. Flucht- bzw. migrationsbedingte Generationenkonflikte werden erkannt und bearbeitet. Es findet eine bewusste Auseinan- dersetzung mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten und (Macht-)Strukturen statt und eine positive transkulturelle Identität wird entwickelt. Dieses Bewältigen des Migrationsprozesses dauert häufig über mehrere Generationen, insbesondere bei einer er- zwungenen Zuwanderung. Können die zugewanderten Menschen der ersten Generation nicht alle Phasen bewäl- tigen, kann es sein, dass dies von den nachfolgenden Ge- nerationen übernommen wird. So kann es z. B. bei Kindern oder Enkelkindern zu einer Dekompensation kommen, wenn die Eltern bzw. Großeltern sehr angepasst und im Modus des „Überlebens“ geblieben sind [12]. Auch trau- matische Erlebnisse, die nicht aufgearbeitet werden konn- ten, können sich auf die Kinder bzw. sogar die Enkel über- tragen. Solche Zusammenhänge zu den (intergeneratio- nalen) Migrationsdynamiken müssen in der Therapie oft erst hergestellt werden. FALLBEISPIEL 2 Der 68-jährige Herr A. erzählt: „Ich bin vor etwa 50 Jahren als ‘Gastarbeiter’ nach Deutschland ge- kommen und habe Deutschland mit aufgebaut. Wir sind Aleviten aus dem Nahen Osten und haben dort seit Jahrhunderten Unterdrückung erlebt. Ich selbst wurde in der Schule und auch später als Erwachse- ner diskriminiert und ausgegrenzt. Daher habe ich mein Land verlassen. Meine Eltern haben mir schon als Kind viele Ge- schichten über ihre Verfolgung und Flucht erzählt. Ich kann alles auswendig und mit zunehmendem Alter werden diese Geschichten für mich immer wichtiger. Ich will mich gar nicht erinnern, aber es kommt einfach. Ich habe diese Geschichten auch meinen Kindern weitererzählt und meinen Enkel- kindern. Sie sollen wissen, woher ihre Vorfahren stammen und was wir alles erlebt haben. Sie lachen manchmal darüber oder verdrehen die Augen, wenn ich wieder mit den ‘alten Geschichten’ anfange, aber mir ist es einfach wichtig, dass sie das wissen. Mein Sohn ist inzwischen 40 Jahre alt und fängt an, die gleichen Geschichten seinen Kindern zu erzählen, obwohl er selbst sie angeblich nicht mehr hören kann. Es macht mich traurig zu sehen, dass er traurig wird, wenn er diese Geschichten erzählt. Ich möchte nicht, dass meine Enkelkinder auch traurig werden oder psychisch krank, wie mein Sohn und meine Tochter. Aber sie müssen doch wissen, wie schlimm es war, verfolgt zu werden, Hunger zu haben oder von den Nachbarn und anderen Leuten beschimpft und ausgegrenzt zu werden, nur weil man eine andere Religion hat.“ Merke Langfristige migrationsbezogene Themen in der Psy- chotherapie, auch bei der 2. oder 3. Generation, sind Generationen- und Anpassungskonflikte, Trauma- und Trauerbewältigung, Diskriminierungs- und Rassismus- erfahrungen sowie Identitätskrisen. FA ZIT Migration und Flucht bringen enorme psycho-emo- tionale Herausforderungen mit sich, die von Men- schen ohne Migrationserfahrung oft unterschätzt werden. Die Auswirkungen sind langanhaltend, oft über Generationen hinweg. Nach Phasen des scheinbar gut Angekommen-Seins können plötzlich wieder Phasen der Dekompensation, Trauer und Traumasymptome auftreten. Das Phasenmodell der Migration kann helfen, die Dynamiken sowie Belastungs- und Resilienzfaktoren besser zu erkennen und zu verstehen. Dabei ist zu beachten, dass die beschriebenen Phasen nicht alle als linear nacheinander ablaufend zu verstehen sind, manche überlappen oder wiederholen sich. Und auch nicht alle zugewanderten Menschen und Familien durchlaufen alle Phasen. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht. Kizilhan JI et al. Psycho-emotionale Phasen der ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 50–54 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 53
Aus der Praxis Autorinnen/Autoren Jan Ilhan Kizilhan Prof. Dr. rer. soc. Dr. phil. Dipl.-Psych. Promotionen in Psychologie sowie Neuiranis- tik und Islamwissenschaften. Psychologischer Psychotherapeut und Lehrtherapeut. Leitung der transkulturellen psychosomatischen Abteilung der MediClin-Klinik in Donaueschin- gen. Seit 2017 Gründungsdekan des Institute for Psycho- therapy and Psychotraumatalogy der Universität Dohuk im Nordirak. Seit 2018 Gründung und Leitung des Instituts für Transkulturelle Gesundheitsforschung der DHBW. Claudia Klett Dipl.-Pädagogin. Studium der Erziehungs- wissenschaften an der PH Freiburg. Ausbildun- gen in systemischer Beratung (DGSF), Traumapädagogik und Traumazentrierter Fachberatung. Seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Transkulturelle Gesundheitsforschung mit den Forschungs- und Lehrschwer- punkten Traumapädagogik und Gewaltprävention in transkulturellen Kontexten. Korrespondenzadresse Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan Institut für Transkulturelle Gesundheitsforschung (ITG) am Center for Advanced Studies/Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) Jägerstr. 56 70174 Stuttgart Deutschland jan.kizilhan@dhbw.de Literatur [1] Sluzki CE. Psychologische Phasen der Migration und ihre Aus- wirkungen. In: Hegemann T, Salman R, Hrsg. Transkulturelle Psychiatrie – Konzepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2001: 101–115 [2] Machleidt W, Calliess IT: Transkulturelle Aspekte psychiatri- scher Erkrankungen. In: Möller H-J, Laux G, Kapfhammer H-P, Hrsg. Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie. 4. Aufl. Berlin: Springer Medizin; 2011: 397–427 [3] Kizilhan JI. Kultursensible Psychotherapie. Berlin: VWB; 2013 [4] Donà G, Young M. Refugees and forced migrants. In: Sam DL, Berry JW, Hrsg. The Cambridge Handbook of Accultura- tion Psychology. Cambridge University Press; 2016: 153–172 [5] Hargasser, B. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Sequentielle Traumatisierungsprozesse und die Aufgaben der Jugendhilfe. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel; 2016 [6] Schweiger S: Migration und Psychotherapie. Systemische Notizen 2017; 3: 14–27 [7] Walter J, Adam H. Die Bedeutung von Kultur in der Behand- lung von Familien mit Migrations- oder Fluchthintergrund. In: Reich G, Stasch M, Walter J, Cierpka M, Hrsg. Handbuch der Familiendiagnostik. Psychotherapie: Praxis. 4. Aufl. Berlin, Heidelberg: Springer; 2024: 195–211 [8] Hargasser B. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Sequentielle Traumatisierungsprozesse und die Aufgaben der Jugendhilfe. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel; 2016 [9] Kizilhan JI, Bermejo I. Migration, Kultur, Gesundheit. In: Bengel J, Jerusalem M, Hrsg. Handbuch der Gesundheits- psychologie und Medizinischen Psychologie. Göttingen: Hogrefe; 2009: 509–518 [10] Machleidt W, Calliess IT: Transkulturelle Aspekte psychiatri- scher Erkrankungen. In: Möller H-J, Laux G, Kapfhammer H-P, Hrsg. Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie. 4. Aufl. Berlin: Springer Medizin; 2011: 397–427 [11] Kühn M, Bialek J. Fremd und kein Zuhause. Traumapädago- gische Arbeit mit Flüchtlingskindern. Göttingen, Bristol, CT: Vandenhoeck & Ruprecht; 2017 [12] Schweiger S: Migration und Psychotherapie. Systemische Notizen 2017; 3: 14–27 Bibliografie PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 50–54 DOI 10.1055/a-2289-5986 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany 54 Kizilhan JI et al. Psycho-emotionale Phasen der ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 50–54 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Aus der Praxis Verantwortungsübernahme im Kontext von Krieg und Flucht: Wie kann die Psych*-Profession helfen? Sarah Stapel, Eva-Lotta Brakemeier Der Verein „Gemeinsam für psychische Gesundheit e. V.“ (GPG) bietet u. a. psycho- logische Hilfe für Schutzsuchende aus der Ukraine, mit Fokus auf niedrigschwel- liger Beratung und Interpersoneller Psychotherapie (IPT). GPG organisiert digitale Schulungen für Therapierende in der Ukraine, um die psychische Gesundheitsver- sorgung vor Ort zu stärken. Der Beitrag verdeutlicht die Notwendigkeit rascher solidarischer Maßnahmen zur Unterstützung der psychischen Gesundheit in Krisenzeiten. Welche Auswirkungen hat der Ukrainekrieg auf die psychische Gesundheit? Der seit Februar 2022 andauernde Angriffskrieg Russlands hat viele Mio. Ukrainer*innen in die Flucht getrieben [1]. Neben den physischen Belastungen sind die psychischen Auswirkungen auf die betroffene Bevölkerung nicht zu un- terschätzen. In einem Review [2], das die psychische Ge- sundheit von Geflüchteten und Asylbewerber*innen aus 15 verschiedenen Ländern untersucht, wurden 26 Studi- en mit insgesamt 5143 Teilnehmenden ausgewertet. Die Ergebnisse zeigen, dass die Prävalenz von posttraumati- schen Belastungsstörungen (PTBS) bei Geflüchteten und Asylbewerber*innen bei 31,46 % liegt, während 31,5 % an Depressionen, 11 % an Angststörungen und 1,51 % an Psy- chosen leiden. Eine weitere Studie [3] untersuchte die Auswirkungen des Krieges auf die psychische Gesundheit junger Menschen in der Ukraine und fand heraus, dass die durch den Krieg verursachte Unsicherheit und Instabilität erheblichen psy- chischen Stress erzeugen. Dies führte zu einem Anstieg von PTBS, Depressionen und Angststörungen. Zudem kön- nen Missbrauch, Gewalt sowie der Verlust von Freund*in- nen und Familienangehörigen im Zusammenhang mit dem Krieg schwerwiegende psychische Traumata hervorrufen. Aufgrund des erhöhten Bedarfs an psychotherapeutischer Behandlung und Unterstützung für Schutzsuchende sowie Menschen in der Ukraine scheint eine Anpassung der Prä- ventions- und Interventionsmaßnahmen psychischer Pro- bleme und Erkrankungen dringend notwendig. Allerdings waren die Behandlungskapazitäten vor der Krise bereits begrenzt. An dieser Stelle setzen die psychologischen Third-Mission-Projekte zur Förderung der psychischen Gesundheit an. Der Verein „Gemeinsam für psychische Gesundheit e. V.“ Im März 2024 wurde aus der im Oktober 2021 gegründe- ten Initiative der Verein „Gemeinsam für psychische Ge- sundheit e. V.“ (GPG) [4]. Der Verein hat folgende Zielset- zungen: 1. Informieren, Vorsorgen und Entstigmatisieren 2. Unterstützen und Begleiten 3. Verbinden und Netzwerken So dient GPG als Rahmen für die Initiierung von verschie- denen Projekten zur Förderung der psychischen Gesund- heit im Kontext von gesellschaftlichen Krisen. Projekte im Kontext des Ukraine- Krieges Im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat GPG in Kooperation mit dem Psychosozia- len Zentrum für Asylsuchende und Migrant*innen in Vor- pommern (PSZ Greifswald) direkt zu Kriegsbeginn ein Un- terstützungsangebot für Menschen, die durch den Krieg psychisch belastet sind, ins Leben gerufen. Dieses Ange- bot richtet sich insbesondere an ukrainische Geflüchte- te, die in Deutschland Schutz suchen. Das Modellprojekt mit dem Titel „Psychologische Hilfe für Schutzsuchen- de und Helfende in VorPommern“ (PHil@SH-VP) umfasst 3 Subprojekte, die nach anfänglich rein ehrenamtlichem Engagement nun von der Robert Bosch-Stiftung und in einem Projekt für schutzsuchende Kinder, Jugendliche und deren Familien aus der Ukraine auch von Save The Children gefördert werden. Subprojekt 1 bietet Beratungsgespräche für Schutzsu- chende an, während Subprojekt 2 Kurzzeitpsychothera- pien auf Basis der Interpersonellen Psychotherapie (IPT) Stapel S et al. Verantwortungsübernahme im Kontext ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 55–58 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 55
Aus der Praxis umfasst. Subprojekt 3 fokussiert sich auf die psychische Entlastung von Helfenden und anderen vom Krieg betrof- fenen Personen durch Einzel- und Gruppengespräche. Im Rahmen von Subprojekt 1 stellt ein Netzwerk aus eh- renamtlichen Therapeut*innen und Sprachmittler*innen niedrigschwellige und kostenfreie psychologische Bera- tungsgespräche bereit. Diese umfassten zu Beginn des Krieges vor allem aufsuchende „Hilfseinsätze“ in den Ge- meinschaftsunterkünften im Landkreis Vorpommern- Greifswald. Die sog. Hilfseinsätze wurden auch durch ehrenamtliche Studierende begleitet, die die Kinderbe- treuung und Organisation der Gespräche übernahmen. Mittlerweile stellt das Subprojekt 2 den Fokus des Engage- ments in Greifswald dar. Daher möchten wir im Folgenden genauer auf dieses Projekt eingehen. Vorstellung der Interpersonellen Psychotherapie (IPT) an einem Fallbeispiel In den späten 1970er Jahren entwickelten Myrna Weiss- man und Gerald Klerman in den USA die Interpersonelle Psychotherapie (IPT) im wissenschaftlichen Kontext [5]. Sie gingen davon aus, dass Depressionen eine behandel- bare medizinische Erkrankung darstellen. Als zentral für die Therapie betrachteten sie das Verständnis des Zusam- menhangs zwischen belastenden Lebensereignissen und der Entstehung der Depression. Die „traurige schutzsuchende Künstlerin“ Frau B. ist 35 Jahre alt und floh im März 2022, kurz nach Be- ginn des Krieges in der Ukraine, nach Deutschland. Direkt nach ihrer Ankunft in einer Gemeinschaftsunterkunft be- gannen bei ihr Schlafstörungen, Grübeleien und Appetit- losigkeit aufzutreten. Mittlerweile fühlt sie sich über 6 Mo- nate anhaltend traurig, antriebslos, erschöpft und leer. In der Ukraine lebte Frau B. in einer größeren Stadt, wo sie als Künstlerin tätig war, v. a. als Fotografin und Sängerin in einer Band. Sie besaß eine eigene Wohnung, ein Auto und war sozial stark eingebunden, mit einem großen Freundes- kreis und regem kulturellen Leben. Eine feste Beziehung hatte sie zwar seit 5 Jahren nicht, vermisste diese jedoch auch nicht, da ihr Freundes- und Bekanntenkreis ihr ein er- fülltes Leben bot. Seit ihrer Ankunft in Deutschland fühlt sie sich allerdings zunehmend einsam. Sie ist Einzelkind und hat täglichen Kontakt zu ihren Eltern, die in einem klei- nen Dorf in der Ukraine leben. Diese sind dort gut sozial integriert und befinden sich außerhalb der Kampfgebie- te, was Frau B. beruhigt. Momentan lebt sie in einer klei- nen Einzimmerwohnung in einer deutschen Kleinstadt. Initiale Phase Bei der IPT handelt es sich um eine Kurzzeittherapie, die unterteilt ist in die initiale, mittlere und Abschiedsphase. Zu Beginn der Therapie stehen Empathie, Vertrauen und die Förderung von Hoffnung im Mittelpunkt. Die Thera- peut*in informiert umfassend über den Ablauf, führt die diagnostische Einschätzung durch und ermutigt die Pa- tient*innen, eine „aktive Rolle“ in der Behandlung einzu- nehmen. In der klassischen IPT werden 4 Problembereiche bzw. Foki definiert [6]: ▪ Rollenwechsel (im Sinne von Lebensveränderungen) ▪ interpersonelle Konflikte ▪ komplizierte (bzw. langanhaltende) Trauer ▪ Isolation (bzw. langanhaltende Einsamkeit) Am Beispiel der „einsamen Künstlerin“ wird deutlich, wie sehr interpersonelle Belastungen durch die Flucht das Leben von Frau B. beeinträchtigen. Sie erfüllt die ICD-10- Kriterien einer erstmaligen moderaten depressiven Episo- de. Ihr zentrales Thema in der Therapie ist die gravierende Lebensveränderung – der Rollenwechsel von einer „lebens- lustigen eingebundenen Künstlerin“ zu einer „traurigen einsamen Schutzsuchenden“ – sowie die damit verbun- dene Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Frau B. verbringt fast den ganzen Tag in ihrer kleinen Wohnung im Bett. Ein weiterer Aspekt im Rahmen der initialen Phase ist die Be- ziehungsanalyse. Dabei wird der Zusammenhang zwischen der depressiven Episode und den Herausforderungen im zwischenmenschlichen Bereich herausgearbeitet. Thera- pierende verschaffen sich dabei ein möglichst genaues Bild von der sozialen Umgebung und den Beziehungen der Pa- tient*innen. Im Fall von Frau B. zeigt sich, dass ihr sozia- les Netzwerk derzeit hauptsächlich aus ihren Eltern, einer Frau und einer Familie aus der Ukraine besteht, die sie in der Gemeinschaftsunterkunft kennengelernt hat, sowie einer deutschen Nachbarin, die sie in letzter Zeit mehr- fach auf einen Kaffee eingeladen hat. Darüber hinaus hat sie noch Kontakt zu ihren Freundinnen und Freunden aus ihrem „früheren Leben“ in der Ukraine. Mit diesen ist sie jedoch nur digital verbunden, da sie momentan weit ver- streut in verschiedenen Teilen der Welt leben. Mittlere Phase In der mittleren Phase wird an dem entsprechenden Pro- blembereich gearbeitet. Im Fall der „traurigen, schutzsu- chenden Künstlerin“ liegt der Fokus auf dem „Rollenwech- sel“. Um diesen Fokus zu bearbeiten, sind die 4-Felder- Tafel und die 3-Spalten-Technik besonders gut geeignet. Mittels 4-Felder-Tafel werden die positiven und negativen Aspekte der alten und der neuen Rolle herausgearbeitet. Bei existenziellen Rollenwechseln ist die 3-Spalten-Tech- nik hilfreicher, hierbei wird nämlich kein dezidierter Aspekt auf die positiven Aspekte der neuen Rolle gelegt. Vielmehr werden in den 3 Spalten die Fragen „Was habe ich verlo- ren? Was ist gleichgeblieben? Was könnte eine Chance darstellen?“ gestellt. Frau B. erhält in der Therapie zunächst Raum und Zeit, durch emotionsfokussierte Arbeit ihren Schmerz und ihre 56 Stapel S et al. Verantwortungsübernahme im Kontext ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 55–58 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Trauer zuzulassen. Dabei versteht Frau B., dass Krieg und Flucht existenzielle Extremsituationen für die Menschheit darstellen und dass die daraus entstehenden Gefühle wie Trauer, Wut, Verzweiflung und Schmerz zutiefst mensch- lich und verständlich sind. Frau B. erkennt, dass es Dinge gibt, die unveränderlich sind und deshalb akzeptiert wer- den müssen; hierfür unterstützen Akzeptanzstrategien. Frau B. stellt jedoch auch fest, dass es ihr nicht hilft, den ganzen Tag traurig im Bett zu bleiben. Deshalb beginnt sie, ihren Fokus darauf zu richten, was in ihrem Leben gleichge- blieben ist. Mit Unterstützung ehrenamtlicher Helfer*in- nen findet sie Anschluss in einer Band und erhält eine Ka- mera als Geschenk, die es ihr ermöglicht, wieder mit der Fotografie zu beginnen. Durch diese beiden künstlerischen Ausdrucksformen versucht sie, ihre Trauer und Wut über den Krieg zu verarbeiten. Zudem intensiviert sie den Kon- takt sowohl zu anderen Schutzsuchenden als auch zu alten Freunden aus der Ukraine und neuen Bekannten in Deutschland, darunter ihre Nachbarin. Sie besucht einen Deutschkurs und beginnt wieder zu tanzen. Abschiedsphase In der Abschlussphase der Therapie werden die Gefühle, oft auch Trauer, angesichts des bevorstehenden Endes der gemeinsamen Therapie angesprochen und die erzielten Entwicklungen und Fortschritte betrachtet. Die Gesprä- che richten sich auf die erlebten Veränderungen, und die therapeutische Beziehung wird ein letztes Mal reflektiert und zusammengefasst. Die Patient*innen werden ermu- tigt, einen Blick in die Zukunft zu werfen und sich Gedan- ken über das Leben nach der Therapie zu machen, z. B.: „Wie wird es für Sie weitergehen?“ Darüber hinaus wird ein „Notfallplan“ entwickelt, um bei einer möglichen Ver- schlechterung gewappnet zu sein und einem Rückfall vor- zubeugen [7]. Am Ende der Therapie fühlt sich Frau B. deutlich stärker integriert. Sie beschreibt sich nun als „die wegen des Krie- ges immer noch traurige, aber jetzt wieder lebendigere Künstlerin mit Hoffnungen und Träumen für eine besse- re Welt“. Anpassung der IPT an den Fluchtkontext Die IPT ist als Psychotherapiemethode besonders gut für eine Kurzzeittherapie geeignet, um geflüchtete, durch Krieg unmittelbar betroffene und möglicherweise trau- matisierte Menschen zu unterstützen. Der Fokus der The- rapie auf interpersonelle Belastungen in der aktuellen Le- benssituation oder in der jüngsten Vergangenheit (wie Fluchterfahrungen und Erlebnisse im Herkunftsland) ist für diese Zielgruppe von großer Bedeutung. Die spezifi- schen interpersonellen Herausforderungen können dabei eine Ursache, eine Folge oder eine aufrechterhaltende Be- dingung der psychischen Erkrankung oder deren Chroni- fizierung sein. Zusätzlich zu den Problemen, die bei betroffenen Schutz- suchenden mit psychischen Erkrankungen in mindestens einem der 4 klassischen IPT-Foki behandelt werden kön- nen, kann auch der 5. Fokus „Integration und Orientie- rung“ berücksichtigt werden [8]. Dieser ist besonders re- levant für Schutzsuchende, die langfristig in Deutschland bleiben möchten oder müssen. Auch für Personen, die erst kürzlich nach Deutschland gekommen sind, kann dieser Fokus – dann vor allem mit dem Schwerpunkt auf Orien- tierung – ergänzend gewählt werden. Workshops für Therapierende in der Ukraine Im Mai 2024 fanden 2 Delegationsreisen in die Ukraine statt. Zum einen reiste Eva-Lotta Brakemeier gemeinsam mit einer Delegation um die Europa- und Wissenschafts- ministerin von Mecklenburg-Vorpommern, Bettina Martin, nach Tschernihiw – der Partnerregion von Mecklenburg- Vorpommern. Des Weiteren fand eine Reise gemeinsam mit dem Oberbürgermeister von Greifswald, Dr. Stefan Fassbinder, sowie u. a. Eva-Lotta Brakemeier und Sarah Stapel nach Drohobytsch – der Partnerstadt von Greifs- wald – statt. Bei diesen Delegationsreisen wurde der ex- trem gestiegene Bedarf an psychotherapeutischer Un- terstützung in der Ukraine deutlich. So hielt Eva-Lotta Brakemeier bereits in der Ukraine Vorlesungen und gab Workshops, um die Therapierenden vor Ort in der Inter- personellen Psychotherapie zu schulen. Dank finanzieller Förderung vom Land Mecklenburg-Vorpommern sowie dem Solomiya-Netzwerk werden diese Workshops nun di- gital und mit Sprachmittlung durchgeführt und evaluiert. FA ZIT Der Beitrag zeigt am Beispiel des Vereins „Gemein- sam für psychische Gesundheit e. V.“ und seines Wir- kungskreises, dass es möglich ist, sehr zeitnah auf einen Krieg mit verheerenden Auswirkungen – ins- besondere auf die psychische Gesundheit – zu reagieren und psychotherapeutische Expertise ein- zubringen. Sehr gut eignen sich dazu niedrigschwel- lige Angebote und die Interpersonelle Therapie. Besonders Studierende schätzen solche Projekte, in denen sie sich engagieren und einen Beitrag leisten können. Letztlich gilt für uns alle – in den Worten von Walter Jakoby: „Verantwortung kann nicht geteilt, aber gemeinsam getragen werden.“ Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkon- flikt besteht. Stapel S et al. Verantwortungsübernahme im Kontext ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 55–58 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 57
Aus der Praxis Autorinnen/Autoren Literatur Eva-Lotta Brakemeier Prof. Dr.; Musikerin, Psychologin, Psycho- logische Psychotherapeutin und Vizeprä- sidentin des Vereins „Gemeinsam für psychische Gesundheit e. V.“. Musikstudium in Weimar, Psychologiestudium an der Freien Universität Berlin, Ausbildung zur Psycho- logischen Psychotherapeutin bei der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT), Promotion an der Humboldt Universität Berlin. Therapeutin, Supervisorin und Trainerin für IPT, CBASP und WBT. Seit Oktober 2019 Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie und Direktorin des Zentrums für Psychologische Psychotherapie (ZPP) der Universität Greifswald. Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) und Mitglied im Wissenschaftsrat der Bundesregierung (WR). Sarah Stapel M. Sc.; Psychologin und Präsidentin des Vereins „Gemeinsam für psychische Gesundheit e. V.“. Psychologiestudium in Greifswald. Seit Mai 2024 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie sowie am Zentrum für Psychologische Psychotherapie. [1] Albrecht C, Panchenko T. Fluchtbewegungen aus der Ukrai- ne: Ursachen, Auswirkungen und Prognosen. München: ifo Institut; 2022 [2] Blackmore R, Boyle JA, Fazel M et al. The prevalence of mental illness in refugees and asylum seekers: A systematic review and meta-analysis. PLOS Med 2020; 17: e1003337 [3] Chaaya C, Devi Thambi V, Sabuncu Ö et al. Ukraine – Russia crisis and its impacts on the mental health of Ukrainian young people during the COVID-19 pandemic. Ann Med Surg 2022; 79: 104033 [4] Stapel S, Brakemeier E-L. Psychologische Third-Mission-Pro- jekte im Kontext von COVID-19-Pandemie und Ukraine- Krieg. PiD Psychother Dial 2023; 24(02): 38–42 [5] Weissman MM, Markowitz JC, Klerman GL. The guide to in- terpersonal psychotherapy: Updated and expanded edition. Oxford: University Press; 2018 [6] Klerman GL, Weissman MM, Rounsaville BJ. Interpersonal psychotherapy of depression. New York: Basic Books; 1984 [7] Brakemeier EL, Guhn A. Rückfallprophylaxe der Depression: Traditionelle und neue Ansätze der Psychotherapie. Fortschr Neurol Psychiatr 2021; 89: 385–394 [8] Brakemeier E-L, Hauck S, Harder F. Interpersonelle Psycho- therapie (IPT): Ein evidenzbasiertes und praxisorientiertes Update zur Wirksamkeit, Durchführung und zu Weiterent- wicklungen. PSYCH up2d 2023; 17: 337–357 Korrespondenzadresse Bibliografie Sarah Stapel M. Sc. Universität Greifswald Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie Franz-Mehring-Str. 47 17489 Greifswald Deutschland sarah.stapel@uni-greifswald.de PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 55–58 DOI 10.1055/a-2289-6347 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany 58 Stapel S et al. Verantwortungsübernahme im Kontext ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 55–58 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Aus der Praxis Die Narrative Expositionstherapie – Praktische Anwendung Sarah Wilker, Frank Neuner Die Narrative Expositionstherapie (NET) wurde als ein maximal pragmatischer Ansatz der Traumatherapie entwickelt, um Menschen in ressourcenarmen Konfliktgebieten einen Zugang zu evidenzbasierter Behandlung zu ermöglichen. Das zentrale Merkmal der NET ist das gemeinsame Erzählen der Lebensgeschichte in der Therapie. Besonderheiten der NET Im Gegensatz zu anderen traumatherapeutischen Metho- den fokussiert sich die NET nicht auf die Bearbeitung eines einzelnen traumatischen Ereignisses, sondern auf die Ver- arbeitung der traumatischen Erfahrungen, die über die Le- bensspanne eingetreten sind [1][2]. Die NET ist dabei eine kontext- und kulturübergreifende Methode. Die Weiter- gabe von Erfahrungen durch das Erzählen der Lebensge- schichte ist ein universelles Phänomen. Während des Erzählens der Geschichte wird sensibel auf die Patient*innen und ihren autobiografischen Kontext eingegangen. Daher ist in der NET keine spezifische Adap- tation an andere Kulturen vorgesehen, da diese immer die Gefahr der Reproduktion von kulturellen Stereotypen in sich birgt und das individuelle Eingehen auf die Bedürfnis- se der Patient*innen und die Begegnung auf Augenhöhe erschweren kann [3]. Eine Besonderheit der NET ist der Menschenrechtsfokus. Die NET versteht sich nicht als politisch neutral, sondern übernimmt Anwaltschaft für Überlebende von Menschen- rechtsverletzungen. In der NET werden Menschen darin unterstützt, über ihre Erfahrungen sprechen zu können, und diese werden in einem Dokument festgehalten. Dies kann die Überlebenden darin unterstützen, sich für ihre Rechte einzusetzen [1][2]. Theoretische Einbettung & Wirksamkeit Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten erleben oft eine Vielzahl traumatischer Ereignisse. Forschungsergebnisse zeigen einheitlich: Je mehr unterschiedliche traumatische Ereignisse erlebt werden, desto höher ist die Wahrschein- lichkeit, eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zu entwickeln [4][5]. FALLBEISPIEL Der 16-jährige M. flüchtet unbegleitet aus Af- ghanistan nach Deutschland. Er hat in Afghanistan mehrfach Gewalt erlebt, unter anderen einen bewaffneten Überfall durch die Taliban und eine Bombenexplosion. Auf der Flucht erlebte er Gewalt durch die Polizei an der EU-Grenze sowie eine sehr gefährliche Bootsüberfahrt, bei der ein guter Freund von ihm verstarb. Er leidet unter intensiven, sich aufdrängenden Bildern der erlebten Ereignisse, Albträumen, Schlaf- störungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Schreck- haftigkeit und leichter Reizbarkeit. In der Diagnostik erfüllt er die Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung und bekommt eine Behandlung mit NET angeboten. Die Diagnostik und Therapie finden mit der Unterstützung durch eine Sprach- mittlerin statt. Bedeutsame Erinnerungen werden in assoziativen Ge- dächtnisnetzwerken abgespeichert. Assoziativ bedeutet, dass die unterschiedlichen Elemente einer Erinnerung mit- einander verknüpft sind und sich gegenseitig aktivieren können. Bei einem traumatischen Ereignis entsteht ein Ge- dächtnisnetzwerk (▶Abb. 1), welches im Störungsmodell der NET „Bedrohungsnetzwerk“ genannt wird. Als M. im Fallbeispiel einen Überfall durch die Taliban- Kämpfer erlebt, bildet sich ein Bedrohungsnetzwerk die- ses Ereignisses. Es enthält Gefühle, Gedanken, Sinnesein- drücke und Körperwahrnehmungen. Zu dem Netzwerk ge- hören auch die Kontextinformationen, wie z. B. Alter und Ort. Allerdings kann extremer Stress und die damit verbun- dene Ausschüttung von Stresshormonen dazu führen, dass die Speicherung von „kalten“ Kontextinformationen redu- ziert wird und der Fokus der Informationsverarbeitung auf den emotional-sensorischen „heißen“ Erinnerungen liegt. Wilker S et al. Die Narrative Expositionstherapie – Praktische ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 59–63 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 59
Aus der Praxis heiße Gedächtnisinhalte Gefühle Gedanken Sinnes- eindrücke Körper- wahrnehmung erregende Verbindungen Ich war 7 Jahre alt. Es war im Winter. Ich lebte in K. Wir waren mit der Familie zu Hause. kalte Gedächtnisinhalte: Kontextinformationen Schmerz Herzrasen Er wird mich töten. Angst Gewehr aggressive Stimme Kämpfer Trauer Schmerz Bomben Herzrasen Ich sehe meine Mutter nie wieder. Er wird mich töten. Marktplatz Atemnot aggressive Stimme Kämpfer Ich kann nicht schwimmen. Angst Meer Schlauchboot Gewehr Zittern b Überfall durch Bombenexplosion Kämpfer in der Stadt Gewalt durch Grenzpolizei Boots- überfahrt Geburt Spielen mit Geschwistern, 4 Jahre in meinem Dorf, in der Stadt B., auf der Flucht in T., Freund M. auf der Flucht, 7 Jahre 10 Jahre 14 Jahre getroffen, 14 Jahre 15 Jahre a c ▶Abb. 1 Die Entstehung eines Bedrohungsnetzwerkes und das Behandlungsrational der NET. a Bei einem traumatischen Ereignis werden Gefühle, Gedanken, Sinneseindrücke und Körperwahrnehmungen in einem Gedächtnisnetzwerk abgespeichert. b Erlebt eine Person wiederholt traumatische Erlebnisse, so werden diese aufgrund der gemeinsamen Elemente in das bestehende Bedrohungsnetzwerk integriert. c Ziel der NET ist es, die Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse wieder in den Kontext der Lebensgeschichte zu verorten. Erlebt M. nun weitere traumatische Ereignisse, wie z. B. eine Bombenexplosion oder eine gefährliche Bootsüber- fahrt, so werden diese Erfahrungen aufgrund gemeinsa- mer Elemente im selben Bedrohungsnetzwerk abgespei- chert. Entsprechend wird das Netzwerk größer und leich- ter aktivierbar und es wird schwieriger, zu den einzelnen Ereignissen die Kontextinformationen abzurufen. Für M. bedeutet das, dass ihn viele Trigger an das Trauma erinnern können, wie beispielsweise aggressive Stimmen, Unifor- men und laute Geräusche. Entsprechend ist es das Ziel der NET, durch das struktu- rierte und chronologische Erzählen der Lebensgeschich- te die traumatischen Erfahrungen in ihren Kontext einzu- binden. Für die relevanten Erlebnisse werden die „heißen“ Elemente der Erinnerung mit der jeweiligen „kalten“ Kon- texterfahrung verknüpft (▶Abb. 1). Dadurch können die Überlebenden mehr Kontrolle über ihre Erinnerungen und die damit verbundenen Reaktionsmuster erlangen [1][2]. Die Wirksamkeit der NET wurde in vielen unterschiedli- chen Kontexten in Kriegs- und Krisengebieten, bei geflüch- teten Menschen in Aufnahmeländern, sowie bei komplexer Traumatisierung beispielsweise nach Kindheitsmisshand- lung gezeigt [6][7]. 60 Wilker S et al. Die Narrative Expositionstherapie – Praktische ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 59–63 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Praktische Anwendung Die praktische Anwendung der NET ist in den Behand- lungsmanualen detailliert beschrieben [1][2]. Im Folgen- den wird fallbasiert die Durchführung der NET skizziert. ABL AUF DER NET Diagnostikphase ▪ Erfassung traumatischer Ereignisse über die Lebenspanne mit Hilfe von Ereignischecklisten ▪ Diagnostische Abklärung der PTBS ▪ Diagnostische Abklärung anderer komorbider Störungen ▪ Erfassung (relativer) Kontraindikationen: akute Selbstgefährdung, starker Alkohol- oder Substanzkonsum Psychoedukation (eine Sitzung) ▪ Störungsmodell ▪ Rational für die Traumakonfrontation ▪ Ablauf der Narrativen Expositionstherapie ▪ Mögliche Risiken (vorübergehende Symptomver- schlechterung) ▪ Zusicherung der aktiven Begleitung in der Therapie ▪ Raum und Bedenkzeit für eine informierte Entscheidung Lebenslinie (eine Sitzung) ▪ Überblick über die Lebensgeschichte ▪ Erhebung der prägendsten Lebensereignisse ▪ Erhebung kalter Informationen zu den traumati- schen Erfahrungen Narration der Lebensereignisse (flexible Sitzungs- anzahl, ca. 4–10 Sitzungen) ▪ Chronologische Erzählung der Lebensgeschichte ▪ Pro Sitzung wird in der Regel ein traumatisches Ereignis besprochen ▪ Während der Sitzung wird mitgeschrieben und zwischen den Sitzungen die Narration ausformu- liert ▪ Zu Beginn der Sitzung wird jeweils die Narration der letzten Sitzung vorgelesen und ggf. korrigiert Abschluss (eine Sitzung) ▪ Reflektion der erzählten Lebensgeschichte (z. B. mittels erneuten Legens der Lebenslinie) ▪ Übergabe der Narration Vor Beginn der traumatherapeutischen Arbeit sollte immer eine Diagnostikphase stattfinden. Auch wenn trauma- therapeutische Module zunehmend auch bei anderen Störungsbildern angewendet werden, kann auf Basis der wissenschaftlichen Evidenz zurzeit eine NET nur bei der Diagnose einer PTBS empfohlen werden. Lebensmüde Ge- danken treten bei der PTBS sehr häufig auf und sind keine Kontraindikation für die NET. Wie bei jeder ambulanten Psychotherapie sollte die Absprachefähigkeit ausführlich exploriert werden und akute Selbst- oder Fremdgefähr- dung ausgeschlossen werden. Anschließend wird in ca. 6–12 Doppelsitzungen die Traumbearbeitung mittels der NET durchgeführt. Die An- zahl der Sitzungen orientiert sich dabei an den Rahmenbe- dingungen der Behandlung und der Anzahl traumatischer Erfahrungen, die in der Lebenslinienübung berichtet wer- den. In der Psychoedukationssitzung wird das Störungs- modell und das Rational der Traumaexposition vermittelt. Wichtig ist, dass die Patient*innen genug Raum bekom- men, sich bewusst für die Traumatherapie zu entscheiden. FALLBEISPIEL – FORTSETZUNG Vorgehen bei der Lebenslinie Bei der Lebenslinienübung (▶Abb. 1c) wird inner- halb einer Sitzung ein symbolischer Überblick über die wichtigsten Lebensereignisse gewonnen und diese chronologisch geordnet. Ein Seil symbolisiert den Verlauf des Lebens von der Geburt bis zur Zukunft. Die Therapeutin bittet M., das Seil so auf dem Boden zu platzieren, dass es sein bisheriges Leben widerspiegelt. Dabei wird darauf geachtet, dass ein Teil des Seils noch aufgewickelt bleibt, welches die Zukunft symbolisiert. Anschließend wird er dazu eingeladen, Symbole für die wichtigsten Lebensereignisse zu wählen. Blumen repräsentieren schöne Ereignisse und wichtige Menschen, Steine negative Ereignisse. Die Therapeutin unterstützt ihn, jedes Ereignis kurz in einem Satz zu benennen. M. legt eine Blume für eine Kindheitserinnerung mit seinen Geschwistern. Als ersten großen Stein benennt er den Überfall durch die Taliban. Beim Legen der Ereignisse werden beim Patienten unterschiedliche Gefühle geweckt, die sowohl die Traurigkeit über die Trennung von den Eltern als auch Angst und Wut in Bezug auf die traumatischen Erlebnisse umfassen. Die Therapeutin benennt und validiert die Gefühle, und achtet gleichzeitig darauf, auf der „kalten“ Seite der Erinnerung zu bleiben, also die relevanten Kontextinformationen zu erheben. Das Bedrohungsnetzwerk soll möglichst wenig aktiviert werden und noch keine detailliertere Narration der Ereignisse stattfinden. Hierzu begrenzt die Therapeutin M. immer wieder wertschätzend und erklärt ihm, dass sie sich für jedes Ereignis eine ganze Therapiestunde Zeit nehmen möchte, um ihn gut in der Erzählung begleiten zu können. Wilker S et al. Die Narrative Expositionstherapie – Praktische ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 59–63 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 61
Aus der Praxis FALLBEISPIEL – FORTSETZUNG Vorgehen bei der Narration Nach der Lebenslinie wird in den darauffolgenden Sitzungen die Lebensgeschichte des Patienten erzählt. Die Narration beginnt mit der Geburt und Erinnerungen an die Kindheit, wie das Murmelspiel mit den Geschwistern. Noch in der ersten Sitzung wird die erste traumatische Erfahrung besprochen, der Überfall durch die Taliban bei der Familie des Jungen zu Hause. Die Therapeutin erhebt zunächst genau den Kon- text des traumatischen Ereignisses. M. berichtet, dass sich der Überfall an einem kalten Wintertag ereignete. Er erinnert sich, dass die Familie im Wohnzimmer am Feuer saß. Die Therapeutin lädt den Patienten ein, den Raum und die anwesenden Personen genau zu beschreiben und eine Zeichnung des Raumes anzufertigen. Sie fährt erst dann mit der Erzählung der Geschichte fort, wenn sie sich den Kontext genau vorstellen kann. Die Therapeutin fragt im Verlauf der Erzählung Kontextinformation und „heiße“ Erinnerungen abwechselnd ab und verwebt diese miteinander. Ab Beginn des traumatischen Ereignisses erfragt sie die heißen Erinnerungen sehr detailliert. Dabei beginnt sie mit Fragen nach den Sinneseindrücken. Daraus lassen sich dann die entstehenden Gefühle, Körper- empfindungen und Gedanken gut erschließen. Da während des Erinnerns eines traumatischen Er- eignisses Überlebenden oft die Worte fehlen, dürfen neben offenen Fragen auch mögliche Empfindungen angeboten werden. Der Bericht wird auf diese Weise fortgesetzt, bis die bedrohlichsten Momente des Erlebten ausführ- lich besprochen wurden und in der Geschichte an einem Punkt relativer Sicherheit angelangt wird. M. berichtet, dass die Taliban-Kämpfer seinen Vater ver- letzen, dann aber das Haus verlassen, als sie nichts Verdächtiges finden können. Die Narration des Ereignisses endet, nachdem sein Vater vom Dorfarzt gut versorgt werden konnte und die Familie sich schließlich schlafen legt. Die Therapeutin achtet darauf, dass die emotionale Erregung des Patienten zum Ende der Sitzung deutlich zurück gegangen ist. Dies ist häufig auch daran erkennbar, dass nun über die Bedeutung des Ereignisses gesprochen wird. M. berichtet, dass er ab diesem Abend verstanden hat, dass seine Familie nicht mehr sicher ist. Die Therapeutin hat das Ereignis stichpunktartig mitgeschrieben. Nach der Sitzung formuliert sie die Narration aus. Diese wird sie zu Beginn der nächsten Sitzung dem Patienten vorlesen und ggf. Informatio- nen ergänzen. Auf die gleiche Weise werden in den folgenden Sitzungen die weiteren Ereignisse seiner Lebensgeschichte besprochen. FR AGEN NACH DEN ELEMENTEN DES HEI- SSEN GEDÄCHTNISSES ▪ Sinneseindrücke: Woran hast du gemerkt, dass etwas nicht stimmt? Was hast du gehört? Was konntest du sehen? ▪ Gefühle: Was hast du in dem Moment gefühlt? ▪ Körperempfindungen: Wie hat sich dein Körper angefühlt? Ich sehe, dass du gerade zitterst – war das damals auch so? ▪ Gedanken: Was hast du in dem Moment gedacht? Als der Kämpfer mit dem Gewehr auf deinen Vater zielte, dachtest du, er würde jetzt schießen? FALLBEISPIEL – FORTSETZUNG Abschluss der NET In der letzten Sitzung der NET wird die Lebensge- schichte reflektiert. Dazu legt der Patient erneut die Lebenslinie und legt zusätzliche Wünsche für seine Zukunft. Anschließend übergibt die Therapeutin M. die Narration. Seine PTBS-Symptomatik hat sich über den Verlauf der NET deutlich verbessert. Er hat weniger Albträume und Schlafprobleme und kann nun mit mehr Abstand über die erlebten Er- eignisse sprechen. Auch dem Alltag in der Wohn- gruppe fühlt er sich besser gewachsen. Allerdings beschäftigt ihn die Trauer um den verstorbenen Freund sowie Sorgen um seine Familie in Af- ghanistan weiterhin stark. Diese Themen können in weiteren Sitzungen nach Abschluss der Traumabear- beitung bearbeitet werden. FA ZIT Insgesamt ist die NET eine effektive, pragmatische Methode, die in verschiedensten Kontexten zur Bearbeitung traumatischer Ereignisse bei Vorliegen einer PTBS eingesetzt werden kann. Die NET be- fähigt dabei die Patient*innen dazu, wieder über das Erlebte sprechen zu können, was oft mit einem starken Gefühl der Selbstwirksamkeit verbunden ist. Zudem hilft der Blick auf die gesamte Lebens- geschichte und das Schreiben der Narration dabei, Ressourcen zu identifizieren und Selbstwert und Würde nach Traumatisierung wiederaufzubauen. Ein besonderes Merkmal der NET ist auch, dass sie leicht vermittelbar ist, und so zum Abbau der Ver- sorgungslücke für Traumafolgestörungen in Kriegs- und Krisengebieten eingesetzt werden kann. 62 Wilker S et al. Die Narrative Expositionstherapie – Praktische ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 59–63 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Interessenkonflikt Literatur Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkon- flikt besteht. [1] Neuner F, Catani C, Schauer M. Narrative Expositionstherapie (NET). Göttingen: Hogrefe; 2021 Autorinnen/Autoren Frank Neuner Prof. Dr. Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut (VT), Leiter der Arbeitsein- heit für Klinische Psychologie und Psycho- therapie an der Universität Bielefeld. Gemeinsam mit Maggie Schauer und Thomas Elbert hat Frank Neuner die Narrative Expositionstherapie entwickelt. Sarah Wilker Dr. Dipl.-Psych., Psychologische Psychothera- peutin (VT). Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld, Forschungs- interessen: Entwicklung, Implementierung und Evaluation evidenzbasierter Therapie- methoden für Überlebende von Gewalt und Krieg. Korrespondenzadresse Prof. Frank Neuner Universität Bielefeld Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft Abteilung für Psychologie Postfach 100131 33501 Bielefeld Deutschland frank.neuner@uni-bielefeld.de [2] Schauer M, Neuner F, Elbert T. Narrative exposure therapy: A short-term treatment for traumatic stress disorders. Göttingen: Hogrefe; 2011 [3] Schnyder U, Bryant RA, Ehlers A et al. Culture-sensitive psychotraumatology. European Journal of Psychotraumatolo- gy 2016; 7: 31179 [4] Neuner F, Schauer M, Karunakara U. Psychological trauma and evidence for enhanced vulnerability for posttraumatic stress disorder through previous trauma among West Nile refugees. BMC Psychiatry 2004; 4: 1705 [5] Wilker S, Pfeiffer A, Kolassa S et al. How to quantify exposure to traumatic stress? Reliability and predictive validity of measures for cumulative trauma exposure in a post-conflict population. European Journal of Psychotraumatology 2015; 6: 28306 Jacob N, Wilker S, Isele D. Narrative Expositionstherapie zur Behandlung von Traumafolgestörungen. Evidenz, Dissemina- tion und neueste Entwicklungen weltweit. Swiss Archives of Neurology, Psychiatry and Psychotherapy 2017; 168: 99–106 [6] [7] Siehl S, Robjant K, Crombach A. Systematic review and me- ta-analyses of the long-term efficacy of narrative exposure therapy for adults, children and perpetrators. Psychotherapy research: Journal of the Society for Psychotherapy Research 2021; 31: 695–710 Bibliografie PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 59–63 DOI 10.1055/a-2289-5888 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany Wilker S et al. Die Narrative Expositionstherapie – Praktische ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 59–63 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 63
Aus der Praxis Lebensrealitäten und Behandlungserfahrungen von LGBTQ + Personen Jan Schürmann-Vengels Diversität wurde in den letzten Jahren auf vielen gesellschaftlichen Ebenen als wertvolles und schützenswertes Gut diskutiert. Auch in die klinische Forschung und Praxis werden die Lebensrealitäten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen breiter einbezogen. Im Folgenden werden empirische Befunde und Konzepte zu Alltags- und Behandlungserfahrungen von LGBTQ + Personen vorgestellt, um hieraus Implikationen für die therapeutische Praxis abzuleiten. Lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und weitere quee- re Personen (LGBTQ + Personen) erfahren im alltäglichen Leben und im Umgang mit Gesundheitssystemen spezi- fische Herausforderungen. Das US-amerikanische Natio- nal Institute of Health erkennt LGBTQ + Personen aufgrund dieser Herausforderungen als priority population an, vgl. [1]. Die Abkürzung LGBTQ + spiegelt gleichzeitig keine ho- mogene Gruppe, sondern verschiedene Communities mit überschneidenden, aber auch sehr unterschiedlichen Er- fahrungen wider. Historische und aktuelle Barrieren Sicht auf LGBTQ + Personen Die Bewertung, was psychisch gesund ist (und was nicht), hat sich im Laufe der Zeit gewandelt und ist eng mit ge- sellschaftlichen Strukturen verknüpft. Viele Formen sexu- eller und geschlechtlicher Vielfalt wurden weltweit krimi- nalisiert und pathologisiert. Homosexualität und Bisexua- lität wurden international bis zur Einführung der ICD-10 1990 als psychische Störung etikettiert. Trans* Personen wurden im ICD-10 unter der Diagnose Transsexualismus (F64.0) als gestört klassifiziert. Die neuen Diagnosen Ge- schlechtsdysphorie im DSM-5 und Geschlechtsinkon- gruenz im ICD-11 pathologisieren das Trans*Sein an sich nicht mehr, sondern betonen das Leiden durch die Nicht- übereinstimmung des erlebten und des bei Geburt zuge- wiesenen Geschlechts. Vorbehalte gegenüber Behander*innen Die Etikettierung durch Diagnosen im Gesundheitssystem brachte für betroffene LGBTQ + Personen abwertende Di- agnostikprozesse und sog. Konversionstherapien, also the- rapeutische Versuche, die sexuelle Orientierung oder Ge- schlechtsidentität in Richtung Norm zu verändern, durch „professionelle Personen“ mit sich [2][3]. Es ist nachvoll- ziehbar, dass LGBTQ + Personen, die diese Pathologisierung und strikte Kriminalisierung erfahren haben, Vorbehalte gegenüber dem Gesundheitssystem haben. Die Ameri- can Psychological Association (APA; [4]) empfiehlt, Gene- rationsunterschiede und den stigmatisierenden Kontext, in dem ältere queere Personen aufgewachsen sind, sen- sibel zu berücksichtigen. Gleichzeitig deuten Studien an, dass auch jüngere LGBTQ + Personen Vorbehalte gegen- über medizinischen und psychotherapeutischen Behand- ler*innen haben: Sie misstrauen ihnen häufiger und erwar- ten von ihnen diskriminiert zu werden; außerdem schätzen LGBTQ + Personen deren Wissen über queere Themen und spezifische Risikofaktoren als gering ein [5]. Diese Annah- men sind durchaus berechtigt, da Behandler*innen kaum zu queeren Spezifika ausgebildet werden (im deutschspra- chigen Raum noch stärker als in den USA und anderen eu- ropäischen Ländern) [6]. Andererseits finden sich positi- ve Entwicklungen: In verschiedenen Ländern wurden na- tionale Leitlinien zur interdisziplinären Behandlung von LGBTQ + Personen herausgegeben [7]. Randomisiert kon- trollierte Studien zeigen, dass Behandler*innen durch ge- zieltes Training einen deutlichen Gewinn in LGBTQ + spe- zifischen kulturellen Kompetenzen, an Wissen über Model- le zu Risikofaktoren und Kompetenzen in der Anwendung von affirmativen Behandlungen (s. u.) erreichen [8]. Merke Gezielte Fortbildungen zu LGBTQ + Themen und affirmativen Behandlungen können die kulturellen Kompetenzen von Behandelnden stärken und queeren Patient*innen ein sicheres Gefühl im Umgang mit der behandelnden Person geben. LGBTQ + Personen als Zielgruppe in der Psychotherapie Nach aktuellen Bevölkerungssurveys identifizieren sich weltweit 9 % aller Erwachsenen, d. h. etwa 738 000 000 Menschen, als LGBTQ + (in Deutschland: 11 %, über 9 Mio. Menschen) [9]. Diese Schätzungen legen nahe, dass sich ein substanzieller Anteil unserer Patient*innen als LGBTQ + identifiziert, auch wenn die sexuelle Orientierung 64 Schürmann-Vengels J. Lebensrealitäten und Behandlungserfahrungen ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 64–67 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
▶Abb. 1 Der soziokulturelle Kontext einer Person wird anhand eines Rahmenmodells mit 3 hierarchischen Ebenen dargestellt. Jede Ebene umfasst Faktoren, die sich auf die Gesundheit einer Person auswirken können. Hier sind auszugsweise Einflussfaktoren für die Gesundheit von LGBTQ + Personen dargestellt. oder Geschlechtsidentität nicht (offen) thematisiert wird. Laut zahlreicher Meta-Analysen gehören LGBTQ + Perso- nen zu den Bevölkerungsgruppen mit dem höchsten Ri- siko für psychische Probleme (insb. Angststörungen, de- pressive Störungen, Substanzgebrauchsstörungen, Suizi- dalität) und gesundheitsbezogenem Risikoverhalten [10] [11]. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung weisen sie ein etwa 1,5–3-mal höheres Risiko auf, an mind. einer psy- chischen Störung zu leiden [10]. Im deutschsprachigen Raum gibt es verhältnismäßig wenig Befunde zur Gesund- heit von LGBTQ + Personen, wobei die vorhandenen Studi- en ähnliche Ergebnisse wie internationale Meta-Analysen finden und auf eine hohe psychische Belastung von quee- ren Menschen hinweisen [12]. Merke LGBTQ + Personen stellen eine große gesellschaftliche Gruppe dar, die aufgrund von Diskriminierung und Stigmatisierung überproportional von psychischen Problemen betroffen ist. Der Zugang zu adäquaten Be- handlungen sollte erleichtert werden. Einflussfaktoren auf die Gesundheit von LGBTQ + Personen Das Minoritätenstress-Modell [13] definiert Faktoren aus der Lebensrealität von LGBTQ + Personen, die miterklären, warum queere Menschen häufiger psychische Probleme und gesundheitsbezogenes Risikoverhalten aufweisen. Das Modell nimmt an, dass LGBTQ + Personen zusätzli- che (gruppen-)spezifische Stressoren erleben. Da sie wie alle Menschen generelle Stressoren (z. B. Streit mit Part- ner*in) und eben auch spezifische Minoritätsstress-Fakto- ren im Alltag erleben (z. B. verbale Beleidigungen), ist ihr Fass im Sinne des Diathese-Stress-Ansatzes stärker gefüllt. Studien belegen, dass die sexuelle Orientierung oder Ge- schlechtsidentität eines Menschen nicht direkt mit mehr psychischer Belastung einhergeht, sondern die Intensität der damit verbundenen Minoritätsstress-Faktoren aus- schlaggebend ist, vgl. [14]. Minoritätsstress sollte in einem soziokulturellen Kontext auf verschiedenen Ebenen be- trachtet werden [15]; siehe ▶Abb. 1 für konkrete Beispiele. Merke Minoritätsstress ist für LGBTQ + Personen Alltag und dieses Wissen sollte in Behandlungen einflie- ßen. Gleichzeitig sollten inter- und intrapersonelle Ressourcen aufgegriffen werden, welche ohne die LGBTQ + Identität nicht vorhanden wären. Behandlungen mit LGBTQ + Personen Kritische Haltung vermeiden In der Gesundheitsversorgung sollten historische Fehler im Umgang mit LGBTQ + Personen nicht wiederholt wer- den: Behandler*innen sollten diverse sexuelle Orientie- rungen und Geschlechtsidentitäten von Patient*innen als normale Variationen anerkennen und nicht kritisch hinter- fragen. Eine unterstützende Haltung kann z. B. mit trans* Patient*innen umgesetzt werden, indem das erlebte Ge- schlecht akzeptiert wird und gleichzeitig Chancen und Schwierigkeiten einer Transition ergebnisoffen diskutiert Schürmann-Vengels J. Lebensrealitäten und Behandlungserfahrungen ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 64–67 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 65
Aus der Praxis werden [7]. Psychogenetische Theorien zur Erklärung der sexuellen Orientierung/Geschlechtsidentität per se (im Gegensatz zu sexuellem Verhalten in actu), werden u. a. in modernen psychodynamischen Perspektiven kritisiert und haben das Risiko, LGBTQ + Identitäten als krankhaft zu etikettieren [16]. Behandler*innen können außerdem (un- bewussten) Biases unterliegen: z. B. das Herunterspielen der empirisch gesicherten Belastung, die von LGBTQ + Per- sonen erlebt wird („Das ist doch heutzutage kein Thema mehr“) oder heteronormative Stereotype wie das auto- matisierte Erfragen, ob ein männlicher Patient eine Part- nerin habe. Affirmative Therapie Einen Gegenentwurf stellt das Konzept Affirmative Psycho- therapie dar, bei dem die Identitäten und Lebensrealitäten von LGBTQ + Personen unterstützt und in die Behandlung integriert werden. Affirmative Psychotherapie ist kein ei- genes Verfahren, sondern kann in jede Behandlung, un- abhängig von der theoretischen Orientierung, einfließen. Erste Wirksamkeitsstudien zeigen, dass affirmative Thera- pie die Symptombelastung und den Minoritätenstress von LGBTQ + Personen reduzieren kann und Behandler*innen effektiv in diesen affirmativen Ansätzen geschult werden können [8][17]. Es ist ein Behandlungsmanual zur affirma- tiven kognitiven Verhaltenstherapie mit LGBTQ + Personen verfügbar, welches das Minoritätenstress-Modell aufgreift und queere Lebenserfahrungen in die klassischen Interven- tionen integriert [18]. Zudem ist ein Handbuch zur affir- mativen Familien- und Paartherapie verfügbar, das Ansätze für die individuellen Belange verschiedener queeren Com- munitites anbietet und die Wichtigkeit sozialer Interaktion betont (z. B. Unsicherheiten und Autonomie nach Coming- Out) [19]. Eine Auswahl wichtiger Prinzipien der affirmati- ven Psychotherapie findet sich im Praxistipp. PR A XISTIPP Affirmative Psychotherapie = einen sicheren Raum für queere Patient*innen schaffen [20]. Wichtige Prinzipien und Umsetzung (Auswahl): ▪ Balance finden: LGBTQ + Personen unaufgeregt als „normale“ Patient*innen behandeln und gleichzeitig Themen betonen und validieren, die mit queerer Identität assoziiert sind ▪ nonverbale Unterstützung/Repräsentation: Broschüren von queeren Beratungsstellen auslegen, eigene Pronomen zeigen und nach Pronomen der Patient*innen fragen. Formulare und Therapiematerialien so gestalten, dass sich queere Personen wiederfinden (z. B. Antworten zu Partnerschaftsformen und Geschlechtern im Biografiebogen ermöglichen) ▪ Reflektion: Eigene Überzeugungen beleuchten und hinterfragen (z. B. Gibt es für mich Ge- schlechter außerhalb von weiblich und männ- lich?), Beschäftigen mit Begriffen und Lebens- realitäten (z. B. Youtube-Videos) ▪ Psychoedukation: Minoritätenstress-Modell einführen und LGBTQ + -spezifische Einflussfak- toren auf Gesundheit herausarbeiten ▪ Empowerment: Ressourcen und positive Erlebnisse markieren, die LGBTQ + Personen erfahren (z. B. Unterstützung durch neue Freundschaften, Pride) FA ZIT LGBTQ + Personen stellen eine große und diverse Ge- sellschaftsgruppe dar. Aufgrund von vielschichtigen Einflussfaktoren sind LGBTQ + überproportional von psychischen Problemen und gesundheitsbezogenem Risikoverhalten betroffen sind. Damit stellen sie eine wichtige Zielgruppe (priority group) für die psycho- therapeutische und medizinische Versorgung dar. Gleichzeitig wurden LGBTQ + -spezifische Konzepte bisher kaum in der Aus- und Weiterbildung von Behandler*innen sowie in der klinischen Forschung berücksichtigt. Die allgemeinen Prinzipien sowie evidenzbasierte Behandlungsmanuale zur affirmative Psychotherapie mit LGBTQ + Personen bieten dies- bezüglich einen positiven Ausblick. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkon- flikt besteht. Autorinnen/Autoren Jan Schürmann-Vengels Jun.-Prof. Dr. phil. Juniorprofessur für Spezifische Tätigkeitsfelder der klinischen Psychologie an der Universität Witten/ Herdecke. Approbation als Psychologischer Psychotherapeut (Fachkunde Verhaltens- therapie). Forschungsschwerpunkte: u. a. Diversität in der Klinischen Psychologie, (Psychische) Gesundheit und Behandlungserfahrungen von LGBTQ + Per- sonen, Partizipative Forschung mit queeren Personen. 66 Schürmann-Vengels J. Lebensrealitäten und Behandlungserfahrungen ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 64–67 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Korrespondenzadresse Jun.-Prof. Dr. Jan Schürmann-Vengels Department für Psychologie und Psychotherapie Universität Witten/Herdecke Alfred-Herrhausen-Str. 50 58448 Witten Deutschland jan.schuermann-vengels@uni-wh.de Literatur [1] Veldhuis CB, Cascalheira CJ, Delucio K et al. Sexual orientati- on and gender diversity research manuscript writing guide. Psychol Sex Orientat Gend Divers 2024; 11(3): 365–396. doi:10.1037/sgd0000722 [2] Glassgold JM. The case against conversion “therapy”: Evidence, ethics, and alternatives. American Psychological Association (APA); 2022. doi:10.1037/0000266-002 [3] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Gutachten: Regelungs- und Reformbedarf für trans- geschlechtliche Menschen (November 2016). Im Internet: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/114064/460f9e28e 5456f6cf2ebdb73a966f0c4/imag-band-7-regelungs-und- reformbedarf-fuer-transgeschlechtliche-menschen-band-7- data.pdf; Stand: 27.07.2024 [4] American Psychological Association, APA task force on psychological practice with sexual minority persons. Guide- lines for psychological practice with sexual minority persons (Februar 2021). Im Internet: https://www.apa.org/about/ policy/psychological-sexual-minority-persons.pdf; Stand: 27.07.2024 [5] McNamara G, Wilson C. Lesbian, gay and bisexual indivi- duals experience of mental health services – A systematic review. J Ment Health Train Educ Pract 2020; 15(2): 59–70. doi:10.1108/JMHTEP-09-2019-0047 [6] Alessi EJ, Dillon FR, Kim HM. Therapist correlates of attitudes toward sexual minority individuals, affirmative counseling self-efficacy, and beliefs about affirmative practice. Psycho- ther Res 2016; 26(4): 446–458. doi:10.1080/10503307.201 5.1026422 [7] Nieder TO, Strauß B. S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung im Kontext von Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit. Z Sex Forsch 2019; 32(2): 70–79. doi:10.1055/a-0895-8176 [8] Pachankis JE, Soulliard ZA, Seager van Dyk I et al. Training in LGBTQ-affirmative cognitive behavioral therapy: A ran- domized controlled trial across LGBTQ community centers. J Consult Clin Psychol 2022; 90(7): 582–599. doi:10.1037/ ccp0000745 [9] Ipsos. LGBT + Pride 2023: A 30-Country Ipsos Global Advisor Survey (2023). Im Internet: https://www.ipsos.com/sites/ default/files/ct/news/documents/2023-05/Ipsos%20 LGBT%2B%20Pride%202023%20Global%20Survey%20 Report%20-%20rev.pdf; Stand: 27.07.2024 [10] Wittgens C, Fischer MM, Buspavanich P et al. Mental health in people with minority sexual orientations: A meta-analysis of population-based studies. Acta Psychiatr Scand 2022; 145(4): 357–372. doi:10.1111/acps.13405 [11] Bränström R., Hughes TL, Pachankis JE. Global LGBTQ Health. 1. Aufl. Cham: Springer; 2024 [12] Schürmann-Vengels J, Pirke J, Troche SJ et al. Dual-continual examination and differential prediction of well-being and distress in LGBTQIA + populations. J Couns Psychol. Im Inter- net: https://doi.org/10.1037/cou0000769 [13] Meyer IH. Prejudice, social stress, and mental health in lesbian, gay, and bisexual populations: conceptual issues and research evidence. Psychol Bull 2003; 129 (5): 674–697. doi:10.1037/0033-2909.129.5.674 [14] Dürrbaum T, Sattler FA. Minority stress and mental health in lesbian, gay male, and bisexual youths: A meta-analysis. J LGBT Youth 2020; 17(3): 298–314. doi:10.1080/19361653. 2019.1586615 [15] Tebbe EA, Budge SL. Factors that drive mental health dispari- ties and promote well-being in transgender and nonbinary people. Nature Reviews Psychology 2022; 1(12): 694–707. doi:10.1038/s44159-022-00109-0 [16] Saketopoulou A. Thinking psychoanalytically, thinking better: Reflections on transgender. The Int J Psychoanal 2020; 101(5): 1019–1030. doi:10.1080/00207578.2020.1 810884 [17] Burger J, Pachankis JE. State of the science: LGBTQ-affirma- tive psychotherapy. Behav Ther 2024; 55(6); 1318–1334. doi:10.1016/j.beth.2024.02.011 [18] Pachankis JE, Harkness A, Jackson S et al. Transdiagnostic LGBTQ-affirmative cognitive-behavioral therapy – Therapist guide. 1. Aufl. Oxford: Treatments That Work; 2022. [19] Harvey R, Murphy MJ, Bigner JJ et al. Hrsg. Handbook of LGBTQ-affirmative couple and family therapy. 2. Aufl. New York, Oxon: Routledge; 2022. [20] Proujansky RA, Pachankis JE. Toward Formulating Evidence- Based Principles of LGB-Affirmative Psychotherapy. Pragmat Case Stud Psychother 2014; 10(2): 117–131. doi:10.14713/ pcsp.v10i2.1854 Bibliografie PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 64–67 DOI 10.1055/a-2289-5874 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany Schürmann-Vengels J. Lebensrealitäten und Behandlungserfahrungen ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 64–67 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 67
Aus der Praxis Schmerz und Psychotherapie – eine kultursensitive Perspektive Özgür Tamcan Somatoforme Störungen sind bei Menschen mit Migrationshintergrund gehäuft vorzufinden. Das ist eine doppelte Herausforderung: Eine chronische Schmerz- störung braucht einerseits ein breites multiprofessionelles Behandlungsprogramm, andererseits könnte die Symptomatik bei Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund verschiedene persönliche und kulturelle Bedeutung innehaben, was wiederum sowohl die Diagnose als auch die Therapieplanung erschweren kann. Kulturen und Krankheiten Mit einer 12-Monats-Prävalenz von 3,5 % in der Allgemein- bevölkerung gehören somatoforme Störungen zu den häu- figsten psychischen Erkrankungen [1]. Ein dringender Hand- lungsbedarf scheint v. a. für Menschen mit Migrationshinter- grund zu bestehen, denn die Prävalenzrate der Störung ist in dieser Gruppe viel höher als bei Einheimischen. Psychische Beschwerden zeigen sich häufig durch kultu- rell geprägte körperliche Symptome. So stellt „Nerven- schwäche“ (shenjing shuairuò) in China ein Bündel aus Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schwindel und gastrointes- tinalen Beschwerden dar. In Südamerika und Mittelmeer- ländern zeigen die Menschen bei psychischen Belastungen eine Symptomatik von Kopf- und Muskelschmerzen, Hit- zegefühlen, Kribbeln an den Füßen, Herzproblemen und Magenbeschwerden. Rheumatische Schmerzen werden in Indien und dem Mittleren Osten als Wind- bzw. Wan- derschmerzen bezeichnet, die täglich in verschiedenen Körperbereichen zur Erscheinung kommen [2]. Neben diesen unterschiedlichen Ausdrucksformen kann der Umgang mit Schmerzen durch die kulturellen und re- ligiösen Hintergründe mitbeeinflusst sein [3]: So wurde beispielsweise in der Literatur beschrieben, dass Philip- piner*innen eher dazu tendieren, den Schmerz zu „ertra- gen“ und anzunehmen. Die Bewältigung von Schmerz kann durch die kulturellen Hintergründe mitbeeinflusst sein, z. B. können Schmerzen in kollektivistischen Gesellschaften als Teil der gesellschaftlichen Partizipation verstanden werden. Eine Person bekommt die Aufmerksamkeit des Kollektivs, wenn die Schmerzen laut und emotional zum Ausdruck ge- bracht werden. Rationale Stressbewältigung, die mit Über- zeugungen eines kontrollierbaren Problems verbunden ist, ist in individualistischen Gesellschaften zu finden. Wie wir in diesen Beispielen sehen können, ist sowohl der Ausdruck des Schmerzes als auch dessen Bewältigung viel- fältig [4]. Durch die weltweit zunehmende Migration lebt heute jede Gesellschaft mit einer Vielfalt von Kulturen, sodass es für alle Kliniker früher oder später unvermeid- bar ist, sich dieser Herausforderung zu stellen. Hierfür gibt es keine fertige Lösung, auch wenn wir den Unterschied zwischen rationaler und familiärer Bewältigung hervor- heben können. Schmerzstörung bei Menschen mit Migrationshintergrund Studien zeigen einheitlich, dass somatoforme Schmerz- störungen bei Menschen mit Migrationshintergrund häu- figer diagnostiziert werden als bei Nichtmigrant*innen [5] [6]. Dieser Befund hängt einerseits mit migrationsspezifi- schen Faktoren zusammen: Menschen mit Migrationshin- tergrund sind den Risikofaktoren einer Schmerzstörung häufiger ausgesetzt als Einheimische. Stressoren wie kul- turelle Anpassung, Diskriminierung und soziale Isolation können zu einer höheren Prävalenz von Schmerzstörun- gen führen [6]. Anderseits kann dies auf die kulturellen Unterschiede in der Wahrnehmung und im Ausdruck von Schmerzen sowie unterschiedliche Gesundheitsüberzeu- gungen und anderes Gesundheitsverhalten zurückgeführt werden. Körperlicher Schmerz wird in einigen Kulturen als Ausdruck von psychischen Belastungen wahrgenommen und kommuniziert bzw. psychische Belastungen werden stärker somatisch zum Ausdruck gebracht. So wird berich- tet, dass Menschen aus kollektivistischen Gesellschaften wie der Türkei, dem Irak oder Syrien häufiger von Schmerz- zuständen berichten und im Vergleich zu deutschen Pa- tienten deutlich mehr Schmerzstörungen aufweisen [2]. Kultursensitives Vorgehen in der Psychotherapie Für Verlauf und Behandlung einer Schmerzstörung bei Menschen mit Migrationshintergrund spielen kultur- und migrationsspezifische Faktoren eine zentrale Rolle. Wenn diese Punkte nicht ausreichend berücksichtigt werden, be- 68 Tamcan BÖ. Schmerz und Psychotherapie – eine ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 68–71 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
steht das Risiko für diagnostische Fehleinschätzungen und falsche Therapieplanung. Dies betrifft sowohl die Richtig- keit der Diagnose als auch die Einschätzung des Einflusses kultureller Aspekte. Das kultursensitive Vorgehen soll im therapeutischen Prozess Abhilfe schaffen. Cultural Formulation Interview (CFI) zur Erfassung kulturspezifischer Faktoren Das im DSM-5 erweiterte CFI enthält 16 Fragen zur Erfas- sung klinikrelevanter kultureller Informationen. Es hilft dabei, kulturelle Identität, kulturelle Konzepte von Leiden, kulturelle Faktoren, die das psychosoziale Umfeld beein- flussen, sowie kulturelle Elemente in der Beziehung zwi- schen Patienten und Kliniker zu verstehen (s. Infobox) [7]. Diese Leitlinien erweitern die kulturelle Sensibilität und das Verständnis, um Fehldiagnosen zu vermeiden und eine ef- fektivere sowie respektvollere Behandlung zu erreichen. CULTUR AL FORMUL ATION INTERVIEW (CFI) Kulturelle Konzepte von Leiden ▪ kulturelle Syndrome: bestimmte Bündel von Symptomen, die in spezifischen kulturellen Gruppen als kohärente Krankheitsbilder anerkannt sind ▪ kulturelle Idiome des Leidens: lokale Begriffe oder Arten, über Leiden und Sorgen zu sprechen, die keine festen Syndrome darstellen ▪ kulturelle Erklärungen: lokale Ursachenzuschrei- bungen für Symptome oder Krankheiten Kulturelle Identität Bedeutung der kulturellen Identität des Patienten und deren Einfluss auf seine Erfahrungen von Symp- tomen Kultureller Kontext der Symptome Symptome im kulturellen Kontext des Patienten und wie sie wahrgenommen und interpretiert werden; Das schließt kulturelle Normen, Werte und Über- zeugungen ein, die das Verständnis von psychischen Störungen beeinflussen können. Kulturelle Faktoren in der klinischen Beziehung Kulturelle Unterschiede zwischen dem Kliniker und dem Patienten können die Diagnose und Behand- lung beeinflussen. Daher sollten Kliniker sich ihrer eigenen kulturellen Vorurteile und der möglichen Auswirkungen dieser Unterschiede bewusst sein. Soziale und kulturelle Faktoren im psychosozialen Umfeld soziale und kulturelle Faktoren wie Migration, Dis- kriminierung, soziale Unterstützung und sprach- liche Barrieren, die die psychische Gesundheit des Patienten beeinflussen Migrationsspezifischen Faktoren Migration ist ein kritisches Lebensereignis. In der Folge tre- ten gehäuft psychische und körperliche Erkrankungen auf. Der Grund liegt darin, dass Migranten häufig mit schweren Belastungen leben und negativen Lebensereignissen aus- gesetzt sind: Veränderungen der sozialen Umwelt, Tren- nung und Verlust von wichtigen Bindungen, soziale und rechtliche Diskriminierung, Statusverlust und Identitäts- krise, zersplitterte familiäre Verhältnisse sowie schlech- te Wohn- und Arbeitsbedingungen [6][7][8]. Menschen mit Migrationshintergrund müssen sich in eine neue so- ziokulturelle Umwelt integrieren, was viele Änderungen ihrer Lebensgestaltung, kognitiver sowie Verhaltensstruk- turen erfordert. Menschen mit Migrationshintergrund sind also mehr Stres- soren ausgesetzt, verfügen teilweise jedoch über weniger Bewältigungsressourcen. Wissen über den Akkulturations- prozess von Betroffenen kann in der Behandlung diesbe- züglich eine Orientierung schaffen. Unter dem Begriff „Ak- kulturationsprozess“ werden individuelle Veränderungen verstanden, wenn sich eine Person mit Personen einer an- deren kulturellen Gruppe auseinandersetzt [8]. Es können 4 Fälle unterschieden werden: ▪ Integration: Immigranten sind mit ihrer Herkunfts- kultur verbunden, gleichzeitig aber im aktiven Aus- tausch mit der Kultur des Aufnahmelandes. ▪ Assimilation: Entwurzelung von eigener Herkunfts- kultur und Überanpassung zur Kultur des Aufnahme- landes ▪ Separation: Kontakt ausschließlich zu Menschen aus ihrer Herkunftskultur und Ablehnung des Kontakts zu der Kultur des Aufnahmelandes ▪ Marginalisierung: Distanzierung von beiden Kultu- ren – das führt zu sozialer Isolation und Identitätskri- sen Die Integration ist hier die erfolgreichste Strategie, um gleichzeitig mehr Ressourcen zu erreichen als auch weni- ger Stressoren ausgesetzt zu sein. Dabei spielen Sprach- erwerb, Zugang zum Arbeitsmarkt und berufliche Aus- bildung, Interesse am Alltag des Einwanderungslandes sowie Entwicklung eines sozialen Netzwerks eine wich- tige Rolle [8]. Kavuk et al. zeigten in einer Studie, dass Migranten der 1. und 2. Generation sich bzgl. der Häufigkeit von Schmerz- störungen unterscheiden, die Migranten der 2. Genera- tion von der einheimischen Stichprobe aber nicht [9]. In einer weiteren Studie konnte gezeigt werden, dass Frauen mit einer Schmerzstörung nach erfolgreicher Teilnahme an einem Sprachkurs im Vergleich zu den Frauen auf der Warteliste eine geringere Symptomatik aufwiesen [10]. Ein weiterer Befund war, dass Menschen mit zunehmendem Aufenthalt weniger Somatisierung zeigen [11]. Diese Be- funde bestätigen die Notwendigkeit, dass Menschen mit Migrationshintergrund ressourcenfördernd begegnet wer- Tamcan BÖ. Schmerz und Psychotherapie – eine ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 68–71 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 69
Aus der Praxis den sollte: Einerseits sollen sie neue Ressourcen erwerben, die im Einwanderungsland erforderlich sind, anderseits müssen die brachliegenden Ressourcen wieder aktiviert und erweitert werden. Darüber hinaus soll der Zugang zum Gesundheitswesen mit angemessenen Behandlungsmög- lichkeiten erleichtert werden, wobei das kultursensitive Vorgehen die zentrale Rolle spielen sollte. Schmerz und kultursensitive Psychotherapie: Stolpersteine und Missverständnisse Interkulturelle Missverständnisse und Stolpersteine kön- nen in der Schmerztherapie in verschiedenen Formen auf- treten. Nachfolgend werden diese Schwierigkeiten exem- plarisch dargestellt. Verständnis von Schmerz Ein Patient aus der Türkei oder aus Ländern des Nahen Os- tens kann seine starken Schmerzen auf eine innere Blocka- de oder das „Böse Auge“ (Nazar) zurückführen. In diesen Kulturen ist es üblich, körperliche Beschwerden mit spiri- tuellen oder sozialen Einflüssen zu erklären. Ein in west- licher Gesellschaft sozialisierter Therapeut kann diese Er- klärung als „unwissenschaftlich“ oder irrational ansehen. In Folge konzentriert er sich nur auf medizinische Ursa- chen und eine medizinische Intervention. Dadurch wird der kulturelle Aspekt der Beschwerden ignoriert und die Bedeutung des Glaubens an eine spirituelle Ursache kann übersehen werden. Die Lösung: Der Therapeut zeigt kul- turelle Sensibilität, indem er offene Fragen stellt und auf die Erfahrungen und Perspektiven des Patienten eingeht, damit er eine tiefere Einsicht in sein Schmerzverständnis bekommt und seine Erwartungen besser versteht. Ausdruck von Schmerz In spanischsprachigen Ländern beschreibt man sehr starke Kopfschmerzen oft mit der Metapher „mein Kopf explo- diert“. In arabischen Ländern kann der Ausdruck „schwerer Druck auf meiner Brust“ sowohl körperliche als auch emo- tionale Belastungen symbolisieren. Der Therapeut kann diese Beschreibungen wörtlich auffassen und annehmen, dass der Patient über einen medizinisch bedrohlichen Zu- stand klagt, der sofort behandelt werden muss. Er kon- zentriert sich weniger auf den psychologischen, stressbe- dingten Hintergrund der Schmerzen. Die Lösung: Interkul- turelles Wissen sowie „das Gefühl beschreiben zu lassen“ tragen dazu bei, die Bedeutung des Ausdrucks zu klären und dem tatsächlichen Ursprung des Schmerzes auf den Grund zu gehen. Wahrnehmung von Behandlungsmethoden In manchen Kulturen werden natürliche Heilmittel oder traditionelle Heilmethoden bevorzugt und einer pharma- zeutischen Behandlung wird skeptisch begegnet. Bei ande- ren wird eine schnelle pharmazeutische Lösung erwartet. Falls der Patient aus einer Kultur mit anderen Heilvorstel- lungen stammt, kann die Empfehlung einer medikamen- tösen Behandlung Misstrauen hervorrufen. Wenn Schmerz als physisches Problem behandelt wird, können psycholo- gische Interventionen skeptisch angesehen werden. Hier besteht Gefahr für das Vertrauen in die therapeutische Be- ziehung, wenn eine schnelle Lösung erwartet wird. Der Patient könnte sich in seinen Bedürfnissen nicht ernst ge- nommen fühlen und die Behandlung als ineffektiv einstu- fen. Die Lösung: Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung. Die Sichtweise des Patienten soll empathisch verstanden und bei der Behandlung sollen seine Ängste und Befürch- tungen respektiert werden. Die eigene Perspektive des Therapeuten darf nicht über diejenige des Patienten ge- stellt werden. Damit dies gelingen kann, muss der The- rapeut über die kulturellen Eigenheiten des Patienten in- formiert sein. Gestaltung der Behandlung Viele Patienten mit Migrationshintergrund stammen aus einer familienorientierten, kollektivistischen Gesellschaft. Deswegen können Faktoren im Zusammenhang mit ihren kulturellen Werten und Bezugspersonen zur Entstehung und Aufrechthaltung der Schmerzen beitragen. Thera- peuten aus individualistischen Gesellschaften können dazu tendieren, die Schmerzproblematik isoliert mit indi- viduellen Faktoren zu betrachten und bei der Behandlung auf die Stärkung des Individuums zu fokussieren, ohne dabei auf die Konflikte im kollektivistischen Gefüge zu achten. Dies könnte für den Patienten zwar für kurze Zeit hilfreich sein, längerfristig bleiben aber die Bedingungen der Schmerzproblematik bestehen. Es könnte sein, dass entscheidende Faktoren in den Konflikten mit ihren kol- lektivistischen Werten und deren Mitgliedern liegen (z. B. scheidende Ehe, wirtschaftlicher Misserfolg im Ausland und somit Scham gegenüber Menschen im Heimatland oder Entfremdung von Kindern oder Verwandten somit sozialer Isolation). Die Lösung: Das Kollektive sollte in die Therapie mit einbezogen werden. Hier können Kinder, Ehe- partner oder Verwandte eine wichtige Rolle spielen. Da- durch kann der Patient weitere Unterstützung finden, da bestehende Probleme gemeinsam angegangen werden. Migration und Akkulturation Der Akkulturationsprozess mit Separation stellt ein erhebli- ches Risiko dar. Viele Immigranten leben trotz langjährigen Aufenthalts isoliert in ihrer „Herkunftskultur“. Hier wäre das ressourcenorientierte Vorgehen zentral – die Ressour- cen dieser Menschen (Sprache, Beruf, Beschäftigung) müs- sen außerhalb der Therapie erweitert werden. Dafür wären gruppentherapeutische Angebote sehr wichtig, die ihnen eine neue kollektive und korrektive Erfahrung ermöglichen kann, wo sie über ihre persönliche Probleme reden und er- fahren können, dass sie nicht alleine sind. Auch psychiatri- sche oder Pflegeangebote durch einheimische Fachperso- nen im Zuhause der Immigranten bieten eine besondere Möglichkeit zur Integration dieser Menschen. 70 Tamcan BÖ. Schmerz und Psychotherapie – eine ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 68–71 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Literatur [1] Jacobi F, Becker M, Müllender S et al. Epidemiologie psy- chischer Störungen. In: Möller H-J, Laux G, Kapfhammer H-P, Hrsg. Psychosomatik, Psychotherapie. 5. Aufl. Berlin: Springer; 2017 [2] Kizilhan J. Kulturelle Deutungen des Schmerzes in familien- orientierten Gesellschaften. Schmerz 2016; 30(6): 346–350 [3] Kohnen N. Schmerzliche und nichtschmerzliche Patienten. Trauma Berufskrankh 2007; 3: 323–328 [4] Krupić F, Custovic S, Jasarevic M et al. The pain from different [5] ethnical point of view. Medic Glasnik Gothenb 2019; 16: 108–114 Igde E, Heinz A, Schouler-Ocak M et al. Depressive und somatoforme Störungen bei türkeistämmigen Personen in Deutschland. Nervenarzt 2019; 90: 25–34 [6] Venkat S, Wolf SA, Tonassi T et al. Gender- und kultursensi- tive Schmerzbewältigungstherapie für türkische Frauen. PiD Psychother Dial 2016; 17(4): 82–88 [7] Machleidt W, Graef-Calliess IT. Transkulturelle Aspekte psy- chischer Erkrankungen. In: Möller H-J, Laux G, Kapfhammer H-P, Hrsg. Psychosomatik, Psychotherapie. 5. Aufl. Berlin: Springer; 2017 [8] Tamcan Ö. Kultur, Migration und motivationale Ziele. In- auguraldissertation. Universität Bern; 2005 [9] Dumat W, Matter S, Weisskopf S et al. Schmerzpsychothera- pie. Ars Medici 2011; 11: 478–482 [10] Schopper M. Kontrollierte Interventionsstudie zur Aus- prägung somatoformer Syndrome bei wenig integrierten Migrantinnen vor und nach einem intensiven Deutschsprach- kurs. Dissertation. München: Ludwig-Maximilians-Univer- sität; 2010 [11] Evangelidou S. Somatization, culture and immigration in primary health care settings: The case of Spain. Dissertation. Barcelona: Autonomous University; 2018 Bibliografie PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 68–71 DOI 10.1055/a-2289-5958 ISSN 1438-7026 © 20025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany FA ZIT Die Therapie von Patienten mit chronischen Schmerzstörungen ist an und für sich eine Heraus- forderung. Bei Patienten, bei denen kulturelle Merkmale für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung eine zentrale Rolle spielen, kann dies zur Überforderung werden. Ein Blick in den Werkzeug- koffer der kultursensitiven Psychotherapie kann so- wohl den Therapeut*innen als auch den Patient*in- nen die Behandlung sowie das Leben erleichtern. Hier kommt das Cultural Formulation Interview (CFI) zur Erfassung kulturspezifischer Faktoren zum Einsatz, um kulturelle Elemente in der Beziehung zwischen Patient*innen und Kliniker*innen zu ver- stehen. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkon- flikt besteht. Autorinnen/Autoren Özgür Tamcan Dr. phil. BLaw, Studium der Sozialanthro- pologie, der speziellen Psychologie mit Schwerpunkt Kulturpsychologie sowie der klinischen Psychologie und Psychotherapie an der Universität Bern, 2005 Promotion in klinischer Psychologie und Psychotherapie an der Universität Bern, seit 2011 Fachpsychologe für Psychotherapie (FSP), 2023 Bachelorstudium in Rechts- wissenschaft an der Fernuni Schweiz, seit 2024 Master- studium in Rechtswissenschaft an der Universität Bern. Korrespondenzadresse Dr. phil. BLaw Özgür Tamcan Selbstständiger Psychotherapeut in eigener Praxis, Juristischer Mitarbeiter Psychotherapeutische Praxis Ulixis Mottastr. 4 3005 Bern Schweiz tamcan@fsp-hin.ch Tamcan BÖ. Schmerz und Psychotherapie – eine ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 68–71 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 71
Aus der Praxis Ressourcen zur Bewältigung von Sprachbarrieren in der psychosozialen Versorgung Mike Mösko Viele Menschen, die nicht hinreichend Deutsch sprechen, erfahren zahlreiche Hürden in der psychosozialen Versorgung. Um Zugangsbarrieren abzubauen, existieren 5 Kommunikationsstrategien: direkte Kommunikation, mehrsprachige Kommunikationsmittel, technische Hilfsmittel, Behandlung durch mehrsprachige Behandler und Einsatz von (professionellen) Dolmetschern. Die Integration dieser Lösungen in die Regelversorgung erfordert besondere Anstrengungen. Sprachenvielfalt Weltweit werden etwa 6900 Sprachen aktiv verwendet. Die sprachliche Verständigung regeln Staaten sehr un- terschiedlich. So gibt es in der Schweiz vier, in Südafri- ka 12 Amtssprachen. In Deutschland werden neben der Amtssprache Deutsch insgesamt rund 200 Sprachen ge- sprochen [1]. Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland sprechen mehrheitlich im eigenen Haushalt Deutsch. Al- lerdings sprechen 23 % der Personen mit Einwanderungs- geschichte zu Hause überhaupt kein Deutsch [2]. Insge- samt steigt die Deutschsprachkompetenz von Migranten in erheblichem Maß nach der Zuwanderung (Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird im Text das generische Mas- kulinum verwendet. Gemeint sind jedoch immer alle Ge- schlechter.) Ungeachtet dessen verfügen 37 % der Mi- granten auch nach über 11 Jahren Aufenthalt in Deutsch- land über schlechte bis gar keine Sprachkompetenzen in Deutsch [3]. Sprachbarrieren in der (psychosozialen) Gesundheitsversorgung Migranten leiden im Vergleich zur einheimischen Bevölke- rung insgesamt unter einer höheren Prävalenz psychischer Störungen [4]. Trotz dieses höheren Bedarfs ist die Inan- spruchnahme psychotherapeutischer Versorgungsleis- tungen von Migranten, die nicht hinreichend Deutsch sprechen, deutlich niedriger [5]. Mangelnde Kommuni- kationsmöglichkeiten führen bei den Patienten zu Verun- sicherung, Informationsdefiziten, mangelnder Adhärenz und geringeren Behandlungserfolgen [6]. Auch für Behandler gehören Sprachbarrieren zum berufli- chen Alltag. So berichten 47 % der niedergelassenen Psy- chiater und Psychotherapeuten, dass sie schon einmal Pa- tienten ohne ausreichende Deutschkenntnisse behandelt haben [7]. Aufseiten der Behandler kann dies zu Unzufrie- denheit, höheren Raten an Fehldiagnosen und vorzeitigen Behandlungsabbrüchen führen [8]. Ressourcen zur Überwindung der Sprachbarrieren Um Sprachbarrieren in der psychosozialen Gesundheits- versorgung zu überwinden, gibt es fünf Strategien, die Be- handler nutzen können, um eine hinreichende Verständi- gung zu ermöglichen. Direkte Kommunikation Eine unmittelbare Verständigung zwischen Behandler und Patienten ist möglich, auch wenn der Patient kaum Deutsch spricht. Daher sind langsames Sprechen, kurze Sätze und eine Reduktion der Fachbegriffe wirksame Strategien zur besseren Verständigung. Darüber hinaus tragen Wertschätzungen selbst rudimentärer Deutsch- sprachkenntnisse dazu bei, dass Patienten sich angenom- men fühlen und es ihnen leichter fällt, sich zu artikulieren. Auch wenn Patienten gut Deutsch sprechen, kommt es vor, dass sie Dolmetscher mitbringen. Um mögliche Irri- tationen durch einen nicht professionellen Dolmetscher zu reduzieren (siehe Punkt 5 A), ist in solchen Fällen rat- sam, zunächst in einem Zweiergespräch mit dem Patien- ten zu eruieren, ob das Gesprächsziel nicht auch bilateral zu erreichen ist. Technologische Hilfsmittel Wenn keine Dolmetscher oder mehrsprachige Fachbe- handler zur Verfügung stehen, können technologische Hilfsmittel die Kommunikation in der Gesundheitsversor- gung trotz Sprachbarrieren ermöglichen. Aktuell sind 15 technologische Hilfsmittel zur Überwindung von Sprach- barrieren im Gesundheitswesen in der Anwendung, z. B. DeepL, iTranslate converse, Universal Doctor Translator [9]. Google Translate ist derzeit die am meisten verbreite- te Applikation mit insgesamt 243 Sprachen. Für den All- 72 Mösko M. Ressourcen zur Bewältigung ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 72–75 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
tagsgebrauch ist eine solch leicht verfügbare und kosten- lose Kommunikationsmöglichkeit von Vorteil. Bei Untersuchungen zur Zuverlässigkeit von Google-Transla- te-Ergebnissen für Informationen über psychische Gesund- heit stellten Forscher der Universität in Surrey fest, dass die Übersetzungen Englisch-Arabisch eine hohe Zahl ungenau- er und unverständlicher Übersetzungen sowie eine nicht un- erhebliche Anzahl kritischer Fehler enthielten [10]. Angesichts der Möglichkeit kritischer Fehler ist für Behand- ler besondere Vorsicht geboten, da die Übersetzungsqua- lität relevanter Inhalte vom Behandler i. d. R. nicht beur- teilt werden kann. Neben den Verheißungen KI-gesteu- erter Übersetzungshilfen [11] wären bei der Anwendung technischer Hilfsmittel zur Überwindung der Sprachbar- rieren in der gesundheitlichen Versorgung die Anforderun- gen der EU-Medizinprodukteverordnung wünschenswert. Mehrsprachige Kommunikationsmittel Zur Steigerung der Gesundheitskompetenz von Patien- ten können auch mehrsprachliche Patienteninformationen eingesetzt werden. So bietet beispielsweise das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin leitlinienorientierte Patientenkurzinformationen für eine Reihe von Krank- heitsbildern in sieben Sprachen an. Ein herausragendes Beispiel für mehrsprachige Patienteninformationen ist die Website zanzu.de, die von der Bundeszentrale für gesund- heitliche Aufklärung betrieben wird. Die Plattform infor- miert in 13 Sprachen sowie in leichter und in Gebärden- sprache über unterschiedliche Aspekte sexueller Gesund- heit. Gegenüber der reinen Übersetzung erweist sich eine kulturelle Anpassung von Patienteninformationen als wirk- samer [12]. Um Patienten, die nicht hinreichend Deutsch lesen kön- nen, die notwendigen Informationen zukommen zu lassen, sollten möglichst alle schriftlichen Prozesse im Gesund- heitswesen mehrsprachig verfügbar sein (z. B. Websites, Beschilderung, Speisekarten, Fragebögen oder Beipack- zettel). Dabei ist zu beachten, dass solche Übersetzungs- aufgaben von professionellen Übersetzern getätigt wer- den sollten. Bei der mehrsprachigen Verwendung psychometrischer Testverfahren reicht es nicht aus, diese zu übersetzen und die deutschen Normwerte zu verwenden. Hier bedarf es der zusätzlichen Durchführung psychometrischer Über- prüfungen an einer ausreichend großen Stichprobe im Auf- nahmeland. Angesichts der zahlreichen Sprachgruppen ist dies i. d. R. nicht zu realisieren. Entsprechend sollten po- tenzielle Einschränkungen psychometrischer Kennwerte im Gutachten erwähnt und eingeordnet werden. Mehrsprachige Behandler der ambulanten psychiatrisch-psychotherapeutischen Ver- sorgung in Hamburg insgesamt 25 angebotene Behand- lungssprachen identifiziert werden [7]. Unter den Befrag- ten nutzen 30 % der Behandler schon einmal eine andere Sprache als Deutsch in ihrer Behandlung. Ungeachtet des- sen fehlt es an mehrsprachigen Behandlern und solchen, die die Erstsprachen der Patienten sprechen [13]. Dass Behandler ihre zusätzlichen Sprachkompetenzen für die Versorgung anbieten, ist keine Selbstverständlichkeit. Es gibt immer wieder Berichte von Behandlern, die ihr zu- sätzliches Sprachangebot zurückziehen und nicht mehr öffentlich anbieten. Häufig resultiert dies aus einer sehr hohen Versorgungslast für eine spezifische Patientengrup- pe. Insgesamt ist dieser Lösungsansatz zur Überwindung der Sprachbarrieren in der psychosozialen Versorgung nicht ausreichend, um die Herausforderung zu bewältigen. Dolmetschende Personen Im Gesundheitswesen kommen 3 verschiedene Gruppen dolmetschender Personen zum Einsatz, deren Ressourcen und Limitationen im Folgenden näher erläutert werden. Familienangehörige/Freunde als Dolmetschende Die Haltung der meisten Behandler ist in Deutschland wie folgt: „Wenn Sie mich verstehen wollen, bringen Sie je- manden mit, der dolmetscht!“ Damit geben die Behandler die Gesprächsverantwortung an die Patienten ab. Aus Mangel an Alternativen nutzen Patienten daher auch Kinder als Dolmetscher. In den meisten Gesprächen ist es nicht vorhersehbar, welche Gesprächsinhalte belastend für das Kind sein können. Daher ist der Einsatz von Kin- dern als Dolmetscher im Gesundheitswesen zum Schutz vor der seelischen Unversehrtheit der Kinder abzulehnen. Im Gesundheitswesen wird es jedoch immer Gesprächssi- tuationen geben, in denen Kommunikation nur mit einem (erwachsenen) Laiendolmetscher stattfinden kann. In die- sem Fall sollte dem Behandler bewusst sein, dass er noch eine zweite Rolle innehat: die des Gesprächsmanagers. In dieser Rolle organisiert er die Kommunikation zu dritt. Ent- sprechend sollte vor Beginn des Gesprächs der Laiendol- metscher in die Rolle eingeführt werden, sein Engagement wertgeschätzt und die Regeln erläutert werden. Mehrsprachige Mitarbeiter Die Hinzunahme mehrsprachiger Mitarbeiter zum Dol- metschen geschieht i. d. R. auf Basis der (angenomme- nen) Sprachkompetenzen und ohne, dass diese Personen Fortbildungen zum Dolmetschen erhalten haben. Die un- terbrochene Arbeit muss i. d. R. eigenständig nachgeholt werden. Selten erfolgt eine Gratifikation. Die Tätigkeit des Dolmetschens ist nicht Bestandteil des Arbeitsvertrags. In der Gesundheitsversorgung herrscht aufseiten der Be- handelnden eine gewisse sprachliche Vielfalt. So konnte in Angesichts wechselnder Dienstpläne kann eine stabile mehrsprachige Versorgung nicht sichergestellt werden. Mösko M. Ressourcen zur Bewältigung ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 72–75 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 73
Aus der Praxis Daher bilden „Listen mehrsprachiger Mitarbeiter als Dol- metscher“ einen unzureichenden Lösungsansatz. Gleich- zeitig ist es Alltag in Einrichtungen, dass Reinigungskräf- te aufgrund ihrer mehrsprachigen Kompetenzen Behand- ler in der Kommunikation mit Patienten unterstützen [7]. Aus den beschriebenen ethischen, arbeitsrechtlichen und organisatorischen Gründen ist die Nutzung mehrsprachi- ger Mitarbeiter als Dolmetschende zu vermeiden. Alterna- tiv können mehrsprachige Mitarbeiter qualifiziert, arbeits- rechtlich abgesichert und entsprechend für ihre Dolmet- schertätigkeit bezahlt werden. Professionelle Dolmetscher In Deutschland werden bislang Leistungen professioneller Dolmetscher im Gesundheitswesen nicht von den Kran- kenkassen finanziert. Erfreulicherweise existieren regio- nale Initiativen, die sich für professionelles Dolmetschen einsetzen. So haben beispielsweise in Hamburg niederge- lassene Psychiater und Psychotherapeuten die Möglich- keit, kostenlos einen professionellen Dolmetscher für Di- agnostik und Behandlung zur erhalten [14]. Behandler sind i. d. R. nicht vertraut mit der Rolle und den Aufgaben professioneller Dolmetscher [15]. Daher sind Fortbildungen zur Arbeit zu dritt zielführend. Ergänzend können Lehrvideos zur Arbeit mit Dolmetschern Fachkräf- te bei der Kompetenzaneignung unterstützen [16). Bislang gibt es in Deutschland keine einheitlichen Stan- dards für die Qualifizierung von Dolmetschern im Ge- sundheitswesen. Im Durchschnitt haben professionelle Dolmetscher in Deutschland eine Qualifizierung von le- diglich 25 Stunden, wobei 30 % noch nie an irgendeiner Schulung teilgenommen haben. Die Bezahlung liegt bun- desweit durchschnittliche bei 20 € pro Einsatzstunde [17]. Künftig wäre es zielführend, wenn es landesweit einheit- liche Qualitätsstandards zur Qualifizierung von Dolmet- schern im Gesundheits- und Gemeinwesen gäbe [18], wie in der Schweiz oder Australien. Ausblick Angesichts des Ökonomisierungsdrucks haben es Patien- ten mit zusätzlichen Bedarfen schwer, eine angemessene gesundheitliche Regelversorgung zu erhalten. Um nicht die wenigen Behandler zu bestrafen, die ihre Praxen für marginalisierte Gruppen öffnen, bedarf es auch einer mo- netären Kompensation, um beispielsweise den doppelten Zeiteinsatz bei der Behandlung mit einem Dolmetscher zu kompensieren. In den kommenden Jahren gilt es die bisher vernachläs- sigten Regionen und Städte mit professionellen Dolmet- schern zu versorgen, das Berufsbild des Dolmetschers (im Gesundheitswesen) und deren Qualifikation bundesweit zu professionalisieren und kulturelle und diskriminieren- de Barrieren bei den Behandlern und Verantwortlichen im Gesundheitssystem abzubauen. FA ZIT Für Menschen, die ihre inneren Konflikte nicht in deutscher Sprache artikulieren können, ist der Zu- gang zur psychosozialen Versorgung in Deutschland deutlich erschwert. Viele werden schlecht oder gar nicht fachgerecht behandelt. Gesetzliche Rahmen- bedingungen zur Integration dieser Patienten ins Gesundheitswesen fehlen in Deutschland. Behandler und Klinken sind auf sich gestellt, um Patienten eine angemessene Versorgung anzubieten. Die Bandbreite mehrsprachlicher Unterstützungs- möglichkeiten reicht von mehrsprachigen Web- sites über die Aufnahme des Sprachbedarfs in die Basisdokumentation, mehrsprachige Patienten- informationen und Erhebungsinstrumente, Richt- linien zur Nutzung technischer Übersetzungshilfen, Richtlinien und Fortbildungen zur Arbeit mit (nicht) professionellen Dolmetschern bis zur Bezahlung und Integration qualifizierter Dolmetscher. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt vorliegt. Autorinnen/Autoren Mike Mösko Prof. Dr. Psychologischer Psychotherapeut und Supervisor. Professor für Klinische Psychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Leiter der Arbeitsgruppe Psychosoziale Migrations- forschung am Universitätsklinikums Hamburg- Eppendorf. Forschungsschwerpunkte: Migration und (Seelische) Gesundheit, Interkulturelle Öffnung, Mehrsprachigkeit und Dolmetschen im Gesund- heitswesen. Gründer des interdisciplinary and international research network on multilingualism in health care (www. irmh.net). Korrespondenzadresse Prof. Dr. Mike Mösko Hochschule Magdeburg-Stendal Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften Osterburger Str. 25 39576 Stendal Deutschland mike-oliver.moesko@h2.de 74 Mösko M. Ressourcen zur Bewältigung ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 72–75 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Literatur [1] Gogolin I, Krüger-Potratz M (2012). Sprachenvielfalt–Fakten und Kontroversen. Z Grundschulforsch 2012; 5: 7–19. [2] Statistisches Bundesamt. Mikrozensus – Bevölkerung nach Migrationshintergrund Endergebnisse 2022. Wiesbaden 2024 [3] Liebau E, Romiti A. Migranten investieren in Sprache und Bildung. IAB-Kurzbericht 21.2/2014 [4] Close C, Kouvonen A, Bosqui T et al. The mental health and wellbeing of first generation migrants: a systematic-narrati- ve review of reviews. Global Health 2016; 12: 47 [5] Bachmann P, Mohwinkel, V, Mösko M. Multilingualism at Psy- chotherapist in training in Germany – Resources, attitudes, and needs. Transcult Psychiatry; in Revision [6] Lebrun LA. Effects of length of stay and language proficiency on health care experiences among immigrants in Canada and the United States. Soc Sci Med 2012; 74: 1062–1072 [7] Mösko M, Wagner M, Raczek L et al. Multilingualism in outpatient mental health care services in Germany. 5th con- gress, World Association of Cultural Psychiatry, New York, USA, 12.10.2018 [8] Bermejo I, Berger M, Kriston L et al. Ist Patientenzufrieden- heit in der stationären Depressionsbehandlung von der Qualität sprachlicher Deutschkenntnisse abhängig? Psychiatr Prax 2009; 36: 279–285 [9] Kreienbrinck A, Hanft-Robert S, Mösko M. Usability of technological tools to overcome language barriers in health- care – A scoping review. Arch Publ Health, in Revision [10] Delfani J, Orasan C, Saadany H et al. Google Translate Error Analysis for Mental Healthcare Information: Evaluating Accuracy, Comprehensibility, and Implications for Multi- lingual Healthcare Communication. arXiv preprint 2024; arXiv:2402.04023 [11] Mohamed YA, Khanan A, Bashir M et al. The Impact of Artificial Intelligence on Language Translation: A Review. IEEE Access 2024; 12: 25553–25579 [12] Hölzel L, Ries Z, Kriston L et al. Effects of culture-sensitive adaptation of patient information material on usefulness in migrants: A multicentre, blinded randomised controlled trial. BMJ Open 2016; 6: e012008 [13] Mösko M, Gil-Martinez F, Schulz H. Cross-cultural opening in German outpatient mental health care service: an ex- ploratory study of structural and procedural aspects. J Clin Psychol Psychother 2013; 5: 434–446 [14] Modellprojekt vermittelt Sprachmittler in die Psycho- therapie. Dt Ärztebl, 25.9.2017. Im Internet: https://www. aerzteblatt.de/nachrichten/80509/Modellprojekt-vermittelt- Sprachmittler-in-die-Psychotherapie; Stand: 18.12.2024 [15] Clarke SK, Jaffe J, Mutch R. Overcoming Communication Barriers in Refugee Health Care. Pediatr Clin North Am 2019; 66: 669–686. [16] Hanft-Robert S, Ems-Fachnacht L, Higgen S et al. Training service providers to work effectively with interpreters through educational videos A qualitative study. Interpreting 2023; 25: 1–27 [17] Hanft-Robert S, Mösko M. Community Interpreting in Germany: Results of a nationwide cross-sectional study among interpreters. BMC Publ Health 2024; 24: 1570 [18] Breitsprecher C, Mueller JT, Mösko M. ZwischenSpra- chen – Qualitätsstandards und Mindestanforderungen für die Qualifizierung von Dolmetscher*innen für die soziale Arbeit in Deutschland. Hamburg: Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf; 2020 Bibliografie PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 72–75 DOI 10.1055/a-2289-6364 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany Mösko M. Ressourcen zur Bewältigung ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 72–75 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 75
Über den Tellerrand Die Mauer in unseren Köpfen – Über DDR-Opfer-/Täternarrative Kerstin Weidner 35 Jahre nach der politischen Wende halten sich Stereotypien gegenüber Menschen in der früheren DDR. Diese prägen Einstellung und Handeln – auch in der Psychotherapie. Der folgende Beitrag befasst sich mit einigen dieser Stereotypien aus Sicht einer Ostdeutschen und lädt zu einer kritischen Reflexion sowie einem vorurteilsfreien Blick auf den Osten ein. „Schau mal, die dunklen Häuser! Da denkt man gleich an DDR“, sagt eine Westdeutsche zu einer Ostdeutschen auf dem Weg durch Westberlin zur FU, wo gerade der Deut- sche Psychosomatik-Kongress stattfindet. „Ich hatte Onkel und Tante im Osten und ich weiß, dass man da nur überleben konnte, wenn man mitgemacht oder sich geduckt hat.“ So der Redebeitrag einer West- deutschen auf einer Psychotherapieveranstaltung nach einem Vortrag zum Thema „Gesundheitswesen in Ost und West“ – der sich ausschließlich mit den ohne Zwei- fel menschenverachtenden venerologischen Stationen, nicht aber mit anderen, durchaus auch positiven Aspek- ten des Gesundheitswesens in der früheren DDR und gar nicht mit Aspekten des Gesundheitswesens in der frühe- ren BRD befasste. „Wir müssen uns unbedingt den Opfern des DDR-Krippen- systems zuwenden, die Bindungsstörungen sind gravie- rend. Ich behandle einige Patienten aus der DDR, die in der Krippe waren. Erst jetzt gehen sie in Psychotherapie, die ja damals eher dem Staat verpflichtet war.“ So die An- merkung eines Westdeutschen nach meinem Vortrag zum Thema „Bindung bei peripartal psychisch erkrankten Frau- en“ auf einem Psychotherapiesymposium. Diesen Denkmustern begegne ich 35 Jahre nach dem Mau- erfall. Sie stehen für Vorurteile und Stereotypien, die den Blick auf den Osten prägen. Ich bin in Ostberlin geboren und war 23, im 3. Studienjahr Medizin, als die Mauer fiel. Inzwischen lebe ich in Dresden, Sachsen. Ohne Mauer- fall wäre ich heute nicht Ärztin, da ich politisch „fehlge- handelt“ und eine Exmatrikulation riskiert hatte. Ich habe von der „Wende“ profitiert und war dennoch enttäuscht über die Form der „Wiedervereinigung“, die ein Beitritt mit kaum zu erfassender Geschwindigkeit war, aber von Ost und West gewollt war. Mit zunehmendem Alter identifiziere ich mich mit dem Osten, nicht mit der SED-Diktatur, den korrupten Macht- inhaber*innen und auch nicht mit den Menschen in der früheren DDR, die die Ideologie mitgetragen und das Sys- tem bedient haben. Ich identifiziere mich mit einer breiten Masse der Gesellschaft, die nicht überall mitgemacht hat. Ich lebe ein Ost-Bewusstsein, wie es viele, auch Nachwen- degenerationen und aus dem Westen in den Osten Zuge- wanderte, tun, muss dabei aber selbstkritisch bleiben, um nicht zu idealisieren und Menschen, die Repressalien erlit- ten, deren Körper und Seele durch die DDR-Diktatur ver- letzt wurden, zu brüskieren. Eine generell selbstkritische Distanz wünschte ich mir jedoch bei schnell daher gesag- ten Vorannahmen und Klischees. Der dunkle Osten Der Osten war nicht dunkel, wenn auch Bausubstanz an Krieg und Verfall erinnerte. Dies gab es aber nicht nur im Osten Deutschlands. Waren die nach dem Mauerfall schnell gewachsenen Autohäuser, Billigshops, die bunte Reklame ein wirklicher Zugewinn? Ich war enttäuscht angesichts der vereinheitlichten Stadtzentren, Einkaufscenter, schnel- len Nachkriegs-Lückenbauten, wie sie sich bis in die Ge- genwart in fast allen deutschen Städten finden. Zahlreiche Stadtbilder haben sich im Verlauf auch beeindruckend und positiv verändert und es wird intensiv in den neuen und alten Bundesländern rekonstruiert. Gehe ich mit offenen Augen durch ost- und westdeutsche Städte und insbesondere Dörfer, sehe ich immer noch und überall alte und neue Ruinen. Mein Leben in einer besetz- ten Hinterhofwohnung mit Außenklo war jedenfalls nicht dunkel, sondern bunt durch Vielfältig- und Sinnhaftigkeit eines Miteinanders, gemeinsame Werte und natürlich auch Ausprobieren. Und dieses Gefühl prägt. Opfer oder Täter Man konnte in der DDR überleben, wenn man nicht mitge- macht oder sich geduckt hat. Gerade die Gemeinschaft bei systemkritisch eingestellten Menschen aller Altersgruppen 76 Weidner K. Die Mauer in ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 76–80 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
war enorm und prägend. Diese zeigte sich z. B. in illegalen Treffen, wie Lesungen verbotener oder nicht erwünschter Schriftsteller*innen, Auftritte verbotener oder nicht er- wünschter Bands mit kritischen Texten. Man traf sich in Wohnungen, in der „Kirche von Unten“, in Clubs. Dies bedeutete nicht automatisch, dass man offene*r Wi- derständler*in war, obwohl dies viele von sich nun gern be- haupten. Es gab Handlungs- sowie Verhaltensspielräume zwischen einem Regime-Mitmachen und Ducken. Es gab im Land eine systemische Resilienz, ohne die letztendlich eine friedliche Revolution nicht hätte stattfinden können. Die Kinderkrippe Das Krippensystem in der DDR war differenziert und zwei- felsohne sind die Wochenkrippen und Krippenheime ab- zulehnen. Aufarbeitungen und erste Studien zeigen hier emotionale und körperliche Vernachlässigung mit anhal- tenden psychischen und Bindungsstörungen [1, 2]. Meh- rere Studien konnten aber zeigen, dass Tageskrippenbe- treuung (und dies machte den überwiegenden Teil der Krippenbetreuung aus) nicht zu psychischen Schäden, Bindungsstörungen, Vulnerabilitäten oder sogar zu mehr rechtsextremen Einstellungen geführt hat [3, 4]. In einer aktuellen Repräsentativbefragung mit N = 1575 in der DDR geborenen Personen konnte gezeigt werden, dass Personen, die vor dem 3. Lebensjahr in einer Kinderkrippe betreut wurden, sich hinsichtlich ihrer seelischen Gesund- heit nicht von denen unterschieden, die zu Hause betreut wurden [5]. Weiterhin konnte mit jeweils kleinen bis mo- deraten Effektstärken gezeigt werden, dass eher Frauen in den alten Bundesländern ein erhöhtes Risiko für selbst- berichtete emotionale Vernachlässigung sowie emotiona- le, sexualisierte und körperliche Gewalt hatten und Män- ner aus den alten Bundesländern ein erhöhtes Risiko für körperliche und sexualisierte Gewalt [6]. Möglicherwei- se – so diskutieren die Autor*innen – stellt Krippenerzie- hung sogar einen protektiven Faktor zumindest in vulne- rablen Familien dar und ökonomische Ungleichheit und Prekarität – wie es sie eher in den alten Bundesländern gab – einen Risikofaktor für Kindesmisshandlung [6]. Das Pro-Kopf-Einkommen in der BRD war höher, jedoch war das Familienmodell des arbeitenden Mannes und der zu Hause bleibenden, Haushalt und Kinder versorgenden Ehefrau gängig und führte auch zu Abhängigkeitsverhält- nissen, was sich insbesondere im niedrigeren Einkommen westdeutscher Frauen zeigt(e) [7–9]. Die Geschlechterge- rechtigkeit in der Erziehung war zwar in beiden deutschen Verfassungen geregelt, die tatsächliche Umsetzung unter- schied sich jedoch. Während in der DDR die außerhäusliche Betreuung in Kin- dertagesstätten bereits in der frühen Kindheit üblich war und auch der beruflichen Fortentwicklung der gleichbe- rechtigten Frau diente, war in der BRD bis Ende der 1950er- Jahre die Unterschrift des Ehemannes notwendig, wenn die Frau arbeiten wollte. Zusätzlich waren nur wenige au- ßerhäusliche Betreuungsplätze für Kinder verfügbar. Dies führte zu mehr geschlechtsspezifischer Ungleichheit, die auch in der Gegenwart nachweisbar ist: So arbeiten Frau- en auf dem Gebiet der früheren BRD deutlich häufiger Teil- zeit, sind seltener in Führungspositionen im Vergleich zu Frauen auf dem Gebiet der früheren DDR und die Schere bzgl. Einkommen im Vergleich zu Männern ist höher, ins- besondere wenn Kinder vorhanden sind [7, 9]. Die Psychotherapie Während in den 1950er-Jahren Entspannungs- und sug- gestive Verfahren dominierten, etablierten sich ab den 1960er-Jahren Gesprächs-Psychotherapie, tiefenpsycho- logisch fundierte Methoden und Verhaltenstherapie zu- nächst im Einzelsetting, dann ab den 1970er-Jahren die unter Dr. Kurt Höck entwickelte Intendierte dynamische Gruppenpsychotherapie. Die klassische Psychoanalyse war und blieb zwar durchgängig verboten [10], psychoanaly- tisches Denken und Handeln hat jedoch trotzdem statt- gefunden [11, 12]. Nach Offenlegung der Stasi-Akten wurde deutlich, dass auch Psychotherapeut*innen und Patient*innen durch Fachkolleg*innen/Fachvertreter*innen oder Verwanzung von Therapiezimmern bespitzelt wurden, das genaue Aus- maß ist nicht bekannt. Ein Prozent der Patient*innen seien inoffizielle Mitarbeiter*innen gewesen [13]. Im psychotherapeutischen Arbeiten zeigte sich einer- seits eine große Vorsicht, da Therapeut*in und Klient*in immer auch inoffizielle*r Mitarbeiter*in sein konnten, das Potenzial der Psychotherapie konnte dadurch nicht ausge- schöpft werden ([13] zur Schilderung von Annette Simon). Andererseits bestanden auch Möglichkeiten und eine Frei- heit im „therapeutischen Raum“, sodass auch Personen, denen vom „repressiven Apparat stark zugesetzt wurde, in der Psychotherapie eine Nische finden konnten“ ([13, S. 262] zur Schilderung von Michael Geyer). Unter Ärzt*innen und Therapeut*innen bestand eine große Solidarität, die meisten nahmen ihre Schweige- pflicht sehr ernst [11]. Aber es scheint, dass DDR-spezifi- sche Erfahrungen und psychotherapeutisches Wissen von Beginn der Wiedervereinigung an marginalisiert wurden. Storch et al. (2022) analysierten Zitierungen zweier psy- chotherapeutischer Fachzeitschriften zwischen 1981 und 1991 (DDR) bzw. 1979 und 1990 (BRD) und resümierten, dass in der DDR mehr Wissen über westdeutsche Psycho- therapie bestand als umgekehrt. Der Anteil an zitierter „Ostblock-Literatur“ im BRD-Zeitschriftenkorpus war mit 0,31 % erheblich geringer als im DDR-Zeitschriftenkorpus mit 32,81 %. Somit war vielen nicht bewusst, dass Psycho- Weidner K. Die Mauer in ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 76–80 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 77
Über den Tellerrand therapie in der DDR auf Wissenschaft und nicht auf politi- schen Methoden beruhte [14]. Die Realität Eine kurze und keineswegs vollständige Reaktion auf die oben zitierten Aussagen. Die in der DDR aufgewachse- nen Menschen irren nicht zwischen Opfern und Täter*in- nen – das ist diskriminierend. Nach wie vor halten sich Ste- reotypien. Kulturell sowie geografisch determinierte Vor- urteile sind in unseren Köpfen ubiquitär. Herabsetzende Äußerungen gegenüber anderen haben aber u. a. die Funk- tion, das eigene Ich aufzuwerten. Richtig und zu würdigen ist, dass Menschen in der (Ex-) DDR viel geleistet haben, um in einem diktatorischen System zu leben. Diese Leistung zeigte sich vor, mit und nach der Wende. Und sicherlich haben die Menschen auch manchmal an falscher Stelle Zurückhaltung und Genüg- samkeit als Verhaltensmuster entwickelt, die dann mit der Wende kontraproduktiv waren. In der historisch bedeutsamen und sensiblen Phase der „Wende“ gab es viele Irritationen und eben wenig Sensi- bilität. Berufe, Ausbildungen, Positionen waren plötzlich nichts mehr wert, es gab tiefe Kränkungen und Verletzun- gen. Es gab Nichtanerkennung und Ausgrenzung, die bis in die Gegenwart reichen. In den 1990er-Jahren gab es massi- ve Abwicklungsmaßnahmen, 80 % der Ostdeutschen verlo- ren ihren Arbeitsplatz [15], Führung wurde vielerorts aus- getauscht. In den Osten kommende Westdeutsche erhiel- ten eine „Buschzulage“ (Ich erstarre bei diesem Begriff). Bis in die Gegenwart sind Führungspositionen zu sehr ge- ringen Anteilen von Menschen mit DDR-Sozialisation be- setzt: Der Anteil ostdeutscher Frauen und Männer in Spit- zenpositionen von Wissenschaft, Justiz, Wirtschaft und Verwaltung des gesamten Landes ist marginal [16]. Nach Jacobs et al. lag der Anteil Ostdeutscher im Jahr 2022 in der Wissenschaft bei 1,5 %, in der Justiz zwischen 2 und 4 % und im Militär bei 0 %. Dieser Anteil stagnierte seit 2016 oder war sogar gesunken [17]. Eine Meldung der Tages- schau vom 26. Januar 2022 berichtete: „In den Bundes- ministerien, wo die politischen Weichen gestellt und die Entscheidungen vorbereitet werden, sind diejenigen mit einer ostdeutschen Herkunft nur mit unter 1 % vertreten.“ [16, S. 96]. Menschen in den neuen Bundesländern reflek- tieren diese Ausgrenzung. Reflexion Sören Kierkegaard, ein dänischer Philosoph, formulierte: „Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstan- den, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“ In den vergangenen 3 Jahrzehnten ist wiederholt nach Auf- arbeitung verlangt worden – natürlich in den neuen Bun- desländern. Haben die alten Bundesländer keine Aufarbei- tung nötig (gehabt)? Wäre es nicht eine Chance gewesen, deutsch-deutsche Geschichte gemeinsam zu verstehen, eine proaktive, miteinander auch wertschätzende Erinne- rungskultur zu entwickeln? Was ist mit Machtpositionen alter Nazis in den alten und neuen Bundesländern einschließlich Ärzt*innen, Psycho- therapeut*innen? Was ist mit Gleichberechtigung oder so- zialen Angeboten der früheren DDR wie z. B. Polikliniken, die heute als MVZ wiederentdeckt werden? Wer interes- siert sich für die „Brown Babies“? Bis 1956 wurden etwa 5000 dieser aus Beziehungen zwischen deutschen Frau- en und amerikanischen GIs stammenden Babys geboren, v. a. in der Heidelberger und Mannheimer Gegend. Wegen ihrer Hautfarbe hatten diese Kinder aber keine Rechte in der früheren BRD[18]; ein Teil der Geschichte, der mich sehr berührt. Der Osten als Himmelsrichtung Ich hoffe, dass aus dem Osten wieder eine Himmelsrich- tung wird und keine politische Zuschreibung. Leider spre- chen die Wahlergebnisse dagegen. Dass die AfD bei der Europawahl 2024 die stärkste Kraft in den neuen Bundes- ländern ist, ist erschreckend und beschämend. Schaut man sich das Ergebnis weiter an, sieht man, dass in Bay- ern und Baden-Württemberg die AfD in absoluten Zahlen von viel mehr Menschen gewählt wurde [19]. Dennoch: Flächendeckend ist die AfD in der Ex-DDR als stärkste Kraft aus der Wahl hervorgegangen und mir sind die wüten- den AfD-Wähler*innen genauso fremd wie die vielen SED- Wähler*innen zu DDR-Zeiten. Aber auch hier sollte man mit Pauschalieren, Schwarz-Weiß-Interpretieren oder zu schnellen (Vor-)Urteilen vorsichtig sein. Etwa 70 % der Deutschen in den alten und neuen Bundes- ländern gehen davon aus, dass unter ihren Vorfahren keine Nazis waren, mehr als 2 Drittel meinen, dass ihre Vorfah- ren während der Nazidiktatur Widerständler*in oder Opfer waren [20]. Dies zeigt ein sperriges Gedächtnis. Wo blei- ben die Täter*innen? So wie es in der früheren DDR in unserer Elterngenerati- on nicht nur missbrauchte Idealist*innen gab, so gab es diese genauso wenig in früheren Diktaturen. Eine einer- seits generationsspezifische, aber auch generationsüber- greifende interkulturelle, entherorisierte selbstkritische inner- und außerfamiliäre gesellschaftliche Aufarbeitung von Denk- und Handlungsmustern sowie (Vor-)Urteilen wäre eine Voraussetzung, um einen Grundkonsens in der Ablehnung jeglicher rechtsextremer Bestrebungen, Denk- muster und Handlungen zu schaffen [21]. Die Quelle hier- für ist aber nicht nur im Osten. Die AfD ist keine ursprünglich ostdeutsche Partei, sondern eine im Westen gegründete mit vorrangig westdeutscher Führung und absolut gesehen (nicht relativ) mehr west- 78 Weidner K. Die Mauer in ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 76–80 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
deutschen Mitgliedern, die sich jedoch im Osten etabliert hat, Frustration und Diskriminierungserleben der Ostdeut- schen gut zu bedienen versteht. Noch einmal Sören Kier- kegaard: „Wer zu lange ein Auge zugedrückt hat, wird er- staunt sein, wenn ihm beide plötzlich aufgehen.“ Frustrati- on, Enttäuschung, Kränkung sind keine Rechtfertigungen, eine rechte Partei zu wählen; aber Frustration, Enttäu- schung und Kränkung müssen endlich in ihren Wurzeln verstanden und Vorurteile abgebaut werden. steht auch für Verbundenheit mit meiner Kindheit, mei- ner Jugend, meiner Elterngeneration – für Bindung und für Achtung gegenüber unserer systemischen Resilienz. Ich wünsche mir Respekt. Wenn wir nicht differenziert auf- arbeiten, verstehen und sensibel handeln, wird die Spira- le des gegenseitigen Unverständnisses einfach nur wei- tergedreht. Ist die Mauer in unseren Köpfen stabiler als die aus Beton? Dazu zählt auch eine kritische Aufarbeitung der Nachwen- dezeit [15]. Die Unzufriedenheit basiert nicht auf materiel- len, sondern auf emotionalen Werten [22]. In der Psycho- therapie weiß man um die anhaltende und transgenera- tionale Wirkung emotional eingebrannter Themen und die Folgen einer holprigen Identitätssuche. Mit einem Finger- zeig auf den Osten hält man sich auf jeden Fall kein gesamt- deutsches Problem vom Leib [15]. Schlussfolgerung für die Psychotherapie Auch wir Expert*innen der Psychotherapie müssen reflek- tieren, mit welcher Brille wir schauen. Haben wir eine Vor- urteilsbrille auf, leben wir Vorannahmen gegen in der DDR bzw. BRD sozialisierten Menschen, denken wir in Schwarz- Weiß-Kategorien? Sehen wir hier 2 verschiedene Kulturen? Bescheidenheit vs. Arroganz? Undankbarkeit vs. Großzü- gigkeit? Bindungsgestört durch frühkindliche Erziehung in der Krippe vs. sicher gebunden durch frühkindliche Er- ziehung zu Hause? Welches ist für uns das richtige Familienmodell? Welche Narrative prägen uns und unser Verständnis von der Histo- rie, von Kulturen, von Familien? Welchen Einfluss haben wir Professionelle auf Werturteilsbildung junger Menschen? Gibt es ein intrinsisches Interesse an der Biografie eines Landes? Setzen wir unsere Vorurteilsbrille ab und würdigen Leis- tungen der Menschen in beiden früheren Staaten, die sich auf unterschiedlichem Weg mit dem Aufbau eines Lan- des und der Aufarbeitung der jüngeren Geschichte befasst haben, dann haben wir eine Chance auf eine gerechte Erin- nerungskultur unter Würdigung von Kompetenzen – nicht ausschließlich defizit-, sondern ressourcenorientiert, so wie es in der Psychotherapie Standard sein sollte. Wissen basiert auf wissenschaftlicher Evidenz und ist durch gesellschaftliche, psychische, kognitive Faktoren geprägt. Uns steht die Entscheidung frei, was fokussiert, was aus- gegrenzt wird. Spätestens seit Galileo wissen wir, dass Er- kenntnisse Weltbilder verändern und Politik beeinflussen können [15]. Wir in der DDR sozialisierte Menschen haben auf jeden Fall genug davon, entweder als Opfer oder als Täter*in dazu- stehen und Vorurteile zu erleben. Mein Ost-Bewusstsein Ende Eine Begegnung zum Schluss: Ein Kollege steht mit mir vor der Semperoper in Dresden: „Toll ist die geworden, ein Prachtbau. Da ist unser Soli gut angelegt.“ Zwei Fehler be- inhaltet dieser 2. Satz. Der Solibeitrag wurde und wird von Ost und West bezahlt. Und die Semperoper ist 1985 – fast genau 40 Jahre nach ihrer Zerstörung durch die Luftangrif- fe 1945 (und 4 Jahre vor der Wende) – in dieser jetzigen Form wiedereröffnet. Aber ein Prachtbau ist sie und hält ein beeindruckendes Programm vor. Danksagung Ich danke Prof. Hendrik Berth, Tina Krone, Prof.in Doris Titze, Prof.in Angela Rösen-Wolff und Michael Weidner für die angeregten Diskussionen zu diesem Thema. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkon- flikt besteht. Autorinnen/Autoren Kerstin Weidner Prof. Dr. med. Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psycho- somatik am Universitätsklinikum C. G. Carus Dresden an der Medizinischen Fakultät Dresden. Wissenschaftliche Schwerpunkte: Risiko- und Resilienzfaktoren insbesondere bei peripartalen psychischen Erkrankungen, Wirksamkeit von und Prädiktoren auf Interventionen. Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. habil. Kerstin Weidner Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden Anstalt des öffentlichen Rechts des Freistaates Sachsen Fetscherstraße 74 01307 Dresden Deutschland Kerstin.Weidner@ukdd.de Weidner K. Die Mauer in ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 76–80 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 79
Über den Tellerrand Literatur [1] Liebsch H. Wochenkinder in der DDR. Gießen: Psychosozial- Verlag; 2023 [2] Flemming E, Knorr S, Lübke L et al. Bindung und seelische Gesundheit von ehemaligen Wochenkrippenkindern. Psycho- ther 2023; 68: 412–418 [3] Berth H, Förster P, Balck F et al. Der Einfluss des frühkind- lichen Krippenbesuchs auf die Psyche im jungen Erwach- senenalter. Psychother Psychosom Med Psychol 2010; 60: 73–77 [4] Berth H, Förster P, Balck F et al. Fördert der Besuch einer Kinderkrippe das Entstehen rechtsextremer Einstellungen? Verhaltensther psychosoz Prax 2009; 41: 375–384 [5] Braunheim L, Heller A, Helmert C et al. Early childhood care in the former East Germany and mental stress in adulthood. Dtsch Arztebl Int 2024; 121: 182–187 [6] Ulke C, Fleischer T, Muehlan H et al. Socio-political context as determinant of childhood maltreatment: a population- based study among women and men in East and West Germany. Epidemiol Psychiatr Sci 2021; 30: e72 [14] Storch M, Schneider N, Kirschner H et al. Psychotherapeu- tische Fachliteratur der DDR und BRD: Eine vergleichende Zitationsanalyse. Psychother Psychosom Med Psychol 2022; 72: 316–324 [15] Arndt S. Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD. Eine In- tervention. München: C. H. Beck; 2024 [16] Oschmann D. Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Berlin: Ullstein; 2023 [17] Jacobs O, Schönherr M, Antusch J. Der lange Weg nach oben. Wie es Ostdeutsche in die Eliten schaffen. Repräsentation und Karrierewege nach drei Jahrzehnten deutscher Einheit. Eine Datenerhebung im Rahmen des gleichnamigen MDR- Projekts. 2022. Im Internet: https://ostdeutscheswirtschafts- forum.de/wp-content/uploads/2022/06/20220608_Der- lange-Weg-nach-oben_Ostdeutsche-Eliten.pdf; Stand: 17.07.2024 [18] Fehrenbach H. Race after Hitler: Black Occupation Children in Postwar Germany and America. Princeton: Princeton Uni- versity Press; 2005 [19] Bundeswahlleiterin. Europawahl 2024: Ergebnisse. Im Internet: https://www.bundeswahlleiterin.de/europawah- len/2024/ergebnisse.html; Stand: 17.07.2024 [7] Stiftung HB. Malus für Mütter. (2023). Im Internet: https:// [20] Papendick M, Rees J, Scholz M et al. MEMO – Multi- www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-malus-fur-mut- ter-47281.htm; Stand: 17.07.2024 [8] WSI. GenderDatenPortal. Teilzeitquoten nach Elternschaft und Alter des jüngsten Kindes 2021. Im Internet: https:// www.wsi.de/data/wsi_gdp_ze-teilzeit-01.pdf; Stand: 17.07.2024 [9] BertelsmannStiftung. Kurzexpertise – Frauen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. 2020. Im Internet: https://www. bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/ did/frauen-auf-dem-deutschen-arbeitsmarkt-1; Stand: 17.07.2024 [10] Sonnenmoser M. Psychotherapie in der DDR: Versunkene Welt. Dtsch Ärztebl 2009; PP 8: 115–116 dimensionaler Erinnnerungsmonitor. Studie IV (2021). Im Internet: https://www.stiftung-evz.de/assets/1_Was_ wir_f%C3%B6rdern/Bilden/Bilden_fuer_lebendiges_Erinnern/ MEMO_Studie/MEMO_4_2021/EVZ_Studie_MEMO_2021_ dt.pdf; Stand: 17.07.2024 [21] Welzer H, Moller S, Tschuggnall K. „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main: Fischer; 2014 [22] Mau S. Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt. Berlin: Suhrkamp; 2024 [11] Geyer M. Einige Aspekte der Entwicklung der Psychotherapie Bibliografie in Ost-und Westdeutschland. Gruppenpsychother Gruppen- dyn 2010; 46: 247–273 [12] Geyer M, Hrsg. Psychotherapie in Ostdeutschland. Geschichte und Geschichten 1945–1995. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 2011 [13] Britten U. Psychologie und Psychotherapie in der DDR: Das Gesundheitssystem und die Macht im Staat. Dtsch Ärztebl 2021; 6: 260 PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 76–80 DOI 10.1055/a-2289-5930 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany 80 Weidner K. Die Mauer in ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 76–80 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
CME-Fortbildung | CME-Fragebogen Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist bis zu 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Den genauen Einsendeschluss finden Sie beim Modul auf https://cme.thieme.de Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführliche Anleitung. Wir wünschen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! VNR 2767802025001850006 5 Transkulturelle Psychotherapie CME-Fragen, Teil 1 (S. 18–49) Frage 1 Welche Aussage zur transkulturellen Psychotherapie ist richtig? A Es handelt sich dabei um eine weitere Therapieschule, deren Methoden es zu erlernen gilt. B Damit wird auf das verfahrensübergreifende Vorgehen in der Behandlung hingewiesen. C In einer solchen Behandlung wird nur auf den kulturellen Hintergrund einer Person und dessen Einfluss auf deren Psyche fokussiert. Frage 4 Was ist der Unterschied zwischen multikulturellen Kompetenzen und multikultureller Orientierung? A Multikulturelle Kompetenzen bezieht sich auf Psychothera- peut*innen mit Migrationshintergrund, während multikultu- relle Orientierung unabhängig vom Geburtsland ist. B Multikulturelle Kompetenzen beziehen sich ausschließlich auf psychotherapeutische Haltungen. C Multikulturelle Orientierung befasst sich primär mit der D In der transkulturellen Psychotherapie wird der soziokulturelle Kontext einer Person und dessen Einfluss auf das Erleben und Verhalten in die Behandlung einbezogen. Haltung von Psychotherapeut*innen, während multikulturelle Kompetenzen auch die Dimensionen Wissen und Fähigkeiten beinhalten. E Es handelt sich dabei um ein spezielles Verfahren für Men- D Multikulturelle Orientierung befasst sich v. a. mit der kulturel- schen mit Fluchterfahrung. len Wissensdimension. Frage 2 Was versteht man unter den 2 Psychologien nach Wilhelm Wundt? A Es gibt eine rationale und eine emotionale Psychologie. B Es gibt eine westliche und eine östliche Psychologie. C Es gibt eine Psychologie, die mithilfe von Experimenten die allgemein gültigen Gesetze menschlichen Erlebens und Verhaltens erforscht, und eine andere, welche den histori- schen, sozialen und kulturellen Kontext berücksichtigt. E Multikulturelle Kompetenzen beziehen sich auf Fähigkeiten von Psychotherapeut*innen, während multikulturelle Orientierung sich auf die Institutionen bezieht. Frage 5 Welche Aussage trifft nicht auf die Betrachtungen einer system- therapeutisch-ethnologischen Haltung zu? A Es geht um eine teilnehmende Beobachtung und kontinuierli- ches Joining in hochkonzentrierter Haltung. D Es gibt die verhaltenstherapeutische und die tiefenpsycholo- B Es geht um Informationsgenerierung durch Unterschiedsbil- gische Psychologie. dung. E Es gibt die frühe Psychologie, die v. a. von Beobachtungen C Es geht um ein neugieriges Beiseitetreten und Achtsamkeit im geprägt war, und eine spätere Psychologie, in der Erkenntnis- se aus wissenschaftlichen Experimenten abgeleitet wurden. Frage 3 Was führt dazu, dass Bi_PoC häufig die Suche nach psychothera- peutischer Versorgung abbrechen? A die fehlende Verfügbarkeit von Online-Therapieangeboten B die antizipierte Angst vor sekundärer Viktimisierung und rassistischen Mikroaggressionen C die hohen Kosten für privat finanzierte Therapieplätze D die lange Wartezeit auf Therapieplätze in ihrer Erstsprache E die Angst, nicht als Person mit besonderer „Kultur“ behandelt zu werden Umgang mit potenziellen Fettnäpfchen. D Es geht um eine ausgewogene Neutralität und einen Blick über den konventionell-vertrauten Tellerrand. E Es geht um berufliches Abhängen und darum, ein „Native“ zu werden, um das soziale System von innen heraus voll umfänglich zu verstehen. PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 81–82 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 81 ▶Weitere Fragen auf der folgenden Seite …
CME-Fortbildung | CME-Fragebogen Punkte sammeln auf CME.thieme.de Fortsetzung … Frage 6 Welche Aussage zur Bedeutung einer stufengerechten Gesund- heitsversorgung im Bereich der psychischen Gesundheit von ge- flüchteten Menschen ist richtig? A Praktisch alle geflüchteten Menschen benötigen nach ihrer Ankunft zeitnah eine Traumaexposition. B Eine Behandlung von traumatisierten Geflüchteten wird erst möglich, wenn die Personen die Sprache des Aufnahmelandes auf einem hohen Niveau sprechen können. C Geflüchtete Personen mit einer ähnlichen Lebensgeschichte sind zu befangen, um andere Geflüchtete in der Alltagsorien- tierung und Ressourcenstärkung zu unterstützen. D Orientierung im Alltag und Ressourcenstärkung dient der Stabilisierung als Grundlage für die weitere Traumabehand- lung. E Eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Berufsgrup- pen und Laienhelfenden zur Unterstützung von geflüchteten Menschen führt dazu, dass spezialisierte Therapieangebote nicht weiter ausgebaut werden müssen. Frage 7 Welche Aussage zum Einsatz von digitalen psychologischen An- wendungen für Geflüchtete ist richtig? A Digitale Anwendungen zur Orientierung und Ressourcenstär- kung ersetzen eine sonst notwendige Traumaexposition, die von einer spezifisch geschulten Fachperson durchgeführt wird. Frage 8 Ein nicht-weißer Patient berichtet in der Psychotherapie, dass er auf seiner Arbeitsstelle regelmäßig mit rassistischen Kommentaren konfrontiert sei. Die Psychotherapeutin antwortet darauf: „Sind Sie sicher, dass es bei den Kommentaren wirklich um Rassismus geht? Vielleicht sind Ihre Kollegen einfach etwas direkt und unhöflich, aber sie beziehen sich nicht auf Ihre Herkunft.“ Um welche Art von Mikroaggression handelt es sich hier am ehesten? A Pathologisierung von Kultur oder Aussehen B Absprechen von rassistischen Erfahrungen C Vermeidung und Distanzierung D stereotype Kategorisierung erzwingen E Verleugnung eigener Stereotype Frage 9 Eine Psychotherapeutin erkennt in der psychotherapeutischen Ar- beit, dass sie unbeabsichtigt eine unsensible, stereotype Aussage über die Herkunft einer Patientin gemacht hat. Wie geht sie am besten damit um? A Sie vermeidet es, über die stattgefundene Mikroaggression zu sprechen. B Sie wartet ab und gibt der Patientin Raum, selbst die stattge- fundene Mikroaggression anzusprechen. C Sie spricht die stattgefundene Mikroaggression proaktiv an. D Sie schämt sich für ihre Aussage und wird infolge passiv und zurückhaltend in der Arbeit mit der Patientin. E Sie setzt sich nicht weiter mit den stattgefundenen Mikroag- B Eine digitale psychologische Anwendung kann nicht parallel gressionen auseinander. zu einer Traumatherapie angewendet werden. C Eine digitale psychologische Anwendung ist für geflüchtete Menschen ungeeignet, da sie keine kulturellen oder sprachli- chen Besonderheiten berücksichtigen kann. D Digitale psychologische Anwendungen bieten geflüchteten Menschen Unterstützung und können individuelle und strukturelle Zugangshürden überwinden. E Digitale Anwendungen sind zu anonym, um ohne regelmäßi- gen persönlichen Kontakt mit einer Fachperson eine Wirkung aufweisen zu können. Frage 10 Welche Aussage ist falsch? A Diskriminierung hat Folgen für die psychische Gesundheit negativ betroffener Menschen. B Diskriminierungskritische Inhalte sind unzureichend in der Aus- und Weiterbildung von Psychotherapeut*innen veran- kert. C Ein systematisches und selbstreflexives Training ist für das Erlernen von diskriminierungssensiblem Verhalten nicht notwendig. D Antisemitismus- und rassismuskritische Trainings sollten nicht „kulturalisierend“, also auf vermeintliche Andersartigkeit gerichtet sein. E Machtkritische Weiterbildung und Supervision in Antisemitis- mus und Rassismus können Empathielücken und emotionale Abwehr von Psychotherapeut*innen verringern. 82 PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 81–82 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
CME-Fortbildung | CME-Fragebogen Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist bis zu 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Den genauen Einsendeschluss finden Sie beim Modul auf https://cme.thieme.de Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführliche Anleitung. Wir wünschen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! VNR 2767802025001860005 5 Transkulturelle Psychotherapie CME-Fragen, Teil 2 (S. 50–80) Frage 1 Welche Faktoren tragen, entsprechend dem Modell der Phasen der Migration, zu einer grundsätzlich erhöhten Stressbelastung und Vulnerabilität bei zugewanderten Menschen bei? A geringes Bildungsniveau B Familienkonflikte C psychische Vorerkrankungen D Zwang und Fremdbestimmung im Migrationsprozess E hohes Alter Frage 2 Welche der folgenden Themen sind keine langfristigen migrations- bezogenen Belastungen, wie sie bei Kindern oder Enkeln geflüch- teter Menschen in der Psychotherapie aufkommen können? A (kulturelle) Generationen- und Anpassungskonflikte B Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen C Verlust bzw. Aberkennung bisheriger Bewältigungsressourcen (z. B. Bildung, Sprache) D (kulturelle) Identitätskrisen E Trauma- und Trauerbewältigung Frage 3 Welcher der folgenden Problembereiche gehört nicht zu den 4 Foki der Interpersonellen Psychotherapie (IPT)? A Einsamkeit B Armut C Konflikte D Rollenwechsel E Trauer Frage 4 Welche Aussage zur Interpersonellen Psychotherapie IPT ist falsch? A Bei der IPT handelt es sich um eine Kurzzeittherapie, die in 3 Phasen unterteilt wird. B Um den Fokus Rollenwechsel zu bearbeiten, sind die 4-Felder- Tafel und die 3-Spalten-Technik besonders gut geeignet. C Bei existenziellen Rollenwechseln stellt die 4-Felder-Tafel die hilfreichere Technik dar. D In der Abschlussphase der Therapie werden die Gefühle, oft auch Trauer, angesichts des bevorstehenden Endes der gemeinsamen Therapie angesprochen und die erzielten Fortschritte noch einmal betrachtet. E Zusätzlich kann auch ein 5. Fokus, „Integration und Orientie- rung“, berücksichtigt werden. Frage 5 Welches Behandlungsmodul ist üblicherweise nicht Teil der Narra- tiven Expositionstherapie (NET)? A Diagnostik B Psychoedukation C Lebenslinie D Stimuluskontrolle E Narration der Lebensereignisse PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 83–84 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 83 ▶Weitere Fragen auf der folgenden Seite …
CME-Fortbildung | CME-Fragebogen Punkte sammeln auf CME.thieme.de Fortsetzung … Frage 6 Welche Aussage zur Vorgehensweise der Narrativen Expositions- therapie (NET) ist richtig? A Bei der Besprechung der Ereignisse sollte man sich auf die B „heißen“ Gedächtnisinhalte fokussieren, da die Kontextinfor- mationen an dieser Stelle weniger entscheidend sind. In der NET sollte immer mit dem schlimmsten traumatischen Ereignis begonnen werden, da es das wichtigste Element des Bedrohungsnetzwerkes ist. C Bei der Besprechung der Ereignisse beginnt man in der Gegen- wart und arbeitet sich dann schrittweise zurück in die Vergangenheit. D In der NET werden die wichtigsten traumatischen Ereignisse in chronologischer Reihenfolge besprochen, um sie in den Kontext der Lebensgeschichte einzubetten. E Bei der Besprechung der Ereignisse sollte man ausschließlich die „kalten“ Gedächtnisinhalte besprechen, um das Ereignis besonders gut in den Kontext einzubetten. Frage 7 Was sollten Behandler*innen im Umgang mit LGBTQ + Personen vermeiden? A nach Pronomen der Personen fragen B Theorien über die Ursache und Funktionalität einer sexuellen C Orientierung aufstellen in Absprache mit Patient*in spezifische Stressfaktoren herausarbeiten D Raum geben für queere Themen im Leben der Person E auf spezifische Herausforderungen und Ressourcen von LGBTQ + Personen eingehen Frage 8 Welche Akkulturationsstrategie gilt als die „erfolgreichste“ Strate- gie zur Förderung der Gesundheit von Menschen mit Migrations- hintergrund? A Assimilation durch Abbruch des Kontakts zur Herkunftskultur, B damit Raum für neue Erfahrungen entstehen kann Integration mit Beibehalten des Kontakts zur Herkunftsgesell- schaft (durch Aktivierung und Förderung von alten, brachlie- genden Ressourcen) und Zugang zu einheimischer Gesell- schaft (mit Entwicklung von notwendigen, erforderlichen neuen Ressourcen) C Separation durch Distanz zu der einheimischen Gesellschaft, damit die psychische Kapazität von Menschen mit neuen Erfahrungen nicht überfordert werden D Marginalisierung durch Distanz zu Herkunfts- und einheimi- scher Gesellschaft, damit soziale Stressoren durch Kontakten von beiden Seiten vermieden werden E Sozialer Rückzug und Isolation, damit Menschen sich zunächst auf ihre berufliche Zukunft fokussieren können Frage 9 Welche Lösungsansätze sind nicht zu empfehlen, um Sprachbarrie- ren in der Gesundheitsversorgung zu überwinden? A Einsatz professioneller Dolmetscher B direkte Kommunikation mit Händen und Füssen C Nutzung technischer Übersetzungshilfen D Einsatz von Kindern als Dolmetscher E Einsatz geschulter mehrsprachiger Mitarbeiter Frage 10 Welche Aussage ist richtig? Körperliche und emotionale Vernach- lässigung zeigten sich in der DDR… A …häufiger in allen staatlichen Einrichtungen. B …fast regelhaft in Tageskrippen. C …häufiger in Wochenkrippen und Krippenheimen. D …immer in Kindergärten. E …fast immer in Schulen. 84 PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 83–84 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Interview Thieme Unter dem Strich hat es sich eben nichtdestotrotz gelohnt Interview mit Jonny Fischer, Schweizer Komiker Jonny Fischer ist einer der bekanntes- ten Schweizer Comedians, zusammen mit Manuel Burkart bilden sie das Duo Cabaret Divertimento. 2022 berichtete er in einem Buch1 über seinen autobio- grafischen Lebensweg. PiD-Mitheraus- geber Christoph Flückiger hat mit ihm gesprochen. CF: Erleben Sie dies immer noch so? JF: Das hat sich schon auch geändert; ich bin weniger nervös vor dem Auftritt, und während des Auftritts nehme ich die Um- gebung mehr wahr. Ich war über Jahre fast täglich auf der Bühne. Irgendwie muss für mich nun auch die Balance stimmen. Geben und Nehmen sollte im Gleichgewicht sein. Christoph Flückiger (CF): Herr Fischer, was sind für Sie als Kulturschaffender, die wichtigsten Aspekte, die Kultur zur Kultur machen? Jonny Fischer (JF): Kultur ist ein Privileg. Es ist das, was uns Menschen schon auch vom Tier abhebt. Kultur soll den Menschen gut tun. Das kann ganz individuell sein. Die einen lieben Heavy Metal, die andern gehen ins Theater und die dritten malen für sich. Für mich selbst ist zentral, dass ich versu- che, möglichst viele Menschen ansprechen zu können. CF: Was waren für Sie frühe kulturelle Erlebnisse, die Sie faszinierten? JF: Mit der Schulklasse sind wir in die Oper gegangen. Das hat mich umgehauen. Ich war vollkommen versunken und selbstver- gessen und habe jegliche Kontrolle über meinen Gesichtsausdruck verloren. Meine Kollegen haben mich nachgemacht, wie ich mitgegangen bin. Wie haben wir gelacht! Aktiv auf der Bühne habe ich früh Musik gemacht und spielte Solokonzerte. Davor konnte ich jeweils drei bis vier Tage nicht schlafen. Während des Konzerts habe ich kaum etwas realisiert. Ich war vollkommen eingetaucht, schon auch etwas im luftlee- ren Raum. Danach hatte ich ein Glücksge- fühl, das Tage andauerte. 1 Angela Lembo-Achtnich und Jonny Fischer. Ich bin auch Jonathan – Die Geschichte einer Versöhnung. Verlag Wörterseh: 2023. ISBN 9783037633274 CF: Sie sind in einer religiösen Subkul- tur aufgewachsen und ihr entwachsen. Was gab Ihnen die Kraft und Selbstbe- wusstsein, die Schritte zu wagen? JF: Einer der ersten Schritte war ja, dass ich mich gegen die Sekte meines Vaters aufgelehnt habe, als ich 14 Jahre alt war. Das war eigentlich keine bewusste Ent- scheidung, sondern ich habe es einfach gemacht. Mit 21 Jahren hatte ich mein Coming-Out mit dem Wissen, dass ich dadurch aus dem katholischen Internat, wo ich meine Ausbildung zum Primarleh- rer machte, fliegen könnte. Ich dachte, ich wäre dazu bereit gewesen. Im Nach- hinein war ich mir jedoch der ganzen Kon- sequenzen damals nicht bewusst. Ein wei- terer Schritt war, als ich mir vor gut zehn Jahren eingestand, dass ich in die psychia- trische Klinik muss. Und dann wieder beim Buch, an dem wir über drei Jahre gearbei- tet haben. Eigentlich bewirkte immer der Leidensdruck meine Entscheidung. Ich hielt die Situation schlicht nicht mehr aus. Im Nachhinein passierte dies in Phasen, in denen ich mich teilweise zu wenig schütz- te oder zu stark öffnete. Ganz am Ende bin ich aber trotzdem froh, die Schritte ge- macht zu haben. CF: Sie sind nun gerade auch im Gespräch sehr offen. JF: Ja, schon. Es geht mir ja auch darum, die Dinge anzusprechen. Dadurch konnte ich ja auch vieles verarbeiten und habe nun mehr Distanz dazu. Gerade das Buch erleichterte mir die Sortierung vieler Dinge. Was mich noch heute sehr beansprucht, sind die Rückmeldungen und Briefe, die ich seit der Veröffentlichung des Buches immer wieder erhalte. Das sind teilweise Lebensgeschichten, die mich sehr berüh- ren. So beispielsweise ein über 80-jähri- ger Mann, der einige Jahre nach dem Tod seiner Frau unsicher war, ob er sein Co- ming-Out geben sollte. Ich wollte diesen Mann kennenlernen und habe mit ihm te- lefoniert. Teilweise kam fast zu viel zurück, ich musste mich auch hiervor schützen. Die vielen sui- zidalen Menschen, die mir schreiben, sind natürlich überfordernd. Unter dem Strich denke ich trotzdem, dass das Buch im Posi- tiven berührt. Es sind ja auch die Lesenden, die ganz unterschiedlich reagieren. Eine Frau hat mich letzte Woche in einem Su- permarkt umarmt, irgendwie aus einer Re- aktion der Anteilnahme. Das war natürlich schon auch etwas übergriffig, auch wenn ich bis zu einem gewissen Grad auch Ver- ständnis habe. Andere Begegnungen sind einfach sehr schön. Ich erinnere mich an den Urlaub im Ausland, wo sich eine Frau umdrehte, mir in die Augen schaute und einfach „Danke“ sagte. CF: Das hat ja schon auch mit Vertrauen zu tun gegenüber den Reaktionen von Menschen, vor dem Publikum? JF: Ja, absolut. In meinem aktuellen Pro- gramm tanze ich viel, gerade weil mir be- wusst ist, dass ich überhaupt nicht tanzen kann. Ich weiß gut, was ich beherrsche. Mu- sizieren oder singen beispielsweise. Ich hole oft die Leute vielmehr mit dem ab, was ich eben weniger gut kann. Sie lachen mich ja nicht aus. Es geht eher darum, das Schei- tern anzuschreiben. Wir alle können viele Dinge nicht und werden uns dies in den Momenten immer wieder bewusst. Trotz- dem dürfen wir ja auch dann eine gute Zeit haben und darüber schmunzeln. Flückiger C. Unter dem Strich ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 85–86 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 85
Einfach mal reinschauen: Thieme web.shop i e g e z n A digitale Lösungen Bücher Print und online Fachzeitschriften Print, online & Open Access shop.thieme.de Thieme CF: Last but not least, Sie haben Redefreiheit: Was wollten Sie Psycho- therapeut*innen schon immer einmal sagen? JF: Uhh, gute Frage. Ich habe ja schon eini- ge davon gesehen, und Therapie ist ja auch sehr geschätzt. Vielleicht, dass sich Psycho- therapeut*innen als Menschen öffnen, und teilweise etwas weniger verkopft sein dür- fen. Bei einem älteren Psychotherapeuten entwickelte sich während meiner Thera- pie das Ritual, dass wir uns in den ersten fünf Therapieminuten umarmten. Ich weiß, das hört sich in den aktuellen Diskussionen etwas eigenartig an. Aber: weißt Du wie gut das tat, und wie sehr ich mich darauf freute! Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen konflikt besteht. Zur interviewten Person Jonny Fischer Der 44-jährige Jonny Fischer ist einer der erfolgreichsten Schweizer Komiker. Als Cabaret Divertimento spielt er seit 2007 zusammen mit Bühnenpartner Manu Burkart vor ausverkauften Rängen und begeistert jährlich gegen 100.000 Zu- schauer*innen. Neben der Bühne tritt er immer wieder als Moderator diverser Sendungen im Schweizer Fernsehen auf. Jonny Fischer pflegt einen offenen Umgang mit seiner biografischen Entwicklung als Privatperson und Kulturschaffender. Der ehemalige Primarlehrer ist verheiratet und lebt mit seinem Partner in Zug. Bild: Nicole Rötheli Bibliografie PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 85–86 DOI 10.1055/a-2289-6058 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany 86 Flückiger C. Unter dem Strich ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 85–86 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Dialog Links Transkulturelle Psychotherapie – Informationen, Anlaufstellen und Hilfe im Internet Nadine Oberländer Psychische Belastungen in interkulturellen Kontexten entstehen u. a. durch kulturelle Unterschiede, Migrationserfahrungen und Flucht. Menschen mit Migrationshintergrund sind neben sprachlichen Barrieren häufig mit Diskriminierungserfahrung und inneren Konflikten durch Kulturunterschiede konfrontiert. Das Internet bietet wertvolle Informationen und Hilfsangebote, die für interkulturelle Herausforderungen sensibilisieren und die Versorgung verbessern. Fachgesellschaften und Fachkreise [1] DGPPN – Interkulturelle Psychiatrie und Psycho- therapie Die DGPPN bietet auf ihrer Webseite eine brei- te Palette von Ressourcen zu interkultureller Psychothera- pie. Hier finden Fachkräfte Leitlinien, aktuelle Forschungs- ergebnisse und Weiterbildungsangebote, die speziell auf den Umgang mit kulturellen Unterschieden in der Thera- pie abzielen. [2] DGPs – Deutsche Gesellschaft für Psychologie Die Webseite der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) thematisiert den Bedarf an kultursensitiver psy- chotherapeutischer Versorgung für Migrant*innen und Geflüchtete sowie Defizite in Forschung und Praxis. Sie skizziert Ziele wie die Förderung der Forschung, kultur- sensitive Ausbildungen und politische Sichtbarkeit, bleibt dabei aber oft vage in Bezug auf konkrete Maßnahmen. Schwerpunkte sind u. a. Migration, psychische Gesund- heit und Therapieforschung. [3] BPtK – Bundespsychotherapeutenkammer Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) bietet praxis- nahe Informationen sowie umfangreiche Materialien und Weiterbildungsangebote für Psychotherapeut*innen, die ihre interkulturelle Kompetenz vertiefen möchten. Die Seite informiert zudem über rechtliche Rahmenbedin- gungen und bietet Orientierungshilfen im Umgang mit kulturellen Differenzen. [4] Therapie intersektional Diese Webseite stellt um- fassende Informationen und Ressourcen zur intersektio- nalen Therapie zur Verfügung. Zudem dient sie als Platt- form für den fachlichen Austausch und die Vernetzung von Fachkräften, die interkulturelle, rassismuskritische und in- tersektionale Ansätze in ihrer therapeutischen Arbeit in- tegrieren möchten. [5] Bundesfachnetz Gesundheit & Rassismus Das Bundesfachnetz Gesundheit & Rassismus ist ein Netzwerk rassismuskritischer Expert*innen, das Rassismus im Ge- sundheitswesen sichtbar macht und bekämpft. Es fördert rassismussensible Aus- und Fortbildung und entwickelt Lö- sungen zur besseren Versorgung von Betroffenen. Neben Vernetzung und Aufklärung bietet das Netzwerk eine Da- tenbank für rassismussensible Therapeut*innen und Be- rater*innen. [6] BZgA-InfoDienst Migration, Flucht und Gesund- heit Der InfoDienst Migration, Flucht und Gesundheit der BZgA bietet umfassende Informationen und Ressourcen zu Migration, Flucht und Gesundheit. Der Infodienst richtet sich an Fachkräfte, Expert*innen und Interessierte, die im Bereich Migration und Flucht tätig sind, und unterstützt Wissenstransfer sowie Vernetzung. [7] Sprach- und Integrationsmittlung (SprInt) SprInt vermittelt qualifizierte Sprach- und Integrationsmittler*in- nen, die Fachkräfte in Kliniken, Jobcentern, Schulen und Behörden bei der interkulturellen Kommunikation unter- stützen. Sie dolmetschen, vermitteln kulturelles Verständ- nis und helfen bei interkulturellen Aufgaben. [8] Wegweiser – Psychotherapeutische Hilfe für Ge- flüchtete (DGVT) Der Wegweiser informiert über die psy- chotherapeutische Versorgung geflüchteter Menschen. Er beschreibt die erhöhten Risiken für psychische Störun- gen wie PTBS und Depression und betont die Wichtigkeit früher Interventionen, um eine Chronifizierung zu verhin- dern. Neben organisatorischen Aspekten werden auch di- agnostische Hilfen, der Einsatz von Sprachmittlern und bewährte Therapieansätze erläutert. Oberländer N. Transkulturelle Psychotherapie – Informationen, Anlaufstellen ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 87–90 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 87
Dialog Links Informationen für Betroffene und Angehörige [9] Sui-App Die Sui-SRK-App bietet geflüchteten Men- schen kostenlos und anonym Selbsthilfe (S), Unterstüt- zung (U) und Informationen (I). Neben Tipps zu Stressbe- wältigung gibt es schriftliche Unterstützung über einen integrierten Chat. Die App wurde gemeinsam mit Fach- leuten und Geflüchteten entwickelt und ist aktuell auf Deutsch und Arabisch verfügbar. [14] Therapie.de Die Webseite bietet Informationen zur interkulturellen Psychotherapie für Migrant*innen und Geflüchtete. Themen sind kultursensible Behandlungs- ansätze, Barrieren im Zugang zur Therapie, Vorschläge zur Verbesserung der Versorgung sowie der Umgang mit Sprachproblemen. Zudem gibt es Informationen zu psy- chosozialen Einrichtungen, die auf Migrant*innen und Ge- flüchtete spezialisiert sind, und Hinweise zur Finanzierung der Therapie, inklusive Sonderregelungen für Geflüchtete aus der Ukraine. [10] Ankommen-App Die App „Ankommen“ des Bun- desamts für Migration und Flüchtlinge hilft Migrant*innen und Geflüchteten, sich in Deutschland besser zurechtzufin- den. Mit praktischen Alltagstipps, Informationen zu Asyl, Arbeit und Ausbildung sowie kostenlose Deutschlernange- bote unterstützt die App bei der Integration. [15] German Lifestyle GLS German LifeStyle ist ein You- Tube-Kanal zweier Syrer, die humorvoll kulturelle Unter- schiede zwischen Deutschland und Syrien zeigen. Die Vi- deos unterstützen syrische Geflüchtete und fördern Ver- ständnis durch Karikaturen von Stereotypen. 2016 erhielt der Kanal die Integrationsmedaille der Bundesregierung. [11] Integreat-App Integreat ist eine digitale Integrati- onsplattform, die Städte und Landkreise unterstützt, zu- gewanderte Menschen schnell und mehrsprachig mit lo- kalen Informationen zu versorgen. [12] MindDoc-App Diese App unterstützt Menschen mit psychischen Belastungen durch digitale Selbsthilfeangebo- te. Neben einem vielseitigen Behandlungsspektrum ent- hält sie auch Module, die speziell auf die Bedürfnisse von Menschen mit Migrationshintergrund abgestimmt sind und kulturelle Besonderheiten berücksichtigen. [13] Mental Health 4 Refugees Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert seit 2019 7 deutsch- landweite Verbundprojekte zur Verbesserung der psycho- sozialen Versorgung für geflüchtete Menschen, die durch Krieg, Flucht und unsichere Lebensumstände psychisch belastet sind. Die Forschung umfasst verschiedene Inter- ventionen und Studien, darunter: ▪ START-A1: Intervention für die Stabilisierung von min- derjährigen, jugendlichen geflüchteten Menschen ▪ SP2: Evaluation eines Programms für Erzieher*innen von Krippenkindern und deren Eltern ▪ SP3: Gruppenbehandlung für traumatisierte Geflüch- tete ▪ RELATER: Verbesserung der Kommunikation in der psychiatrischen Versorgung durch eine mobile App für arabischsprachige Menschen ▪ RECAP: kultursensible Psychoedukation und Grup- pentherapie für Asylsuchende ▪ PREPARE: Untersuchung von Substanzkonsum und Entwicklung kultursensibler Interventionen ▪ IMPROVE-MH: Förderung der psychischen Gesund- heit geflüchteter Eltern und ihrer Kinder ▪ I-REACH: Entwicklung und Evaluation von Online- Tools und transdiagnostischen Interventionen für ara- bischsprachige Geflüchtete ▪ BETTERCARE: Verbesserung der psychotherapeu- tischen Versorgung unbegleiteter junger Geflüchteter [16] Podcast „Typisch Deutsch“ Dieser Podcast bietet spannende Einblicke in die Wahrnehmung Deutschlands durch ausländische Korrespondenten. Auf informative und unterhaltsame Weise werden verschiedene Aspek- te des deutschen Alltags beleuchtet, was nicht nur für Mi- grant*innen und ihre Familien hilfreich sein kann, um die deutsche Kultur besser zu verstehen. Regionale Anlaufstellen [17][18][19] Refugio Refugio bietet in mehreren deut- schen Städten umfassende psychosoziale und therapeuti- sche Unterstützung für Menschen, die durch Flucht, Krieg, Verfolgung und Folter traumatisiert wurden. Die mehr- sprachigen und kostenlosen Zentren stellen psychologi- sche, sozialpädagogische und psychotherapeutische Hilfe bereit und unterstützten Geflüchtete bei der Bewältigung ihrer Traumata und asylrechtlichen Fragen. Die Zentren sind auf Psychotraumatologie spezialisiert und bieten ihre Dienste mehrsprachig und kostenfrei an. [20] Psychologischer Dienst für Migrant*innen, Mün- chen Das mehrsprachige Team des Psychologischen Dienstes bietet neben Einzelberatung bei Depressionen, Angststörungen oder PTBS auch akute Krisenintervention bei Gewalt oder Suizidgefahr. Daneben gibt es auch Ange- bote aus dem Bereich Erziehungs-, Ehe- und Familienbera- tung sowie Gruppenangebote. [21] Zentrum für Interkulturelle Psychiatrie & Psycho- therapie (ZIPP), Berlin Das Zentrum für Interkulturelle Psychiatrie & Psychotherapie (ZIPP) bietet Migrant*innen und Geflüchteten spezialisierte psychiatrische und psycho- therapeutische Versorgung. Ein mehrsprachiges Team un- terstützt mit Diagnostik, Therapie, Krisenintervention und langfristige Betreuung. Dolmetscher*innen ermöglichen muttersprachliche Behandlungen. Das ZIPP bietet zudem Fortbildungen für Fachkräfte und Praktika für Psycholo- giestudierende. 88 Oberländer N. Transkulturelle Psychotherapie – Informationen, Anlaufstellen ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 87–90 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
▶Tab. 1 Übersicht der zitierten Webseiten. Referenz Kurzbeschreibung Webadresse Informationen für Fachkreise 1 2 3 4 5 6 7 8 DGPPN – Interkulturelle Psychiatrie und Psycho- therapie dgppn.de/die-dgppn/referate/interkulturelle-psychiatrie-und-psychotherapie- migration.html DGPs – Deutsche Gesellschaft für Psychologie dgps.de/fachgruppen/fgkl/interessengruppen/transjulturelle-psychologie Bundespsychotherapeutenkammer – Interkulturelle Kompetenz bptk.de Therapie intersektional https://therapie-intersektional.de/ Bundesfachnetz Gesundheit & Rassismus BZgA-InfoDienst Migration, Flucht und Gesundheit Sprach- und Integrationsmittlung (SprInt) Wegweiser – Psychotherapeutische Hilfe für Ge- flüchtete (DGVT) gesundheit-und-rassismus.de https://infodienst.bzga.de/migration-flucht-und-gesundheit/ sprinteg.de dgvt.de/fileadmin/user_upload/Bilder/Themenbereiche/Migration/Wegweiser- psychotherapeutische-Hilfe-fuer-Gefluechtete.pdf Informationen für Betroffene und Angehörige 9 Sui-App 10 11 12 13 14 15 16 Ankommen-App Integreat-App MindDoc-App Mental Health 4 Refugees Therapie.de German Lifestyle GLS – YouTube Podcast „Typisch Deutsch“ Beispiele für regionale Anlaufstellen migesplus.ch/publikationen/sui-app ankommenapp.de/APP/DE/Startseite/startseite-node.html https://integreat-app.de/ https://minddoc.com/de/de/selbsthilfe mentalhealth4refugees.de/de therapie.de/psyche/info/therapie/interkulturelle-psychotherapie/artikel/ youtube.com/results?search_query = german + lifestyle + gls deutschlandfunkkultur.de/typisch-deutsch-100.html 17 18 19 20 21 22 Refugio Stuttgart & Tübingen Refugio München Refugio Bremen & Bremerhaven refugio-stuttgart.de/home.html refugio-muenchen.de refugio-bremen.de München: Psychologischer Dienst für Migrant*innen Berlin: Zentrum für Interkulturelle Psychiatrie & Psy- chotherapie (ZIPP) Düsseldorf: Transkulturelle Ambulanz des LVR-Kli- nikums awo-muenchen.de/migration/psychologischer-dienst https://psychiatrie-psychotherapie.charite.de/fuer_patienten/ambulanzen/zen- trum_fuer_interkulturelle_psychiatrie_psychotherapie_zipp/ https://klinikum-duesseldorf.lvr.de/de/nav_main/fachgebiete/psychosomatik/ transkulturelle_angebote/transkulturelle_angebote/Inhaltsseite_KV.html Sie möchten die Links direkt abrufen? Über den nebenstehenden QR-Code gelangen Sie zu dieser Tabelle. [22] Transkulturelle Ambulanz des LVR-Klinikums, Düsseldorf Die Transkulturelle Ambulanz des LVR-Klini- kums Düsseldorf bietet psychotherapeutische Unterstüt- zung für Migrant*innen und Geflüchtete mit psychischen Belastungen. Mithilfe kultursensibler Ansätze und mut- tersprachlicher Therapeut*innen oder Dolmetscher*in- nen werden Einzel- und Gruppentherapien sowie Trauma- behandlungen angeboten, um sprachliche und kulturelle Barrieren zu überwinden. FA ZIT Der Ansatz der transkulturellen Psychotherapie zielt darauf ab, eine effektive und respektvolle therapeu- tische Beziehung aufzubauen, die den Klienten in seiner gesamten kulturellen Komplexität wahrnimmt und unterstützt, indem die kulturellen Hintergründe und Identitäten von Klienten in den therapeutischen Prozess integriert werden. Interkulturelle Psycho- therapie berücksichtigt, dass psychische Probleme oft im Kontext kultureller Normen, Werte und Erfahrungen entstehen. Im Internet finden sich hierzu für Betroffene und Fachkreise viele nützliche Informationen und Anlaufstellen. Oberländer N. Transkulturelle Psychotherapie – Informationen, Anlaufstellen ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 87–90 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 89
Unsere E-Books. Gönnen Sie Ihrem E-Reader mal was Gesundes. Dialog Links Interessenkonflikt i e g e z n A Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht. Autorinnen/Autoren Nadine Oberländer Studium der Pädagogik und Psychologie in Salzburg und München, Weiterbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherpeutin an der Heidelberger Akademie für Psychothera- pie mit Approbation 2018. Dozentin für verschiedene psychologische und psycho- therapeutische Inhalte. Seit 2022 Aus- bildungsleitung KJP der DGVT München. Korrespondenzadresse Nadine Oberländer DGVT-Ausbildungsakademie Ausbildungszentrum München Candidplatz 9 81543 München Deutschland therapie.oberlaender@posteo.de Bibliografie PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 87–90 DOI 10.1055/a-2289-6118 ISSN 1438-7026 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany thieme.de/shop und überall, wo’s E-Books gibt 90 Oberländer N. Transkulturelle Psychotherapie – Informationen, Anlaufstellen ... PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 87–90 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Dialog Books Thieme Fachbuch Fachbuch Fachbuch Kultursensitive Psychotherapie Klinische Interkulturelle Psychotherapie: Migration und Fluchterfahrung in der therapeutischen Arbeit Einführung in die interkulturelle systemische Beratung und Therapie U. von Lersner, J. I. Kizilhan; 99 Seiten; Göttingen: Hogrefe; 2017; ISBN: 9783801727550 Y. Erim; 384 Seiten; Stuttgart: Kohlhammer; 2024; ISBN: 9783170346079 T. Hegemann, C. Oestereich; 128 Seiten; Heidelberg: Carl-Auer; 2017; ISBN: 9783849701901 Das Buch zur kultursensitiven Psychothe- rapie bietet eine kompakte und dennoch umfassende Einführung in dieses wichtige Thema. Es behandelt den theoretischen Hintergrund der kultursensitiven Psycho- therapie, relevante Theorien und Model- le, Diagnostik sowie praktische Empfeh- lungen für die kultursensitive Behandlung. Hervorzuheben sind die klar strukturier- ten Theorieteile, welche durch anschauli- che Illustrationen komplexer Konzepte un- terstützt werden. Die Auflistung und Erläu- terung kultursensitiver Diagnostik sind ein wertvolles Handwerkszeug für Behandeln- de. Positiv hervorzuheben ist auch die Dar- stellung der Ausdrucksformen und Inhalte psychischer Störungen mit einem klaren Fokus auf kulturelle Unterschiede, wie sie im DSM-5 unter den kulturtypischen Stö- rungen zu finden sind. Dieser Themenbe- reich wird in der Fachliteratur häufig ver- nachlässigt. Als nützliches Instrumentari- um erweist sich der am Ende des Buches befindliche Spickzettel, der kultursensiti- ve Fragen für das Gespräch mit Patient*in- nen beinhaltet. Insgesamt ist das Buch eine wertvolle Lektüre für diejenigen, die sich mit kultursensitiver Psychotherapie und entsprechender Diagnostik beschäftigen möchten. Das Buch mit tiefenpsychologischem Schwerpunkt betont die Relevanz von Kul- tur, Werten und Selbstbildern in der Psy- chotherapie. Das Spannungsfeld zwischen therapeutischen Zielen wie Individuation und Autonomie und den kollektivistischen und kohäsiven Beziehungsstilen der eth- nischen Bezugsgruppe wird eindrucksvoll thematisiert. Ein weiterer Fokus liegt auf geschlechtsspezifischen Rollenbildern in anderen Kulturen und den damit verbun- denen Herausforderungen für Einzelperso- nen. Die Einbeziehung von Märchen als in- novatives, interkulturelles Therapieelement wird anhand der tiefenpsychologischen In- terpretation eines türkischen Märchens ver- anschaulicht. Zudem wird auf Subgruppen von Migrant*innen in Deutschland – aus der Türkei, Polen und Jugoslawien – einge- gangen und jeweils deren geschichtlicher Kontext erörtert, wobei die Folgen aus psy- chologischer Perspektive betrachtet wer- den. Die Thematisierung der Rolle der Frau als Leidtragende in politischen Krisensitua- tionen sowie der Fluchtmigration aus der Ukraine und dem Nahen Osten verleihen dem Buch eine aktuelle politische Dimen- sion. Es bietet eine umfassende und praxis- nahe Einführung in die Psychotherapie mit Menschen mit Migrationserfahrung. Dieses Buch bietet einen umfassenden Ein- blick in den interkulturellen systemischen Ansatz für lösungsorientiertes Arbeiten. Dabei werden auch die Migration innerhalb Europas und Genderaspekte berücksich- tigt. In 3 Teilen werden theoretische Grund- lagen, interkulturelle systemische Anwen- dungen und die Arbeit mit traumatisierten Menschen mit Fluchterfahrung behandelt. Die Betrachtung sozialer und kultureller Re- geln aus einer systemischen Perspektive er- weist sich im Kontext von Migrations- und Fluchterfahrungen als besonders anwend- bar. So wird aufgezeigt, dass die Rollen und Funktionen von Individuen in Systemen in Abhängigkeit von der jeweiligen Kultur va- riieren. Hervorzuheben sind die Fallbei- spiele, in denen systemische Methoden in einer nachvollziehbaren Weise dargestellt werden. Das Buch regt dazu an, etablier- te Praktiken und das eigene therapeutische Handeln zu reflektieren und zeigt entspre- chende Lösungsansätze auf. Es richtet sich sowohl an Systemiker*innen, die ihr Klien- tel erweitern möchten, als auch an Perso- nen anderer Therapierichtungen, die sich im systemischen Arbeiten bezogen auf die Themenfelder Migration und Kultur weiter- bilden möchten. Helgerth K. A. C. Dialog Books PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 91–94 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 91
Dialog Books Thieme Fachbuch Fachbuch Fachbuch Das hat ja was mit mir zu tun!? Rassismussensible Beratung und Therapie von geflüchteten Menschen Rassismusbedingter Stress in Deutschland I. Gold, E. Weinberg, D. Rohr; 170 Seiten; Heidelberg: Carl-Auer; 2021; ISBN: 9783849703790 E. Louw, K. Schwabe; 110 Seiten; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 2020; ISBN 9783525450239 D. Khoury; 125 Seiten; Berlin: Springer; 2022; ISBN: 9783658399061 Dieses Buch bietet einen umfassenden Überblick zum Thema Rassismus in Psy- chotherapie, Beratung und Supervision aus der systemischen Perspektive, welche sich in diesem Kontext als besonders hilf- reich erweist. Zu Beginn wird der theoreti- sche Hintergrund zu Diskriminierung und Rassismus dargelegt und es werden zentra- le Begriffe definiert. Hervorzuheben ist die Darstellung der Bedeutung der deutschen Kolonialzeit, was einen Einblick in die Wur- zeln des Rassismus ermöglicht. Anschlie- ßend werden macht- und rassismuskriti- sche Anforderungen sowie entsprechende Umsetzungsmöglichkeiten in der systemi- schen Behandlungspraxis diskutiert. Ein besonderes Merkmal des Buches sind die zwischen den theoretischen Kapiteln plat- zierten Interviews, die durch persönliche Einblicke und praxisnahe Perspektiven eine willkommene Auflockerung darstel- len. Das Buch liefert nicht nur Impulse für das therapeutische Handeln, sondern hat auch das Potenzial, die gesellschaftspoliti- sche Perspektive sowie das Alltagsverhalten der Leser*innen nachhaltig zu beeinflussen. Damit ist es eine wertvolle Ressource für alle, die sich mit dem Thema Rassismus in Psychotherapie und Beratung auseinander- setzen wollen. „Niemand ist gegen rassistische Vorurtei- le immun.“ Dieser prägnante Satz des Bu- ches unterstreicht die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Selbstreflexion und Sen- sibilisierung für Rassismus. Es richtet sich an weiße Fachkräfte im psychosozialen Ge- sundheitssystem und fordert sie dazu auf, sich intensiv mit eigenen rassistischen, ste- reotypen und vorurteilsbehafteten Denk- mustern auseinanderzusetzen. So soll eine rassismussensible Praxis gewährleis- tet und eine ungewollte Verstärkung von Viktimisierungsprozessen verhindert wer- den. In 8 Kapiteln erfolgt eine Darlegung der theoretischen Grundlagen von Rassis- mus und seinen Dimensionen, den Reak- tionen und Gefühlen von Betroffenen sowie der psychischen Auswirkungen von Rassis- mus. Herausforderungen und Handlungs- möglichkeiten für eine rassismussensible Therapie sowie Forderungen an das psy- chosoziale Versorgungssystem werden auf- gezeigt. Zudem werden konkrete Anregun- gen für ein rassismussensibles Verhalten in verschiedenen psychotherapeutischen Set- tings gegeben, um ein diskriminierungsfrei- es und unterstützendes Umfeld zu schaffen. Das Buch bietet eine wertvolle Grundlage für eine rassismussensible Praxis im psycho- sozialen Gesundheitssystem. Die vorliegende Masterarbeit gewährt einen umfassenden Einblick in die Alltags- realitäten in Deutschland in Bezug auf ras- sismusbedingten Stress und zeigt beste- hende gesellschaftliche Missstände auf. Obgleich die Studie aufgrund der nicht re- präsentativen Stichprobe Limitationen un- terliegt, vermag sie dennoch anhand der qualitativen Methode die Realität rassisti- scher Anfeindungen in Deutschland abzu- bilden. Zu den wesentlichen Aspekten die- ser Arbeit zählen die Dethematisierungs- tendenz von Rassismus in Deutschland sowie Marginalisierungserfahrungen, wel- che sich in den Lebensgeschichten der Be- troffenen bereits im Kindes- und Jugendal- ter, erschreckenderweise insbesondere in Bildungsinstitutionen, manifestieren. Da- rüber hinaus wird auf Ressourcen eingegan- gen, welche im Umgang mit rassistischen Erfahrungen zur Verfügung stehen können. Dadurch wird eine Darstellung der Betroffe- nen als passive oder hilflose Opfer vermie- den. Die Masterarbeit liefert eine wertvol- le Analyse rassismusbedingten Stresses in Deutschland. Damit leistet sie einen wichti- gen Beitrag zur Rassismusdebatte und ver- deutlicht die Notwendigkeit weiterer For- schung und einer vertieften Auseinander- setzung mit der Thematik. 92 Helgerth K. A. C. Dialog Books PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 91–94 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Fachbuch Fachbuch Fachbuch Diskriminierungssensible Psychotherapie und Beratung STARK: Skills-Training zur Affektregulation – ein kultursensibler Ansatz Behandlung von Schlafstörungen nach Flucht- oder Migrations- erfahrung STARS C. Schütteler, T. Slotta; 161 Seiten; Berlin: Springer; 2023; ISBN: 9783662670118 T. Koch, A. Liedl; 152 Seiten; Stuttgart: Schattauer; 2019; ISBN: 9783608400083 Die Lektüre dieses Buches ist ein Muss für alle, die sich mit dem Thema Diskriminie- rung in der Psychotherapie auseinander- setzen wollen! Gegliedert in 4 Teile werden der theoretische Hintergrund von Diskrimi- nierung, die Umsetzung einer diskriminie- rungssensiblen Praxis, praktische Übungen zur Selbstreflexion anhand von Gedanken- experimenten und Praxisbeispielen aus den Bereichen Rassismus, Sexismus, Hete- rosexismus, Cissexismus, Sizeismus, Able- ismus und Klassismus behandelt. Des Wei- teren werden originelle Übungen zur Bear- beitung von Diskriminierungserfahrungen im therapeutischen Prozess und als diskri- minierend erlebte Hindernisse in der Be- handlung vorgestellt. Hervorzuheben ist die Diskussion über Mikroaggressionen in der Psychotherapie sowie der Appell an Therapeut*innen, Diskriminierungskritik anzunehmen und sich selbst zu hinterfra- gen, anstatt Diskriminierungserfahrungen abzuwehren. Das Buch liefert wertvolle Im- pulse für eine diskriminierungssensible Ge- staltung der therapeutischen Beziehung. Es bietet einen umfassenden Überblick über soziale und gesellschaftliche Aspekte, die in der psychotherapeutischen Behandlung, insbesondere im LGBTIQA + Kontext, zu be- rücksichtigen sind. Das Skills-Training zur Affektregulation STARK zeichnet sich durch die Integration von evidenzbasierten Programmen und einem kultursensiblen Ansatz aus. So kann als zentrale Stärke des Manuals die Nut- zung des kulturellen Wissens über Werte und Traditionen der Teilnehmenden durch die Verwendung von Metaphern und Re- dewendungen sowie durch den Einbezug von Glaubensvorstellungen, wo dies an- gebracht ist, identifiziert werden. Nach einem theoretischen Überblick über Emo- tionsregulation wird die praktische Umset- zung des Manuals beschrieben. Das Grup- penkonzept umfasst 4 Module, welche sich über 15 Sitzungen erstrecken und auf die emotionale Wahrnehmung sowie spezifi- sche Emotionsregulation fokussieren. Das Manual ist detailliert und kleinschrittig be- schrieben, sodass es auch für Gruppenlei- ter*innen ohne umfangreiche Erfahrung geeignet ist. Zudem enthält das Manual zahlreiche Bilder zur Veranschaulichung der Inhalte sowie Arbeitsblätter, kreati- ve Übungen, Audiodateien und Links, die eine abwechslungsreiche und interaktive Gestaltung der Sitzungen ermöglichen. Ins- gesamt stellt das Manual ein wertvolles In- strument für die psychotherapeutische Ar- beit mit Menschen mit Fluchterfahrung dar. B. Dumser, G. Werner, T. Koch; 192 Seiten; Stuttgart: Schattauer; 2023; ISBN: 9783608401523 Das STARS-Konzept basiert auf einem inno- vativen und niedrigschwelligen Ansatz zur Behandlung von Schlafstörungen bei Men- schen mit Flucht- und Migrationserfahrung. Das Manual beginnt mit einer ausführli- chen Darstellung des theoretischen Hinter- grunds zu Schlaf, Schlafstörungen und Di- agnostik. Hervorzuheben ist der Überblick über kulturelle Unterschiede in Schlafge- wohnheiten, Mythen und der Interpretati- on von Schlafphänomenen und Träumen. Diese kulturellen Aspekte werden in den 10 Sitzungen des geschlossenen Gruppen- settings berücksichtigt. Im weiteren Verlauf des Manuals wird die praktische Durchfüh- rung von STARS detailliert beschrieben, sodass auch gruppenunerfahrene Behand- ler*innen die Therapie sicher und effektiv durchführen können. Konkrete Formulie- rungen, originelle Ideen für Einstiegs- und Feedbackrunden sowie Gruppenaktivitä- ten, welche über eine reine Inhaltsvermitt- lung hinausgehen und den kulturellen Kon- text berücksichtigen, werden vorgestellt. Zudem werden digitale Angebote für die Teilnehmenden in anderen Sprachen als Deutsch verlinkt. Insgesamt klärt STARS nicht nur über Schlafstörungen auf, son- dern öffnet auch den Blick für die kulturel- le Vielfalt im Umgang mit Schlaf. Helgerth K. A. C. Dialog Books PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 91–94 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 93
Dialog Books Thieme Literatur Literatur Autorinnen/Autoren Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan Ich bin auch Jonathan. Katharina A. C. Helgerth M. Sc. Psychologie. Studium der Psychologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seit 2023 wissenschaftliche Mitarbeite- rin am Lehrstuhl für Persönlichkeitspsychologie und Psycho- logische Diagnostik der Universität Bamberg mit den Forschungsschwerpunk- ten Gendersensible Forschung, Gender Data Gap, gendersensible Stadtplanung und Krankheitsverarbeitung in der Gynäkologie. Seit 2024 in Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin am CIP Erlangen (VT) und im psychosomatischen Konsiliar- und Liaisondienst des Klinikum Nürnberg, Paracelsus Medizinische Privatuniversität. L. Arab; 256 Seiten; München: Heyne; 2024; ISBN: 9783453218741 A. Lembo-Achtnich, J. Fischer; 240 Seiten; Lachen: Wörterseh; 2023; ISBN: 9783037633274 Ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen kann! Erzählt wird die bewegende Geschichte der Autorin, die sich in einer ambivalenten Situation zwischen 2 Kultur- kreisen mit divergierenden Wertesystemen befindet: der traditionellen türkisch-arabi- schen Kultur und der modernen deutschen Gesellschaft. Die Themen Parentifizierung und Sehnsucht nach einer unbeschwerten Kindheit, familiäre Bindung und kulturel- le Entwurzelung, Individualismus und Kol- lektivismus werden geschickt miteinander verwoben. Die Rolle der Frau im arabischen Clan sowie Migrationserfahrungen aus weiblicher Perspektive werden dargestellt. Physische und psychische Gewalt werden thematisiert. Dabei ermöglicht der sachli- che Erzählstil, tief verwurzelte Glaubens- sätze zu erkennen und zu verstehen. Wir begleiten die Protagonistin auf ihrem Weg, diese Automatismen zu hinterfragen und zu durchbrechen. Der Veränderungsprozess mit berührenden Momenten korrigierender Erfahrungen wird eindrucksvoll dargestellt. Der hart erarbeitete Spagat zwischen Tradi- tion und Selbstbestimmung und der andau- ernde Kampf um Freiheit werden spürbar. Eine Lektüre, die zum Nachdenken anregt und den Blick für gesellschaftliche Miss- stände schärft. Erzählt wird die Lebensgeschichte des Schweizer Künstlers Jonny Fischer. Zu Be- ginn werden die Kindheit und Jugend des Protagonisten und die Auswirkungen einer von extremen Ideologien geprägten Kind- heit beschrieben. Es wird dargelegt, wie das Schwarz-Weiß-Denken und die Unbere- chenbarkeit des Vaters zu psychischer und physischer Gewalt führen, als der Protago- nist beginnt, dessen Denkweise in Frage zu stellen. Die Auswirkungen einer unzurei- chenden Erfahrung bedingungsloser Liebe in der Kindheit sowie der Konflikt um die ei- gene Homosexualität werden im weiteren Verlauf des Buches thematisiert. Die uner- füllte Sehnsucht nach Liebe wird spürbar. In diesem Zusammenhang wird das Span- nungsfeld zwischen öffentlicher Anerken- nung beziehungsweise Beliebtheit und er- lebter Einsamkeit beschrieben. Hervorzu- heben sind die Interviewausschnitte, die Textpassagen aus Sprachnachrichten und Briefen sowie die Fotos, die der Geschich- te eine lebendige und authentische Note verleihen. Das Buch zeigt die Möglichkeiten und Grenzen des Einflusses einer extremen Ideologie und eines autoritären Erziehungs- stils auf familiäre Beziehungen auf. Insge- samt bietet das Buch eine detaillierte und tiefgründige Lektüre. 94 Helgerth K. A. C. Dialog Books PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 91–94 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Resümee Transkulturelle Psychotherapie Konnotationen sind wichtig – und auch das, was ausgelassen wird Vor drei Jahren, als wir mit der Planung dieses Themenheftes begannen, wählte das He- rausgeberteam den Begriff „interkulturelle Psychotherapie“ als Titel. Im Prozess der Zu- sammensetzung der Beiträge wurde uns jedoch bewusst, dass dieser Begriff nicht das ausdrückt, was wir mit dem Themenheft intendieren. Wie Eva Heim und Ulrike von Lersner darstellen, verwiese der Begriff „interkulturell“ eher auf die Kommunikation zwischen Angehörigen unterschiedlicher kultureller Zugehörig- keiten und ist mit der Vorstellung klar abgegrenzter kultureller Grenzen verbunden. Diese Konnotation entspräche jedoch nicht dem Anliegen unseres Themenheftes. Daher verwenden die Beiträge präzisere Begriffe wie transkulturell, multikulturell oder diskri- minierungssensitiv bzw. machen die Konnotationen der Begriffe, die in der Debatte um Diversität und Psychotherapie genutzt werden, sichtbar. Nichtsdestotrotz ist „interkul- turell“ nach wie vor ein gängiger, umgangssprachlicher Begriff, den viele Menschen in der Absicht der Inklusion verwenden. Die Hauptaussagen der Beiträge sind klar, der Kern einer transkulturellen Psychotherapie kreist nicht um Begriffsklauberei, sondern um die Absicht, mit bestem Wissen und Gewissen im Psychotherapieprozess eine gemeinsame Sprache zu finden. Ganz im Sinne der aktuellen Diskussion um „Wokeness“ lässt sich mit kulturellen Kon- notationen, je nach Perspektive, sensibilisieren, spielen und auch provozieren. Wie bei dem Plakat mit dem Satz „Herzlich Willkommen in unserem wunderschönen Platten- bau!“, das nicht abgehängt werden konnte, weil es vermeintlich nur das ausspricht, was öffentlich gedacht werden darf. Auch wenn wir darüber schmunzeln mögen – es bleibt ein berechtigtes Spiel, jedoch eines mit dem Feuer. Die Ernsthaftigkeit des Spiels mit Konnotationen wurde uns insbesondere im Gespräch mit Autor*innen aus autokrati- schen Ländern bewusst, für die unvorsichtige Äußerungen zur aktuellen Lage riskant sein können. Manchmal sind Auslassungen ein wichtiger Selbstschutz. Das Themenheft wirft uns auf unsere kulturellen Schattenseiten zurück. In Deutschland über den Umgang mit kultureller Diversität zu sprechen, ist ein schmerzhaftes Thema. Auch wenn Holocaust und Nationalsozialismus im Themenheft meist nicht explizit an- gesprochen werden, fließen sie in dessen Kontext ein. Holocaust und Nationalsozialis- mus vor nur 80 Jahren – weniger lange her als wir dies möglicherweise gerne denken würden – bleiben eine Wunde und ein Trauma, das beim Lesen dieses Themenheftes möglicherweise bei Ihnen eine ganz persönliche Erfahrungskomponente mitklingen lässt. Diese persönlichen Erfahrungskomponenten können beispielsweise mit familiä- rem und kulturellem Schmerz, Scham und Ratlosigkeit verbunden sein. Gleichzeitig blei- ben Rassismus, Antisemitismus und radikale Menschenverachtung aktueller, als es uns lieb ist. The signs are good! Die Psychologie bewegt sich im Spannungsfeld zwischen der Möglichkeit, allgemein- gültige Aussagen zu formulieren (Allgemeine Psychologie), und dem Bestreben, indivi- duelle Fälle tiefgehend zu verstehen (Differenzielle Psychologie). Die Mehrheit der Psy- PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 95
Resümee chotherapieforschung wird in sogenannten WEIRD-Gesellschaften durchgeführt, die westlich, gebildet (educated), industrialisiert, reich und demokratisch sind. Insbeson- dere hat die nordamerikanische Forschung einen starken Einfluss auf die moderne Psy- chotherapie. So werden beispielsweise über 80 % der Studien zur therapeutischen Alli- anz in den USA durchgeführt [1]. Auch wenn es sinnvoll ist, Psychotherapie als eine globale Disziplin zu betrachten, spie- len länderspezifische Regulierungen eine zentrale Rolle bei der konkreten Ausgestaltung der Psychotherapie. Das vorliegende Themenheft sensibilisiert für kulturelle Aspekte in der Psychotherapie und bietet konkrete Vorschläge für deren therapeutische Umset- zung. Die Beiträge von Eva Heim, Ulrike von Lersner, Jessie Mmari, Ilja Gold, Berrin Özlem Otyakmaz, Jan Ilhan Kizilhan und Claudia Klett bieten einen umfassenden Überblick über die Vielschichtigkeit des Themas. Sie betonen Kernkonzepte der Psychotherapie, ins- besondere das über Sprache und Gespräche vermittelte gemeinsame Verständnis zwi- schen Patient*in und Therapeut*in. Kultursensitive Psychotherapie erfordert einen Pro- zess der Verständigung, um im Gespräch eine gemeinsame Sprache und ein damit ver- bundenes Verständnis der Lebenswelt der Patient*innen zu erreichen. Diese grundlegenden Annahmen über Veränderung sind in der humanistischen Tradition der Psychotherapie besonders prägnant herausgearbeitet worden. Die vorliegenden Beiträge heben sowohl kultursensitive als auch diskriminierungssen- sible Haltungen hervor, wie sie etwa von Birsen Kahraman und Özgür Tamcan dargestellt werden. Gleichzeitig bieten die vorgelegten Beiträge konkrete therapeutische Ansatz- punkte für die Gestaltung unserer Therapien. Dies beginnt mit einer differenzierten Anamnese und Diagnostik, die soziokulturelle Aspekte einbeziehen und in spezifischen Therapieansätzen integrieren, wie besonders in den Arbeiten von Christina Hunger- Schoppe, Chawwah Yael Grünberg, Rilana Stöckli, Monia Aebersold, Jan Schürmann- Vengels, Frank Neuner und Sarah Wilker, Mike Mösko sowie Eva Klein und Koautor*in- nen deutlich wird. Es bleibt unsere Verantwortung, sich für die mentale Gesundheit aller einzusetzen, wie Brakemeier und Stapel betonen. Gleichzeitig sollten wir eine sorgfältig selbstkritische Haltung einnehmen, wie der Beitrag „Über den Tellerrand“ von Kerstin Weidner ein- drücklich verdeutlicht. Wie das Beispiel von Jonny Fischer eindrucksvoll zeigt: Transkul- turelle Begegnungen ermöglichen eine Auseinandersetzung und Weiterentwicklung der eigenen Identität! Christoph Flückiger, Barbara Stein Literatur [1] Flückiger C, Del Re AC, Ampold BE, Horvath AO. The alliance in adult psychotherapy: A meta-analytic synthesis. Psychotherapy 2018; 55(4): 316–340 96 96 PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Ein Fall – Verschiedene Perspektiven Thieme Fallbericht Obdachlosigkeit und Inobhutnahme Zurück in die Normalität – was heißt das eigentlich? Eine Familie sucht den Weg zurück in die „Normalität“: Die Eltern, Frau B. (35 Jahre) und Herr D. (42 Jahre) waren die letzten 3 Jahre obdachlos. Die bei- den großen Töchter Emma (12) und Mia (4) wurden vom Jugendamt in Obhut genommen. Nach der Geburt ihres 3. Kindes Leon (1) gelingt der Klientin aus einer Mutter-Kind-Einrichtung der Sprung in eine eigene Wohnung. Die Mutter wünscht sich, wieder als ge- samte Familie mit ihrem Partner und allen Kindern zusammenzuleben. Anlass der Therapie Um dieses Ziel des gemeinsamen Zusam- menlebens erreichen zu können, wurde der Mutter eine Aufsuchende Familienthe- rapie (AFT) als Hilfeform durch das Jugend- amt angeboten. Der Auftrag des Jugend- amtes ist, Muster, gegenseitige Erwartun- gen, biografische Anteile und mögliche Überforderungssituationen herauszukris- tallisieren und zu bearbeiten. Weiteres Ziel ist die Rückführung der großen Tochter. Lebensgeschicht- liche Entwicklung, soziodemografische Angaben und Paargeschichte Frau B. stammt aus einer Familie mit 3 Kin- dern, sie ist das älteste Kind. Sie absolvierte die Schule mit einem Hauptschulabschluss und beendete erfolgreich eine Lehre als Kö- chin. Sie beschreibt, dass es in ihrer Kindheit an nichts gemangelt habe. Sie könne sich an nichts Negatives erinnern. Die Eltern seien stets für sie da gewesen und es habe keine negativen Erlebnisse gegeben. Das Jugend- amt vermutet jedoch traumatische Erleb- nisse in der Vergangenheit: In der Mutter- Kind-Einrichtung brach Frau B. in Tränen aus, als ihr Fragen zu ihrer Kindheit gestellt wurden – sie sagte aber nicht, was sie zum Weinen brachte. Über die Biografie des Vaters ihrer Kinder will Frau B. keine Angaben machen. Das solle er selbst erzählen. Es wirkt aufgrund der Erzählweise so, als sei Herr D. wegen Er- lebnissen in seiner Kindheit auf die „schiefe Bahn“ (Drogenkonsum, Diebstähle) gera- ten. Da er aktuell aufgrund einer Inhaftie- rung nicht an den Gesprächen teilnehmen kann, ist uns von seiner Kindheit und sei- nem Aufwachsen nichts Konkretes be- kannt. Das Paar hat sich vor 15 Jahren kennenge- lernt. Sie könne sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen und das beruhe auf Gegen- seitigkeit. Er ist der Vater von allen 3 Kin- dern. Zum Zeitpunkt des Kennlernens habe er Drogen konsumiert. Sie habe ihm dabei geholfen, clean zu werden. Ihren Eltern habe sie von seiner Sucht und den damit verbundenen Diebstählen nichts erzählt, da diese ihren Partner sonst noch mehr abge- lehnt hätten. Frau B. war stets berufstätig – zuletzt im Be- reich der Reinigung. Ihr ist es sehr wichtig, arbeiten zu gehen und für den eigenen Le- bensunterhalt aufzukommen. Dies möch- te sie auch ihren Kindern vorleben. Sie sei seit Ende von Schulzeit und Lehre stets bei unterschiedlichen Arbeitgebern tätig ge- wesen. Herr D. wäre auch viel arbeiten ge- wesen. Ihr war es stets wichtig, dass er sich eine neue Arbeit sucht, wenn er seine alte verloren hatte. Bei der 2. Tochter habe er die Elternzeit übernommen. Wohnsituation und Entwicklung der Problemlage Die Klientin berichtet, dass ihr Partner immer wieder von den Altlasten seiner Dro- genzeit eingeholt werde. Er habe noch viele Jahre, nachdem er clean war, wegen seiner Taten vor Gericht gestanden. Auch aktuell würde ihm schnell unterstellt, dass er kri- minell sei. Da er den Behörden bekannt sei, werde er schneller schuldig gesprochen. Die Klientin beschreibt, dass sie finanziell stets gut klargekommen seien. Erstmalig hätten sie 2019 ihre Wohnung verloren, da sein Arbeitgeber den Lohn aufgrund von In- solvenz nicht ausgezahlt habe. Sie hätten nicht genug Geld für die Miete gehabt und das Jobcenter habe den Antrag nicht bear- beitet, da bereits eingereichte Unterlagen gefehlt hätten und sich eine Bearbeitung damit verzögert habe. (Anmerkung der Au- torin: Das passiert tatsächlich häufiger und ist keine Seltenheit.) Über die Wohnungslosenhilfe hätten sie 2019 zeitnah eine Gewährleistungswoh- nung erhalten. Frau B. schildert, dass kurz darauf beide Kinder an Krätze gelitten hät- ten. Das Jugendamt habe sehr schnell rea- giert, obwohl sie sich als Mutter um die Ge- sundheit der Töchter gekümmert habe, und hätte beide Kinder aus der Familie genom- men. Als Begründung des Jugendamtes sei die fehlende Mitwirkungsbereitschaft der Eltern genannt worden. Da die Eltern der Herausnahme der Kinder nicht zustimm- ten, wurde über das Familiengericht der Fall auf Überprüfung der elterlichen Sorge erör- tert und dabei entschieden, dass die elter- liche Sorge für die beiden Töchter auf eine Vormündin übertragen wird. Obdachlosigkeit Als Folge der Inobhutnahme habe die Fami- lie die Gewährleistungswohnung verloren. Herr D. und Frau B. lebten ab da für 3 Jahre auf der Straße. Sie wohnten in einem selbst gebauten Verschlag unter einer Brücke. Zum Duschen und Wäsche waschen sei Frau B. zu ihren Eltern gegangen. Während die- ser Zeit sei die Klientin lange Zeit weiterhin arbeiten gegangen und habe versucht, die Obdachlosigkeit zu verheimlichen. Sie habe den Kontakt zu ihrer Familie gehalten und habe ihre Kinder regelmäßig in der Wohn- gemeinschaft in einer nahen Stadt besucht. Frau B. wünschte sich, dass beide Kinder in eine Einrichtung in ihrere Heimatstadt kommen, um die Umgänge besser wahr- nehmen zu können. Da die mittlere Tochter als recht verhaltensauffällig wahrgenom- men wurde, wurde diese dann jedoch bei einer Pflegefamilie in der Heimatstadt un- tergebracht, wo sie bis heute lebt. Die an- dere Tochter lebt seither in einer Wohnge- meinschaft in der selben Stadt. Als sie mit dem 3. Kind schwanger war, habe sie erneut eine Gewährleistungswoh- nung erhalten. Sie erzählt, dass ihr Partner die Wohnung per Auflage des Sozialamtes nicht habe betreten dürfen. Sie sei daher mehr bei ihm auf der Straße als in der Woh- PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 97–100 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 97
Ein Fall – Verschiedene Perspektiven Thieme fen hätte. Trotz heftigen Streits berichtet sie von keinerlei körperlicher Verletzung. Frau B. wirkt im Kontakt ruhig und sach- lich. Emotionen beschreibt sie mehr, als dass man diese direkt erlebt oder spürt. Es scheint so, als wolle sie gerne alle davon überzeugen, dass sie stabil ist. Das ist mit Blick auf ihren Wunsch nach einer gesam- ten Familie nachvollziehbar. Gleichzeitig wirkt es, als würde sie Themen – z. B. die wiederholten Verhaftungen ihres Part- ners – ausblenden oder nicht sehen wollen. Die Partnerschaft scheint im Leben von Frau B. einen sehr hohen Stellenwert zu haben. Diagnostisch liegen für Frau B. keine In- formationen vor, da sie sich bisher in kei- ner psychiatrischen oder psychotherapeu- tischen Behandlung befand. Durch das Jugendamt sind 26 Sitzungen AFT geneh- migt. Die AFT-Gespräche finden aktuell überwiegend mit der Klientin Frau B. statt; es gab auch einen Termin mit der großen Tochter Emma. Aktuell ist die Überlegung, die Gespräche fortzusetzen, wenn der Part- ner aus der Haft entlassen ist – da hier Dy- namiken vermutet werden, die aktuell nicht sichtbar sind. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Autorinnen/Autoren Kristin Georgius Dipl. Sozialpädagogin; systemische Familienthera- peutin (DGSF); seit 2018 Triade GbR – Bera- tungsstelle für Gewaltaus- übende in engen sozialen Beziehungen sowie Aufsuchende Familienthera- pie. nung gewesen. Nach der Geburt ihres Soh- nes habe sie die Chance genutzt und sei in eine Mutter-Kind-Einrichtung gezogen. Sie schildert, dass sie sich innerhalb kürzester Zeit sehr viel aufgebaut habe. Von Mitarbei- tenden der Einrichtung sei sie als fürsorgli- che, umsichtige Mutter erlebt worden. Be- hördengänge und Arztbesuche habe sie selbstverständlich wahrgenommen. Ein Rückschlag sei, berichtet Frau B., dass ihr Partner kurz nach der Geburt des Soh- nes, während sie bereits in der Mutter- Kind-Einrichtung war, in Haft gekommen sei. Sie nimmt ihn in Schutz und gibt als Erklärung an, dass noch ein Verfahren an- hängig wäre, in dem er jedoch nicht schul- dig sei. Aktuelle Situation Im Sommer 2024 hat Frau B. mit ihrem Sohn eine eigene Wohnung bezogen. Der Partner soll nachkommen, sobald die Haft- strafe beendet ist. Der Haft-Entlassungster- min ist unsicher, da er sich aufgrund wei- terer Verfahren immer wieder verschiebt. Die ältere Tochter hat regelmäßig, mehr- fach die Woche, Umgang mit ihrer Mutter und darf bei dieser seit Herbst auch 1 Mal wöchentlich übernachten. Wir erleben sie als ruhig und interessiert – sie will gerne wieder bei der Mutter wohnen. Zwischen der jüngeren Tochter und Frau B. gibt es kaum Kontakt. Sie wird als verhal- tensauffällig beschrieben. Es gibt die Idee, beim Jugendamt und der Vormündin, dass sie in ihrem Umfeld weiter ankommen und Stabilität erleben muss. Einschätzung des AFT-Teams Die Mutter ist klar, reflektiert und steht mit beiden Beinen im Leben. Sie kann sich selbst nicht erklären, wie es so weit kom- men konnte. Prinzipiell ist sie gut organi- siert und hat Termine im Blick. Die Heraus- nahme der Kinder hat sie tief getroffen, sie sei in ein Loch gefallen und wütend gewe- sen. Diese Wut habe sie auch an ihrem Part- ner ausgelassen. Laut ihrem Bericht haben elterliche Auseinandersetzungen einmalig zu einem Polizeieinsatz geführt, da sie die Sachen ihres Partners vom Balkon gewor- Kommentare Verhaltenstherapeutische Perspektive Der Fallbericht beschreibt eine hochbelas- tete Familie, bei der sowohl die Eltern als auch die Kinder umfassende Unterstützung benötigen. Die Herausnahme eines Kin- des aus dem familiären Umfeld ist ein ein- schneidendes, wenn nicht traumatisches Erlebnis. Es erscheint mir wesentlich, die Familie so weit zu stabilisieren, dass eine Herausnahme des jüngsten Kindes vermie- den werden kann. Die mögliche Rückfüh- rung der älteren Tochter gilt es engmaschig zu begleiten, um Kontinuität und zukünf- tige Bindungssicherheit zu gewährleisten. Die Mutter zeigt trotz erheblicher Belastun- gen beachtliche Ressourcen. Sie hat ihren Hauptschulabschluss und eine Ausbildung abgeschlossen, war stets berufstätig und hat es zuletzt ohne Zutun ihres Partners ge- schafft, wieder in eine eigene Wohnung zu ziehen. Die regelmäßig wahrgenommenen Besuchskontakte zu ihren Töchtern und der erwirkte Umzug dieser in ihre Nähe zeigen, dass sie sich für ihre Kinder einsetzt. Thera- peutisch sollte das Engagement der Mutter gestärkt und ihre Fähigkeit, externe Unter- stützung anzunehmen, gefördert werden. Gleichzeitig zeigt die Mutter ein starkes Be- dürfnis, den „Schein“ zu wahren. Dies wird u. a. dadurch deutlich, dass sie die Proble- me ihres Partners von Beginn an zu ver- schleiern versuchte. An dieser Stelle gilt es eine vertrauensvolle therapeutische Bezie- hung aufzubauen, die es der Mutter ermög- licht, sich mit ihren Schwächen und Proble- men auseinanderzusetzen. Die wenigen Informationen zur Partner- schaft deuten auf eine emotionale Abhän- gigkeit und destruktive Dynamiken hin. Die Mutter scheint sich schwerzutun, ihre Kinder und sich selbst vor den negativen Einflüssen ihres Partners zu schützen. Die Erziehungs- kompetenz des Partners, seine Rolle bei der Entwicklung der Verhaltensauffälligkeiten der jüngeren Tochter und die Umstände, die zur Inobhutnahme führten, werfen viele Fragen auf. Hier bedarf es einer intensiven therapeu- tischen Begleitung und klarer Rahmenbedin- gungen, falls der Partner nach seiner Haftent- lassung in die Familie zurückkehrt. 98 PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 97–100 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Die komplexe Familiensituation erfordert differenzierte und langfristige Interventio- nen. Die Unterstützung sollte flexibel an die Bedürfnisse der Familie angepasst werden, um nachhaltige Verbesserungen für die ge- samte Familie zu erreichen. Wie würde ich vorgehen? ▪ Diagnostische Abklärung: Belastungen der Mutter und Bedürfnisse der Kinder erfassen ▪ Verhaltensbeobachtungen der Eltern- Kind-Interaktion: Stärken und Schwä- chen im Beziehungs- und Erziehungs- verhalten identifizieren ▪ Stärkung der Erziehungskompetenz: Spiel- und Elterntraining zur Stärkung der Eltern-Kind-Beziehung ▪ Förderung der Selbstfürsorge: Unter- stützung bei Stressbewältigung und Autonomie der Mutter, um ihre Resi- lienz zu stärken ▪ Intensive Unterstützung in Übergangs- phasen: Begleitung der Rückführung der älteren Tochter und Vorbereitung der Rückkehr des Partners ▪ Nach der Haftentlassung des Partners: engmaschige Begleitung und Unter- stützung bei der Gestaltung einer kon- struktiven Partner- und Eltern-Kind- Dynamik Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Autorinnen/Autoren Ann-Katrin Job Dr. rer. nat., M. Sc. Psychologie, ist Psycho- logische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie) mit Zusatzweiterbildung für Kinder- und Jugendlichen- psychotherapie und Paartherapeutin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Fachbereichs Klinische Psychologie II an der Universität Kassel und stellvertretende Leiterin der Praxis Ehrenberg und Kollegen in Wolfsburg. Außerdem ist sie als Dozentin an diversen Ausbildungsinstituten tätig. Systemische Gedanken Erste Ideen Die Vielzahl vorhandener Ressourcen und Leistungen ist auffallend, insbesondere von Frau B. Es ist ihr gelungen, die Obdachlo- sigkeit zu überwinden und im Anschluss an die Unterbringung in der Mutter/Vater- Kind-Einrichtung mit Sohn Leon eine eige- ne Wohnung zu beziehen. Aus den biografi- schen Angaben lassen sich Ressourcen und Werte wie familiärer Zusammenhalt, Für- sorgefähigkeit, Zuverlässigkeit und Durch- haltevermögen ableiten. Im Kontrast dazu stehen Beobachtungen, die auf massive Belastungen im System hin- weisen: 1. Es ist bereits zu mehreren tiefgreifen- den Krisen gekommen. 2. Es wird ein unbearbeitetes Muster des Schweigens auf der Elternebene deut- lich, das offenbar in Konfliktsituationen aktiviert wird. 3. Die Rolles des Vaters bleibt diffus, wäh- rend die Mutter sehr präsent erscheint. Es fehlen Informationen dazu, wie die Verhaltensweisen der Eltern wech- selseitig ineinandergreifen, und auch über die Kinder und ihre Sichtweisen ist wenig bekannt. Weiterführende Fragen Es erscheint lohnend, die erwähnte Suche der Familie nach einer Rückkehr in die „Norma- lität“ aufzugreifen: Welche Bilder von „Nor- malität“ haben die einzelnen Familienmit- glieder verinnerlicht? Wie stellen sie sich ihre Zukunft vor? Und darauf aufbauend: Welche Handlungsschritte sind hieraus abzuleiten? Was muss passieren, bis Tochter Emma zu- rückgeführt werden kann? Wie verhält es sich mit Tochter Mia? Wie sind Verantwortlichkei- ten im Familiensystem verteilt? Welche Mus- ter haben bislang zuverlässig zum Scheitern, welche zum Erfolg geführt? Denkrichtungen Offenbar liegt eine Dissonanz zwischen An- spruch und tatsächlichem Handeln vor: Was begünstigt diese Dissonanz? Was hindert Frau B. an der Auseinandersetzung mit be- stimmten Themen? Belastungssituationen bringen das System auffällig stark ins Wanken: Welche Bedeu- tung haben Konflikte im Familiensystem? Dürfen Belastungen kommuniziert wer- den und welche Rolle spielt Scham in die- sem Zusammenhang? Assoziationen Im vorliegenden Fall bietet sich meines Er- achtens eine Verknüpfung von Ressourcen- arbeit und Genogrammarbeit an, um die bereits erreichten Meilensteine zu würdi- gen und parallel einen tieferen Einblick in die Strukturen des Familiensystems und die Herkunftssysteme zu erhalten. Die Handlungsmuster der Eltern deuten auf Ambivalenzen und geringe Handlungs- spielräume in Konflikten hin – eine geziel- te Perspektiverweiterung, z. B. über Tetra- lemma-Arbeit, könnte sich hier anbieten. Im weiteren Verlauf auch Reframings und Verschlimmerungsfragen (Was müssen Sie tun, damit die Rückführung nicht gelingt?). Das Reflecting Team als Kernmethode der AFT kann ebenso zur Anregung neuer Per- spektiven beitragen. Um zu verstehen, wie sich die Beziehungs- und Kommunikationsmuster zwischen den Eltern sowie zwischen den Eltern und ihren Kindern darstellen, sollten Herr D. und die Tochter Mia miteinbezogen werden. So kann das gesamte System in der direkten Kommu- nikation miteinander beobachtet werden. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Autorinnen/Autoren Laura Stach M. A., Erziehungswissen- schaft; Systemische Therapeutin (DGSF); Doktorandin an der Technischen Universität Dortmund mit einer qualitativ-rekonstruktiven Studie zur systemischen Haltung; Lehrbeauftragte für Systemische Soziale Arbeit; Mitarbeit an den DGSF-Qualitäts- kriterien zur Praxis aufsuchender systemisch-orientierter Erziehungshilfen in Familien (AFT, SPFH). PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 97–100 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 99
Ein Fall – Verschiedene Perspektiven Thieme Tiefenpsychologischer Ansatz Erste Ideen und Assoziationen Die Fallgeschichte liest sich dramatisch, löst starke Gefühle aus, aber die Akteure ver- bergen sich. Psychisches Leiden drückt sich auf der handlungsdialogischen Ebene aus, wird ganz auf die quälenden äußeren Ereig- nisse projiziert. Das weist diagnostisch auf mehr strukturelle als neurotische Probleme hin. Einen psychotherapeutischen Auftrag erteilt nicht Frau B., sondern das Jugend- amt. Die Familie wird – vermutlich schon bei Familiengründung mit Anfang 20 – als sicherer Ort wie die Herkunftsfamilie ideali- siert und nach außen abgeschottet. Haben sich mit Inobhutnahme der Kinder und mit Trennung der Geschwister transgeneratio- nal die Traumata der Eltern reinszeniert? Hätte es Alternativen gegeben, ohne neue Verlusterfahrungen in die Kinderseelen einzuschreiben? Im Bericht wird die feh- lende Mitwirkungsbereitschaft der Eltern genannt. Dem steht der Druck im Bericht entgegen, sich mit Frau B. als kompetenter Mutter zu identifizieren und die Eltern als Opfer mächtiger Instanzen zu betrachten. Realisiert sich unbewusst stets neu und kul- minierend im „Leben auf der Straße“ eine frühe Mangelerfahrung – alleine in einer kalten, feindlichen Welt? Auf frühe struk- turelle Verletzungen verweist auch die Ab- wehr der Spaltung in Opfer und Täter, der Verleugnung und Affektisolierung. Sind hier triangulierende Beziehungsangebo- te für die Kinder möglich? Frau B. scheint mit dem delinquenten Vater kollusiv ver- strickt, kann sich „ein Leben ohne ihn nicht vorstellen“; lebt selbst schwanger noch lie- ber bei ihm auf der Straße. Weshalb durfte der Vater ihre Wohnung nicht betreten? Die Antwortfantasien sind dunkel. Weiterführende Fragen und Denkrichtungen Bei der Frage einer möglichen Rückfüh- rung der Kinder müsste es zentral um die Kinder gehen. Wieso erfahren wir so wenig über sie? Emma sei ruhig und interessiert, sie wolle zurück zur Mutter. Wie sehen ihre psychische Verfassung, Entwicklung, Schul- laufbahn und soziale Einbindung aus? Als Kindertherapeutin möchte ich sie ken- nenlernen und im Kontakt mit der Mut- ter erleben. Ebenso Mia: Die 4-jährige wird unter „die beiden großen Töchter“ subsu- miert – zu wenig Raum für sie? Welche Ver- haltensauffälligkeiten zeigt sie (bei Inob- hutnahme 1 Jahr alt) – womöglich eine Bindungsstörung? Wie ein Wink des Unbe- wussten scheint die Platzierung der Infor- mation zur Elternzeit im Text, direkt nach- dem Frau B. über die Wichtigkeit von Ar- beit für den Vater spricht. Hat sie ihm Mia als Job überlassen? Sollte sie ihn stabilisie- ren? Auch Frau B. fand erst schwanger mit Leon wieder Kraft, vermutlich in der neuen Hoffnung auf Familie? Werden die Kinder von den Eltern gebraucht oder dürfen sie die Eltern brauchen, um in ihren Bedürf- nissen abseits von Arztbesuchen gesehen zu werden? Erst nach der Haftentlassung des Vaters mit der Familie weiterzuarbeiten, ließe wichtige Zeit verstreichen, in der die Kinder in einem sicheren psychotherapeutischen Raum ihre Geschichte verarbeiten und korrigierende emotionale Erfahrungen machen können; wo auch immer sie in Zukunft leben. Wenn eine eigene Behandlung zu viel Angst aus- löst, können in der Elternarbeit mentali- sierungsfördernd neue Perspektiven erar- beitet werden; denn wie soll sich etwas än- dern, solange Frau B. nicht versteht, „wie es so weit kommen konnte“? Sie braucht Mut, um der Frage zu begegnen, und für sich und die Familie echte Obhut, in der epistemi- sches Vertrauen wachsen kann. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Autorinnen/Autoren Lucia Steinmetzer M. A., Kinder- und Jugend- lichenpsychotherapeutin; Dozentin und Supervisorin; Magisterstudium der Pädagogik, Psychologie, Kinder- und Jugendpsy- chiatrie an der Ludwig-Maxi- milians-Universität München; Ausbildung zur analytischen und tiefenpsychologisch fundierten Kinder- und Jugendlichen- psychotherapeutin an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie München e. V.; seit 2013 Niederlassung in eigener Praxis in München; seit 2017 Lei- tung der psychotherapeutischen Ambulanz für Kinder, Jugendliche, Eltern und Familien der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie München. 100 PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 97–100 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
EINPRÄGSAM. ÜBERSICHTLICH. KONKRET. Psychopathologie – ein weites Feld: Mit diesem Lehr- und Handbuch arbeiten Sie sich systematisch in die moderne Psychopathologie ein und lernen psycho- pathologische Gespräche und Untersuchungen erfolg- reich durchzuführen. • Von A wie Affektivität bis Z wie Zwang: Das ABC-System führt Sie schnell zur gewünschten Information und liefert eine einprägsame Übersicht über Symptome und psychische Bereiche. • Konkret, ohne sich im Detail zu verlieren: Mit einer sorgsam gewählten Inhaltstiefe und über 230 Fallbeispielen unterstützt Sie dieser Titel beim Lernen, gezielten Nachschlagen und in der Untersuchungssituation. Buch + Online-Version in der eRef ISBN 978 3 13 245352 4 shop.thieme.de r e t i e r r e b O d v a D © b b A i . 9 9 4 3 A R H , t r a g t t u t S r e t s i g e r s l e d n a H d n u - z t i S , G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . t e n h c e r e b r e t i e w n e t s o k d n a s r e V n e d n e l l i a f n a e d n e d r e w ] D l [ b a h r e ß u a n e g n u r e f e i L i e B . n e t l a h e b r o v r e m ü t r r I d n u n e g n u r e d n ä s i e r P
Sehenswert Thieme All of us Strangers Einsamkeit und Verlust als Blutsauger Was dem Regisseur Andrew Haigh 2023 mit All of us Strangers gelingt, ist ein filmisches Wunder. Wunder (wie auch die Liebe) lassen sich bekanntlich nicht analysieren. Insofern droht auch eine Filmbesprechung das, was den Film zu einem so besonderen Erlebnis macht, zu verfehlen oder zu verstellen. Das filmische Wunder besteht darin, dass hier aus den verschiedenen Bestandtei- len – das vielschichtige und einfühlsame Narrativ, die komplexe Figurenzeichnung, Set-Design, der Einsatz von Musik oder filmischen Einstellungen und das Schau- spiel, das an sich bereits ein „Teilwunder“ ist – etwas entsteht, das sich nicht aus der Wirkung seiner Einzelteile allein erklären lässt, und uns zeigt, was das Medium Film an emotionaler Wirkung zu entfalten ver- mag. All of us Strangers erzählt – vor dem losen Hintergrund einer Romanvorlage von Yai- chi Tamada aus dem Jahr 1987 – von Adam (Andrew Scott), einem etwa 40-jährigen Drehbuchautor, der in London in einem weitgehend noch leerstehenden Neubau- Hochhaus lebt. Er begegnet seinem Nach- barn Harry (Paul Mescal), der eines Nachts mit den Worten „There’s vampires at my door“ vor seiner Tür steht, von Adam aber abgewiesen wird. Wenig später beginnen Adam und Harry eine Liebesbeziehung. Verwoben damit ist Adams Auseinander- setzung mit seinen Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, als er 12 Jahre alt gewesen ist. Adam begibt sich zum Haus seiner Eltern und führt im Ambiente der späten 1980er-Jahre Unter- haltungen mit seinen Eltern (die etwa so alt sind wie er). Hier sind Zeitebenen mit- einander verwoben: Seine Eltern leben in der Zeit von damals, vor ihrem Tod, Adam kommt als Erwachsener der heutigen Zeit zu ihnen und wird auch als solcher wahrge- nommen. Er erzählt von seiner Arbeit und seiner Homosexualität, seine Eltern stellen ihm Fragen zu seinem Leben, wie es ohne sie weitergegangen ist. Gemeinsam stellen sie auch Reflexionen über Adams Kindheit und seine Unsicherheiten an. Indem Adam seinen Eltern schließlich davon berichtet, wie sie gestorben sind, gelingt ihm der Ab- schluss eines Trauerprozesses. Schließlich findet Adam Harry tot in dessen Apartment auf. Es bleibt offen, ob die gezeigte Liebes- beziehung real gewesen ist. Adam führt einen (inneren?) Dialog mit Harry, der ihn fragt, warum er ihn in dieser ersten Nacht nicht hineingebeten habe. Der Film endet mit einem intimen Moment zwischen bei- den: Adam hält Harry in den Armen und zi- tiert die Textzeile „I’ll keep the vampires from your door“ aus The Power of Love. Der Film erlaubt verschiedene Betrach- tungsweisen, die hier auch nicht vereindeu- tigt oder aufgelöst werden sollen. Es ist ein Film über eine (schwule) Liebesgeschichte und über die Unsicherheiten einer homo- sexuellen Identität als Kind/Jugendlicher, insbesondere in den 1980er-Jahren – über das Gefühl, sich fremd zu fühlen, und das nicht nur angesichts der sexuellen Emp- findungen. Es ist auch ein Film über Ver- lust und Trauer, in Adams Fall der Verlust seiner Eltern, aber zugleich auch die Frage verpasster Chancen der Intimität und Nähe. Es ist dabei auch ein Film über die Begeg- nung, wie der Titel sagt: Wir sind alle Frem- de, aber darin sind wir auch ein „all of us“. Vielleicht lässt sich eine Fremdheit nicht überwinden oder aus der Welt schaffen, aber sie lässt sich teilen. Das Wunder von All of us Strangers besteht auch darin, dass Haigh solche potenziell kit- schigen Themen und Szenen (die Zentrie- rung um einen Titelsong, der „The Power of Love“ heißt! Credits, die über zwei Männer hinweglaufen, die deren Bild inniger Nähe sich am Ende in den Weiten des Sternen- himmels verflüchtigt) auf eine Weise zeigt, die uns tiefgehend verändert zurücklässt. Prof. Timo Storck, Berlin HILFE, DIE WIRKT. Gemeinsam unterstützen wir Kinder und Familien in Not. Anzeige sos-kinderdoerfer.de 102 PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 102–102 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 1 / 4 2 0 2
Backflash Quelle: Hans-Ulrich Wilms Eine besondere Erfahrung… 2021 – keine einfache Zeit fürs Reisen. Überhaupt keine einfache Zeit für eine Reise nach Äthiopien: Im Norden ist Krieg und im Süden leiden die Menschen darunter, dass die Touristen ausblei- ben. Nicht nur wegen der Pandemie. Nach einiger Aufregung mit dem Visum, das wenige Tage vor Ab- flug eine persönliche Vorsprache in der Botschaft in Berlin nötig machte, sitzen wir schließlich im Flugzeug. Früh morgens können wir dann im regennassen Addis Abeba unseren Freund in die Arme schließen. Welche eine Freude! Es folgen erste Tage in Richtung Osten. Harare – der Ort, an dem der Islam die arabische Halbinsel verließ und sich aufmachte, den afrikanischen Kontinent zu erreichen. Wir besuchen die Medina, die ungeachtet der Anerkennung als Weltkulturerbe-Stätte eher wenig touristisch daherkommt. Alte Fotos arabischer Städte aus den 1920er-Jahren kommen mir in den Sinn, und ich erlebe mich auf eine besondere Art fremd an diesem Ort. Irgendwann am Nachmittag sitze ich mit meinem Mann am Rande einer kleinen, parkähnlich anmutenden Verkehrsinsel, mitten im Gedränge vor dem zentralen Tor am Eingang zur Medina, und wir lassen die geschäftige Szene auf uns wirken. Vier Inlandstouristen beschäftigen sich mit dem Fotografieren des Toreingangs. Es sind zwei Paare, untereinander vertraut wirkend, die Frauen mit Kopf- tüchern, alle vier in Jeans und mit aufmerksam gepflegten weißen Sneakers. Irgendwann bewegt sich die Gruppe auf uns zu. Nach ei- nigem Zögern spricht einer der beiden Männer meinen Mann an. In flüssiger englischer Sprache fragt er vorsichtig, ob er eine Bitte an uns richten könne. Mein Mann ermuntert ihn: Freundlich fragt er, worum es denn gehe. „Können wir ein Foto von Ihnen machen?“ Mein Mann ist sichtlich verblüfft und antwortet spontan: „Sure – but I´m not famous! – Sicher, aber ich bin nicht berühmt!“ Die prompte Antwort ist noch verblüffender: „But you are white! – Aber Sie sind weiß!“ Wir schauen uns um und sehen das erste Mal, seit wir hier sind, das, was der junge Mann uns zu verstehen gibt: weit und breit kein weißes Gesicht unter all den vielen Menschen, deren Haut in unter- schiedlichen Nuancen schwarz ist. Ich beginne zu zählen: In den kommenden drei Wochen bringt es meine Strichliste auf 23 Einträge. Sie stehen für 23 Menschen wei- ßer Hautfarbe, die wir in diesen Sommerwochen gesehen haben, wenigen von ihnen sind wir begegnet. Gleichzeitig bewegten wir uns unter unglaublich vielen Gesichtern, die irgendwie anders aus- sahen… Berühmt waren wir glücklicherweise trotzdem nicht. Bettina Wilms, Querfurt PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26: 103–103 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 103
Vorschau Vorschau Im nächsten Heft Standpunkte ▪ Erwachsenwerden: Entwicklungsdynamik, Geschlechter, Diversität (Inge Seiffge-Krenke) ▪ Transition bei der Behandlung von psychisch erkrankten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen – eine Perspektive verschiedener Therapieschulen (Anna Georg) Aus der Praxis ▪ Transitionspsychiatrie in der Praxis: ein Balance-Akt für Patient und Behandler (Anne Pötzsch, Caroline Grimm-Astruc) ▪ Transitionsalter in der ambulanten psychotherapeutischen Praxis (Helene Timmermann) ▪ Jugendliche und Adoleszente im Transitionsalter: seelische Gesundheit in Zeiten der Pandemie und neuer globaler Krisen (Janine Devine, Anne Kaman, Ulrike Ravens-Sieberer) ▪ Die Bedeutung psychischer Struktur und Konflikte für Symptome im Transiti- onsalter (Anette Klein, Antonia K. Wieder, Johanna L. Klinge) ▪ Sektorübergreifende Versorgung im Kontext von Modellvorhaben nach § 64b SGB V – Das Adoleszentenzentrum für Störungen der Emotionsregulation (Christian Schmahl, Juliane Rausch) ▪ E-Health zur Behandlung von psychischen Erkrankungen in der Adoleszenz (Anne Karow) ▪ Sucht im Transitionsalter (Oliver Bilke-Hentsch, Jochen Mutschler, Kai Müller, Eginhard Koch) ▪ Transition vom stationären ins ambulante Behandlungssetting – das Projekt HomeBASE (Stephan Bender, Julia Plück, Matthias Schwarz, Lotte Fimpel, Jan Zeidler, Anja Goertz-Dorten, Nicole Schengel) ▪ soulspace – niederschwellige und schnelle Hilfe für junge Menschen in Krisen (Anna Willert, Karolina Leopold, L. Holzner, L. von Hardenberg, S. Leopold, M. Schellong, Andreas Bechdolf) ▪ Psychisch fit lernen: Prävention psychischer Krisen in der Schule (Manuela Richter-Werling) Die nächste Ausgabe erscheint am 3. Juni 2025. 104 PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Impressum PiD – Psychotherapie im Dialog 26. Jahrgang Die Psychotherapie im Dialog (PiD) erscheint 4-mal jähr- lich und ist auch über den Buchhandel erhältlich. ISSN (Print): 1438-7026 eISSN: 1739-913X ISBN: 978-3-13-246009-6 Copyright & Ownership Wenn nicht anders angegeben: © 2025. Thieme. All rights reserved. Die Zeitschrift Psychotherapie im Dialog ist Eigentum von Thieme. Georg Thieme Verlag KG, Oswald- Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany Schriftleitung Dr. phil. Dipl.-Psych. Barbara Stein Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Klinikum Nürnberg Paracelsus Medizinische Privatuniversität Prof.-Ernst-Nathan-Str.1, Haus 8, 08_U1_118 90419 Nürnberg E-Mail: barbara.stein@klinikum-nuernberg.de Verlag Georg Thieme Verlag KG Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart oder Postfach 30 11 20, 70451 Stuttgart Tel.: +49 711/8931-0, Fax: +49 711/8931-298 www.thieme.de, www.thieme.de/pid www.thieme-connect.de/products Web-App: www.thieme.de/eref-app Umsatzsteuer-ID DE147638607 Handelsregister Sitz und Handelsregister Stuttgart, Amtsgericht Stuttgart HRA 3499, Verkehrsnummer 16427 Redaktion Sie erreichen die Redaktion unter: pid.impressum@thieme.de V.i. S. d.P.: Regina Schweizer Verantwortlich für den Anzeigenteil Thieme Media Pharmedia Anzeigen- und Verlagsservice GmbH Nicole Dörr Tel.: +49 711 8931–446 E-Mail: nicole.doerr@thieme-media.de Produktionsmanagement Tel.: +49 711 8931–299 E-Mail: elke.rettig@thieme.de Bezugspreise 2025* Persönlicher Jahresbezugspreis Ermäßigter Jahresbezugspreis für Ärzte und Psycho- therapeuten in Aus- & Weiterbildung, Studierende/ Schüler*innen Abo 228,00 156,00 Insitutioneller Jahresbezugspreis 362,00** * Jährliche Bezugspreise in €, unverbindlich empfohlene Preise inkl. der gesetzl. MWSt und inkl. der Versand- und Handling- kosten. Preisänderungen vorbehalten. Das Abonnement wird im Voraus berechnet und zur Zahlung fällig. Nach einer Min- destlaufzeit von 12 Monaten verlängert sich das persönliche Abonnement unbefristet und kann jederzeit mit Wirksamkeit zum Monatsende des folgenden Monats gekündigt werden. Für institutionelle Abonnements gilt eine Kündigungsfrist von 3 Monaten zum Kalenderjahresende. ** Der institutionelle Jahresbezugspreis inkludiert den Online-Zugriff für 1 Standort. Weitere Informationen finden Sie unter https://lp.thieme.de/fachzeitschriften/ijbp/. Abonnentenservice Wir bitten unsere Abonnent*innen, Adressänderungen dem Abonnentenservice mitzuteilen, um eine reibungs- lose Zustellung der Zeitschrift zu gewährleisten. Tel.: +49 711 8931–321, Fax: +49 711 8931–422, https://kundenservice.thieme.de Die Inhalte der Zeitschrift stehen online in Thieme connect zur Verfügung (www.thieme-connect.de/products). Der Zugang ist für persönliche Abonnent*innen im Preis ent- halten. Über kostenpflichtige Zugangsmöglichkeiten und Lizenzen für Institutionen (Bibliotheken, Kliniken, Firmen etc.) informiert Sie gerne unser Institutional Sales Team, E-Mail: esales@thieme.de Warenbezeichnungen und Handelsnamen Marken, geschäftliche Bezeichnungen oder Handelsna- men werden nicht in jedem Fall besonders kenntlich ge- macht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Handelsnamen handelt. Informationen für unsere Autor*innen Manuskriptrichtlinien und andere Informationen für Au- tor*innen entnehmen Sie bitte den Autorenhinweisen unter dem Reiter „Autoren“ auf www.thieme.de/pid. Grundsätzlich werden nur solche Manuskripte angenom- men, die noch nicht anderweitig veröffentlicht oder zur Veröffentlichung eingereicht worden sind. Bitte beachten Sie: Wir können keine Abbildungen an- nehmen, die bereits in Büchern, Zeitschriften oder elek- tronischen Produkten anderer Anbieter*innen publiziert worden sind oder an denen ein Dritter Nutzungsrechte hat (z. B. Arbeitgeber). Der Grund: Auch gegen Lizenzgebühr ist es kaum noch möglich, die Nutzungsrechte in dem für uns erforderlichen Umfang zu erhalten. Bitte zahlen Sie deshalb keine Lizenzgebühren (z. B. bei „RightsLink“/ Copyright Clearance Center) – auch die Standard-Lizenz- verträge von „Creative Commons“ sind für eine Publikati- on leider nicht ausreichend. Diese Zeitschrift bietet Autor*innen die Möglichkeit, ihre Artikel gegen Gebühr in Thieme connect für die allgemei- ne Nutzung frei zugänglich zu machen. Bei Interesse wenden Sie sich bitte an: pid.impressum@thieme.de Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in den Beiträgen primär die männliche Schreibweise verwendet. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass damit immer gleichermaßen männliche und weibliche Personen gemeint sind. For users in the USA Authorization of photocopy items for internal or personal use, or the internal or personal use of specific clients, is granted by Georg Thieme Verlag Stuttgart. New York for libraries and other users registered with the Copyright Clearance Center (CCC) Transactional Reporting Service; www.copyright.com. For reprint information in the USA, please contact: journals@thieme.com Wichtiger Hinweis Wie jede Wissenschaft ist die Medizin ständigen Entwick- lungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was Behand- lung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in diesem Heft eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, dürfen die Lesenden zwar darauf vertrauen, dass Au- tor*innen, Herausgebende und Verlag große Sorgfalt da- rauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung der Zeitschrift entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applika- tionsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr über- nommen werden. Jede*r Benutzende ist angehalten, PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26 | © 2025. Thieme. All rights reserved. durch sorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwen- deten Präparate und ggf. nach Konsultation eines Spezia- listen oder einer Spezialistin festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung für Dosierungen oder die Beach- tung von Kontraindikationen gegenüber der Angabe in dieser Zeitschrift abweicht. Eine solche Prüfung ist be- sonders wichtig bei selten verwendeten Präparaten oder solchen, die neu auf den Markt gebracht worden sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzenden. Autor*innen und Verlag appellieren an alle Benutzenden, ihnen etwa auffallende Ungenauigkei- ten dem Verlag mitzuteilen. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträ- ge und Abbildungen sind für die Dauer des Urheberrechts geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver- lages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung und Verbreitung in gedruckter Form, Über- setzung, Übertragung und Bearbeitung in andere Sprachen oder Fassungen sowie die Einspeicherung und Verbreitung in elektronischen Medienformen (z. B. CD-Rom, DVD, USB- Speicher, Datenbank, cloud-basierter Dienst, e-book und sonstige Formen des electronic publishing) und auch öf- fentlicher Zugänglichmachung (z. B. Internet, Intranet oder andere leitungsgebundene oder -ungebundene Daten- netze), u. a. durch Wiedergabe auf stationären oder mobi- len Empfangsgeräten, Monitoren, Smartphones, Tablets oder sonstigen Empfangsgeräten per Download (z. B. PDF, ePub, App) oder Abruf in sonstiger Form etc. Hinweis zu Studien-Referaten Die Autorinnen und Autoren unserer Referate- Rubriken schreiben frei- oder nebenberuflich für verschiedene Auf- traggebende aus Verlagsbranche, Wissenschaft und In- dustrie. Bei Fragen zu Interessenkonflikten einzelner Au- tor*innen wenden Sie sich bitte mit der im Impressum unter „Redaktion" genannten E-Mail-Adresse an den Ver- lag. Datenschutz Wo datenschutzrechtlich erforderlich, wurden die Namen und weitere Daten von Personen redaktionell verändert (Tarnnamen). Dies ist grundsätzlich der Fall bei Patient*in- nen, ihren Angehörigen und ihrem Freundeskreis, z. T. auch bei weiteren Personen, die z.B. in die Behandlung von Patient*innen eingebunden sind. Wertschätzende Sprache und geschlechter- gerechter Sprachgebrauch Thieme Publikationen streben nach einer fachlich korrek- ten und unmissverständlichen Sprache. Dabei lehnt Thieme jeden Sprachgebrauch ab, der Menschen beleidigt oder diskriminiert, beispielsweise aufgrund einer Her- kunft, Behinderung oder eines Geschlechts. Thieme wendet sich zudem gleichermaßen an Menschen jeder Geschlechtsidentität. Die Thieme Rechtschreibkon- vention nennt Autor*innen mittlerweile konkrete Beispiele, wie sie alle Lesenden gleichberechtigt ansprechen können. Die Ansprache aller Menschen ist ausdrücklich auch dort intendiert, wo im Text (etwa aus Gründen der Leseleichtig- keit, des Text-Umfangs oder des situativen Stil-Empfindens) z.B. nur ein generisches Maskulinum verwendet wird. Printed in Germany Satz: L42 GmbH, Berlin Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
EIN THEMA – VIELE PERSPEKTIVEN 4 AUSGABEN PRO JAHR Einstiegspreis für Neuabonnenten! inkl. DIGITALZUGANG aktuelle Ausgabe und Archiv Wer verschiedene Wege kennt, kommt leichter ans Ziel. Ihr schulenübergreifender Erfahrungsaustausch für mehr: - Perspektiven: ein Thema aus Sicht verschiedener Therapierichtungen kennenlernen - Fortbildung: aktiv an Entwicklungen des Fachs teilnehmen und CME-Punkte sammeln - Weitblick: über den Tellerrand und die psychotherapeutische Perspektive hinausschauen - Lesefreude: übersichtlich und verständlich Informationen aufnehmen - Themenvielfalt: Studienergebnisse, Rechtsfragen und Therapiemethoden kompakt überblicken shop.thieme.de