Pädiatrie up2date 1 · 2022 März 2022 · 17. Jahrgang · Seite 1–96 1 Entwicklung / Sozialpädiatrie 11 Intensivmedizin / Neonatologie 4 Infektionskrankheiten 3 Editorial · 4 Herausgeberboard 5 Studienreferate · 11 Impressum 13 Abklärung von Entwicklungsstörungen: Symptome und Diagnostik Dagmar Weise, Alexandra Gossler 37 Physiologiebasierte Erstversorgung sehr kleiner Frühgeborener Angela Kribs, Ruth Klein, Katrin Mehler 57 Streptokokken-Infektionen im Kindes- und Jugendalter Nicole Töpfner, Reinhard Berner 6 Hämatologie / Onkologie 77 Genetische Krebsprädisposition und Tumorprädispositionssyndrome im Kindesalter Boris Decarolis Covergestaltung: © Thieme Bildnachweis Titelbild: © Celina, 12 Jahre Die Übersicht über alle Rubriken Ihrer up2date erhalten Sie unter: https://eref.thieme.de/17QUY

Editorial Prof. Dr. med. Jörg Dötsch Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Leserinnen und Leser, seit nunmehr über 2 Jahren beschäftigt uns die Pandemie und bestimmt – mal mehr, mal weniger – unser tägliches Leben. Eine wichtige Veränderung des letzten Jahres war allerdings der Umstand, dass die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in der Pan- demie, insbesondere bedingt durch ihren Ausschluss von der sozialen Teilhabe, immer stärker in den Blick der Öffentlichkeit und auch der Politik kam. Diese Tendenz scheint sich unter der neuen Regierung in positiver Weise fortzusetzen. Auch andere Aspekte nehmen stärker die Versorgung von Kindern und Jugendlichen in den Blick. So wird beispielsweise in den Koalitionspapieren von einer besseren finanziel- len Ausgestaltung der Pädiatrie gesprochen. Sozialpädiatrische Zentren sollen stärker gefördert werden ebenso wie Präventionsmaßnahmen. Mit diesen Lichtblicken lässt es sich vielleicht etwas leichter in das neue Jahr starten. Ein weiterer Lichtblick ist für Sie hoffentlich auch die aktuelle Ausgabe der Pädiatrie up2date. Wir haben wieder 4 Beiträge ausgewählt, die aus ganz unterschiedlichen Be- reichen der Pädiatrie stammen. In dem ersten Beitrag von Gossler et al. (s. S. 13) geht es um die Abklärung von Entwicklungsstörungen, ein Feld, das in der ambulanten wie in der stationären Pädiatrie von ähnlich hoher Bedeutung ist wie im öffentlichen Gesundheitsdienst. Insofern werden hier alle Sektoren der pädiatrischen Versorgung angesprochen. Im zweiten Beitrag von Kribs et al. (s. S. 37) bewegen wir uns an die Grenzen der Über- lebensfähigkeit. Es geht hier um die physiologiebasierte Erstversorgung sehr kleiner Frühgeborener. Dieses Feld ist über die letzten 1–2 Jahrzehnte durch einen Paradig- menwechsel gekennzeichnet, weg von einer intensivmedizinisch zu einer physiologie- basierten Versorgung der extrem unreifen Kinder. Der dritte Beitrag von Töpfner et al. (s. S. 57) wiederum richtet sich an die gesamte Breite der Pädiatrie. Die Streptokokkeninfektionen im Kindes- und Jugendalter sind ubiquitär, ihre direkten wie ihre indirekten, durch Folgeerkrankungen determinierten Auswirkungen finden sich wieder in allen Bereichen der Pädiatrie. Im vierten Beitrag von Decarolis et al. (s. S. 77) schließlich wird wieder ein Blick in pä- diatrisches Neuland geworfen. Die rechtzeitige Erkennung einer Tumorprädisposition und ihre Konsequenzen für Monitoring und Betreuung von Patientinnen und Patienten sind Thema dieses Beitrages. Darüber hinaus werden Sie wie immer die bekanntermaßen sorgfältig zusammen- gefassten Beiträge aus hochkarätigen internationalen Publikationen finden, die Ihnen neben der Beschreibung des State of the Art neue Entwicklungen der Pädiatrie in konziser Form darbieten. Wir hoffen sehr, dass Ihnen das neue Heft Freude bereitet und neue Einblicke gewährt. Mit herzlichen Grüßen und den besten Wünschen für das Jahr 2022 verbleibe ich daher im Namen des gesamten Herausgeber-Teams Ihr Jörg Dötsch Pädiatrie up2date 2022; 17 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 3

Studienreferate Myokarditis nach COVID- 19-Impfung: Daten der israelischen Impfkampagne Mevorach D et al. Myocarditis after BNT162b2 mRNA Vaccine against Covid-19 in Israel. N Engl J Med 2021; 385: 2140–2149. doi:10.1056/NEJMoa2109730 Im Zuge des israelischen COVID-19- Impfprogramms erhielt bis Mitte 2021 ein Großteil der Bevölkerung 2 Dosen der mRNA-Vakzine BNT162b2 (Pfizer/ BioNTech). Anzeichen für eine Häu- fung von Myokarditisfällen in zeitli- chem Zusammenhang mit der Imp- fung veranlassten das Gesundheits- ministerium zur Einrichtung eines ent- sprechenden aktiven Überwachungs- systems. Ein Forscherteam wertete nun die registrierten Myokarditisfälle klinisch und epidemiologisch aus. Die israelische Impfkampagne startete Ende Dezember 2020, erläutern die Wis- senschaftlerinnen und Wissenschaftler. Ab Februar 2021 wurden alle Kliniken des Landes dazu verpflichtet, alle Myokarditis- fälle mit und ohne begleitende Perikarditis – unabhängig vom Impfstatus der Betrof- fenen – dem Gesundheitsministerium an- zuzeigen. Zusätzlich wurden rückwirkend auch alle in den ersten Wochen der Impf- kampagne aufgetretenen Myokarditisfälle erfasst. Die Arbeitsgruppe prüfte nun in jedem Einzelfall die Sicherheit der Myokar- ditisdiagnose gemäß Klassifikationssystem der Brighton Collaboration, untersuchte den zeitlichen Zusammenhang mit der Erst- bzw. Zweitimpfung und verglich die Inzidenz der Myokarditis bei geimpften und nicht geimpften Personen. Ergebnisse Zwischen Dezember 2020 und Mai 2021 erhielten mehr als 5,1 Millionen Israelis 2 Impfdosen. Während dieses Zeitraums wurden dem Gesundheitsministerium 304 Personen mit Myokarditissymptomen gemeldet. Nach Analyse dieser Daten ka- men die Wissenschaftlerinnen und Wis- senschaftler in 21 Fällen zu einer alterna- tiven Diagnose. Von den übrigen 283 be- stätigten Myokarditisfällen betrafen 101 nicht geimpfte Personen. In 29 dieser Fälle lag eine bestätigte COVID-19-Infektion vor, in den übrigen 72 dagegen nicht. Wei- tere 40 Myokarditisfälle betrafen zwar geimpfte Personen, ein zeitlicher Zusam- menhang mit der Impfung bestand jedoch nicht. Bei 142 Myokarditiden gehen die Forscherinnen und Forscher dagegen von einem zeitlichen Zusammenhang mit der COVID-19-Impfung aus, da sich die Proble- matik innerhalb von 21 Tagen nach der ersten bzw. innerhalb von 30 Tagen nach der zweiten Dosis manifestierte. In 136 dieser Fälle stuften sie die Diagnose als si- cher oder wahrscheinlich ein: 19 dieser Myokarditiden ereigneten sich nach der die Symptomatik, ersten und 117 nach der zweiten Impf- dosis. Bei 129 der Betroffenen nahm die Myokarditis klinisch einen leichten Verlauf: Die Entzündungs- parameter, das Troponin sowie die EKG- und Echokardiografieveränderungen bil- deten sich zurück. Eine Person verstarb al- lerdings in Folge eines fulminanten Myo- karditisverlaufs. Von 95 Myokarditiskran- ken lagen Informationen zum Alter und Geschlecht vor. In 86 Fällen (91%) handel- te es sich dabei um Männer, und 72 (76%) waren jünger als 30 Jahre. Die Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler vergli- chen das Myokarditisrisiko innerhalb von jeweils 21 Tagen nach der Erst- bzw. Zweitimpfung. Hier zeigte sich eine Risiko- differenz zwischen der ersten und zweiten Dosis von 1,76 pro 100 000 Personen. Für die Männer errechnete sich eine entspre- chende Differenz von 3,19 und für die Frauen von 0,39 pro 100 000 Personen. Die größte Risikodifferenz stellten die For- scherinnen und Forscher bei männlichen Impflingen im Alter zwischen 16 und 19 Jahren fest (13,73 pro 100 000 Personen). Als Zeitfenster für das höchste Myokardi- tisrisiko identifizierten sie dabei die erste Woche nach der zweiten Impfdosis. Wei- terhin verglichen sie das mit der COVID- 19-Impfung assoziierte Myokarditisrisiko mit dem präpandemischen Risiko im Zeit- raum 2017 bis 2019: Im Vergleich zur zu erwartenden Inzidenz errechnete sich für die Myokarditis nach der zweiten Impf- dosis eine standardisierte Inzidenzratio n e l l ä F n a l h a z n A 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 44 31 18 7 2 5 3 1 16–19 20–29 30–39 40–49 1 2 50–59 1 2 60–69 70–79 ≥ 80 Altersgruppe (Jahre) Verteilung von 117 Myokarditisfällen nach der Zweitimpfung mit dem mRNA-Vakzin BNT162b2 (Pfizer/BioNTech) nach Alter und Geschlecht. Fälle von Myokarditis wurden innerhalb von 30 Tagen nach der zweiten Dosis gemeldet. Blau: Männer und Jungen; Rot: Frauen und Mädchen. Daten aus: Mevorach et al. Myocarditis after BNT162b2 mRNA Vaccine against Covid-19 in Israel. N Engl J Med 2021; 385: 2140–2149. Pädiatrie up2date 2022; 17 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 5

An der multizentrischen Untersuchung nahmen 118 Jugendliche im Alter zwi- schen 13 und 18 Jahren teil, die innerhalb der vorangegangenen 10 Tage während des Sports eine Gehirnerschütterung erlit- ten hatten. Mädchen und Jungen mit einer schweren neurologischen Symptomatik bzw. Hirnschäden (z. B. Glasgow Coma Scale-Wert < 13, Läsionen in der Schnitt- bildgebung, Bewusstlosigkeit > 30 Minu- ten, fokale neurologische Symptome, posttraumatische Amnesie > 24 Stunden) schlossen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von der Studienteilnahme aus. 61 Jugendliche begannen 1–10 Tage nach der Verletzung ein aerobes Trainings- programm, das täglich 20 Minuten schnel- les Gehen, Laufen oder Radfahren auf dem Fahrradergometer umfasste und anhand der Herzfrequenz sowie der individuellen Symptomtoleranz gesteuert wurde. Die 57 Jugendlichen der Kontrollgruppe führ- ten tägliche Dehn- und Atemübungen durch, welche jedoch keine wesentlichen Auswirkungen auf die Herzfrequenz hat- ten. Die Übungsadhärenz und ‑intensität objektivierten die Forscherinnen und For- scher mithilfe eines Pulsmessers. Zusätz- lich dokumentierten die Jugendlichen mehrfach täglich ihre Symptome. Die Stu- dienintervention dauerte in beiden Grup- pen bis zu 4 Wochen. Anschließend wur- den die Probandinnen und Probanden über mehrere Wochen nachbeobachtet. Das Forscherteam prüfte, wie viele Ju- gendliche sich innerhalb der vierwöchigen Interventionsphase erholten (Rückkehr zum klinischen Bild vor der Verletzung, normale Belastbarkeit, körperlicher Nor- malbefund) und wie viele auch noch län- ger als 28 Tage nach der Verletzung unter persistierenden Post-Commotio-Sympto- men litten. Ergebnisse Das aerobe Trainingsprogramm senkte das Risiko für persistierende Post-Commotio- Symptome signifikant um 48%: Die Hazard Ratio bezüglich der klinischen Erholung in- nerhalb von 4 Wochen nach der Verlet- zung betrug – bei Berücksichtigung des Geschlechts, des Behandlungsorts sowie der durchschnittlichen täglichen Trainings- zeit – 0,52 (95%-KI 0,28–0,97). 13 Jugend- liche (21%), die das aerobe Training absol- viert hatten, aber 18 (32%) der Kontroll- gruppe erholten sich nicht bis zum Tag 29 nach der Verletzung und litten an persis- tierenden Post-Commotio-Symptomen. Herzfrequenzdaten lagen von 85% der Teilnehmenden der Interventions- und von 70% der Kontrollgruppe vor. Bei 76 bzw. 72% der Jugendlichen dieser beiden Kollektive stellten die Forscherinnen und Forscher Therapieadhärenz fest. Die Ju- gendlichen der Interventionsgruppe trai- nierten im Schnitt signifikant länger und mit signifikant höherer Herzfrequenz als die Jugendlichen der Kontrollgruppe. Un- erwünschte Ereignisse beobachteten die Studieninitiatorinnen ‑initiatoren nicht. und FAZIT Jugendliche erholen sich nach einer sportbedingten Gehirnerschütterung schneller, wenn sie innerhalb von 10 Tagen nach der Verletzung mit einem puls- und symptomorientier- ten aeroben Training beginnen, und leiden seltener an Langzeit-Commo- tio-Beschwerden, so die Autorinnen und Autoren. Schonung ist kontra- produktiv, meinen sie: Die Betroffe- nen sollten aktiv zu einem entspre- chenden Training motiviert werden. Nun sei zu klären, ob auch Personen mit nicht sportbedingter Commotio von dem Programm profitieren. Dr. med. Judith Lorenz, Künzell Therapieresistentes Kawasaki-Syndrom: Infliximab ist Immun- globulingabe überlegen Burns JC et al. Infliximab versus second intrave- nous immunoglobulin for treatment of resistant Kawasaki disease in the USA (KIDCARE): a ran- domised, multicentre comparative effectiveness trial. Lancet Child Adolesc Health 2021; 5: 852– 861. doi:10.1016/S2352-4642(21)00270-4 Etwa 10 bis 20% der Patientinnen und Patienten mit einem Kawasaki-Syn- drom sprechen auf intravenöse Im- munglobuline nicht an. Die Therapie- resistenz manifestiert sich in Form an- haltenden Fiebers. Sollte in diesem Fall ein erneuter Behandlungsversuch mit intravenösen Immunglobulinen unter- nommen werden oder erzielt Inflixi- mab bessere Ergebnisse? Dieser Frage ging eine randomisierte Studie nach. An der Untersuchung beteiligten sich 30 Kliniken in den USA. Das Intention-to- treat-Studienkollektiv bildeten 103 Kinder und Jugendliche mit einem Kawasaki-Syn- drom, die innerhalb von 10 Tagen nach Fieberbeginn intravenöse Immunglobuline erhalten und 36 Stunden oder später nach der ersten Immunglobulininfusion erneut Fieber entwickelt hatten. Gemäß Rando- misierung erhielten 49 Patientinnen und Patienten eine zweite Immunglobulindosis und 54 intravenöses Infliximab. Führte diese Behandlung 24 Stunden bis 7 Tage später nicht zur Fieberfreiheit, erhielten die Betroffenen das jeweils andere Studi- enmedikament. Als primären Studienend- punkt definierten die Forscherinnen und Forscher die Fieberfreiheit 24 Stunden nach Therapiebeginn ohne Rezidiv in den ersten 7 Tagen nach der Klinikentlassung. Ferner objektivierten sie die Fieberdauer, die Hospitalisationsdauer, die Verände- rung der Entzündungsparameter, die Ver- änderung des echokardiografisch be- stimmten koronararteriellen Z-Score sowie die therapieassoziierten Nebenwirkungen. Ergebnisse Zwei der in den Infliximab-Arm randomi- sierten Patientinnen und Patienten zogen ihre Studienteilnahme zurück und erhiel- ten die Medikation nicht. 40 von 52 (77%) der mit Infliximab, aber nur 25 von 49 (51%) der ein zweites Mal mit intravenö- sen Immunglobulinen behandelten Kinder und Jugendlichen waren 24 Stunden nach Therapiebeginn fieberfrei, ohne dass in- nerhalb von 7 Tagen nach der Klinikentlas- sung erneut Fieber in Zusammenhang mit der Kawasaki-Problematik auftrat (Odds Ratio 0,31; 95%-KI 0,13–0,73). 36 Patien- tinnen und Patienten erlitten einen erneu- ten Fieberschub. 31 dieser Kinder und Ju- gendlichen – 9 (17%) der initial mit Inflixi- mab und 22 (45%) der initial mit intrave- nösen Immunglobulinen behandelten Pa- tientinnen und Patienten – erhielten da- raufhin die jeweils andere Studieninter- vention (p = 0,0024). Im Immunglobulin- Pädiatrie up2date 2022; 17 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 7

Studienreferate SARS-CoV-2 in der Schule: tägliche Testung der Kontaktpersonen versus Quarantäne Young BC et al. Daily testing for contacts of individuals with SARS‑CoV‑2 infection and attend- ance and SARS‑CoV‑2 transmission in English secondary schools and colleges: an open-label, cluster-randomised trial. Lancet 2021; 398 (10307): 1217–1229. doi:10.1016/S0140-6736 (21)01908-5 In England wurden bis Anfang 2021 enge Kontaktpersonen von positiv auf SARS‑CoV‑2 getesteten Schülerinnen und Schülern bzw. Lehrerinnen und Lehrern häuslich isoliert. Angesichts der damit einhergehenden erhebli- chen sozialen und Bildungsnachteile untersuchte ein britisches Forscher- team, ob sich durch eine tägliche Tes- tung der Kontaktpersonen die Fehlzei- ten reduzieren lassen, ohne dass dabei mit einer Zunahme der Virustransmis- sion gerechnet werden muss. An der zwischen März und Mai 2021 durch- geführten Cluster-randomisierten Studie beteiligten sich 201 weiterführende Schu- len sowie Further Education Colleges in England. In allen Einrichtungen wurde wäh- rend des Studienzeitraums – gemäß der staatlichen Vorgaben – zweimal pro Woche eine Schnelltestung angeboten. Bei der Randomisierung wurden folgende Strata berücksichtigt: der Schultyp und die Schul- größe, das Oberstufenangebot, das Inter- natangebot sowie der Anteil der Schülerin- nen und Schüler mit Anspruch auf kosten- lose Schulmahlzeiten. Gemäß Randomisie- rung durften in etwa der Hälfte der Einrich- tungen die schulischen Kontaktpersonen von sofern asymptomatisch – weiter am Unterricht teilnehmen, mussten sich allerdings über 7 Tage täglich einem Antigenschnelltest unterziehen. Alternativ konnten die Schü- lerinnen und Schüler sich für eine zehntägi- ge häusliche Quarantäne entscheiden. In der anderen Hälfte der teilnehmenden Schulen wurden die Kontaktpersonen wie üblich 10 Tage häuslich isoliert. Die Stu- dienendpunkte umfassten den Anteil der COVID-19-bedingten Unterrichtsabwe- senheiten sowie das Ausmaß der SARS- CoV‑2-Transmission in der Schule. SARS‑CoV‑2-Infizierten – VIELEN DANK! Das vorliegende Heft leitet den 17. Jahrgang der Pädiatrie up2date ein. Wir möchten uns bei allen bedanken, die 2021 unsere Zeitschrift gelesen oder an ihren fachlichen Inhalten mitgewirkt haben: Herzlichen Dank für Ihr Interesse, für Ihr Engagement und Ihr Vertrauen! Ein ganz besonderer Dank gilt all jenen, die uns bei den zahlreichen Begutachtungs- verfahren unterstützt haben, und auf deren Expertise und große Sorgfalt wir uns jederzeit verlassen konnten: ▪ Max Braun, Köln ▪ Bastian Brummel, Münster ▪ Priv.-Doz. Dr. med. M. Dübbers, Köln ▪ Dr. med. Michael Friedt, Düsseldorf ▪ Prof. Dr. med. Philipp Henneke, Freiburg ▪ Dr. med. Miriam Jackels, Köln ▪ Dr. med. Simone Kathemann, Essen ▪ Prof. Dr. med. Udo Kontny, Aachen ▪ Dr. med. Daniel Kurz, Stuttgart ▪ Dr. med. Stephan Lobitz, Koblenz ▪ Prof. Dr. med. Steffan Loff, Stuttgart ▪ Prof. Dr. med. Andreas Müller, Bonn ▪ Dr. med. Cora Müller, Stuttgart ▪ Prof. Dr. med. Oliver Münsterer, München ▪ Dr. med. Andreas Oberle, Stuttgart ▪ Prof. Dr. Thorsten Orlikowsky, Aachen ▪ Prof. Dr. Martin Rupprecht, Hamburg ▪ Prof. Dr. Peter P. Schmittenbecher, Karlsruhe ▪ Prof. Dr. Dominik T. Schneider, Dortmund ▪ Priv.-Doz. Dr. med. Michael Schündeln, Essen ▪ Prof. Dr. med. Tobias Tenenbaum, Berlin ▪ Prof. Dr. med. Bernd Wilken, Kassel ▪ Prof. Dr. med. Stefan Wirth, Wuppertal Ganz gleich, ob Sie der Pädiatrie up2date nun lesend, schreibend, mit Ihrer Begutachtungskompetenz oder ganz einfach in Freundschaft verbunden sind: Wir wünschen Ihnen allen ein erfolgreiches und gesundes Jahr 2022! Herausgeberschaft und Verlag Ergebnisse 76 von 99 Schulen der Kontrollgruppe und 86 von 102 Schulen der Interventions- gruppe stellten den Forscherinnen und Forschern aktiv Datenmaterial zur Ver- fügung. Mithilfe zusätzlicher staatlicher Daten gelang es ihnen jedoch, auch die meisten der nicht teilnehmenden Schulen in die Analyse aufzunehmen. In der Inter- ventionsgruppe verzeichnete das Team 338 Indexfälle in der Schülerschaft oder beim Lehrpersonal sowie 4400 schulische Kontaktpersonen. Interventions- gruppe traten 450 Indexfälle auf und 5797 In der Personen wurden als Kontakte klassifiziert. In der Interventionsgruppe nahmen rund 42% der Kontaktpersonen das tägliche Testangebot in Anspruch. In der Schüler- und Lehrerschaft der Kontrollschulen ver- zeichneten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler während 3 659 017 Per- sonenschultagen 59 422 (1,62%) und in während den 3 845 208 51 541 (1,34%) COVID-19-assoziierte Abwesen- heiten. Die adjustierte Incidence Rate Ra- tio für COVID-19-assoziierte Abwesenhei- ten in der Interventionsgruppe betrug 0,80 (95%-KI 0,54–1,19). Berücksichtigten Interventionsschulen Personenschultagen Pädiatrie up2date 2022; 17 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 9

Impressum Pädiatrie up2date 17. Jahrgang Die Pädiatrie up2date erscheint 4-mal jährlich. ISSN (Print): 1611-6445 eISSN: 1862-9393 Copyright & Ownership Wenn nicht anders angegeben: © 2022. Thieme. All rights reserved. Die Zeitschrift Pädiatrie up2date ist Eigentum von Thieme. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Schriftleitung Prof. Dr. med. Jörg Dötsch Klinik und Poliklinik für Kinder- u. Jugendmedizin Universitätsklinikum Köln Kerpener Str. 62 50937 Köln Tel.: + 49 221 478-4350 E-Mail: joerg.doetsch@uk-koeln.de Weitere Herausgeber Univ.-Prof. Dr. med. Regina Ensenauer Bereich Pädiatrische Stoffwechselstörungen, Universitäts-Kinderklinik, Heinrich-Heine-Universität Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf Tel.: + 49 211 8 11 76 95 E-Mail: regina.ensenauer@med.uni-duesseldorf.de Prof. Dr. med. Markus Knuf Klinikum Worms Gabriel-von-Seidl-Straße 81, 67550 Worms Tel.: + 49 6241-501-360 E-Mail: Markus.Knuf@klinikum-worms.de Prof. Dr. med. Franz-Josef Kretz Stuttgart E-Mail: fjkretz@t-online.de Dr. med. Klaus Rodens Gemeinschaftspraxis für Kinder und Jugendliche Angertorstr. 6, 89129 Langenau Tel.: + 49 73 45-50 51 E-Mail: k.p.rodens@gmail.com Univ.-Prof. em. Dr. med. Fred Zepp Mainz E-Mail: zepp@uni-mainz.de Die Herausgebenden sind nicht verantwortlich für in der Zeitschrift enthaltene Anzeigen und Beilagen. Verlag Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 301 120, 70451 Stuttgart Tel.: + 49 711 89 31-0, Fax: + 49 711 89 31-298 www.thieme.de, www.thieme.de/paed-u2d www.thieme-connect.de/products Web-App: www.thieme.de/eref-app Redaktion Sie erreichen die Redaktion unter: paed-u2d.impressum@thieme.de V. i. S. d. 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September vorliegt. ** Der institutionelle Jahresbezugspreis inkludiert Online-Zugriff für 1 Standort. Weitere Informationen finden Sie unter https://lp.thieme.de/fachzeitschriften/ijbp/ fahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was Behandlung und medikamentöse Therapie anbe- langt. Soweit in diesem Heft eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, dürfen die Lesenden zwar da- rauf vertrauen, dass Autor*innen, Herausgebende und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass die- se Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung der Zeitschrift entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applika- tionsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. 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Die Thieme Recht- schreibkonvention nennt Autor*innen mittlerweile kon- krete Beispiele, wie sie alle Lesenden gleichberechtigt ansprechen können. Die Ansprache aller Menschen ist ausdrücklich auch dort intendiert, wo im Text (etwa aus Gründen der Leseleichtigkeit, des Textumfangs oder des situativen Stilempfindens) z. B. nur ein generi- sches Maskulinum verwendet wird. Printed in Germany Satz: Ziegler und Müller, Kirchentellinsfurt Druck und Bindung: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, Calbe (Saale) Pädiatrie up2date 2022; 17 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 11

Pädiatrie up2date 1 · 2022 Entwicklung / Sozialpädiatrie 1 Abklärung von Entwicklungsstörungen: Symptome und Diagnostik Dagmar Weise Alexandra Gossler VNR: 2760512022161725405 DOI: 10.1055/a-1339-8739 Pädiatrie up2date 2022; 17 (1): 13–35 ISSN 1611-6445 © 2022 Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

CME-Fortbildung Abklärung von Entwicklungsstörungen: Symptome und Diagnostik Dagmar Weise, Alexandra Gossler In Anbetracht der Zunahme neuer Therapien wird das frühzeitige Erkennen von Erkrankungen immer wichtiger. Auch entwicklungsneurologische Auffälligkeiten sind hierbei nicht selten wegweisend, sodass wir die Entwicklung eines Kindes aufmerksam beurteilen müssen, um frühzeitig Abweichungen zu erkennen. Der Beitrag gibt einen Überblick zu Symptomen und Differenzialdiagnostik bei Entwicklungsstörungen und orientiert sich dabei am ICD-10-Katalog. ABKÜR ZUNGEN ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts- störung ADOS-2 Autism Diagnostic Observation Schedule BSID‑II Bayley Scales of Infant Development II CARS Childhood Autism Rating Scale CDG Congenital Disorder of Glycosylation CFT 20-R Culture Fair Intelligence Test (2006) CIDP cMRT chronisch-inflammatorisch demyelinisie- rende Polyneuropathie kraniale Magnetresonanztomografie/ Magnetresonanztomogramm Zytomegalievirus Deutsche Allgemeine Krankenkasse Differenzialdiagnose CMV DAK DD DRT 1–4 Diagnostischer Rechtschreibtest für DSM EEG ESES ET6-6 FAEP FSK GCH1 GLUT1 HSP IVH KABC‑II KiGGS Klasse 1–4 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders Elektroenzephalogramm Electrical Status epilepticus during slow-wave Sleep Entwicklungstest 6 Monate bis 6 Jahre frühe akustisch evozierte Potenziale Fragebogen zur sozialen Kommunikation GTP-Cyclohydrolase-1 Glukose-Transporter Hamburger Schreibprobe intraventrikuläre Hämorrhagie Kaufman Assessment Battery for Children (Version II, 2004) Eigenname für die „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutsch- land“, durchgeführt vom Robert Koch- Institut; Welle 2 ist die Fortsetzungsstudie von 9/2014-9/2017 Landau-Kleffner-Syndrom LKS M-CHAT Modified Checklist for Autism in Toddlers MeCP2 NCL PKU SEAS‑M Skala zur Erfassung von Autismus-Spektrum- Methyl-CpG-binding-Protein-2 neuronale Ceroid-Lipofuszinose Phenylketonurie SES SMA SON‑R SLC2A1 SRS SSEP SSV TPP1 UEMF VEP VLCFA WISC WLLP WPPSI WRT X‑ALD ZLT Störung bei Minderbegabten Sprachentwicklungsstörung spinale Muskelatrophie Snijders-Oomen Nicht-verbaler Intelligenz- test, revidiert Solute Carrier Family 2 Member 1 Skala zur Erfassung sozialer Reagibilität somatosensorisch evozierte Potenziale Störung des Sozialverhaltens Tripeptidylpeptidase 1 umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen visuell evozierte Potenziale Very long Chain fatty Acids Wechsler Intelligence Scale for Children Würzburger Leise Leseprobe Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence Weingartener Grundwortschatz Recht- schreib-Test X-chromosomale Adrenoleukodystrophie Zürcher Lesetest Weise D, Gossler A. Abklärung von Entwicklungsstörungen: … Pädiatrie up2date 2022; 17: 13–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 15

das neben genetisch-familiären Einflüssen auch Umwelt- bedingungen, individuelles Lernen, Erfahrung und kultu- relle Gegebenheiten einbezieht. Allein durch diese unter- schiedlichen Herangehensweisen wird deutlich, wie schwierig es sein kann, zu einer Einschätzung „normal“, „auffällig“ oder „pathologisch“ zu kommen. steine ist bei auffälligem Befund immer auch auf Risiko- faktoren (Anamnese) und weitere pädiatrisch-internisti- sche sowie neurologische Symptomatik zu achten. Dabei sollen vor allem Ursachen von Entwicklungsstörungen nicht übersehen werden, die einer kausalen Therapie zu- gänglich sind. Als Hilfestellung wurde hierfür das Modell der Entwick- lungsgrenzsteine entwickelt. Dieses gibt Fähigkeiten vor, die von 95% aller Kinder bis zu einem definierten Zeit- punkt erreicht werden. Wie dieses Ziel erreicht wird, ist dann nicht von Bedeutung [3]. Als Beispiel: Das freie Lau- fen als motorischer Grenzstein sollte bis zu einem Alter von 18 Monaten erreicht sein. Ob dies nun aber über die kontrollierte Bauchlage → Drehen → Sitzen → Vierfüßler- stand → Krabbeln → Vertikalisieren → freies Gehen (hie- rarchisch-linear) oder aber über adaptive Prozesse mit Auslassen/Anpassen einzelner Schritte geschieht, spielt in der Bewertung keine Rolle. Bekanntestes Screening-Instrument der Entwicklungs- grenzsteine ist – trotz seines Alters – der Denver Develop- mental Screening Test von 1967 (deutsche Standardisie- rung von 1973, Aktualisierung als Denver II 1992 [4]). Ak- tuellere Screening-Tests sind die EVU (erweiterte Vorsor- geuntersuchung) von 2001 und das NES (neuropsycholo- gisches Entwicklungs-Screening) von 2004. Diese zeiteffi- zienten und in der Praxis vielfach angewendeten Testver- fahren bringen jeweils Schwächen für z. B. Sensitivität und vor allem Validität mit. Dennoch sind aktualisierte, validierte Kurztests darüber hinaus nicht in deutscher Sprache verfügbar. Über Screening-Verfahren hinaus- gehende Entwicklungstests, deren Durchführung i. d. R. mehr Zeit in Anspruch nehmen, sind z. B. die BSID (Bayley Scales of Infant Development), der ET6-6, die GES (Grif- fithʼs Entwicklungsskalen) oder die MFED (Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik). Die auffällige Entwicklung Die definierten Entwicklungsgrenzsteine machen bei ge- nauer Betrachtung schnell deutlich, dass das Haupt- augenmerk je nach Alter des Kindes verschiedenen Berei- chen gewidmet werden kann. Postnatal und in den ersten Lebensmonaten dominiert die motorische Entwicklung, während ab dem 2. Lebensjahr Sprachentwicklungsauf- fälligkeiten deutlich werden können. Sozioemotionale so- wie kognitive Defizite fallen dann oft im Kindergarten- und Schulalter auf. Um die o. g. Zuordnung zu umschrie- benen, kombiniert umschriebenen oder globalen Ent- wicklungsstörungen treffen zu können, gilt es jedoch, stets allen Bereichen die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Neben dem Screening der Entwicklungsgrenz- Wichtige anamnestische Befunde bei Entwicklungsstörungen ▪ pränatal/perinatal/postnatal – Drogen-/Substanzabusus der Mutter – Komplikationen in der Schwangerschaft (z. B. Gestose, Infektion) – Ernährungsform in der Schwangerschaft – Mehrling – Frühgeburtlichkeit – Small for gestational Age – perinatale Komplikation (Asphyxie, Sepsis, intraventrikuläre Hämorrhagie [IVH], respiratorisches Versagen, Reanimation) – schwere Grunderkrankung (z. B. Herzfehler) ▪ psychosozial – sozioökonomischer Status der Familie – Trennungssituation der Eltern – somatische oder psychische Erkrankung einer nahen Bezugsperson – Deprivation, Misshandlung, Missbrauch Begleitende klinische Befunde bei Entwicklungsstörungen ▪ Auxiologie (z. B. Mikrozephalie, Makrozephalie, Kleinwuchs, Hochwuchs, Dystrophie) ▪ Integument und äußere Erscheinung – Dysmorphien (z. B. Ohrdysplasien, auffällige Lidachse, tiefer Haaransatz, flaches Philtrum) – Pigmentstörungen (z. B. White Spots, Café-au-Lait- Flecken, pigmentierte Handlinien) – Gefäßanomalien (Hämangiome, Teleangiektasien) – Hemihypertrophie – Skelettdeformitäten ▪ Herzuntersuchung (z. B. pathologisches Herzgeräusch, Situs inversus) ▪ Lungenuntersuchung (z. B. Symmetrie, Stridor) ▪ Abdomen (z. B. Splenomegalie, Hepatomegalie) ▪ Muskeltonus, Muskeltrophik, spontane motorische Aktivität ▪ Reflexe, einschließlich der Neugeborenenreflexe ▪ Hirnnervenfunktion (z. B. Schluckstörung, Augenbewegungsstörung) ▪ zerebrale Anfälle ▪ Sehfähigkeit/okuläre Symptome (z. B. Katarakt, Teleangiektasien) ▪ Hörfähigkeit Weise D, Gossler A. Abklärung von Entwicklungsstörungen: … Pädiatrie up2date 2022; 17: 13–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 17

FALLBEISPIEL Erstvorstellung eines bis dato gesunden und in allen Bereichen altersentsprechend entwickelten Mädchens im Alter von 5 Jahren zur Mitbeurteilung einer Sprachentwicklungsstörung. Das Kind lasse neuerdings Endungen weg, zeige Wortschatzdefizite und gramma- tikalische Fehler. Ein Hörtest ist unauffällig. Ein Wach-EEG zeigt bei Artefaktreichtum keinen sicher pathologischen Befund. Zeitgleich fallen Ablenkbarkeit und motorische Unruhe auf. Es wird eine expressive SES sowie eine auditive Wahrnehmungsstörung mit Störung der phonologischen Bewusstheit diagnostiziert und intensive Logopädie rezeptiert. Neben der SES wird in den kommenden 2 Jahren eine Entwicklungsstörung der Fein- und Graphomotorik sowie eine kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten (Lese-Rechtschreib-Schwäche, Rechenschwäche) bei durchschnittlicher Intelligenz diagnostiziert. Im Alter von 9 Jahren Durchführung eines cMRT (unauffällig) sowie eines Schlafentzug-EEGs mit pathologischem Befund (Zeichen der bilateral erhöhten zerebralen Anfallsbereitschaft über zentro-parieto-temporo-okzipital mit statushafter Schlafaktivierung ähnlich eines ESES; ▶ Abb. 2). Diagnose: Landau-Kleffner-Syndrom Damit Behandlungsbeginn mit Sultiam. Bei ausbleibender Besserung der klinischen und elektrophysiologischen Befunde Indikation zur Steroid-Puls-Behandlung und Erweiterung der Therapie um Valproinsäure. Hierunter langsame Stabilisierung mit Verbesserung des Sprachvermögens. Aufgrund der schulischen Problematik wurden eine Wiederholung der 4. Klasse und zuletzt ein Schulwechsel auf eine Förderschule für Kinder mit Hörschädigung notwendig. ▶ Abb. 2 EEG. 10–20-Ableitung im Schlaf. Beidseits parieto-zentro-okzipitale Spike-Wave-Komplexe in kettenartigen Serien mit Ausbreitungstendenz. Vor dem 3. Geburtstag eines Kindes werden Verzögerun- gen der Sprachentwicklung, die nicht zwingend in eine manifeste SES übergehen müssen, beschrieben. Hier lassen sich auch die Phänomene „late talker“ und „late bloomer“ einordnen. Die hohe Variabilität individueller kindlicher Sprachentwicklung ist u. a. in genetischen und sozialen Faktoren begründet. Merke Kinder mit Sprachentwicklungsverzögerungen sollen in der Familie, in der Betreuungseinrichtung und/ oder über die Frühförderung Sprachförderung erhal- ten, während manifeste SES einer medizinisch-indi- zierten differenzierten Sprachtherapie bedürfen. Weise D, Gossler A. Abklärung von Entwicklungsstörungen: … Pädiatrie up2date 2022; 17: 13–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 19

INFO Transaminasen-Erhöhung bei motorischer Entwicklungsstörung Nicht selten kommt es zur Vorstellung von Kindern, die mit einer unklaren Transaminasen-Erhöhung auf- gefallen sind. Die Hintergründe der Blutentnahme sind hier oft vielfältig (Infekt, Abklärung von Abge- schlagenheit etc.). Insbesondere wenn sich anhand von Anamnese und klinischer Untersuchung eine motorische Entwicklungsstörung (verspätetes Laufen lernen, reduzierte Belastbarkeit im Altersvergleich) ausmachen lässt, ist unbedingt an die Bestimmung der CK zu denken. Hinter einer Erhöhung von AST und ALT (i. d. R. AST > ALT) kann eine neuromuskuläre Er- krankung stecken. Der Verdacht ist mit Bestimmung der CK und weiterführender Diagnostik zu erhärten. In diesen Fällen resultieren die erhöht gemessenen Transaminasen aus zerstörtem Muskelgewebe. AP und GGT sind hierbei normwertig. Die Prävalenz der UEMF liegt in Deutschland bei ca. 5%, wobei auch hier Jungen häufiger betroffen sind als Mäd- chen [6]. Wie auch im Bereich Sprache ist für die kinderärztliche Praxis nach der Feststellung einer motorischen Entwick- lungsstörung sinnvolle Diagnostik zu initiieren. Lässt sich keine UEMF diagnostizieren, muss nach einer übergeord- neten Ursache für die motorische Entwicklungsstörung gesucht werden. Auch hier richtet sich die Diagnostik nach individueller anamnestischer und klinischer Befund- erhebung. Frühe Diagnostik ist neben der zunächst meist symptomatischen Förderung mit Physiotherapie und/ oder Frühförderung insbesondere für behandelbare Er- krankungen essenziell. Einige neuropädiatrische Krank- heitsbilder sollten demnach bedacht werden, je nach- dem in welchem Alter eine motorische Entwicklungsstö- rung in Erscheinung tritt (▶ Tab. 1). Im Rahmen der Differenzialdiagnostik ist außerdem die Suche nach somatischen Begleitbefunden wichtig. Labor, augenärztliche, sonografische (Abdomen/ZNS/Muskel) und kardiologische Zusatzbefunde führen nicht selten zur Diagnose. FALLBEISPIEL Zur stationären Mitbeurteilung wird ein 10 Jahre altes Mädchen vorstellig. Unauffällige Schwanger- schafts- und Geburtsanamnese. Das Mädchen sei motorisch etwas verspätet ins freie Laufen gekom- men (20 Monate), zeigte dann zunächst eine unauf- fällige Entwicklung. Kurz vor der Einschulung dann Beginn eines auffälligen Gangbildes mit asymmetri- scher Tonuserhöhung der unteren Extremitäten, Spitzfüßen, linksbetontem Zehengang sowie häufi- gem Stolpern und Stürzen. Diagnose einer spasti- schen beinbetonten Hemiparese bei unauffälligem cMRT. Behandlung mit Physiotherapie und Orthesen. Ebenfalls im Vorschulalter fällt eine expressive Sprachentwicklungsstörung auf und wird logopä- disch behandelt. Die kognitive Entwicklung ist zum gleichen Zeitpunkt auffällig und durch psychometri- sche Untersuchung im Bereich der Lernbehinderung dokumentiert. Klinisch-neurologisch zeigt sich ein auffälliges Gang- bild mit linksbetonter Spitz-Sichelfuß-Haltung, eher im Sinne einer Dystonie. Pyramidenbahnzeichen bds. negativ. Bei langsamen Bewegungsabläufen zudem dystone Haltung des linken Armes sowie affekt- getriggerte dystone Entäußerungen im Gesicht und in den Armen. Im Rahmen vorausgegangener gene- tischer Diagnostik zeigte sich eine Duplikation auf Chromosom 14, welche u. a. das GCH1-Gen betrifft und damit den Verdacht einer L-Dopa-responsiven Dystonie nahelegt. Es erfolgte ergänzende Diagnos- tik (u. a. Pterine und biogene Amine im Liquor) und ein L-Dopa-Behandlungsversuch, der eine sofortige klinische Besserung ergab. Diagnose: L-Dopa-responsive Dystonie (DYT5a) ▪ Es liegt keine neurologische (z. B. neuromuskuläre Er- krankung, Zerebralparese), sensorische (z. B. Sehstö- rung), psychische (z. B. Angststörung), kognitive (i. e. Intelligenzminderung), soziale oder kulturelle (z. B. Deprivation) Ursache für die motorischen Defizite vor. In Deutschland werden UEMF in Subgruppen klassifiziert, welche die betroffenen motorischen Bereiche spezifizie- ren. So werden Störungen der Grobmotorik von Störun- gen der Fein- und Graphomotorik unterschieden. Eine Besonderheit stellt die Diagnose der UEMF bei Kindern < 5 Jahre dar. Dies liegt zum einen an der Variabilität der Entwicklung motorischer Funktionen, zum anderen an der oft eingeschränkten Anwendbarkeit objektivierbarer Tests bei wechselnder Kooperation. Folglich sollte die Di- agnose einer UEMF nur gestellt werden, wenn anhand va- lider Einschätzungen die o. g. Kriterien erfüllt sind. Weise D, Gossler A. Abklärung von Entwicklungsstörungen: … Pädiatrie up2date 2022; 17: 13–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 21

FALLBEISPIEL Vorgestellt wird ein 16 Monate altes Mädchen, das nach unauffälliger Schwangerschaft reif und kompli- kationslos geboren wurde. Im Alter von ca. 5 Mona- ten sei es erstmals zu myoklonischen Anfällen mit Blickdeviation gekommen. Bei pathologischem EEG und dem V. a. eine frühkindliche myoklonische Epilepsie wurde eine antikonvulsive Therapie mit Valproinsäure begonnen. Es stellte sich für ca. 6 Monate Anfallsfreiheit ein. Im Alter von knapp 1 Jahr dann erneute zerebrale Anfälle mit „Kopfnicken“, die nach Dosisanpassung ebenfalls sistierten. Im Alter von 14 Monaten nächt- liche Unruhe mit Schlafstörung. Die psychomotori- sche Entwicklung ist verzögert; Stehen und Gehen ist bisher nicht erreicht. Freies Sitzen mit 11 Monaten. Seit dem Alter von 12 Monaten subjektiver Eindruck von motorischen Entwicklungsrückschritten. In der körperlichen Untersuchung bestätigt sich die moto- rische Entwicklungsstörung mit muskulärer Hypo- tonie und ataktischem Bewegungsmuster in höheren Positionen. Häufiges Kopfnicken und Zwinkern. Zudem zeigt sich – mit einem Kopfumfang auf der 9. Perzentile – eine sekundäre Mikrozephalie. Im Rahmen der stationären Diagnostik zeigen sich unauffällig Befunde für cMRT, Wach-EEG, Basislabor im Blut, erweitertes Labor (u. a. CDG-Diagnostik, VLCFA, Serologien, Chromosomenanalyse, organi- sche Säuren und Sulfittest im Urin). Im Liquor ergibt sich eine deutlich verminderte Liquor-Glukose mit 27 mg/dl (Liquor/Serum-Quotient 0,38). In der Folge Nachweis einer bekannt pathogenen Mutation im SLC2A1-Gen und humangenetische Bestätigung der Diagnose. Umstellung der Therapie auf ketogene Diät. Diagnose: Glukose-Transporter-Defizienz-Syndrom (GLUT1) Merke Die Liquoruntersuchung gehört zur Abklärung von Epilepsien mit Entwicklungsstörung im 1. Lebensjahr dazu. Störungen schulischer Fertigkeiten (ICD-10: F81) Diese Gruppe der – auch als Teilleistungsstörungen be- kannten – Entwicklungsstörungen betrifft Defizite im Er- werb schulischer Fertigkeiten. Hierzu gehören Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörungen als umschriebene oder kombiniert umschriebene Auffälligkeiten. Diagno- sekriterium nach ICD-10 ist i. d. R. neben der expliziten Störung eine deutliche Diskrepanz zum individuellen In- telligenzniveau und anderen ungestörten Kompetenzen. In der klinischen Praxis werden im Bereich der schu- lischen Teilleistungsstörungen (entgegen der zu Beginn genannten Diskrepanz von 1,5 Standardabweichungen) folgende Definitionen angewendet: Die Leistungen eines Kindes liegen deutlich (mindestens 1,2 Standardabweichungen) unter dem Durchschnitt der entsprechenden Alters- bzw. Klassenstufe und es besteht eine bedeutsame Diskrepanz von 1,2–1,5 Standard- abweichungen zwischen den unterdurchschnittlichen Schulleistungen des Schülers und seiner individuellen In- telligenz (doppeltes Diskrepanzkriterium) [7]. Dies ist bei der – ebenfalls in dieser Gruppe beschriebe- nen – Diagnose der Lernbehinderung (ICD-10: F81.9; De- finition: 70–84 IQ-Punkte) z. T. anders, da hier das intel- lektuelle Leistungsniveau an sich eingeschränkt ist und die Kriterien für die Vergabe der Diagnose einer Teilleis- tungsstörung im Sinne des „doppelten Diskrepanzkriteri- ums“ oft nicht erfüllt werde können. Vom Begriff der umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten ausgeschlossen sind all jene Stö- rungen, die im Rahmen übergeordneter neurologischer Erkrankungen (auch Seh-/Hörstörungen) auftreten, Ent- wicklungsstörungen auf dem Boden einer Vernachlässi- gung oder Misshandlung sowie bei Intelligenzminderung (F70–F79). In Deutschland findet sich eine Prävalenz von 3–8% aller Kinder, die mit Teilleistungsstörungen auffallen [8]. Psy- cholog*innen können die Diagnose über verschiedene Testinstrumente sichern. Dies ist für die notwendigen Be- handlungsmöglichkeiten von Bedeutung: Neben der El- ternberatung stehen die spezifische Förderung der schu- lischen Fertigkeiten und der Nachteilsausgleich im Schul- alltag im Vordergrund. Für Kinder mit V. a. Lernbehin- derungen ist neben der kognitiven Testung mit Diagnose- stellung auch ein sonderpädagogisches Fördergutachten notwendig. Dieses soll die Frage nach der adäquaten Schulform und den individuellen Förderschwerpunkten beantworten. Neben der von Testinstrumenten dominierten psycho- logischen Diagnostik gilt es, auch Seh- und Hörstörungen sowie assoziierte Entwicklungsstörungen (Sprachent- wicklung, ADHS, Schulabsentismus, Anpassungsstörung/ Ängste) als Ursache der Teilleistungsstörung zu erkennen und nach sinnvoller Diagnostik auch interdisziplinär zu behandeln. Zusammengefasst gehört zur Basisdiagnostik bei um- schriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertig- keiten: Weise D, Gossler A. Abklärung von Entwicklungsstörungen: … Pädiatrie up2date 2022; 17: 13–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 23

INFO Rett-Syndrom Aufgrund des oft vollständigen Verlusts sozialer Kontaktfähigkeit und den stereotypen Bewegungs- mustern findet sich das Rett-Syndrom in der Gruppe der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen als eigene ICD-10-Ziffer wieder. Es handelt sich hierbei um eine seltene progressive Enzephalopathie, die fast aus- schließlich Mädchen betrifft und auf einer (i. d. R. De-novo-)Mutation im MeCP2-Gen beruht. Nach zunächst unauffälliger Entwicklung kommt es (meist im 1.–2. Lebensjahr) zu einer Stagnation, dann einer Regression der bisherigen psychomotorischen Ent- wicklung. Typisch hierfür sind „Wasch-Stereotypien“ der Hände. Es findet sich zudem eine sekundäre Mi- krozephalie sowie eine globale (sekundäre) Entwick- lungsstörung. Bei einem Großteil der Kinder kommt es außerdem zu zerebralen Anfällen. Die Diagnose wird nach klinischem Verdacht genetisch gestellt. Eine kausale Therapie gibt es aktuell nicht. Intelligenzminderung (ICD-10: F70–F79) Die Bezeichnung Intelligenzminderung hat im medizini- schen Vokabular die Begriffe „mentale Retardierung“ oder „geistige Behinderung“ abgelöst und meint eine Entwicklungsstörung der kognitiven Fähigkeiten. Grund- sätzlich ist Intelligenzminderung mehrdimensional zu de- finieren. So spielen neben der über IQ-Punkte zu definie- renden Intelligenz vor allem im DSM-5 auch die Dimen- sionen Aktivität, Teilhabe und Anpassung an Anforderun- gen des Alltags eine Rolle. Dennoch wird der Schwere- grad der Intelligenzminderung anhand der IQ-Punkte de- finiert: ▪ leicht: 50–69 IQ-Punkte ▪ mäßig: 35–59 IQ-Punkte ▪ schwer: 21–35 IQ-Punkte ▪ schwerst: < 20 IQ-Punkte Die Prävalenz der Intelligenzminderung liegt in Deutsch- land bei ca. 2–3% (Gesamtbevölkerung). Hiervon entfällt der Großteil auf die leichte Intelligenzminderung. Da es sich hierbei meist um eine primäre Entwicklungsstörung (im Gegensatz z. B. zu einem Residualsyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma mit assoziierter Intelligenzmin- derung) handelt, erfolgt die Diagnosestellung i. d. R. im Kindesalter. Je schwerer die Intelligenzminderung, desto früher ist die Diagnose zu stellen. Ursachen für eine Intelligenzminderung werden in die häufigen endogenen (genetischen) und seltenen exo- genen Faktoren unterteilt. Genetisch lassen sich mittler- weile knapp 3000 Erkrankungen ausmachen, die mit einer Intelligenzminderung einhergehen [10]. Exogene Ursachen können infektiologischer, metabolischer und psychosozialer Natur sein. Auch pränatale (Infektionen, Alkohol, Folsäuremangel in der Schwangerschaft) und perinatale Komplikationen (Frühgeburt, Asphyxie, Sepsis) können sich im Verlauf mit einer Intelligenzminderung äußern. Obwohl sie den deutlich kleineren Teil der Ursa- chen ausmachen, wird den exogenen Faktoren in der not- wendigen Diagnostik bei Intelligenzminderung mehr Auf- merksamkeit geschenkt. Die diagnostische Annäherung erfolgt auch hier über Anamnese (inkl. Stammbaum) und klinische Unter- suchung. Besteht der Verdacht einer kognitiven Entwick- lungsstörung, wird über eine alters- und den Fähigkeiten angepasste kognitive Testung ein IQ-Wert ermittelt, der eine Lernbehinderung oder Intelligenzminderung als Stö- rung der kognitiven Entwicklung definieren lässt. Je jünger das Kind, desto schwieriger ist die Abgrenzung der Entwicklung kognitiver Funktionen von sprachlicher, sensomotorischer und perzeptiver Entwicklung. Daher eignen sich im Säuglings- und Kleinkindalter zu- nächst normierte allgemeine Entwicklungstests (z. B. BSID-II). Die Schlussfolgerung auf ein später erreichtes Intelligenzniveau ist bei auffälligem Entwicklungstest < 3 Jahre jedoch schwierig, insbesondere da die Testgüte dieser sehr heterogen aufgebauten Entwicklungstests in Bezug auf die Erfassung von Intelligenz gering aus- geprägt ist. Etwa ab dem 3. Lebensjahr können Kinder mit differenzierten Testinstrumenten (Intelligenztests) untersucht werden (SON‑R 2–8, WPPSI‑IV, WISC‑V, KABC-II). INFO Maternales Phenylketonurie-Syndrom Diese Erkrankung stellt eine besondere Herausforderung dar, da sie ausschließlich über die Analyse des Phenylalanins im Blut der Kindsmutter diagnostiziert werden kann. Kommt es in der Schwan- gerschaft bei maternaler Phenylketonurie oder maternaler Hyper- phenylalaninämie zu dauerhaft erhöhten Phenylalanin-Werten (> 240–360 µmol/l), kann sich eine Hyperphenylalanin-Embryo- pathie entwickeln. Das Neugeborenen-Screening der betroffenen Kinder ist in diesem besonderen Fall unauffällig, da die Exposition gegenüber erhöhtem Phenylalanin ausschließlich in utero stattfin- det. Die betroffenen Kinder zeigen eine Wachstumsretardierung, oft mit niedrigem Geburtsgewicht, eine primäre Mikrozephalie und Intelligenzminderung. Auch Herzfehler und dysmorphe Stigmata können auftreten. Die Inzidenz dieses Krankheitsbildes nimmt durch Früherkennung der PKU und daraus resultierend mehr Schwangerschaften von Frauen mit PKU zu. Eine optimale prä- und postkonzeptionelle Behandlung der Mutter ist die beste Präven- tionsmaßnahme. Weise D, Gossler A. Abklärung von Entwicklungsstörungen: … Pädiatrie up2date 2022; 17: 13–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 25

▪ vorwiegend unaufmerksamer Typ ▪ vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ ▪ kombiniert unaufmerksam-hyperaktiver Typ fälligkeiten, die als ADHS fehlinterpretiert werden kön- nen, beschrieben, sodass eine diesbezügliche Labordiag- nostik diskutiert werden kann. Diese Unterscheidung findet sich jedoch nicht im ICD-10, sondern geht auf das DSM-4 zurück. Im klinischen Alltag hat diese Differenzierung sich allerdings sehr bewährt. Im Laufe der kindlichen Entwicklung zeigen sich – etwa ab dem 4. Lebensjahr – zunächst hyperaktive Symptome. Die Aufmerksamkeitsdefizite manifestieren sich meist erst im Schulalter und damit etwas später. Retrospektiv gibt es Assoziationen von einem späteren ADHS bei Säug- lingen mit Regulationsstörungen oder aber Kleinkindern mit ausgeprägter motorischer Unruhe oder intensiver Trotzphase. Eine sinnvolle Diagnostik ist jedoch erst ab einem Alter von ca. 4 Jahren möglich. Im Schulalter fallen neben Aufmerksamkeitsdefiziten auch häufiges Stören des Unterrichts, Wutanfälle bei geringer Frustrationstole- ranz und/oder assoziierte Teilleistungsstörungen auf. Die Ursachen von ADHS sind nicht vollständig geklärt und heterogen. Neben genetischen Prädispositionen (familiä- res ADHS) spielen wohl prä-, peri- und frühe postnatale Faktoren eine Rolle. Hier werden schon lange Aspekte wie Frühgeburtlichkeit, Nikotinabusus in der Schwanger- schaft, niedriger sozioökonomischer Status, wenig emo- tionale Zuwendung, hoher Medienkonsum sowie erzie- herischer Strukturmangel diskutiert. Bisherige Studien konnten für o. g. Risikomomente jedoch nur Hinweise und keine klaren Zusammenhänge nachweisen. Die Prävalenz von ADHS wird weltweit mit ca. 5% aller Kinder zwischen 3 und 18 Jahren beziffert [11]. In der deutschlandweiten KiGGS-Datenerhebung (Welle 2: 2014–2017) wird die Prävalenz mit 4,4% angegeben – 6,5% aller Jungen und 2,3% aller Mädchen zwischen 3 und 17 Jahren wurden mit ADHS diagnostiziert. Für die kinderärztliche Diagnostik entscheidend sind zum einen die assoziierten Komorbiditäten (insbesondere psy- chische, z. B. oppositionelles Trotzverhalten, Störungen des Sozialverhaltens, Depression, Angst- und Lernstörun- gen), zum anderen Verhaltensstörungen im Rahmen so- matischer Erkrankungen, die als ADHS fehldiagnostiziert werden können. Sollte eine Diagnose aus dem Kreis der hyperkinetischen Störungen gestellt werden, ist eine kör- perliche und neurologische Untersuchung des Kindes ob- ligat. Die aktuelle S3-Leitlinie sieht darüber hinaus von Standardempfehlungen zu Labor- und apparativen Unter- suchungen ab. Da sowohl Seh- und Hörstörungen zu Unaufmerksamkeit und schulischen Auffälligkeiten führen können, ist eine entsprechende Überprüfung dieser sensorischen Funk- tionen sinnvoll. Auch Störungen der Schilddrüsenfunk- tion sowie Eisenmangelzustände sind mit Verhaltensauf- Gibt es im Rahmen der kinderärztlichen Anamnese und Untersuchung jedoch Hinweise für weitere Entwicklungs- auffälligkeiten, für zerebrale Anfälle, für ein akut-neurolo- gisches Geschehen (DD: Autoimmun-Enzephalitis), für entwicklungsneurologische Regression (z. B. Jungen mit Adrenoleukodystrophie) oder aber klinische Aspekte einer übergeordneten genetischen Erkrankung (Fragiles- X-Syndrom, Mikrodeletionssyndrome, Neurofibromatose Typ 1), ist dringend weiterführende Diagnostik umzuset- zen. Emotionale Störungen des Kindesalters, insbesondere Angststörungen (F93) Die häufigsten Verhaltensstörungen des Kindesalters sind emotionale Störungen. Hierbei werden in den ICD-10-Kri- terien Trennungsangst, Phobien, soziale Ängstlichkeit und Geschwisterrivalität differenziert. Eine Leitlinie zu „Prävention, Diagnostik und Therapie von Angststörun- gen des Kindes- und Jugendalters“ wurde 2019 angemel- det und wird voraussichtlich im Jahr 2022 erwartet. Stö- rungswert erlangen diese zunächst als Bestandteil phy- siologischer Entwicklung auftretenden Phänomene erst dann, wenn eine unübliche Ausprägung, eine abnorme Dauer über die typische Altersstufe hinaus und/oder deutliche Probleme in sozialen Funktionen assoziiert sind. So ist Fremdeln im Säuglingsalter Teil des normalen Verhaltens, Schulabsentismus durch Trennungsangst er- füllt jedoch die Kriterien einer Störung. Auch die Angst vor Hunden kann ein erlerntes physiologisches Verhalten sein, wenn es nicht zu alltagsrelevantem Vermeidungs- verhalten führt, das die weitere Entwicklung und/oder Teilhabe einschränkt. Ob es sich um eine entwicklungspsychologische Norm- variante oder aber um ein manifestes Störungsbild han- delt, sollte von erfahrenen Kinder- und Jugendpsychia- ter*innen oder ‑psychotherapeut*innen durch Anamne- se und Untersuchung mit den entsprechenden Instru- menten (Test, Fragebogen) eruiert werden. In Deutschland sind je nach Quelle 10–15% aller Kinder im Laufe ihres Heranwachsens von einer emotionalen Störung (am häufigsten einer Angststörung) betroffen [12]. In Anbetracht der „Schrittmacher-Funktion“ dieser Störungsbilder für die Manifestation psychischer Erkran- kungen im Erwachsenenalter ist ein frühes Erkennen, strukturiertes Diagnostizieren und Behandeln dieser Stö- rungen essenziell. Nach kinder- und jugendpsychiatrischer oder ‑psychothe- rapeutischer Diagnosestellung sollte sich die kinderärzt- liche Diagnostik nach Anamnese und körperlich-neurolo- gischer Untersuchung richten. Zudem sollten Komorbidi- Weise D, Gossler A. 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Bereich Basisdiagnostik erweiterte Diagnostik ▪ entwicklungsneurologische Unter- ▪ Labordiagnostik (z. B. Kreatinkinase, saure ▶ Tab. 2 Fortsetzung ICD-10 F82 Motorische Entwicklungsstörung Basisdiagnostik bei umschriebener Ent- wicklungsstörung motorischer Funktionen; erweiterte Diagnostik bei Hinweisen für Komorbidität und/oder übergeordnete Er- krankung. suchung** ▪ ggf. Hörtest ▪ ggf. Sehtest F81 Störung schulischer Fertigkeiten Teilleistungsstörungen: ▪ Lese-/Rechtschreibstörung ▪ Rechenstörung ▪ Lernbehinderung Erweiterte Diagnostik bei Intelligenzmin- derung oder Hinweisen für übergeordnete Erkrankung. ▪ psychologische Untersuchung und Diagnostik mit psychometrischer Testung ▪ entwicklungsneurologische Unter- suchung** ▪ Hörtest ▪ Sehtest F84 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen Erweiterte Diagnostik bei Hinweisen für assoziierte oder übergeordnete Störung. ▪ psychologische Untersuchung und Diagnostik ▪ entwicklungsneurologische Unter- suchung** ▪ Hörtest ▪ EEG α-Glucosidase-Aktivität, SMA-Genetik) ▪ Elektrophysiologie (Neurografie, SSEP, F-Wellen-Untersuchung) ▪ Muskelsonografie ▪ cMRT, spMRT je nach Begleitbefunden ▪ EEG bei Hinweisen für zerebrale Anfälle ▪ bei Intelligenzminderung: siehe dort ▪ cMRT ▪ Labordiagnostik einschließlich Genetik (z. B. Rett-, Angelman-Syndrom) je nach Begleitbefunden F70–79 Intelligenzminderung Dieser diagnostische Leitfaden kann eben- falls bei Kindern mit globaler Entwick- lungsstörung angewandt werden und soll- te im Umfang an individuelle Befunde und Fragestellungen angepasst sein. ▪ psychologische Vorstellung mit psycho- ▪ kinder- und jugendpsychiatrische Unter- metrischer Testung ▪ entwicklungsneurologische Unter- suchung zu assoziierten Verhaltensstörun- gen, emotionalen Störungen suchung** ▪ Sehtest und Funduskopie ▪ Hörtest ▪ EEG ▪ cMRT Basislabor Blut: ▪ Diff-Blutbild mit Suche nach vakuolisier- ten Lymphozyten ▪ Blutzucker, Blutgasanalyse ▪ Elektrolyte, Laktat, Transaminasen, alka- lische Phosphatase, Kreatinkinase, Harn- säure, Homocystein, Eisenstatus, Schilddrüsenparameter ▪ Trockenblutkarte für Acylcarnitinspek- trum in der TMS, Biotinidasebestim- mung ▪ überlangkettige Fettsäuren (VLCFA), Phytansäure, Pristansäure ▪ CDG-Diagnostik ▪ Toxoplasmose + CMV-Serologie ▪ ggf. MR-Spektroskopie erweitertes Labor Blut: ▪ Kupfer, Coeruloplasmin ▪ 7-Dehydrocholesterol ▪ lysosomale Enzymatik (z. B. TPP1, saure α-Glucosidase, Arylsulfatase A) nüchtern: ▪ Aminosäuren ▪ Ammoniak ▪ Blutzucker ▪ Laktat Genetik unspezifisch: ▪ Chromosomenanalyse ▪ Array-CGH ▪ Fragiles-X-Syndrom ▪ ggf. Paneldiagnostik ▪ Trio-Whole-Exom-Sequencing Genetik spezifisch: ▪ bei Hinweisen für monogene Erkrankung (z. B. Angelman-, Prader-Willi-, Rett- Syndrom) Fortsetzung nächste Seite Weise D, Gossler A. Abklärung von Entwicklungsstörungen: … Pädiatrie up2date 2022; 17: 13–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 29

Interessenkonflikt Literatur Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an im Bereich der Medizin aktiven Firma: nein; Patent/ Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an zu Sponsoren dieser Fortbildung bzw. durch die Fortbil- dung in ihren Geschäftsinteressen berührten Firma: nein. Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht. Autorinnen/Autoren [1] Schlack HG, Thyen U, von Kries R, Hrsg. Sozialpädiatrie. Kapitel 7: Umschriebene Entwicklungsstörungen. Heidelberg: Sprin- ger; 2009 [2] Greiner W, Batram M. Kinder- und Jugendreport 2020. Biele- feld/Hamburg: DAK; 2020 [3] Michaelis R. Entwicklung, Entwicklungsstörungen und Risiko- faktoren. Pädiatrie 2019; 1: 159–167 [4] Frankenburg WK, Dodds J, Archer P et al. The Denver II: a ma- jor revision and restandardization of the Denver Develop- mental Screening Test. Pediatrics 1992; 89: 91–97 [5] Norbury CF, Gooch D, Wray P et al. The impact of nonverbal ability on prevalence and clinical presentation of language dis- order: evidence from a population study. J Child Psychol Psy- chiat 2016; 57: 1247–1257 Dagmar Weise [6] Dr. med., Jahrgang 1964. Studium der Human- medizin an der Medizinischen Universität zu Lübeck, University College London, Univer- sitätsklinik Basel; Facharztausbildung Kinder- und Jugendmedizin am Altonaer Kinderkran- kenhaus in Hamburg, Weiterbildung Schwer- punkt Neuropädiatrie in Göttingen. 2001–2006 Oberärztin am Altonaer Kinderkrankenhaus Hamburg, Schwerpunkt Neuropädiatrie. 2006 Wechsel zur Universitätsmedizin Göttingen, seit 2011 dort Oberärztin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, stellvertretende Leiterin des Sozial- pädiatrischen Zentrums. Alexandra Gossler Dr. med., Jahrgang 1987. 2007–2014 Studium der Humanmedizin an der Georg-August-Uni- versität in Göttingen. 2014–2020 Facharzt- weiterbildung Kinder- und Jugendmedizin in Göttingen und Hamburg. 2020 Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin. Seit 2020 Weiter- bildung Schwerpunkt Neuropädiatrie in Göttingen. Danksagung Die Autorinnen bedanken sich für die freundliche und bera- tende Unterstützung bei Herrn Dr. rer. nat. Michael Lingen. Korrespondenzadresse Dr. med. Alexandra Gossler Universitätsmedizin Göttingen Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Robert-Koch-Str. 40 37075 Göttingen Deutschland alexandra.gossler@med.uni-goettingen.de Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungs- bestimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Alexandra Gossler, Göttingen. Blank R, Vinçon S. Deutsch-österreichisch-schweizerische (DACH) Versorgungsleitlinie zu Definition, Diagnostik, Be- handlung und psychosozialen Aspekten bei Umschriebenen Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen (UEMF), Langfassung. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF online); 2020. Im Internet (Stand: 07.02.2022): https://www.awmf.org/up- loads/tx_szleitlinien/022-017l_S3_Umschriebene-Entwick- lungsstoerungen-motorischer-Funktionen-UEMF_2020- 08_01.pdf [7] Wirtz MA, Hrsg. Dorsch. Lexikon der Psychologie. Diskrepanz- kriterium. Im Internet (Stand: 01.11.2021): https://dorsch.ho- grefe.com/stichwort/diskrepanzkriterium [8] Fischbach A, Schuchardt K, Brandenburg J et al. Prävalenz von Lernschwächen und Lernstörungen: Zur Bedeutung der Diag- nosekriterien. Lernen Lernstö 2013; 2: 65–76 [9] Mayada E, Divan G, Yun-Joo K et al. Global prevalence of au- tism and other pervasive developmental disorders. Autism Res 2012; 5: 160–179 [10] Chiurazzi P, Pirozzi F. Advances in understanding – genetic ba- sis of intellectual disability. F1000Res 2016; 7: 5 [11] Polanczyk G, de Lima MS, Horta BL et al. The worldwide prev- alence of ADHD: a systematic review and metaregression anal- ysis. Am J Psych 2007; 164: 942–948 [12] Steffen A, Akmatov MK, Holstiege J et al. Diagnoseprävalenz psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland: eine Analyse bundesweiter vertragsärztlicher Abrechnungsdaten der Jahre 2009 bis 2017. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland. Versor- gungsatlas-Bericht Nr. 18/07. Berlin; 2018 [13] Fuchs M, Karwautz A. Epidemiologie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Neuropsychiatrie 2017; 3: 96– 102 Bibliografie Pädiatrie up2date 2022; 17: 13–33 DOI 10.1055/a-1339-8739 ISSN 1611-6445 © 2022. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Weise D, Gossler A. Abklärung von Entwicklungsstörungen: … Pädiatrie up2date 2022; 17: 13–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 31

Punkte sammeln auf CME.thieme.de Fortsetzung … Frage 9 Welcher Punkt wird nicht als Risikofaktor für die Entwicklung eines ADHS im Kindesalter diskutiert? A Frühgeburtlichkeit B Nikotinabusus in der Schwangerschaft C erzieherischer Strukturmangel D hoher Medienkonsum E viele Geschwister Frage 10 Welche Untersuchung ist bei isolierter Teilleistungsstörung im Kindesalter am ehesten verzichtbar? A Hörtest B Testung auf isolierte Störung (Lese-/Rechtschreibtest, Re- chentest) C Intelligenztest D Sehtest E cMRT Service für unsere Leser Schon registriert? Bei Thieme CME Punkte online einreichen und verwalten Gleich anmelden: www.cme.thieme.de up2date – Fortbildung mit dem roten Faden Weise D, Gossler A. Abklärung von Entwicklungsstörungen: … Pädiatrie up2date 2022; 17: 13–33 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 33

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Pädiatrie up2date 1 · 2022 Intensivmedizin / Neonatologie 11 Physiologiebasierte Erstversorgung sehr kleiner Frühgeborener Angela Kribs Ruth Klein Katrin Mehler VNR: 2760512022161725413 DOI: 10.1055/a-1194-2365 Pädiatrie up2date 2022; 17 (1): 37–54 ISSN 1611-6445 © 2022 Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

CME-Fortbildung Physiologiebasierte Erstversorgung sehr kleiner Frühgeborener Angela Kribs, Ruth Klein, Katrin Mehler Komplexe physiologische Prozesse bei der Geburt sorgen für die Anpassung der Organsysteme, die bei Frühgeborenen durch die Unreife erschwert sind. Deshalb hat die Erstversorgung einen entscheidenden Einfluss auf das weitere Leben des Kindes. Ziel dieses Beitrages ist es, die Physiologie der perinatalen Transition und die Beson- derheiten bei Frühgeborenen zu beschreiben und ein darauf basierendes Konzept für die Erstversorgung darzustellen. Einleitung Der Übergang vom intrauterinen zum extrauterinen Le- ben, die perinatale Transition, ist ein sehr komplexer Pro- zess, bei dem so viele physiologische Änderungen erfol- gen wie zu keinem anderen Zeitpunkt im Leben mehr. Beim Frühgeborenen ist dieser Prozess aufgrund der Un- reife erschwert. Er muss daher bei der Erstversorgung sorgfältig beobachtet und ggfs. gezielt unterstützt wer- den. Der Einsatz invasiver Maßnahmen, wie z. B. der ma- schinellen Beatmung, kann zwar einerseits lebensrettend sein, geht allerdings andererseits mit dem Risiko dauerhaf- ter Schädigungen einher. Um das vulnerable Frühgebore- ne möglichst wenig durch invasive Maßnahmen zu belas- ten und endogene Schutzmechanismen zu nutzen, ist die Kenntnis der Physiologie des Frühgeborenen essenziell. Elemente der perinatalen Transition Merke Die Phase der postnatalen Transition ist durch die ausgeprägte Dynamik der Prozesse sehr vulnerabel für Störungen, die einen erheblichen Einfluss auf den Verlauf der Anpassungsphase und das spätere Leben haben können. Die kardiopulmonale Transition, der Übergang von der Plazenta auf die Lunge als Gasaustauschorgan, ist unmit- telbar lebensbestimmend und steht deswegen im Fokus des Interesses aller Berufsgruppen, die sich mit werden- den Müttern und Neugeborenen beschäftigen. Neben der kardiorespiratorischen Anpassung umfasst die perinatale Transition aber auch den Übergang von der Plazenta auf eine Vielzahl anderer Organe, die einzelne Funktionen übernehmen. So übernimmt der Magen- Darm-Trakt die Funktion der Ernährung und die Niere die Funktion der Entgiftung und der Flüssigkeitshomöostase. FALLBEISPIEL Karl kommt per Sectio bei Blasensprung vor einer Woche und jetzt beginnender Wehentätigkeit in der 24 + 3 SSW zu Welt. Eine Lun- genreifungsbehandlung mit 2-maliger Gabe von Betamethason war am Tag des vorzeitigen Blasensprungs begonnen worden. Sein Schätzgewicht beträgt 550 g. Karl wird mit Plazenta zur Erstversorgungseinheit gebracht. Er wird in Komfortposition gelagert, mit einer Folie bedeckt und der Masken- CPAP wird unmittelbar begonnen. Währenddessen wird die Plazenta etwa 30 cm über Herzniveau gehalten. Karl zeigt Spontanbewegung, hat eine Herzfrequenz um 90 und macht unter CPAP vereinzelte Atemzüge. Unter schrittweiser CPAP-Druckerhöhung unter Bei- mischung von 0,3 FiO2 stabilisiert sich die Herzfrequenz um 100 bpm. Die Atmung wird regelmäßiger und die Herzfrequenz steigt weiter. Im Alter von 5 Minuten ist eine Sauerstoffsättigung von 80% erreicht. Jetzt wird die Plazenta abgenabelt. Nach weiterer Sta- bilisierung erfolgt im Alter von 10 Minuten der Wechsel auf nasale Prongs und die Anlage einer Magensonde. Die Atmung ist jetzt mit einer Frequenz von 35 stabil, aber noch dyspnoisch. Es erfolgt die Versorgung mit einer Venenverweilkanüle und die Gabe einer anti- biotischen Therapie sowie von Koffeincitrat. Inzwischen ist Karl 35 Minuten alt. Er wird vorsichtig unter Beibehaltung der Position auf den Rücken gedreht und mit seitlichen Tuchrollen unterstützt. Es erfolgt die Gabe von Surfactant via LISA. Nach der LISA-Prozedur verbleibt Karl noch etwa 10 Minuten in Mittelstellung; er ist inzwi- schen 60 Minuten alt. Die Mutter wird im Bett zur Erstversorgungs- einheit gebracht, ihr Kind wird auf ihre Brust gelagert und mit Folie, angewärmte Tüchern und der Decke der Mutter zugedeckt. Nach 15 Minuten erfolgt der Kängurutransport auf die NICU. Kribs A et al. Physiologiebasierte Erstversorgung sehr … Pädiatrie up2date 2022; 17: 37–54 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 39

ren Atemwege ins Fruchtwasser ausgestoßen wird. Mit den ersten Atemzügen wird die verbliebene Flüssigkeit zunächst aus den oberen Atemwegen und dann aus den Alveolen verdrängt. Die Verdrängung aus den Alveolen führt zu einer Flüssigkeitsakkumulation im interstitiellen Lungengewebe. Von dort wird die Flüssigkeit dann über Lymph- und Blutgefäße abtransportiert. In diesem 3-pha- sigen Prozess zeigt das Neugeborene physiologischerwei- se ganz typische und spezielle Atemmuster mit langer In- spiration und endexspiratorischer Pause, wodurch ein intraalveolärer Druck aufrechterhalten wird, der das Zu- rückfließen von Flüssigkeit in die Alveole verhindert und zum Aufbau einer funktionellen Residualkapazität bei- trägt (FRC). Während dieser Phase bildet der in der Lun- genflüssigkeit des reifen Neugeborenen enthaltene Sur- factant eine Schicht, die die Alveole von innen auskleidet und abdichtet. Auch dadurch wird der Rückfluss von Flüs- sigkeit aus dem interstitiellen Gewebe gehemmt. Mit der Belüftung der Lunge nimmt gleichzeitig der Blut- fluss durch die Lunge und damit der Rückstrom von oxy- geniertem Blut in den linken Vorhof zu, wodurch die Ab- hängigkeit des linksventrikulären Volumens vom umbili- kalvenösen Rückstrom nicht mehr gegeben ist. Eine unproblematische vaginale Geburt nach spontanem Wehenbeginn am Termin sowie der Erhalt der plazenta- ren Perfusion bis zum Einsetzen der Spontanatmung des Kindes und der Lungenbelüftung bilden also die physiolo- gische Grundlage für eine ungestörte kardiopulmonale Adaptation. Jegliche Abweichung von dieser Physiologie kann zu einer Störung des Anpassungsprozesses führen. Physiologische Besonderheiten des Frühgeborenen Frühgeborene zeigen einige unreifebedingte Besonder- heiten, welche die kardiopulmonale Transition auch dann erschweren können, wenn keine weiteren Störfaktoren vorliegen. Neben der strukturellen und biochemischen Unreife der Lunge, die den Surfactantmangel einschließt, besteht auch eine Unreife der zentralen Atemregulation, wodurch es zu einem verzögerten Einsetzen der Spontan- atmung und zu Apnoen kommen kann. Merke Bei der Versorgung von Frühgeborenen besteht eine besondere Notwendigkeit der Beachtung physiolo- gischer Prinzipien der Transition, da sie durch ihre Unreife in besonderer Weise gefährdet sind, Anpassungsstörungen zu entwickeln. Darüber hinaus besteht bei Frühgeborenen eine Unreife des gesamten respiratorischen Systems, das die oberen Luftwege, den Larynx, den Bronchialbaum, die Atemmus- kulatur und Atemhilfsmuskulatur sowie den knöchernen FALLBEISPIEL Bei Mia erfolgt die primäre Sectio aus mütterlicher Indikation in der 29 + 0. SSW. Aufgrund eines HELLP-Syndroms mit starker Dynamik erfolgt bei einer Thrombozytopenie von 70 000 der Kaiserschnitt in Intubationsnarkose mit Trapanal. Die Lungenreifungsbehandlung war am Vortag begonnen worden und das Schätzgewicht beträgt 1000 g. Mia wird schreiend zur Erstversorgungseinheit gebracht. Ihr Vater begleitet sie. Die Herzfrequenz ist > 100. In Seitenlagerung wird mit Masken-CPAP begonnen. Zur Minimierung des Temperaturverlustes wird sie mit einer Polyurethanfolie und angewärmten Tüchern be- deckt. Mia wirkt unkoordiniert, überstreckt sich und schreit, um dann wiederholt Apnoen zu bieten, die von Herzfrequenzabfällen bis auf 80 bpm begleitet werden. Unter Stimulation setzt jeweils die Atmung wieder ein und die Herzfrequenz steigt auf ca. 135 bpm an. Als Ursache vermuten wir einen Substanzübertritt bei Trapanalnar- kose der Mutter. Es erfolgt frühzeitig eine Rachentubusanlage sowie die Versorgung mit einer Magensonde und einer Venenverweil- kanüle zur Gabe einer Ladedosis Koffeincitrat. Zur Unterstützung der Ventilation erfolgt die Applikation einer NIPPV. In Phasen regelmäßiger Atmung hat Mia keinen zusätzlichen FIO2- Bedarf, die Atmung ist tachypnoisch mit seltener werdenden Ap- noen. Da die Applikation eines höheren Mitteldrucks aufgrund der Apnoeneigung wegen des Narkoseübertritts erfolgt, Mia aber eine gute Atemmechanik zeigt, wird auf eine Surfactantapplikation ver- zichtet. Die durchgeführte Blutgasanalyse zeigt eine ausreichende Ventila- tion, daher kann Mia, als ihre Mutter aus dem OP kommt und wach wird, im Haut-zu Haut-Kontakt gelagert werden und unter Über- wachung 30 Minuten lang mit ihrer Mutter bonden. Während sie vom Vater begleitet auf die NICU gebracht wird, unterstützt die zuständige Hebamme die Mutter bei der ersten Milchgewinnung. Thorax umfasst. Während die Compliance der Lunge selbst bei Frühgeborenen gering ist, weisen die oberen Atemwege, der Bronchialbaum und der knöcherne Tho- rax eine sehr hohe Dehnbarkeit auf. Der weiche Thorax, gemeinsam mit der schwachen Atemhilfsmuskulatur, er- lauben es dem Frühgeborenen nur begrenzt, die typi- schen Atemmuster zu entwickeln, die für den Aufbau eines für die Belüftung der Lunge notwendigen trans- pleuralen Drucks notwendig sind. Dadurch ist der Aufbau der FRC erschwert. Zusätzlich kommt es endexspirato- risch durch die erhöhten Rückstellkräfte der Lunge zu einem Alveolarkollaps. Als klinische Zeichen einer unreifebedingten Beeinträch- tigung der kardiopulmonalen Transition lassen sich da- durch bedingte charakteristische Symptome beschrei- ben. Juguläre, sternale sowie interkostale Einziehungen und eine asynchrone Bewegung von Bauch und Thorax- wand deuten darauf hin, dass das Kind zwar durch Zwerchfellkontraktionen einen erheblichen Unterdruck Kribs A et al. Physiologiebasierte Erstversorgung sehr … Pädiatrie up2date 2022; 17: 37–54 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 41

terlichen Erkrankung iatrogen herbeigeführt, so erfolgt die Geburt häufig durch Sectio und die intrauterine Vor- bereitung des Kindes auf die Geburt mit Beginn der Re- sorption pulmonaler Flüssigkeit findet nicht statt. Liegt als Ursache der Frühgeburt eine Wachstumsretardierung des Kindes auf dem Boden einer Plazentainsuffizienz vor, besteht ein erhöhtes Risiko für intrauterine Hypoxien, die das Kind in seiner Vitalität und Adaptationsfähigkeit be- einträchtigen können. Ist das Kind auf dem Boden eines dieser Probleme depri- miert, erfolgt zumeist unmittelbar nach der Geburt die Abnabelung des Kindes, damit es möglichst zügig einer respiratorischen Versorgung zugeführt werden kann. Dies zieht, wie oben beschrieben, das Risiko einer zumin- dest vorübergehenden Kreislaufbeeinträchtigung nach sich, die zwar einerseits vielleicht in Kauf genommen wer- den muss, die aber andererseits auf jeden Fall berücksich- tigt werden sollte. Darüber hinaus besteht bei Frühgeburtlichkeit ein hohes Risiko für das Auftreten eines RDS im Sinne eines primä- ren Surfactantmangels, wobei das Risiko umso höher ist, je unreifer das Kind ist. Alle diese Risiken für eine erschwerte kardiopulmonale Adaptation beim Frühgeborenen müssen in die Planung der Erstversorgung mit einbezogen werden. Zustandsbeurteilung des Frühgeborenen Um zielgerichtete Maßnahmen im Rahmen der kardiore- spiratorischen Stabilisierung ergreifen zu können, ist eine Zustandsbeurteilung des Frühgeborenen erforderlich. Traditionellerweise wird dafür der Apgar-Score mit der Beurteilung von Herzfrequenz, Atmung, Hautfarbe, Mus- keltonus und Reflexen herangezogen. Merke Nach den neuen ERC-Leitlinien wird vorgeschlagen, lediglich die 3 Kriterien Herzfrequenz, Atmung und Muskeltonus zur Zustandsbeurteilung heranzuziehen [1]. Das Vorhandensein einer adäquaten Herzfrequenz gilt dabei als Hinweis auf eine hinreichende Sauerstoffsätti- ▶ Tab. 2 Silverman Score. gung. Für jede der 3 Kriterien wird eine jeweils 3-stufige Beurteilung vorgeschlagen. Die Herzfrequenz gilt dabei als schnell, wenn sie > 100/min liegt, als langsam bei Wer- ten zwischen 60 und 100/min und als sehr langsam, wenn sie < 60/min liegt oder ganz fehlt. Die Atmung gilt als suffizient, wenn das Kind regelmäßig mit einem unauffälligen Atemmuster atmet, sie gilt als insuffizient, wenn das Kind zwar atmet, jedoch pathologi- sche Atemmuster wie Schnappatmung oder Stöhnen zeigt und als fehlend, wenn sich keinerlei Atemtätigkeit beobachten lässt. Der Muskeltonus wird in die 3 Kategorien gut, reduziert oder Floppy eingestuft. Da Herzfrequenz, Atmung und Muskeltonus sich gegen- seitig beeinflussen, kann davon ausgegangen werden, dass bei einer unzureichenden Atmung die Herzfrequenz nicht adäquat ansteigt oder wieder absinkt und gleichzei- tig auch der Muskeltonus abnimmt. Auf dieser Grundlage lassen sich dann entsprechend den ERC-Leitlinien 3 Kate- gorien von Kindern definieren, die spezifizierte Maßnah- men nach dem Algorithmus der Neugeborenen-Reani- mation erhalten [1]. Bei Frühgeborenen ist aufgrund der oben beschriebenen pathophysiologischen Besonderheiten jedoch damit zu rechnen, dass sie, selbst wenn sie vital, mit guter Herzfre- quenz, gutem Muskeltonus und adäquatem Atemantrieb geboren werden, eine Atemstörung entwickeln. Daher müssen Herzfrequenz und pulsoxymetrisch gemessene Sauerstoffsättigung kontinuierlich erfasst und überwacht werden. Die Pulsoxysonde sollte dafür präduktal an der rechten Hand angebracht werden, um die für die zere- brale Versorgung relevante Sättigung zu bestimmen. Zu- sätzlich empfiehlt es sich, die oben genannten klinischen Kriterien einer unreifebedingten Atemstörung vor allem im Verlauf mitzuerfassen, da sich ein RDS bei inadäquater Therapie im Verlauf verschlechtern kann. Der Silverman-Score ist ein geeignetes Instrument, die Symptome der Atemnot zu quantifizieren und damit den Verlauf der Atemstörung eines Frühgeborenen zu be- schreiben (▶ Tab. 2). Symptome Score = 0 Score = 1 Score = 2 Thorax-/abdomenbewegung synchron und gleich synchron und ungleich Schaukelatmung interkostale Einziehungen sternale Einziehungen Nasenflügeln „Knorksen“ keine keine keine keine wenig wenig wenig wenig ausgeprägt ausgeprägt ausgeprägt ausgeprägt Kribs A et al. Physiologiebasierte Erstversorgung sehr … Pädiatrie up2date 2022; 17: 37–54 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 43

FALLBEISPIEL Ludwig kommt nach vorzeitigem Blasensprung in der 32 + 4. SSW per sekundärer Sectio auf die Welt, nachdem ein Versuch der Einleitung gescheitert ist. Bei seiner Mutter besteht ein insulinpflichtiger Ges- tationsdiabetes, der mäßig eingestellt ist, ein Beta- Streptokokken-Screening wurde nicht durchgeführt. Ludwigs Schätzgewicht beträgt 2,6 kg. Im Alter von 10 Minuten meldet sich die Geburtshilfe, wegen eines stöhnenden Kindes mit zyanotischem Mund- dreieck. Versehentlich hatte man das Gestationsalter auf > 37. SSW angenommen und das Kinderärzte- team erst sekundär hinzugezogen. Bei einer Sauer- stoffsättigung von 82% wird sofort nach Lagerung in Komfortposition die CPAP-Therapie über einen Rachentubus begonnen. Zunächst ist ein FiO2 von 0,4 notwendig. Im Verlauf der nächsten 30 Minuten bessert sich das Atemmuster, jetzt herrscht in Ruhe eine Tachypnoe vor, die bei jeder Belastung wieder in eine Brady- dyspnoe umschlägt, ein Sauerstoffbedarf besteht nicht mehr. Zur Unterstützung der Transition wird Ludwig im Haut-zu-Haut-Kontakt auf der Mutter ge- lagert. Bei sich klinisch besserndem Atemmuster und in der Nabelschnur physiologischen Blutzuckerniveau von 57 mg/dl wird vorerst auf eine Blutentnahme oder DTI-Anlage verzichtet. Unter Überwachung ver- bringt Ludwig die nächste Stunde auf der Brust seiner Mutter, die Mutter füttert tropfenweise mithilfe der Hebamme ausgestrichenes Kolostrum. Am Ende dieser Stunde lässt sich der CPAP-Druck reduzieren, bleibt aber bei 6 cm H2O bestehen. Ludwig wird auf die NICU zur weiteren CPAP-Therapie aufgenommen. Im Verlauf erfolgt wegen knapper Blutzucker eine Versorgung mit einer Mischtropf- lösung. Die ebenfalls untersuchten Entzündungs- werte bleiben negativ. lich, die zu diesem Zeitpunkt flüssigkeitsgefüllte Lunge zu belüften, eine FRC aufrechtzuerhalten und zu vermeiden, dass die einmal ins Interstitium verdrängte Flüssigkeit un- ter Mitnahme von Proteinen in die Alveole zurückströmt. Ziel einer physiologiebasierten Erstversorgung ist es, je- den dieser Schritte durch gezielte Maßnahmen so zu un- terstützen, dass das jeweilige Ziel erreicht wird, ohne da- bei einen iatrogenen Schaden zu setzen. Merke Das Ziel einer gelungenen Unterstützung der kardio- pulmonalen Transition von Frühgeborenen ist eine homogen belüftete und perfundierte Lunge unter Spontanatmung. In der 1. Phase der noch flüssigkeitsgefüllten Lunge ist ein Gasaustausch noch nicht möglich. In dieser Phase ist es von entscheidender Bedeutung, das Kind zu unterstüt- zen, einen ausreichenden transpleuralen Druck auf- zubauen, um die Flüssigkeitssäule in die Peripherie zu verdrängen. Dazu sind erhebliche Drucke erforderlich. Wenn das Kind spontan zu atmen beginnt, kann es einen Teil dieses Druckes selbst aufbauen. Es ist sinnvoll, das Kind bereits in dieser Phase durch die Anwendung eines kontinuierlichen positiven Atemwegsdrucks (continuous positive airway pressure, CPAP) zu unterstützen. Der CPAP erlaubt es dem Kind einerseits, die für die primäre Lungenbelüftung notwendigen Atemmuster aufzubau- en, erleichtert aber andererseits die dafür notwendige Arbeit, stabilisiert die oberen und unteren Atemwege und verhindert einen endexspiratorischen Alveolarkollaps (▶ Tab. 3). Merke Kolostrumgabe ist in fast allen Fällen möglich und ist insbesondere für das Immunsystem und die Darm- reifung bei Frühgeborenen von großer Bedeutung. Daher ist CPAP ideal zur Unterstützung, sobald Spontan- atmung vorhanden ist. Eine primäre Atemunterstützung durch CPAP wird daher sowohl in den ERC-Leitlinien als auch in der europäischen Konsensusleitlinie zur Therapie des RDS empfohlen [1, 8]. Mehrere, in einem Cochrane Review zusammengefasste Studien belegen mittlerweile, dass die vergleichsweise weniger invasive primäre Atem- unterstützung durch CPAP beim Frühgeborenen gegen- über der invasiveren primären Intubation und Beatmung Vorteile mit Blick auf das Überleben und die Vermeidung einiger Komplikationen bietet. Sie geht allerdings mit einer erhöhten Rate von Pneumothoraces einher [9]. Nicht ganz klar ist jedoch, welches Druckniveau für die primäre CPAP-Unterstützung adäquat ist. Derzeit wird ein Niveau von mind. 6 cm H2O empfohlen [8]. Bei die- sem Niveau werden Überblähungen sicher vermieden. Klinische Beobachtungsstudien und eine erste tierexperi- mentelle Studie deuten jedoch darauf hin, dass ggfs. hö- here Drucke erforderlich sind [10 – 13]. Diese hängen vom Ausmaß der Unreife, der Frage, ob eine antenatale Kortikosteroidgabe erfolgt ist, Geburtsmodus und Be- gleiterkrankungen ab. Es sollten daher Strategien ent- wickelt werden, um das für das jeweilige Kind notwendi- ge Druckniveau individuell zu ermitteln. Merke Bei Kindern, bei denen die Spontanatmung nicht einsetzt, sollte zunächst versucht werden, sie durch Stimulation des Kindes herbeizuführen. Wenn dies nicht gelingt, muss die primäre Lungenbelüftung durch positive Druckbeatmung erfolgen. Aufgrund tierexperimenteller Untersuchungen und erster klinischer Beobachtungen wurde angenommen, dass Kribs A et al. Physiologiebasierte Erstversorgung sehr … Pädiatrie up2date 2022; 17: 37–54 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 45

eine initiale Blähung über 15–20 s mit einem Druckniveau von 20–25 cm H2O eine schonende primäre Lungenbe- lüftung ermöglichen könnte. In einer großen RCT (rando- misierte und kontrollierte klinische Studie) wurde dieses als SI (sustained inflation) bezeichnete Verfahren dann im Vergleich zu der Anwendung einer konventionellen positiven Druckbeatmung untersucht. Die Studie wurde vorzeitig abgebrochen, da sich in der SI-Gruppe eine hö- here frühe Mortalität fand. In den anderen Outcomekrite- rien, insbesondere in der Gesamtmortalität oder im Auf- treten einer BPD, fanden sich keine Unterschiede [14]. Aufgrund dieses Ergebnisses wird derzeit eine SI nicht empfohlen. Wenn die Spontanatmung nicht einsetzt, sollten jedoch zunächst 5 initiale Blähhübe von 2–3 s Dauer erfolgen. Sobald das Kind spontan atmet, sollte zur CPAP-unterstützten Spontanatmung übergegangen werden, da eine mangelnde Synchronisierung von Spon- tanatmung und positiver Druckbeatmung zu inadäquat hohen Zugvolumina führen kann, die eine Lungenschädi- gung bewirken. Wenn die primäre Lungenbelüftung erfolgt ist, ist in der 2. Phase der interstitiellen Flüssigkeitsakkumulation das Hauptziel, die etablierte FRC aufrechtzuerhalten und die Ausbildung hyaliner Membranen zu vermeiden. Gleich- zeitig muss in dieser Phase ein adäquater Gasaustausch gewährleistet werden. Um beides zu erreichen, ist wei- terhin eine Unterstützung durch CPAP sinnvoll, wobei ebenfalls ein Niveau von mind. 6 cm H2O empfohlen wird [8]. Die FiO2 sollte pulsoxymetrisch so gesteuert werden, dass nach 5 min ein Wert > 80% erreicht wird. Im wei- teren Verlauf sollten die Sättigungswerte zwischen 90 und 95% liegen. Hypoxie und Hyperoxie gefährden das Kind gleichermaßen. Wenn unter Fortführung der CPAP- Therapie bei einer FiO2 von 0,21 eine gute Oxygenierung erreicht wird, kann das CPAP-Level reduziert werden. Wenn anhaltend eine FiO2 > 0,3 erforderlich ist, oder das CPAP-Niveau nicht auf 6 cm H2O reduziert werden kann, droht ein CPAP-Versagen, z. B. durch das Auftreten eines Pneumothoraxes oder eine sekundäre Beatmungsnot- wendigkeit. Da ein derartiges CPAP-Versagen mit einer erhöhten Rate neonataler Morbidität und Mortalität ver- bunden ist, muss es unbedingt vermieden werden [15]. Eine sinnvolle therapeutische Maßnahme zur Verhin- derung des CPAP-Versagens ist die Surfactanttherapie, da sie eines der entscheidenden pathophysiologischen Elemente des RDS kausal behandelt. Eine Surfactantgabe früh im Krankheitsverlauf des RDS verhindert die Ausbil- dung hyaliner Membranen und damit die Progression des RDS. Merke Surfactant ist die kausale Therapie des Atemnot- syndroms von Frühgeborenen. Für viele Jahre war die Surfactantgabe an eine Intubation und damit auch an eine zumindest kurzfristige positive Druckbeatmung gebunden. In den letzten 20 Jahren hat sich jedoch in Deutschland zunehmend die sog. LISA-Me- thode („less invasive surfactant application“) durch- gesetzt. Bei dieser Methode wird unter laryngoskopischer Sicht ein dünner Katheter in die Stimmritze eingeführt, über den dann unter CPAP-unterstützter Spontanatmung Surfactant appliziert wird. Diese Methode ist mittlerweile in zahlreichen randomisierten Studien und in Beobach- tungsstudien untersucht worden. In mehreren Metaana- lysen erwies sich diese Methode als die Methode mit dem höchsten Potenzial, nicht nur die maschinelle Beatmung, sondern insbesondere auch das Auftreten schwerer Kom- plikationen zu verhindern [16]. Während der gesamten Phase der pulmonalen Transition ist eine regelmäßige Spontanatmung des Kindes anzu- streben, da die spontanen Atemmuster die jeweiligen Schritte der Adaptation am ehesten bewerkstelligen kön- nen. Um den spontanen Atemantrieb des Kindes zu un- terstützen, kann ggfs. eine frühzeitige Gabe von Koffein sinnvoll sein [17]. ▶ Abb. 1 zeigt den an unserer Klinik etablierten Algorith- mus, bei dem die Titrierung des Druckniveaus sowie die Indikationsstellung für eine Surfactantgabe in den Algo- rithmus der ERC-Leitlinie integriert sind, als Beispiel für einen Algorithmus für die Behandlung einer Atemstörung des Frühgeborenen. Supportive Unterstützung während der kardiopulmonalen Adaptation FALLBEISPIEL Im Alter von 28 + 5 SSW erfolgt Felixʼ Geburt mit 750 g per Notsectio. Bei vorbestehender IUGR war es bei einer CTG-Kontrolle im Kreißsaal zu einer plötzlichen Bradykardie gekommen. Das Frühgeborene wird mit Plazenta zur Erstversor- gungseinheit gebracht. Die Hebamme berichtet, intraoperativ habe eine Plazentalösung vorgelegen. Felix ist in der 1. Lebensminute aton und peripher blass, seine Herzfrequenz wird mit 80/min auskul- tiert. Sofort wird mit einer CPAP-Therapie über Peri- vent und Maske mit einem Druckniveau von 8 cm H2O und einer FiO2 von 0,3 begonnen und, da sich innerhalb der ersten 30 s keine eigene Atemanstren- gung zeigt, werden 5 Blähhübe appliziert. Kribs A et al. Physiologiebasierte Erstversorgung sehr … Pädiatrie up2date 2022; 17: 37–54 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 47

Erschweren der Transition Erhöhung des Sauerstoffbedarfs Stress durch: Kälte Schmerz Licht Lärm Verlust der Positionskontrolle Trennung von der Mutter Reduktion der Atemarbeit Verbesserung der Sauerstoffaufnahme Kreislaufstabilisierung beim Bonding im Haut-zu-Haut-Kontakt Erleichterung der Transition Verbesserung der Sauerstoffaufnahme ▶ Abb. 2 Stressfaktoren und Unterstützungsprinzipien während der perinatalen Transition. Neben diesen pathophysiologischen Überlegungen, die im Wesentlichen das Management der respiratorischen Unterstützung vorgeben, sollten noch weitere Aspekte in die optimale Begleitung eines Frühgeborenen, wäh- rend der kardiopulmonalen Adaptation, einbezogen wer- den. Das Hauptproblem des sich adaptierenden Frühgebore- nen ist es, einen adäquaten Gasaustausch zu erzielen. In dieser Phase besteht ein hohes Risiko für ein Ungleich- gewicht zwischen der Fähigkeit zur Sauerstoffaufnahme und dem Sauerstoffverbrauch. Ganz ohne Zweifel trägt eine adäquate Therapie des Atemnotsyndroms nicht nur zur Verbesserung der Sauerstoffaufnahme, sondern auch zur Reduktion des Sauerstoffverbrauchs bei, da Atemnot einer der größten Stressfaktoren ist. Dennoch gibt es ne- ben der Atemnot eine Reihe anderer Stressfaktoren, die den Sauerstoffverbrauch erhöhen und die potenziell be- einflussbar sind (▶ Abb. 2). Diese sollen im Folgenden dargestellt werden. Zu möglichen Stressfaktoren für das Frühgeborene gehö- ren Wärmeverlust, Schmerzen, Lärm, grelles Licht, Ver- lust der im Mutterleib gegebenen Positionskontrolle so- wie die Trennung von der Mutter. Der Wärmeverlust als möglicher Stressfaktor ist lange bekannt, und die ERC- Leitlinien zur Versorgung Neugeborener geben bereits viele Hinweise darauf, wie das Temperaturmanagement für Früh- und Neugeborene in unterschiedlichen Situatio- nen erfolgen sollte. Die Verwendung eines angefeuchte- ten, angewärmten Atemgases für die Atemunterstüt- zung wird angesprochen. Sie hat sich in den zu diesem Punkt durchgeführten wenigen Studien als effizient er- wiesen, findet aber noch keinen breiten Einsatz. Die anderen stressauslösenden Faktoren wurden nur we- nig systematisch untersucht und finden deswegen auch nur unzureichend Beachtung. Um Stress durch Schmerz zu vermeiden, sollte im Rahmen der Erstversorgung, ins- besondere bei Kindern, die zwar Atembemühungen zei- gen, aber noch deutlich angestrengt sind, auf schmerz- hafte Eingriffe, soweit eben möglich, verzichtet werden. Zudem sollte die Erstversorgung in einer ruhigen, leisen Atmosphäre erfolgen und das Kind vor grellem Licht ge- schützt werden. Ferner sollte eine Lagerung des Kindes angestrebt wer- den, in der das Kind einen entspannten und komfortablen Eindruck macht. Die standardmäßig vielerorts ange- wandte flache Rückenlagerung des Kindes erleichtert zwar vielleicht dem erstversorgenden Arzt sein Handeln, stellt allerdings für das Kind, welches aus einer Flexions- haltung im Mutterleib kommt, einen erheblichen Stress- faktor dar. Merke Eine Lagerung in einem Nest oder eine Seitenlage- rung ermöglichen eine leichte Flexion der Wirbelsäu- le, was für die Kinder komfortabler ist, gleichzeitig die Atmung erleichtert und damit zu einer schnel- leren Adaptation des Kindes beitragen kann. Da die Trennung von der Mutter einen erheblichen Stress- faktor für die Kinder darstellt, sollte diese auch für Früh- Kribs A et al. Physiologiebasierte Erstversorgung sehr … Pädiatrie up2date 2022; 17: 37–54 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 49

Die Existenz einer derartigen sensiblen Phase unmittelbar nach der Geburt beim Menschen wurde erstmals von den Kinderärzten Klaus und Kennell postuliert. Lange ist die- ses Konzept jedoch infrage gestellt worden, da die vorlie- gende klinische Evidenz gering erschien. Es ist mittlerwei- le jedoch nachgewiesen, dass die unmittelbar postnatale Phase eine sensible Phase ist, in der ein feinfühliges Ver- halten der Mutter im Umgang mit dem Kind gebahnt werden kann [25]. Ein feinfühliges Verhalten der Bezugs- person ist die Grundlage für die Entwicklung einer siche- ren Bindung zwischen Kind und primärer Bezugsperson. Diese wiederum begünstigt das Entstehen von Resilienz. Daher wird für reife Neugeborene ein ungestörter enger Haut-zu-Haut-Kontakt zwischen Mutter und Kind emp- fohlen. Für Frühgeborene konnte mittlerweile in klinischen Studi- en nicht nur nachgewiesen werden, dass Haut-zu-Haut- Kontakt unter entsprechender Überwachung sicher mög- lich ist und einen positiven Einfluss auf die physiologische Stabilität hat, sondern auch, dass er mit einer Verbes- serung der Mutter-Kind-Interaktion im Alter von 6 Mona- ten und Veränderungen in der Genexpression der Stress- Signalwege einhergeht [19, 26]. Aus diesem Grunde soll- te auch bereits im Rahmen der Erstversorgung die Tren- nung von Mutter und Kind so kurz wie möglich gehalten werden. KERNAUSSAGEN ▪ Die perinatale Transition stellt einen sehr komple- xen Vorgang dar, der neben der kardiorespirato- rischen Adaptation auch die Transition der Ernäh- rung und des Metabolismus und den Aufbau der dyadisch sozialen Beziehung von Mutter und Kind umfasst. ▪ Die Phase der perinatalen Transition stellt beim Frühgeborenen eine vulnerable Phase dar, bei der dauerhafte Schädigungen an verschiedenen Organsystemen gesetzt werden können. ▪ Die unmittelbar postnatale Phase stellt eine sen- sible Phase für die Bahnung des Stillens und den Aufbau der Mutter-Kind-Beziehung dar. ▪ Eine physiologiebasierte Erstversorgung des Früh- geborenen muss alle Aspekte der perinatalen Transition im Blick haben. ▪ Es ist möglich, die dafür notwendigen Maßnah- men in einen Algorithmus zur kardiorespirato- rischen Stabilisierung zu integrieren. Interessenkonflikt Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Bera- ter/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: ja, von einer anderen Institution (Pharma- oder Medizintechnikfirma usw.); Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehe- partner, Kinder) an im Bereich der Medizin aktiven Firma: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an zu Sponsoren dieser Fortbildung bzw. durch die Fortbildung in ihren Geschäftsinteressen berührten Firma: nein. Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen A. Kribs: Advisory Board der Firma Chiesi Autorinnen/Autoren Angela Kribs PD Dr. med., Jahrgang 1961, Medizinstudium in Köln, klinische Tätigkeit an der Universitätskin- derklinik Köln seit 1987, im Bereich Neonatolo- gie und pädiatrische Intensivmedizin seit 1989, Promotion 1993, Facharzt 1993, Oberärztin 1995, Anerkennung im Schwerpunkt Neonato- logie und pädiatrische Intensivmedizin 1995 und 1996. Habi- litation 2011, Leiterin des Bereiches Neonatologie an der Uni- versitätskinderklinik Köln seit September 2014. Klinische und wissenschaftliche Schwerpunkte: Versorgung extrem unreifer Frühgeborener, Optimierung der Erstversorgungsstrategien, entwicklungsfördernde Pflege, Muttermilchernährung und Stillen. Ruth Klein Dr. med., Jahrgang 1975, Medizinstudium an der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg und der medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, Approbation als Ärztin 2002, 2007 Fachärztin für Kinder und Jugend- medizin, 2009 Promotion. 2010 Anerkennung des Schwerpunktes Neonatologie und seit 2005 tätig im Bereich der Neonatologie der Unikinderklinik Köln. Katrin Mehler PD Dr. med., Jahrgang 1974, Studium der Humanmedizin an der Universität Erlangen- Nürnberg. Seit 2001 tätig an der UK Köln, seit 2014 Oberärztin im Bereich Neonatologie. 2014 Habilitation im Fach Kinder- und Jugend- medizin. 2006 Fachärztin Kinder- und Jugend- medizin, 2008 Schwerpunkt Neonatologie. 2014 Weiter- bildung pädiatrische Intensivmedizin, 2020 Weiterbildung Infektiologie Korrespondenzadresse PD Dr. med. Angela Kribs Uniklinik Köln Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Kerpener Straße 62 50937 Köln Deutschland angela.kribs@uk-koeln.de Kribs A et al. Physiologiebasierte Erstversorgung sehr … Pädiatrie up2date 2022; 17: 37–54 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 51

Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Den genauen Einsendeschluss finden Sie unter https://cme.thieme.de. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführliche Anleitung. Wir wünschen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! Unter https://eref.thieme.de/CXF7VT5 oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests. VNR 2760512022161725413 Frage 1 Frage 4 Welche perinatale Maßnahme ist zur Verbesserung der post- natalen Situation sehr kleiner Frühgeborener sinnvoll? A Die antenatale Gabe von Kortikosteroiden an alle Schwange- ren, sobald das ungeborene Kind die extrauterine Lebens- fähigkeit erreicht hat. B Die antenatale Verlegung der werdenden Mutter in ein Zen- trum adäquater Versorgungsstufe bei drohender Frühgeburt. C Die Protrahierung der Schwangerschaft bei manifestem Am- nioninfektionssyndrom, um eine größere kindliche Reife zu erzielen. D Die Protrahierung der Schwangerschaft auch bei pathologi- schem CTG, um eine größere kindliche Reife zu erzielen. E Die Entbindung per Sectio unabhängig von sonstigen ge- burtshilflichen Befunden, um die Belastung des unreifen Kin- des durch Wehen zu vermeiden. Frage 2 Welche Maßnahme gehört nicht zu den in den ERC-Leitlinien empfohlenen Maßnahmen zur Unterstützung der kardiorespira- torischen Adaptation? A taktile Stimulation B 5 initiale Blähhübe C CPAP D Sustained Inflation E Maskenbeatmung Frage 5 Welche Aussage über das Atemnotsyndrom des Frühgeborenen trifft nicht zu? A Stöhnen und interkostale Einziehungen sind charakteristi- sche Symptome. B Das Risiko für das Auftreten eines Atemnotsyndroms ist un- abhängig vom Schwangerschaftsalter. C Die Anwendung eines kontinuierlichen positiven Atemwegs- Welche Aussage zum verzögerten Abnabeln trifft zu? A Das verzögerte Abnabeln sollte bei reifen Neugeborenen ver- drucks (CPAP) kann die Symptomatik verbessern. D Die endotracheale Gabe eines natürlichen Surfactantpräpa- mieden werden. rats stellt eine kausale Therapie dar. B Das verzögerte Abnabeln kann das Outcome Frühgeborener E Die Symptomatik eines Atemnotsyndroms kann sich im Ver- verbessern. C Das verzögerte Abnabeln führt zu einer Abnahme des Herz- zeitvolumens. D Das verzögerte Abnabeln und das Ausstreichen der Nabel- schnur zum Kind hin sind beim Frühgeborenen gleichwertige Maßnahmen. E Das verzögerte Abnabeln sollte auch bei kardiorespiratorisch deprimierten Kindern durchgeführt werden. Frage 3 Welche der folgenden Kriterien sollten zur Zustandsbeurteilung des Neu- und Frühgeborenen nach den aktuellen ERC-Leitlinien herangezogen werden? A Hautfarbe, Reflexe, Muskeltonus B Hautfarbe, Atemtätigkeit, Muskeltonus C Herzfrequenz, Atemtätigkeit, Muskeltonus D Herzfrequenz, Hautfarbe, Muskeltonus E Herzfrequenz, Reflexe, Muskeltonus lauf verschlimmern. Frage 6 Welche Maßnahme ist zur supportiven Therapie eines Frühgebo- renen während der kardiopulmonalen Anpassung hilfreich? A Vermeidung von Wärmeverlust B Vermeidung von Schmerzen C Lagerung in einer „komfortablen“ Position D Abschirmung vor Lärm und grellem Licht E Alle Maßnahmen sind sinnvoll. ▶ Weitere Fragen auf der folgenden Seite … Kribs A et al. Physiologiebasierte Erstversorgung sehr … Pädiatrie up2date 2022; 17: 37–54 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 53

Medizinische Fachsprache souverän und kurzweilig lernen! Der „Karenberg“ vermittelt medizinische Fachbegriffe vielfältig und unterhaltsam. Dadurch erlernen Sie die Medizinsprache sozusagen „nebenbei“ – als Student, als Pflegekraft oder auch, wenn Sie als ausländischer Arzt in Deutschland eine Fachsprachenprüfung ablegen müssen. Grundlagentexte, Übungen und Sprachgeschichten verankern das Wissen im Gedächtnis, unterstützt durch Vokabeltabellen und eindrückliche Abbildungen. Klare Lernzieldefinitionen helfen Ihnen, Ihre Fortschritte zu sehen und Wissenslücken zu schließen. Pragmatisch auf das Wesentliche reduziert: Damit sprechen Sie schon nach kurzer Zeit „medizinisch“. Fachsprache Medizin im Schnellkurs Karenberg 2021. 6., überarb. Aufl. 272 S., 60 Abb., kart. ISBN 978 3 13 243942 9 34,99 € [D] www.thieme.de/shop . 9 9 4 3 A R H , t r a g t t u t S r e t s i g e r s l e d n a H d n u - z t i S , G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . t e n h c e r e b r e t i e w n e t s o k d n a s r e V n e d n e l l i a f n a e d n e d r e w ] D l [ b a h r e ß u a n e g n u r e f e i L i e B . n e t l a h e b r o v r e m ü t r r I d n u n e g n u r e d n ä s i e r P

Pädiatrie up2date 1 · 2022 Infektionskrankheiten 4 Streptokokken-Infektionen im Kindes- und Jugendalter Nicole Töpfner Reinhard Berner VNR: 2760512022161725421 DOI: 10.1055/a-1325-6151 Pädiatrie up2date 2022; 17 (1): 57–73 ISSN 1611-6445 © 2022 Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

CME-Fortbildung Streptokokken-Infektionen im Kindes- und Jugendalter Nicole Töpfner, Reinhard Berner Streptokokken sind die Bakterien mit dem wahrscheinlich vielseitigsten Krankheits- spektrum in der Kinder- und Jugendmedizin. Neben einem allgemeinen Überblick über die verschiedenen Streptokokken-Spezies fokussiert dieser Artikel auf Infektio- nen durch β-hämolysierende Streptokokken, die bislang nicht impfpräventabel und im kinderärztlichen Alltag häufig sind. Mikrobiologie Zu den bekanntesten Krankheitserregern des Genus „Streptococcus“ zählen die Pneumokokken, die Gruppe der Viridans-Streptokokken und die β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppen A, B, C und G. Merke Viele Streptokokken-Spezies gehören zur Normal- flora des Menschen. Die Faktoren, die in der Inter- aktion der Streptokokken mit dem menschlichen Immunsystem die Entstehung von Infektionen be- günstigen, sind bislang nicht vollständig bekannt. Streptokokken kann man im Direktpräparat nach Gram- Färbung als grampositive (blaue) kugelförmige Bakterien identifizieren. Pneumokokken sind paarweise angeord- nete (Diplokokken) und vor allem gegen gramnegative Diplokokken (Neisserien; Meningokokken und Gonokok- ken) abzugrenzen. Die β-hämolysierenden Streptokokken sind im Unterschied zu den ebenfalls grampositiven hau- fenförmig angeordneten Staphylokokken im mikroskopi- schen Präparat als Ketten sichtbar. In der mikrobiologi- schen Kultur auf Blutagar kann man die Streptokokken- Spezies nach Hugo Schottmüller (1903) anhand des Hä- molyse-Verhaltens differenzieren: Bei den vergrünend wachsenden Streptokokken wird das im Blutagar vorhan- dene Hämoglobin zu Methämoglobin und Sulfhämoglo- bin umgewandelt und es entsteht ein grünlicher Hof um die kleinen, runden Kolonien (α-Hämolyse). Bei den Pneumokokken bildet sich durch partielle α-Hämolyse vor allem ein grünlicher Halo um die Kolonien. Als β-Hä- molyse wird im Gegensatz dazu eine vollständige Lyse der Erythrozytenmembran bezeichnet, durch die sich gelb- lich-durchsichtige Höfe um die Streptokokken-Kolonien bilden. Neben verschiedenen anderen Virulenzfaktoren besitzen viele Streptokokken-Spezies eine Polysaccharidkapsel, deren Antigeneigenschaften bei den Pneumokokken und Gruppe-B-Streptokokken zur Differenzierung unter- schiedlicher Serotypen genutzt wird. Die β-hämolysie- renden Streptokokken werden zusätzlich aufgrund unter- schiedlicher Antigene des Zellwand-C-Polysaccharids nach Rebecca Lancefield in Serogruppen (A–T) unterteilt. Dabei entsprechen Gruppe-A-Streptokokken vor allem der Spezies Streptococcus pyogenes und Gruppe-B- Streptokokken der Spezies Streptococcus agalactiae. Allerdings kann das Lancefield-A-Antigen z. B. auch bei Streptokokken auftreten, die nicht zur Spezies S. pyoge- nes gehören. Eine andere Differenzierung vor allem der Lancefield- Gruppe-A-, ‑C- und ‑G-Streptokokken erfolgt nach dem M-Protein, das durch das emm-Gen kodiert wird (emm- Typen). Enterokokken, die ursprünglich als Streptokokken der Lancefield-Gruppe D bezeichnet wurden, sind seit 1984 als eigene Gattung von den Streptokokken abge- trennt. Alle Streptokokken besitzen keine Betalaktama- sen und sind primär penicillinempfindlich. Im Falle einer Penicillin-Resistenz bei Pneumokokken ist dies auf eine Veränderung penicillinbindender Proteine in der Zell- membran zurückzuführen; diese Strukturveränderungen führen zu einer sich entsprechend graduell verändernden mittleren Hemmkonzentration (MHK). Im Gegensatz zur Bildung von Betalaktamasen ist dies kein „Ja-oder-nein“- Ereignis, sondern ein fließender, sich verändernder Vor- gang. Streptokokken-Krankheitsbilder Streptococcus pneumoniae (Pneumokokken) Pneumokokken sind häufige Kommensalen im humanen Nasenrachenraum [1]. Neben der Pneumonie können sie durch lokale Ausbreitung Otitis media und – bei Kindern seltener – Sinusitiden verursachen. Daneben können in- vasive Pneumokokken-Infektionen (invasiv pneumococ- Töpfner N, Berner R. Streptokokken-Infektionen im Kindes- … Pädiatrie up2date 2022; 17: 57–73 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 59

Late-Onset Sepsis (LOS) bei Sepsissymptomen ab einem Lebensalter von 72 Stunden (bzw. 7 Tagen). Meist treten EOS-Symptome schon in den ersten 24 Lebensstunden auf. Bei Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g sind GBS nach E. coli die zweithäufigsten EOS-Er- reger. In den allermeisten Fällen entstammen die GBS- Stämme aus der mütterlichen Vaginalflora. Die klinischen Symptome der EOS sind bei Frühgebore- nen häufig dezenter als bei Reifgeborenen. Bei Nachweis von GBS (oder anderen Sepsiserregern) in der Blutkultur und/oder klinischen Hinweisen auf eine Meningitis ist – sofern keine Kontraindikation besteht – eine Lumbal- punktion zur Diagnosesicherung und besseren Auswahl von Wirkstoff, Dosis und Länge der antibiotischen Thera- pie empfohlen. Insbesondere bei der GBS‑LOS tritt in ca. 60% der Fälle eine Meningitis auf, aber auch bei der EOS kann sie vorkommen und muss berücksichtigt werden. Insbesondere bei schwer kranken und sehr unreifen Neu- geborenen stehen zuvor die Kreislaufstabilisierung und der Nachweis einer ausreichenden Thrombozytenzahl und Gerinnungsfunktion im Vordergrund. Merke Für den Therapieerfolg entscheidend ist bei kli- nischem V. a. auf eine Neugeborenen-Infektion der umgehende Beginn einer empirischen Antibiotika- Therapie aufgrund des häufig foudroyanten Verlaufs von Infektionen in diesem Lebensalter. Die kalkulierte Antibiotika-Therapie ist dabei entspre- chend der individuellen Anamnese des Kindes und seiner Mutter und der jeweils aktuellen Epidemiologie der loka- len Erreger- und Resistenzdaten anzupassen. Aufgrund des grundsätzlich zu erwartenden Keimspektrums ist es wichtig, neben GBS und E. coli zunächst auch Enterokok- ken und Listerien mit zu erfassen. Diese treten zwar sel- ten auf, können aber zu schweren Verläufen führen und sind primär gegen Cephalosporine resistent. Daher wer- den Kombinationen von Penicillin oder Ampicillin (oder Piperacillin) PLUS Cefotaxim oder Gentamicin (oder To- bramycin) bei EOS gewählt. Auch bei LOS divergieren die Empfehlungen aufgrund der eingeschränkten Evidenz und regionaler Erregerprävalenz- und Resistenzunter- schiede erheblich. Daher werden in Abhängigkeit von po- tenzieller Vorbehandlung, Komorbiditäten und lokalen Faktoren z. B. Ampicillin/Sulbactam (oder Piperacillin/ Tazobactam) PLUS Gentamicin (oder Tobramycin) emp- fohlen. Mit dem Nachweis von GBS als Infektionserreger ist die Umstellung auf Penicillin G empfohlen mit einer Gesamttherapiedauer von 7–10 Tagen bei Nachweis in der Blutkultur oder für 14 Tage bei Nachweis im Liquor cerebrospinalis. INFO Die Schnuller-Frage Lange Zeit wurde von Zahn- und Kinderärzt*innen vor dem Ab- lecken der Eltern zur Reinigung eines auf die Erde gefallenden Schnullers gewarnt (▶ Abb. 1). Als Begründung wurde u. a. die Be- günstigung der Kariesentstehung durch die Übertragung von oralen Streptokokken aus der elterlichen Mundhöhle angeführt. Ob es durch das Ablecken des Schnullers tatsächlich zur Infektion mit Karies kommt, wurde bislang nicht bewiesen, und die Deutsche Gesellschaft für Präventivzahnmedizin distanziert sich seit einigen Jahren von dieser Empfehlung. Zusätzlich gibt es eine schwedische Studie aus dem Jahr 2013 [3] und Studiendaten aus Detroit, die 2018 auf der Jahrestagung des American College of Allergy, Asthma and Immunology (ACAAI) vorgestellt wurden. Beide Studien liefern bei insgesamt geringer Fallzahl und weiteren methodischen Ein- schränkungen Hinweise, dass in Analogie zur Hygienehypothese möglicherweise die Übertragung elterlicher Mundhöhlenbakterien zur Reduktion des Allergierisikos beitragen könnte. Mikrobiologisch betrachtet können neben den bakteriellen Mundhöhlenkommensa- len zusätzlich Erkältungsviren und z. B. auch Herpes simplex auf die Säuglinge übertragen werden. Insgesamt stellt das Ablecken des Schnullers auch nicht die effektivste Form der Schnullerreinigung dar. ▶ Abb. 1 Der Schnuller ist bei Kindern und Eltern ein beliebtes und schnell verfügbares Beruhigungsmittel. Töpfner N, Berner R. Streptokokken-Infektionen im Kindes- … Pädiatrie up2date 2022; 17: 57–73 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 61

Streptococcus pyogenes (Gruppe-A-Streptokokken, GAS) Von allen Streptokokken haben die Gruppe-A-Streptokok- ken das breiteste klinische Spektrum. Dabei treten so- wohl altersabhängig als auch zeitlich und regional deutli- che Unterschiede auf, deren Ursachen bislang nicht voll- ständig bekannt sind. Klinische Krankheitsbilder Während GAS als Kommensalen in den Wintermonaten bei 25–50% der Kinder im Rachen vorkommen, verursa- chen sie bei einigen Individuen eine bakterielle Tonsillo- pharyngitis oder lokal eitrige Haut- und Schleimhaut- infektionen. Neben toxinvermittelten Krankheitsbildern, wie Scharlach und dem Streptokokken-Toxin-Schock-Syn- drom, führen GAS zu weiteren, schweren invasiven Infek- tionen, wie Sepsis, septischer Arthritis, Osteomyelitis, Pyomyositis, Endokarditis und Meningitis. Auch bei aku- ter Otitis media, Mastoiditis und schweren Pleuropneu- monien sind GAS nicht selten als Erreger nachzuweisen. Darüber hinaus können nach akuten GAS-Infektionen im- munologisch bedingte Folgeerkrankungen auftreten, z. B. das akute rheumatische Fieber (ARF), die rheumati- sche Herzkrankheit (RHD), die Akute Post-Streptokok- ken-reaktive-Arthritis (APSRA) und ‑Glomerulonephritis (APSGN) sowie die neuropsychiatrischen Krankheitsbilder Chorea minor und PANDAS (Pediatric Autoimmune Neu- ropsychiatric Disorders). Epidemiologie Während eine GAS-Tonsillopharyngitis vor dem 2. Le- bensjahr äußerst selten ist und bei Kleinkindern eher Haut- und anogenitale Schleimhautinfektionen beobach- tet werden, weist die Anzahl an GAS-Tonsillopharyngiti- den bei Kindern in Deutschland zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr einen Gipfel auf. Danach sinkt sie im Er- wachsenenalter erneut ab. Auch global gesehen gibt es deutliche Unterschiede hinsichtlich der GAS-assoziierten Morbidität und Mortalität. Während die Prävalenz der rheumatischen Herzkrankheit in Europa und den USA mit 0,3/1000 Menschen angegeben wird, liegt sie in Sub- sahara-Afrika bei 5,7/1000 Menschen (ca. 20-fach höher) [6]. In einer aktuellen Studie der Erhebungseinheit für sel- tene pädiatrische Erkrankungen in Deutschland (ESPED) wurden im Jahr 2019 6 Patienten mit akut rheumatischen Fieber und 77 Patienten mit Post-Streptokokken-Glome- rulonephritis gemeldet. Eine endgültige Auswertung des 2-jährigen Erhebungs- zeitraums steht noch aus, aber es zeigt doch, dass es sich um sehr seltene Ereignisse handelt. Historisch gesehen scheinen in Europa sowohl die schweren Scharlachverläu- fe, die im 17./18./19. und Anfang des 20. Jahrhunderts endemisch waren, als auch die immunogenen Folge- erkrankungen derzeit weitaus seltener aufzutreten. Die genauen Ursachen für diese Veränderungen sind nicht bekannt. Als Faktoren werden insbesondere verbesserte hygienische Verhältnisse, aber auch der gezieltere Einsatz der antibiotischen Therapie, eine veränderte Virulenz der Erreger und viele weitere Aspekte diskutiert. Reservoir und Transmission Der Mensch ist das Hauptreservoir für GAS. Haustiere wie Hunde und Katzen werden nur sporadisch bei sehr en- gem Kontakt besiedelt. In der unbelebten Umwelt, z. B. auf Spielzeug und Zahnbürsten, kann der Erreger mehre- re Wochen überleben und potenziell infektiös sein. Der weitaus häufigste Übertragungsweg der GAS-Tonsillo- pharyngitis ist allerdings der direkte bzw. indirekte Kon- takt von Mensch zu Mensch. Grundsätzlich kann die In- fektion auch durch Aerosole oder seltener durch kon- taminierte Lebensmittel und Wasser erfolgen. Hautinfek- tionen werden vor allem als Kontakt-/Schmierinfektionen übertragen und durch enges Zusammenleben in Schulen, Heimen, Kasernen etc. begünstigt. Selten ist die Inkuba- tionszeit länger als 1–3 Tage. GAS-Träger GAS können im menschlichen Rachen mehrere Monate bis Jahre persistieren, ohne eine Tonsillopharyngitis zu verursachen. Merke Klinisch asymptomatische Personen mit positivem GAS-Nachweis werden GAS-Träger genannt. In der internationalen Literatur werden viele verschiede- ne Gründe dafür aufgeführt, warum bei GAS-Trägern die Wahrscheinlichkeit äußerst gering ist, die Erreger zu übertragen und Infektionen zu verursachen. Ein Kinder- garten- und Schulbesuch ist für diese Individuen erlaubt. Ungefähr jedes 8. gesunde Kind ab dem 5. Lebensjahr kann GAS-Träger sein – in Abhängigkeit von Jahreszeit und Region. Das Risiko dieser Kinder, an dem kolonisie- renden GAS-Stamm zu erkranken, ist allerdings äußerst gering – jedoch können sich GAS-Träger mit einem ande- ren GAS-Serotyp infizieren und erkranken. GAS-Tonsillopharyngitis Die Anzahl der akuten GAS-Tonsillopharyngitiden in Deutschland wird auf 1–1,5 Mio. pro Jahr geschätzt. Sie treten vorwiegend im Winter und Frühjahr auf. Typische Symptome sind Fieber, Halsschmerzen, zervikale Lymph- adenopathie, Tonsillenschwellung und ‑exsudat. Die überwiegende Mehrzahl aller Halsschmerzursachen ist jedoch nicht bakteriell bedingt. Wenn Halsschmerzen zu- sammen mit Rhinitis, Bronchitis/Husten, bilateraler Kon- junktivitis und/oder Gastroenteritis auftreten, deutet dies eher auf eine virale Ursache hin. Allerdings ist es nicht si- cher möglich, klinisch zwischen einer viralen, bakteriellen oder nicht infektiösen Ursache der Tonsillopharyngitis zu unterscheiden. Eine eitrige Tonsillenschwellung kann z. B. Töpfner N, Berner R. Streptokokken-Infektionen im Kindes- … Pädiatrie up2date 2022; 17: 57–73 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 63

Wird eine antibiotische Therapie bei akuten Halsschmerzen ärztlich erwogen oder von Patientenseite nach Beratung erwartet? ja nein Wahrscheinlichkeit für eine Streptokokken-Tonsillopharyngitis abschätzen FeverPAIN-Score (jeweils 1 Punkt): FEVER (Fieber in letzten 24 Stunden) Pus (Tonsillenexsudate) Attend rapidly (ärztliche Vorstellung innerhalb von 3 Tagen wegen Schwere der Beschwerden) Inflamed tonsils (deutliche Rötung und Schwellung der Tonsillen) NO cough or coryza (KEIN Husten oder Rhinitis) Fever- and-Pain- Score Wahrscheinlichkeit für Gruppe-A- Streptokokken 0–1 2–3 ≥ 4 McIsaac- Score 0 oder –1 1 2 3 4–5 13–18% 34– 40% 62– 65% Wahrscheinlichkeit für Gruppe-A- Streptokokken ca.1% ca.10% ca.17% ca.35% ca.50% Centor-Score (jeweils 1 Punkt): Tonsillenexsudate zervikale Lymphadenopathie Fieber in der Anamnese (über 38,0 °C) KEIN Husten McIsaac-Score: Centor-Score plus Alter < 3 Jahre (+/–0) Alter 3–15 Jahre (+1) Alter ≥ 45 Jahre (–1) Centor-Score: 0–2 oder McIsaac-Score: 1–2 oder FeverPAIN-Score: 0–2 keine antibiotische Therapie Centor-Score: 3 oder McIsaac-Score: 3 oder FeverPAIN-Score: 3 Centor-Score: 4 oder McIsaac-Score: 4–5 oder FeverPAIN-Score: 4–5 delayed prescription* anbieten delayed prescription* oder sofortige antibiotische Therapie neg. pos. OPTIONAL im Alter von 3–15 Jahren GAS-SCHNELLTEST symptomatische Therapie mit nicht steroidalen Antiphlogistika anbieten Re-Evaluation bei Verschlechterung oder wenn nach 5–7 Tagen keine Besserung *delayed prescription Rezept ausstellen über antibiotische Therapie Rezept nur einlösen, wenn nach ≥ 3 Tagen keine Besserung auftritt ▶ Abb. 3 Handlungsalgorithmus bei akuter Tonsillopharyngitis in Anlehnung an die AWMF/DEGAM‑S3-Leitlinie Halsschmerzen (Daten nach [7]). Insbesondere zur Entscheidung, ob eine chirurgische Therapie bei rezidivierenden GAS-Tonsillopharyngitiden empfohlen wird, scheint die Anzahl gut differenzierter GAS-Tonsillopharyngitis-Episoden wichtig. Zunächst wird bei rezidivierender GAS-Tonsillopharyngitis eine antibio- tische Therapie mit Amoxicillin/Clavulansäure (50– 80 mg/kgKG pro Tag verteilt auf 3 Einzeldosen (max. 3 g/Tag) für 7 Tage oder Clindamycin (20–30 mg/kgKG pro Tag verteilt auf 3 Einzeldosen (max. 1,8 g/Tag) für 7 Tage empfohlen [7]. Töpfner N, Berner R. Streptokokken-Infektionen im Kindes- … Pädiatrie up2date 2022; 17: 57–73 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 65

▶ Abb. 4 Scharlach. a Himbeerzunge: stärkeres Hervortreten der hochroten, geschwollenen Papillen. b Schuppung der Hände nach Scharlach. Quelle: Gortner L, Meyer S, Hrsg. Duale Reihe Pädiatrie. 5., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018. doi:10.1055/b-005-145246. FALLBEISPIEL Scharlach Plötzlich fieberte Johannes hoch auf. Während seine Wangen glühten und sich am Oberkörper ein fein- fleckiges, leicht erhabenes Exanthem zeigte, wirkte er um Mund und Nase herum eher blass. Neben eit- rigen belegten Tonsillen war ein tiefrotes Enanthem der Mundschleimhaut nicht zu übersehen und die Zungenpapillen traten hochrot hervor. Während sich das Exanthem an Hals und Extremitäten ausbreitete, blieben Handflächen und Fußsohlen ausgespart. In den Leisten wirkte das Exanthem sandpapierartig. Jonas Eltern gaben an, dass im Kindergarten in den letzten Tagen einige Kinder sehr ähnliche Symptome gezeigt hatten. Nach einigen Tagen färbten sich Jonas Zungenpapillen weißlich, er entfieberte und fühlte sich langsam wieder etwas besser. In der 2. Woche begann sich die Haut in seinem Gesicht erst kleie- förmig, dann großflächig am gesamten Körper zu schuppen. Insbesondere seine Finger und Zehen wa- ren betroffen. Allerdings störte es ihn nicht, sondern seine Eltern und er waren eher erleichtert, denn die Kinderärztin hatte gesagt, dass diese Schuppung am Ende der Erkrankung auftreten würde. INFO Ist Scharlach mehrfach möglich? Bei einer GAS-Infektion werden Antikörper gegen das M-Protein, einen Hauptvirulenzfaktor der Gruppe-A-Streptokokken, gebildet. Insgesamt gibt es hunderte verschiedene M-Protein-Varianten. Bei einer Infektion werden nur Antikörper gegen das M-Protein des jeweiligen GAS-Stammes gebildet und dadurch eine längerfristige M‑Typ-spezifische Immunität induziert. Das Auftreten des Schar- lach-Exanthems ist mit den GAS-Exotoxinen SPE‑A, ‑B, ‑C und ‑D assoziiert. Früher wurde diese auch pyrogene oder erythrogene Exo- toxine genannt. Auch gegen diese Exotoxine wird eine gewisse, je- doch nicht lebenslang anhaltende Immunität gebildet. Daher kann ein Mensch mehrfach an Scharlach (und anderen GAS-Infektionen) erkranken. Eine GAS-Impfstoff ist aufgrund eines bislang unzurei- chenden Sicherheits-Nutzen-Verhältnisses weiterhin in Entwicklung und derzeit nicht allgemein verfügbar. Invasive GAS-Infektionen Während beim Scharlach das systemische Krankheitsbild vor allem exotoxinvermittelt ist, wird zum Beweis einer invasiven GAS-Infektion der Erregernachweis aus sterilem Gewebe gefordert. Invasive GAS-Infektionen können in multiplen Organsystemen auftreten. Häufig sind Sepsis, Pleuropneumonie, septische Arthritis und Pyomyositis. Neben dem GAS-Nachweis aus dem jeweils primär steri- len Gewebe richten sich die weiteren diagnostischen Kri- terien dabei nach den jeweils aktuellen Richtlinien, z. B. bei GAS-Sepsis. Töpfner N, Berner R. Streptokokken-Infektionen im Kindes- … Pädiatrie up2date 2022; 17: 57–73 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 67

INFO Wiederzulassung zu Gemeinschaftseinrichtungen Laut § 34 des Infektionsschutzgesetzes wird bei In- fektionen mit Streptococcus pyogenes ein ärztliches Urteil für die Wiederzulassung von Betreuer*innen und Betreuten von Gemeinschaftseinrichtungen ver- langt, um die Weiterverbreitung des Erregers zu ver- hindern. Dabei kann gemäß § 34 ISG dieses Urteil durch den behandelnden Arzt oder das Gesundheits- amt auch mündlich erfolgen. Häufig wird von den Einrichtungen jedoch ein schriftliches Attest gefor- dert. Trotz nicht referenzierter Evidenz für diese Be- urteilung steht derzeit im 2018 aktualisierten RKI- Ratgeber „S. pyogenes“ [14] einheitlich zum Bundes- gesundheitsblatt [15] von 01/2020: „Eine Wiederzulassung zu Gemeinschaftseinrichtungen kann nach Beginn einer wirksamen Antibiotikatherapie und dem Abklingen der Symptome nach 24 Stunden er- folgen, bei fortbestehenden Krankheitszeichen wie Fie- ber, schwerem Krankheitsgefühl und noch eiternden Hautveränderungen unter der Therapie erst nach deren Abklingen. Ohne geeignete antibiotische Therapie kann, insbesondere bei kleinen Kindern, eine Erregerausschei- dung über mehrere Wochen bis Monate erfolgen. Sofern beim Betroffenen keine antibiotische Therapie erfolgt, ist eine Wiederzulassung daher frühestens zwei Wochen nach Abklingen der spezifischen Symptome angezeigt.“ Diese Regelung ist aufgrund der im Rahmen der aktuellen AWMF‑S3-Leitlinie Halsschmerzen erneut recherchierten Evidenzgrundlage weiterhin in Dis- kussion. Flüssigkeit. Dann kommt es unter nachlassenden Schmerzen zu fortschreitender Nekrose der Faszien und Muskellogen und es entwickelt sich eine Schocksympto- matik, die schnell lebensbedrohlich werden kann. Die frühzeitige Diagnose (z. B. mittels MRT) und eine umge- hende Therapie (chirurgisch, antibiotisch, intensivmedi- zinisch) sind von hoher prognostischer Bedeutung. Eine Mischinfektion von S. pyogenes (seltener S. aureus) mit Anaerobiern oder fakultativ anaeroben Bakterien sollte bei der empirischen Antibiotika-Wahl berücksichtigt wer- den. Streptokokken-Folgeerkrankungen Analog zum Begriff der Streptokokken-Folgeerkrankung sind in der Literatur auch die Begriffe Poststreptokok- ken-Erkrankung (poststreptococcal sequela), nicht eitrige bzw. nicht suppurative oder immunogene Komplikation geläufig. Um eine Streptokokken-Folgeerkrankung zu si- chern, ist die vorausgegangene GAS-Infektion nach- zuweisen. ▶ Tab. 3 ARF-Diagnose-Kriterien. Majorkriterien Karditis wandernde Polyarthritis Minorkriterien Fieber ≥ 38,5 °C BSG ≥ 60 mm/h oder CRP ≥ 3,0 mg/dl Erythema marginatum Polyarthralgien subkutane Knötchen verlängerte PQ-Zeit Chorea minor Akutes rheumatisches Fieber und rheumatische Herzkrankheit Das akute rheumatische Fieber (ARF) ist in Deutschland sehr selten [16]. Es entwickelt sich mit 1–4 Wochen La- tenz nach einer GAS-Tonsillopharyngitis und wird aktuell nach den 2015 revidierten Jones-Kriterien diagnostiziert. Sehr umfangreiche Informationen zur Diagnostik und Therapie inklusive einer Übersicht über die fortlaufenden Veränderungen der Jones-Kriterien, die auch wiederholte ARF-Episoden einschließen, finden sich auf den WHO-In- ternetseiten. Bei den sporadisch in Deutschland auf- tretenden ARF-Fällen handelt es sich meist um Erst- manifestationen, für die nach den Jones-Kriterien 2 Ma- jorkriterien oder 1 Major- und 2 Minorkriterien sowie eine vorausgegangene GAS-Infektion nachzuweisen sind (▶ Tab. 3). Nach ARF ist eine Rezidivprophylaxe mit Peni- cillin oder bei Penicillin-Allergie mit Makroliden bzw. ora- len Cephalosporinen meist für 5 Jahre, bei Rezidiv lebens- lang empfohlen. Akute Post-Streptokokken-Glomerulonephritis (APSGN) Die APSGN tritt klassisch mit Fieber, Oligurie, (periorbita- len) Ödemen, Hypertonie, Kopfschmerzen und Sehstö- rungen sowie Makrohämaturie, Proteinurie, Erythro- zyten- und Leukozytenzylindern im Urin auf. Eine C3-Hy- pokomplementämie kann auf die Glomerulonephritis hinweisen. Meist handelt es sich um eine klinische Diag- nose, selten wird eine Nierenbiopsie zur Diagnosesiche- rung durchgeführt. Um die APSGN von anderen post- infektiösen Glomerulonephritiden abzugrenzen, ist die Sicherung der vorausgehenden GAS-Infektion umso wichtiger. Oft gelingt dies nicht, daher wird in der neue- ren Nomenklatur auch eher von einer postinfektiösen Glomerulonephritis gesprochen. Die Prognose bei Kin- dern ist im Gegensatz zu Erwachsenen gut. Nur in Einzel- fällen kommt es zu Hirnödem, Krampfanfällen und chro- nischer Niereninsuffizienz. Post-Streptokokken-Arthritis (PSRA) Die PSRA tritt im Unterschied zur Arthritis beim ARF an einem oder wenigen Gelenken ohne Lokalisationswech- sel auf. Sie beginnt akut, ca. 14 Tage nach einer GAS-Ton- sillopharyngitis und kann persistieren oder rekurrieren. Töpfner N, Berner R. Streptokokken-Infektionen im Kindes- … Pädiatrie up2date 2022; 17: 57–73 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 69

Interessenkonflikt Literatur Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: ja, von einer anderen Institu- tion (Pharma- oder Medizintechnikfirma usw.); Honorar/geld- werten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: ja, von einer anderen Institution (Pharma- oder Medizintechnikfirma usw.); Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfän- ger: ja, von einer anderen Institution (Pharma- oder Medizin- technikfirma usw.); Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/ Partner, Ehepartner, Kinder) an im Bereich der Medizin aktiven Firma: ja; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an zu Sponsoren dieser Fortbildung bzw. durch die Fortbildung in ihren Geschäftsinteressen berührten Firma: nein. Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht. Autorinnen/Autoren Nicole Töpfner Dr. med., Jahrgang 1982. Studium der Human- medizin an der Heinrich-Heine-Universität Düs- seldorf, Facharztausbildung Pädiatrie an den Universitätskinderkliniken Freiburg und Dres- den. Postdoc an der University of Cambridge (UK), Weiterbildung in den Bereichen Kinder- hämatologie und ‑onkologie sowie pädiatrischer Infektiologie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, TU Dresden. 2021 Vorstand Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie. Reinhard Berner Prof. Dr. med., Jahrgang 1963. Studium der Humanmedizin an den Universitäten Würzburg und Caen/Frankreich, Facharztausbildung Pä- diatrie Universität Freiburg, 2001 Habilitation, 2003 Leitender Oberarzt, 2004 Kommissari- scher Ärztlicher Direktor Zentrum Kinderheil- kunde und Jugendmedizin Universität Freiburg, 2012 Direktor Klinik Kinder- und Jugendmedizin Universitätsklinikum TU Dresden, 2009 Vorstand Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Korrespondenzadresse Dr. med. Nicole Töpfner Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Fetscherstr. 74 01307 Dresden Deutschland nicole.toepfner@ukdd.de [1] Heininger U, van der Linden M. Pneumokokken-Infektionen: aktueller Stand und Impfprävention. Pädiatrie up2date 2017; 12: 319–330. doi:10.1055/s-0043-115301 [2] Laws H-J, Baumann U, Bogdan C et al. Impfen bei Immundefi- zienz. Bundesgesundheitsbl 2020; 63: 588–644. doi:10.1007/ s00103-020-03123-w [3] Hesselmar B, Sjoberg F, Saalman R et al. Pacifier Cleaning prac- tices and risk of allergy development. Pediatrics 2013; 131: e1829–e1837. doi:10.1542/peds.2012-3345 [4] [5] Zemlin M, Berger A, Franz A et al. GNPI S2k-Leitlinie: Bakteriel- le Infektionen bei Neugeborenen, Registernummer: 024-008. AWMF; 2018 Franz A, Härtel C, Herting E et al. GNPI S2k-Leitlinie: Sepsis bei Neugeborenen – frühe Form – durch Streptokokken der Grup- pe B, Prophylaxe, Registernummer: 024-020. AWMF; 2016 [6] Carapetis JR, Steer AC, Mulholland EK et al. The global burden of group A streptococcal diseases. Lancet Inf Dis 2005; 5: 685– 694. doi:10.1016/S1473-3099(05)70267-X [7] Oltrogge JH, Chenot J‑F, Schmiemann G et al. DEGAM S3-Leit- linie: Halsschmerzen, Registernummer: 053-010. AWMF; 2020 [8] Martin J. The Streptococcus pyogenes carrier state. 2016. Im Internet (Stand: 11.01.2022): http://www.ncbi.nlm.nih.gov/ pubmed/27466665 [9] Berner R, Steffen G, Toepfner N et al. DGHNO‑KHC S2K-Leit- linie: Entzündliche Erkrankungen der Gaumenmandeln/Tonsil- litis, Therapie, Registernummer: 017–024. AWMF; 2015 [10] Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI). DGPI Handbuch: Infektionen bei Kindern und Jugendlichen. 7. überarb. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2017 [11] Toepfner N, Berner R. Scharlach. Kind Jugendarzt 2014; 5: 223–231 [12] Töpfner N, Berner R. Pyogene Haut- und Weichgewebeinfek- 33–40. Kinderheilk tionen. Monatsschr doi:10.1007/s00112-017-0389-7 2018; 166: [13] Höger PH, Höger P. Kinderdermatologie: Differenzialdiagnos- tik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Thieme; 2012 [14] Robert Koch-Institut. RKI-Ratgeber: Streptococcus pyogenes- Infektionen. 2018. Im Internet (Stand: 11.01.2022): https:// www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Rat- geber_Streptococcus_pyogenes.html [15] Robert Koch-Institut. RKI-Ratgeber: Empfehlungen des Robert Koch-Instituts für die Wiederzulassung zu Gemeinschaftsein- richtungen gemäß § 34 Infektionsschutzgesetz. 2020. Im In- ternet (Stand: 11.01.2022): https://www.rki.de/DE/Content/ Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Wiederzulassung/Mbl_Wieder- zulassung_schule.html [16] World Health Organization (WHO). Report of a WHO expert consultation: Rheumatic fever and rheumatic heart disease. 2004. Im Internet (Stand: 11.01.2022): https://www.who.int/ cardiovascular_diseases/publications/trs923/en/ Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Bibliografie Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungs- bestimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Nicole Töpfner, Dresden. Pädiatrie up2date 2022; 17: 57–73 DOI 10.1055/a-1325-6151 ISSN 1611-6445 © 2022. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Töpfner N, Berner R. Streptokokken-Infektionen im Kindes- … Pädiatrie up2date 2022; 17: 57–73 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 71

Punkte sammeln auf CME.thieme.de Fortsetzung … Frage 8 Frage 10 Wozu erfolgt eine evidenzbasierte antibiotische Therapie bei GAS-Tonsillopharyngitis vor allem? A zur Vermeidung eitriger Folgeerkrankungen B bei allen Patienten jeden Alters zu jedem Zeitpunkt C zur Vermeidung immunogener Folgeerkrankungen D zur Symptomlinderung E zur Vermeidung rezidivierender GAS-Tonsillopharyngitiden Was trifft auf einen singulär erhöhten Anti-Streptolysin-Titer zu? A Man kann damit eine asymptomatische GAS-Kolonisierung von einer GAS-Infektion unterscheiden. B Er beweist eine Post-Streptokokken-Erkrankung. C Er kann als ergänzender Verlaufsparameter bei Post-Strepto- kokken-Glomerulonephritis hilfreich sein. D Er muss immer durch einen weiteren Streptokokken-Antikör- per verifiziert werden. E Er sollte immer nachkontrolliert werden. Frage 9 Was ist das akute rheumatische Fieber? A In Deutschland ist es kein schweres Krankheitsbild. B Es tritt in Subsahara-Afrika häufiger auf als in Deutschland. C Es wird klassischerweise anhand echokardiografischer Krite- rien diagnostiziert. D Es wird immer über eine Symptom-Trias diagnostiziert. E Es lässt sich sicher durch eine antibiotische Therapie vermei- den. Service für unsere Leser up2date immer dabei! Wissens portal eRef plus App. CME-Beitrag SOP/Arbeitsablauf Schritt-für-Schritt ... ... ... ... Jetzt downloaden: up2date – Fortbildung mit dem roten Faden Töpfner N, Berner R. Streptokokken-Infektionen im Kindes- … Pädiatrie up2date 2022; 17: 57–73 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 73

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Pädiatrie up2date 1 · 2022 Hämatologie / Onkologie 6 Genetische Krebsprädisposition und Tumorprädispositionssyndrome im Kindesalter Boris Decarolis VNR: 2760512022161725397 DOI: 10.1055/a-1194-2342 Pädiatrie up2date 2022; 17 (1): 77–94 ISSN 1611-6445 © 2022 Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

CME-Fortbildung Genetische Krebsprädisposition und Tumor- prädispositionssyndrome im Kindesalter Boris Decarolis Die rasanten Fortschritte der molekularen Onkologie und der zunehmende Einsatz genetischer Diagnostik in allen Teilbereichen der Pädiatrie haben tumorprädisponie- rende Erkrankungen in- und außerhalb der Kinderonkologie in den Fokus gerückt. Dieser Beitrag beschreibt sowohl im Allgemeinen als auch an konkreten Beispielen die Chancen und Herausforderungen durch das zunehmende Wissen um das Vorliegen einer genetischen Tumorprädisposition. Allgemeines zur Tumorprädisposition im Kindesalter Merke Bei etwa 5–10 % der Tumorerkrankungen im Kindes- alter liegt eine genetische Prädisposition vor [2, 3]. Krebs im Kinderalter In der Bundesrepublik Deutschland erkranken pro Jahr fast 2200 Kinder unter 18 Jahren an Krebs. Die jährliche Inzidenz liegt bei 17 Neuerkrankungen pro 100 000 Kin- dern unter 18 Jahren [1]. Die Wahrscheinlichkeit eines Neugeborenen, bis zum 18. Lebensjahr an einem Malig- nom zu erkranken, beträgt 297/100 000 (= 0,297%). Dies bedeutet, dass bei 1 von etwa 337 Kindern bis zum 18. Lebensjahr eine Krebserkrankung diagnostiziert wird. Das mediane Alter bei Diagnose eines Malignoms liegt bei 7 Jahren und 8 Monaten [1]. Die Inzidenz ist alters- abhängig und im 1. Lebensjahr am höchsten, mit etwa 27 Neuerkrankungen pro 100 000 Kindern pro Jahr. In den darauffolgenden Lebensjahren fällt die Inzidenz bis auf etwa 13 Neuerkrankungen pro 100 000 Kinder pro Jahr ab dem 5. Lebensjahr und steigt dann wieder leicht an [1]. Die häufigsten malignen Erkrankungen im Kindes- alter sind die Leukämien mit etwa 30% aller Krebserkran- kungen. An 2. Stelle folgt die Gruppe der Hirntumoren mit einem Anteil von fast 25% [1]. Ursachen der Krebsentstehung Die Ursachen der Krebsentstehung sind nur zum Teil be- kannt. Während bei Erwachsenen eine jahrzehntelange Exposition gegenüber Alltagsnoxen wie Tabakrauch, Al- kohol, UV-Strahlung und Ernährung zur Kanzerogenese beitragen kann, ist dies bei Kindern in der Regel nicht der Fall. Infektiöse Kanzerogene wie Hepatitis-B-Viren beim hepatozellulären Karzinom oder das humane Papil- lomavirus beim Zervixkarzinom spielen zwar eher im Er- wachsenenalter eine Rolle, immunologische Einflüsse scheinen jedoch auch schon im Kindesalter z. B. bei der Leukämieentstehung von Bedeutung zu sein. Auf die zugrunde liegenden Mechanismen und wichtige Vertreter von im Kindesalter bedeutsamen Krebsprädis- positionssyndromen soll im Folgenden eingegangen wer- den. In diesem Artikel werden die angeborenen Immun- defekte als Risikofaktoren für eine Krebsentstehung nicht betrachtet [3]. Mechanismen der genetischen Tumorprädisposition Zentral für das Konzept der genetischen Tumorprädis- position ist die sogenannte „2-Hit-Hypothese“, welche Alfred Knudson vor 50 Jahren formulierte. Sie geht davon aus, dass für die Tumorentstehung mehr als 1 geneti- sches Ereignis notwendig ist. Bei genetischer Tumorprä- disposition liegt ein solches Ereignis bereits in der Keim- bahn vor, sodass lediglich 1 weitere Mutation zu Krebs- entstehung ausreichen kann [4]. Diese Theorie wurde anhand von Beobachtungen familiä- rer und sporadischer Retinoblastome formuliert und bil- det die Grundlage insbesondere für eine genetische Tu- morprädisposition durch den Funktionsverlust von Tu- morsuppressorgenen, z. B. bei der familiären adenoma- tösen Polyposis coli (APC) oder beim Li-Fraumeni-Syn- drom [5]. Im weiteren Sinne fallen hierunter auch die ver- schiedenen Mechanismen der Aufrechterhaltung der DNA-Integrität bzw. deren Ausfall beim familiären Brust- krebs (BRCA 1/2) oder den konstitutionellen Mismatch- Repair-Defekten (CMMRD), bei denen es zu einer Akku- mulation von Mutationen kommt [5]. Ein anderer Mechanismus der Tumorprädisposition liegt z. B. bei den Multiplen Endokrinen Neoplasien Typ 2 (MEN 2A/B) zugrunde, bei denen es zu einer aktivierenden Decarolis B. Genetische Krebsprädisposition und … Pädiatrie up2date 2022; 17: 77–94 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 79

Nutzen und Risiken der Diagnostik auf ein Tumorprädispositionssyndrom Das zunehmende Wissen um das Vorliegen einer geneti- schen Tumorprädisposition bringt einige Vorteile für die Versorgung der Patienten und Familien mit sich, stellt Ärzte und Patienten jedoch auch vor spezielle Herausfor- derungen. Psychische Belastung Im deutschen Gendiagnostikgesetz (GenDG) ist explizit auch das Recht auf Nichtwissen festgeschrieben, welches zwingend Teil der notwendigen Aufklärung vor Einleitung einer genetischen Diagnostik ist. Da das Wissen um eine möglicherweise bedrohliche Diagnose die Lebensqualität erheblich einschränken und eine große psychische Belas- tung sein kann, sollen die individuellen Bedürfnisse der betroffenen Familien entsprechend gewürdigt werden [9]. Neben den medizinischen und psychologischen Aspekten können auch versicherungsrechtliche Aspekte eine nach- teilige Rolle spielen und müssen Teil der Aufklärung sein. Erschwerend kommt hinzu, dass das angegebene Tumor- risiko bei den verschiedenen Krebsprädispositionssyndro- men in der Regel aus klassischen Familienstammbäumen abgeleitet ist und für Patienten mit leerer Familienanam- nesen nicht valide angegeben werden kann. Auch die empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen, z. B. mittels Kernspintomografie, werden z. T. als sehr belastend emp- funden und machen je nach Patientenalter zusätzlich eine Sedierung notwendig [10]. Darüber hinaus kann bei Vererbung durch ein Elternteil die „Schuldfrage“ eine er- hebliche Belastung darstellen. Cave Die Diagnose eines Tumorprädispositionssyndroms kann neben der realen Bedrohung auch zu Verun- sicherung führen, wenn das eigentliche Risiko bei Zufallsbefunden mit leerer Eigen- und Familien- anamnese nicht zuverlässig abgeschätzt werden kann [8, 9]. Therapieanpassung und Vorsorgeuntersuchungen Im Falle einer Tumorerkrankung kann die Kenntnis darü- ber, dass ein Tumorprädispositionssyndrom vorliegt, eine Therapieanpassung nach sich ziehen. Zum einen kann diese zur Vermeidung exzessiver Toxizitäten oder Spät- schäden erfolgen, was aber z. T. nur bedingt möglich ist, wenn therapeutische Alternativen fehlen [11]. Zum ande- ren kann die zugrunde liegende Genetik auch therapeu- tisch genutzt werden, z. B. besteht eine erhöhte Wirk- samkeit von Checkpoint-Inhibitoren aufgrund der höhe- ren Mutationslast bei CMMRD [11]. Ein direkter Nutzen besteht jedoch vor allem in der Mög- lichkeit der Tumorvorsorge gemäß den zahlreichen publi- zierten Empfehlungen [10]. Für einige Erkrankungen wie dem Li-Fraumeni-Syndrom und den konstitutionellen Mismatch-Repair-Defekten (CMMRD) konnte der Nutzen dieser Surveillance-Programme bereits belegt werden [12, 13]. Optimale interdisziplinäre Versorgung Die meisten tumorprädisponierenden Erkrankungen wei- sen über die onkologische Bedeutung hinaus zahlreiche weitere, syndromspezifische klinische Symptome auf, die einer spezialisierten, interdisziplinären Versorgung be- dürfen, z. B. durch die Neuro- und Sozialpädiatrie, Ortho- pädie, Pädaudiologie/HNO und Ophthalmologie bei den Neurofibromatosen [14]. Li-Fraumeni-Syndrom Das Li-Fraumeni-Syndrom (LFS) wurde von seinen Na- mensgebern, Frederick P. Li und Joseph F. Fraumeni, erst- malig 1969 anhand von 4 Familien mit Weichteilsarko- men, Brustkrebs und weiteren Malignomen beschrieben und ist sicher eines der bekanntesten und aggressivsten Krebsprädispositionssyndrome. Genetische Grundlagen und Epidemiologie Die genetische Grundlage des Li-Fraumeni-Syndroms sind Keimbahnmutationen im TP53-Gen, welches für das P53-Protein kodiert. Es fungiert als „Wächter des Ge- noms“, indem es vielfältige Aufgaben bei der Antwort auf Schädigung der DNA wahrnimmt [15]. Besonders ag- gressive Verlaufsformen findet man bei den sogenannten dominant-negativen Varianten, bei denen das intakte P53-Protein von der defektiven Form gebunden und da- mit inaktiviert wird [13]. Während man allgemein von einer Prävalenz von etwa 1 : 4500 ausgeht [15], gibt es Gebiete in Brasilien, wo bis zu 0,3% der Bevölkerung eine TP53-Keimbahnmutation tragen [13]. Die Vererbung erfolgt autosomal-dominant, wobei etwa 7–20% als De- novo-Mutationen entstehen. Neben den Keimbahnmuta- tionen kommen auch Mosaike im Rahmen einer klonalen Hämatopoese vor [15]. Beides kann die Diagnostik ver- komplizieren und sowohl zu falsch-positiven als auch zu falsch-negativen Diagnosen führen. Außerdem ist TP53 das am häufigsten (somatisch) mutierte Gen in malignen Tumoren [2]. Definition: klassisches Li-Fraumeni-Syndrom und TP53-Spektrum Die ursprüngliche Definition des Li-Fraumeni-Syndroms war rein klinisch und wurde erst später durch die patho- gene TP53-Keimbahnmutation ergänzt. Dem wird bis heute dadurch Rechnung getragen, dass neben der klas- sischen Definition des Li-Fraumeni-Syndroms die Chom- pret-Kriterien das Vorliegen einer TP53-Keimbahnmuta- tion nahelegen (▶ Tab. 1). Wie durch die letzten beiden Chompret-Kriterien ange- deutet, können bestimmte Tumorentitäten insbesondere Decarolis B. Genetische Krebsprädisposition und … Pädiatrie up2date 2022; 17: 77–94 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 81

70. Lebensjahr [13]. Aber auch geschlechtsunabhängig wird das kumulative Tumorrisiko bis zum 70. Lebensjahr mit 73–100% angegeben [15]. Dabei treten die ersten Tumoren schon in der frühen Kindheit auf, mit einem Tu- morrisiko von fast 5% im 1. Lebensjahr, über 20% bis zum 5. Lebensjahr und über 40% bis zum Erreichen der Voll- jährigkeit [13]. Auch wenn sich diese Angaben auf klassi- sche Li-Fraumeni-Familien beziehen und wahrscheinlich nicht ohne Weiteres auf alle Patienten mit leerer Famili- enanamnese übertragbar sind, illustrieren sie sehr gut die Aggressivität dieses Krebsprädispositionssyndroms. Außerdem entwickeln über 40% der Patienten mit Li- Fraumeni-Syndrom eine 2. Tumorerkrankung, insbeson- dere nach vorangegangener Chemo- oder Strahlenthera- pie [15]. Tumorspektrum Die am häufigsten auftretenden Tumorentitäten im Kin- desalter sind Osteosarkome (30%), Nebennierenrinden- karzinome (27%), Hirntumoren (25%) und Weichteilsar- kome (23%). Bei Erwachsenen dominiert Brustkrebs (79% der Tumoren bei Frauen) vor Weichteilsarkomen (27%) [13]. Merke Das Tumorspektrum beim Li-Fraumeni-Syndrom ist sehr breit, und neben den sogenannten Core Cancers (Weichteilsarkom, Osteosarkom, Hirntumoren, Nebennierenrindenkarzinom und prämenopausaler Brustkrebs) treten zahlreiche weitere Tumorenti- täten auf [13]. Dieses breite Spektrum hat sicherlich auch mit der oben beschriebenen Funktion des p53-Proteins als „Wächter des Genoms“ zu tun. Weitere, häufig auftretende Malig- nome umfassen Leukämien, sowie Tumoren von Lunge, Haut, Gastrointestinaltrakt, Nieren und Schilddrüse. In seltenen Fällen kann auch das Neuroblastom mit einer TP53-Keimbahnvariante einhergehen [13]. Letztlich kann beim Li-Fraumeni-Syndrom fast jede – häufige oder selte- ne – Tumorentität auftreten. Tumorvorsorge Die Tumorvorsorge gemäß dem Toronto-Protokoll gehört zu den wenigen Vorsorgeempfehlungen für Tumorprädis- positionssyndrome, für welche der prognostische Nutzen für den Patienten belegt ist. Es ist derzeit in leicht modifi- zierter Form im Einsatz [13] und kann weiterhin als Gold- standard bezeichnet werden (▶ Tab. 2). Einige Autoren schlagen weitere Modifikationen vor; hierdurch soll dem unterschiedlichen Tumorrisiko verschiedener TP53-Vari- anten und dem Einfluss genetischer Modifikatoren Rech- nung getragen werden [15]. Diese Modifikationen haben sich in Deutschland bisher aber nicht durchgesetzt, auch weil es hierfür bisher keine verlässlichen Daten gibt, wel- che eine valide Risikoabschätzung erlauben würden. Neurofibromatose Typ 1 Die Neurofibromatose Typ 1 (NF 1) ist auch bekannt un- ter ihrer historischen Bezeichnung Morbus Recklinghau- sen nach Friederich von Recklinghausen, der die Erkran- kung 1882 erstmalig charakterisiert hat. Aufgrund ihrer vielfältigen klinischen Symptome ist die NF 1 eine klassi- sche Domäne der interdisziplinären Patientenversorgung [14]. Aufgrund der auftretenden Tumoren und der vasku- lären Manifestationen ist die Lebenserwartung gegen- über der Restbevölkerung um etwa 15 Jahre verkürzt. Genetische Grundlagen und Epidemiologie Die Neurofibromatose Typ 1 wird durch vielfältige Muta- tionen im NF-1-Tumorsuppressor-Gen verursacht. Es ko- diert für das Protein Neurofibromin, welches durch die Loss-of-Function-Mutation seine Rolle als negativer Regu- ▶ Tab. 2 Vorsorgeuntersuchungen beim Li-Fraumeni-Syndrom (LFS). bei Kindern und Jugendlichen ▪ alle 3–4 Monate: bei Erwachsenen ▪ alle 6 Monate: – körperliche Untersuchung (inkl. Blutdruckmessung, Bestimmung von Größe, Gewicht, Wachstumsgeschwindig- keit und Tanner-Stadien) – Ultraschalluntersuchung des Abdomens – bei unzureichenden Ultraschallbedingungen Bestimmung – körperliche Untersuchung – klinische Brustuntersuchung (ab 20. Lebensjahr bzw. 5–10 Jahre vor dem frühesten Auftreten eines Mamma- karzinoms in der Familie) ▪ jährlich: der Androgene im Serum ▪ jährlich: Schädel- und Ganzkörper-MRT – Ultraschalluntersuchung des Abdomens und des Beckens – Hautkrebsvorsorge – MR-Mammografie (im 20.–75. Lebensjahr bzw. 5–10 Jahre vor dem frühesten Auftreten eines Mammakarzinoms in der Familie) ▪ alle 2–5 Jahre: – Gastro- und Koloskopie (ab 25. Lebensjahr bzw. 5 Jahre vor dem frühesten Auftreten eines gastrointestinalen Karzinoms in der Familie) Decarolis B. Genetische Krebsprädisposition und … Pädiatrie up2date 2022; 17: 77–94 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 83

Auch das kardiovaskuläre System ist bei der NF 1 mit- betroffen. Bis zu einem Viertel der Patienten präsentieren diesbezügliche Anomalien, am häufigsten in Form pul- monal-arterieller Stenosen. Bluthochdruck kommt am häufigsten als essenzieller Hypertonus vor, bei Kindern und jungen Erwachsenen ist jedoch auch immer an eine Nierenarterienstenose zu denken [14]. Tumorspektrum und Tumorrisiko Das Tumorspektrum betrifft am häufigsten das zentrale Nervensystem, angeführt durch das Auftreten von Opti- kusgliomen und anderen Sehtrakttumoren, vor allem in der ersten Lebensdekade mit einem Peak im Kindergar- tenalter. Merke Bis zu 15 % der Patienten mit NF 1 entwickeln ein- oder beidseitige Optikusgliome, jedoch wird nur etwa die Hälfte davon symptomatisch, sodass eine Therapie indiziert ist [16]. Bei bis zu 2% der Patienten und etwas später als Optikus- gliome treten niedriggradige Hirnstammgliome auf, mit einer Häufung bei Patienten mit Optikusgliom [14, 16]. Spinale Tumoren inkl. Neurofibrome werden in MRT-Un- tersuchungen bei Erwachsenen zwar bei bis zu > 60% ge- funden, aber nur 2% der Patienten zeigen entsprechende Symptome [16]. Hochgradige Gliome (HGG) kommen zwar ebenfalls häufiger als in der Normalbevölkerung vor, sind aber trotz allem selten mit einem Tumorrisiko von < 1%. Zudem sollte bei Patienten mit V. a. NF 1 und einem HGG ein konstitutioneller Mismatch-Repair-Defekt (CMMRD) ausgeschlossen werden [16]. Eine relevante Ursache für Mortalität bei NF-1-Patienten ist das Auftreten maligner peripherer Nervenscheidentumo- ren (MPNST), die oft aus plexiformen Neurofibromen (pNF) entstehen. Das Tumorrisiko liegt bei 8–13% und ist erhöht nach onkologischer Strahlentherapie sowie bei Deletionen des gesamten NF-1-Gens [14]. Die Therapie ist in erster Linie chirurgisch bei schlechter Chemosensiti- vität dieser Tumoren. Bei Frauen mit NF 1 ist das Brustkrebsrisiko vor dem 50. Lebensjahr um das 5-Fache erhöht [14]. Weitere NF- 1-assoziierte Tumorentitäten treten deutlich seltener auf und umfassen embryonale Rhabdomyosarkome, Phäo- chromozytome, neuroendokrine Tumoren des Duode- nums sowie gastrointestinale Stromatumoren. Die Häu- figkeitsangaben dieser Tumoren schwanken z. T. deutlich und liegen wahrscheinlich um die 1% [14, 16]. Mit der ju- venilen myelomonozytären Leukämie (JMML) und der akuten myeloischen Leukämie (AML) treten Leukämien bei der NF 1 zwar deutlich häufiger auf als in der rest- lichen Bevölkerung, das Risiko für NF-1-Patienten liegt je- doch deutlich unter 1% [14]. Tumorvorsorge Merke Eine präsymptomatische Routine-Bildgebung spielt bei der NF 1 – selbst im Hinblick auf Optikusgliome – eine untergeordnete Rolle. Stattdessen wird ein Vor- sorgeprogramm empfohlen, welches sich im Kindes- alter deutlich von dem bei Erwachsenen unterschei- det (▶ Tab. 3). Wichtig sind dabei eine gute klinische Beurteilung des Patienten sowie eine funktionelle Untersuchung beim Augenarzt. Cave Problematisch ist vor allem die Früherkennung von MPNST, da diese oft an Stellen entstehen, die klinisch nicht fassbar sind, früh metastasieren können und die komplette Resektion immer noch die einzige wirklich kurative Therapie darstellt. Eine zuverlässige Differenzierung plexiformer Neurofi- brome von MPNST ist bisher nicht möglich. Jedoch gibt es Hinweise, dass atypische Neurofibrome eine Art Prä- kanzerose im Übergang von pNF zu MPNST sein können [16]. Diese können im MRT als distinkte noduläre Läsio- nen (DNL) identifiziert werden, was in Zukunft eine Chan- ce zur Früherkennung bieten könnte. Hierzu fehlen bisher jedoch Daten und Konzepte zur Art und Frequenz von Surveillance-MRT und dem optimalen Zeitpunkt der In- tervention. ▶ Tab. 3 Tumor-Surveillance bei Neurofibromatose Typ 1 [16]. bei Kindern und Jugendlichen bei Erwachsenen ▪ jährliche körperliche Untersuchung inkl. Größe, Gewicht, RR-Messung, neurologischem Status und Hautbefund ▪ jährliche körperliche Untersuchung inkl. RR-Messung, neurologischem und dermatologischem Status ▪ augenärztliche Untersuchung (mit OCT) 6-monatlich bis zum ▪ Brustkrebs-Screening bei Frauen ab dem 30. Lebensjahr, 8. Lebensjahr, jährlich bis zum 20. Lebensjahr evtl. mit MR-Mammografie vom 30.–50. Lebensjahr ▪ Schädel-MRT bei V. a. OPG oder anderen Hirntumoren, 3- bis 6-monatlich bei bekanntem OPG ▪ spinale MRT bei Schmerzen oder neurologischen Ausfällen ▪ Ganzkörper-MRT im 16.–20. Lebensjahr zur Abschätzung der pNF ▪ gezielte MRT bei Hinweisen auf MPNST (Schmerzen, Wachstum) ▪ Schädel-MRT bei V. a. Hirntumor ▪ spinale MRT bei Schmerzen oder neurologischen Ausfällen ▪ gezielte MRT bei Hinweisen auf MPNST (Schmerzen, Wachstum) Decarolis B. Genetische Krebsprädisposition und … Pädiatrie up2date 2022; 17: 77–94 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 85

FALLBEISPIEL Diagnose durch Leittumoren Bei Ludwig wird im Alter von 5 Jahren über die Dermatologie ein unklarer Hautbefund entfernt. Die histologische Diagnose lautet plexiformes Schwannom. Aufgrund der Histologie wird Ludwig in unserer Ambulanz zur weiteren Abklärung vorgestellt. In der körperlichen Untersuchung finden sich weitere kutane Schwannome, ein Café-au-Lait-Fleck am Bauch sowie eine Hyper- pigmentierung am rechten Oberschenkel. Wegen eines Einwärts- schielens rechts wird seit 6 Monaten eine Okklusionsbehandlung durchgeführt. Auf dem linken Auge besteht eine Visusminderung. Einbeinstand und Seiltänzergang sind unsicher. Passend dazu be- richtet Ludwigs Mutter über eine neu aufgetretene Fallneigung. Eine subjektive Hörminderung bestehe nicht. Die bisherige Entwicklung sei unauffällig gewesen. Ludwig sei sehr lebhaft und gehe gerne in den Kindergarten. In der Familienanamnese finden sich weder Gehörlosigkeit, Hirntumoren, Schwannome, Neurofibrome noch Neurofibromatosen. In der HNO-ärztlichen Untersuchung zeigt eine peripher-vestibuläre Funktionsstörung links und in der Schädel-MRT (▶ Abb. 1) passend dazu ein Vestibularisschwannom links. Weitere Schwannome finden sich im Verlauf der Nn. trigemini beidseits, des N. abducens rechts und des N. oculomotorius links. Außerdem besteht ein Meningeom links temporomesial. Von den beiden aufgrund der kutanen Schwannome in Frage kommenden Diagnosen Schwannomatose bzw. Neurofibromatose Typ 2 erscheint nur noch letztere wahr- scheinlich und kann letztlich auch genetisch gesichert werden. gung sowie das Erlernen der Gebärdensprache zu Zeiten, in denen das Hörvermögen noch erhalten ist. Patienten mit NF 2 leiden darüber hinaus häufig an peripheren Neu- ropathien, die im Kindesalter oft als Mononeuropathie beginnen, sodass hier auch die Neuropädiatrie bzw. Neu- rologie Teil des Behandlungsteams werden kann [17]. Tumorspektrum und Tumorrisiko Wie der mittlerweile nicht mehr gebräuchliche Begriff der „zentralen Neurofibromatose“ gut illustrierte, treten die meisten Tumoren bei der NF 2 im zentralen Nerven- system auf (▶ Tab. 4). Neben den intrakraniellen Schwannomen, die in abstei- gender Reihenfolge am häufigsten im Verlauf der Nn. vestibulocochleares, Nn. trigemini und der Nn. oculo- motorii vorkommen, treten Schwannome auch im Be- reich der spinalen Nervenwurzel und (dann als plexiforme Schwannome) im Bereich der zervikalen, brachialen und sakralen Nervenplexus auf [17]. Merke Das Auftreten von Hirnnerven-Schwannomen, die nicht den N. vestibulocochlearis betreffen, kann das erste klinische Zeichen eines schweren Krankheits- verlaufs sein [18]. Neben den intrakraniellen Meningeomen treten in bis zu 20% der NF-2-Patienten auch spinale Meningeome auf. Das Auftreten multipler Meningeome ist ein wichtiges Kriterium bei der klinischen Diagnosestellung einer NF 2 [17]. Ependymome kommen vor allem im Bereich der Fossa posterior oder im Halsmark vor und entsprechen in der Regel einem WHO II°. Diese können in großer Zahl auftreten und perlschnurartig aneinander gereiht liegen. Sie kommen vor allem bei trunkierenden Mutationen vor [17]. Tumorvorsorge Der Benefit einer präsymptomatischen Kontrolle insbe- sondere der hirnstammnahen Tumoren an kinderonkolo- gischen Zentren mit Erfahrung im Umgang mit NF-2-Pa- tienten zeigt sich in einem Überlebensvorteil [18]. Die ak- tuellen Empfehlungen zur Tumorvorsorge bei NF 2 unter- schieden sich im Kindes- und Jugend- sowie im Erwachse- nenalter nicht essenziell. ▶ Abb. 1 Neurofibromatose 2 bei einem 5-jährigen Patienten. MRT-Darstellung der Tumoren im linken Kleinhirnbrückenwinkel (Pfeil nach links) und des linken N. oculomotorius (Pfeil nach unten). Quelle: F. Körber, Schwerpunkt Kinder- und Jugendradio- logie UK Köln Decarolis B. Genetische Krebsprädisposition und … Pädiatrie up2date 2022; 17: 77–94 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 87

▶ Tab. 5 Konsensuskriterien und Scoring-System zur Diagnose eines BWS [19]. Kardinalsymptome Makroglossie Bauchwanddefekt einseitiger Großwuchs hinweisende Symptome Geburtsgewicht > 97,7. Perzentile fazialer Naevus simplex Polyhydramnion/Plazentamegalie multifokales oder bilaterales Nephroblastom oder Nephroblastomatose typische BWS-Tumoren (Nephroblastom, Hepatoblastom, Neuroblastom, Rhabdomyosarkom, adrenokortikales Karzinom) Hyperinsulinismus (> 1 Woche) Nebennierenrinden-Zytomegalie anhaltende Hypoglykämie (> 1 Woche) Nephromegalie oder Hepatomegalie plazentare mesenchymale Dysplasie Nabelhernie/Rektusdiastase pankreatische Adenomatose Ohrkerben Tumorspektrum und Tumorrisiko Über alle genetischen und epigenetischen Konstellatio- nen hinweg wird das Tumorrisiko mit 8% angegeben, wo- bei das Nephroblastom mit Abstand der am häufigsten vorkommende Tumor ist und über die Hälfte der Malig- nome ausmacht [20]. Weitere, häufig auftretende Tumo- ren sind Hepatoblastome (14%), Neuroblastome (10%), Rhabdomyosarkome (5%) und Nebennierenrindenkarzi- nome (3%) [19]. Die sehr ausgeprägten Genotyp-Phäno- typ-Korrelationen für die häufigsten Konstellationen sind in ▶ Tab. 6 zu finden. ▶ Tab. 6 Genotyp-Phänotyp-Korrelation für die häufigsten Konstellationen bei Beckwith-Wiedemann-Syndrom. molekulare Veränderung Häufigkeit klinische Charakteristika Tumorrisiko IC2 LOM (Loss of Methylation) 50% häufig Bauchwanddefekte Upd(11)pat (paternale uniparentale Diploidie) 20% häufig einseitiger Großwuchs, selten Bauchwanddefekte IC1 GOM (Gain of Methylation) 5% selten Bauchwanddefekte CDKN1C-Mutationen (Loss of Function) 5% (40% in fa- miliären Fällen) häufig Bauchwanddefekte ▪ Tumorrisiko insgesamt 2,6% ▪ Hepatoblastome 0,7% ▪ Rhabdomyosarkome 0,5 % ▪ Neuroblastome 0,5% ▪ Schilddrüsenkarzinome 0,3% ▪ Nephroblastome 0,2 % ▪ Melanome 0,1% ▪ Tumorrisiko insgesamt 16% ▪ Nephroblastome 7,9 % ▪ Hepatoblastome 3,5% ▪ Neuroblastome 1,4% ▪ Nebennierenrindenkarzinome 1,1 % ▪ Phäochromozytome 0,8% ▪ Lymphoblastenleukämie 0,5% ▪ Pankreatoblastome 0,3 % ▪ Hämangiotheliome 0,3 % ▪ Rhabdomyosarkome 0,3 % ▪ Tumorrisiko insgesamt 28,1% ▪ Nephroblastome 24% ▪ Neuroblastome 0,7% ▪ Pankreatoblastome 0,7 % ▪ Tumorrisiko insgesamt 6,9% ▪ Nephroblastome 1,4 % ▪ Neuroblastome 4,2% ▪ ALL 1,4 % Decarolis B. Genetische Krebsprädisposition und … Pädiatrie up2date 2022; 17: 77–94 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 89

Screening bis zum 7. Lebensjahr 94,2% der Nephroblas- tome gefunden werden. Bei einer Verlängerung des Screenings bis zum 8. Lebensjahr wären es mit 94,8% nicht wesentlich mehr. Um 100% der Nephroblastome bei BWS im Screening zu erfassen, müssten die Abdo- mensonografien bis zum 13. Lebensjahr durchgeführt werden [20]. KERNAUSSAGEN ▪ Eine genetische Tumorprädisposition spielt in 5–10% der Krebserkrankungen bei Kindern eine entscheidende Rolle. ▪ Durch den breiten Einsatz genetischer (Exom-) Diagnostik können Zufallsbefunde bei unauf- fälliger Eigen- und Familienanamnese Probleme bei der Bewertung des individuellen Tumorrisikos bereiten. ▪ Klinische und bildgebende Befunde sowie die Art der auftretenden Tumoren geben wichtige Hin- weise für eine gezielte genetische Diagnostik. ▪ Die systematische Identifizierung kinderonkolo- gischer Patienten mit zugrunde liegender Tumor- prädisposition ist mittlerweile verankert in den Zertifizierungsrichtlinien der Deutschen Krebs- gesellschaft. ▪ Durch Früherkennungsuntersuchungen kann auch bei genetischer Krebsprädisposition die Prognose verbessert werden. ▪ Die Kenntnis über das Vorliegen einer genetischen Tumorprädisposition kann auch therapeutische Konsequenzen haben. ▪ Die Betreuung von Patienten mit einem Tumor- prädispositionssyndrom erfolgt in der Regel inter- disziplinär und multiprofessionell. Interessenkonflikt Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an im Bereich der Medizin aktiven Firma: nein; Patent/ Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an zu Sponsoren dieser Fortbildung bzw. durch die Fortbil- dung in ihren Geschäftsinteressen berührten Firma: nein. Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht. Autorinnen/Autoren Boris Decarolis Dr. med., Jahrgang 1979. 2000–2007 Studium der Humanmedizin in Köln und Perugia. Seit 2012 Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, ab 2015 mit Schwerpunktbezeichnung der Neonatologie und 2019 der Pädiatrischen On- kologie und Hämatologie. Seit 2017 Funktions- oberarzt Pädiatrische Onkologie und Hämatologie, Uniklinik Köln. Schwerpunkte: genetische Tumorprädisposition, mole- kulare Therapien, Phase-I-/II-Studien. Korrespondenzadresse Dr. med. Boris Decarolis Zentrum für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Universitätsklinikum Köln (AöR) Kerpener Str. 62 50937 Köln Deutschland krebspraedisposition@uk-koeln.de Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungs- bestimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Boris Decarolis, Köln. Literatur [1] Erdmann F, Kaatsch P, Grabow D et al. German Childhood Can- cer Registry – Annual Report 2019 (1980–2018). Institute of Medical Biostatistics, Epidemiology and Informatics (IMBEI) at the University Medical Center of the Johannes Gutenberg Uni- versity Mainz; 2020 [2] Gröbner SN, Worst BC, Weischenfeldt J et al. The landscape of genomic alterations across childhood cancers. Nature 2018; 555 (7696): 321–327. doi:10.1038/nature25480 [3] Ripperger T, Bielack SS, Borkhardt A et al. Childhood cancer predisposition syndromes – A concise review and recommen- dations by the Cancer Predisposition Working Group of the Society for Pediatric Oncology and Hematology. Am J Med Genet A 2017; 173: 1017–1037. doi:10.1002/ajmg.a.38142 [4] Knudson AG jr. Mutation and cancer: statistical study of reti- noblastoma. Proc Natl Acad Sci U S A 1971; 68: 820–823. doi:10.1073/pnas.68.4.820 [5] Capellini A, Williams M, Onel K et al. The Functional Hallmarks of Cancer Predisposition Genes. Cancer Manag Res 2021; 13: 4351–4357. doi:10.2147/CMAR.S311548 [6] Machens A, Lorenz K, Weber F et al. Genotype-specific pro- gression of hereditary medullary thyroid cancer. Hum Mutat 2018; 39: 860–869. doi:10.1002/humu.23430 [7] Loveday C, Josephs K, Chubb et al. p.Val804Met, the Most Fre- quent Pathogenic Mutation in RET, Confers a Very Low Life- time Risk of Medullary Thyroid Cancer. J Clin Endocrinol Metab 2018; 103: 4275–4282. doi:10.1210/jc.2017-02529 [8] Katz AE, Nussbaum RL, Solomon BD et al. Management of Sec- ondary Genomic Findings. Am J Hum Genet 2020; 107: 3–14. doi:10.1016/j.ajhg.2020.05.002 Decarolis B. Genetische Krebsprädisposition und … Pädiatrie up2date 2022; 17: 77–94 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 91

Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Den genauen Einsendeschluss finden Sie unter https://cme.thieme.de. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführliche Anleitung. Wir wünschen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! Unter https://eref.thieme.de/CXF7VSG oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests. VNR 2760512022161725397 Frage 1 Frage 4 Welche Aussage zur genetischen Tumorprädisposition ist kor- rekt? A Das Immunsystem scheint hierbei keine Rolle zu spielen. B Genetische Tumorprädisposition spielt erst im Erwachsenen- alter eine Rolle. C 5–10% der Krebserkrankungen bei Kindern entstehen auf dem Boden einer genetischen Krebsprädisposition. Welche Aussage zur Neurofibromatose Typ 1 ist zutreffend? A Optikusgliome treten in der Regel beidseitig auf und müssen immer therapiert werden. B Café-au-Lait-Flecke entarten sehr oft zu Melanomen. C Die JMML ist die häufigste Leukämie bei NF-1-Patienten. D Das Brustkrebsrisiko bei Frauen mit NF 1 ist nicht erhöht. E Maligne periphere Nervenscheidentumoren entstehen aus D Genetische Tumorprädisposition spielt nur im Kindesalter entarteten plexiformen Neurofibromen. eine Rolle. E Umwelteinflüsse scheiden als Ursache für die Krebsentste- Frage 5 hung bei Kindern aus. Frage 2 Was ist bezüglich einer genetischen Tumorprädisposition zutref- fend? A Die Familienanamnese spielt bei der Bewertung einer nach- gewiesenen tumorprädisponierenden Mutation keine Rolle. B Alle tumorprädisponierenden Mutationen sind dominant. C Alle tumorprädisponierenden Mutationen sind rezessiv. D Bei der Wertung einer nachgewiesenen tumorprädisponie- renden Mutation muss die Familienanamnese berücksichtigt werden. E Jeder Betroffene einer genetischen Tumorprädisposition ent- Was ist bezüglich der Neurofibromatose Typ 1 richtig? A Die Betreuung von NF-1-Patienten erfolgt optimalerweise interdisziplinär. B Es besteht eine erhöhte Frakturgefahr durch eine erhöhte Knochendichte. C Die Intelligenz ist fast immer deutlich vermindert. D Bluthochdruck entsteht am häufigsten durch das Vorliegen einer Nierenarterienstenose. E NF 1 und Autismus schließen sich gegenseitig aus. Frage 6 Welche Aussage zur Neurofibromatose Typ 2 ist zutreffend? A Sie ist genetisch eng verwandt mit der Neurofibromatose Typ wickelt im Laufe seines Lebens einen Tumor. 1. Frage 3 Was ist bezüglich der Tumoren beim Li-Fraumeni-Syndrom (LFS) richtig? A Das Tumorspektrum verteilt sich gleichmäßig auf alle bei Kin- dern vorkommenden Krebsarten. B Das Tumorspektrum beschränkt sich auf die sogenannten Core Cancers. C Das Tumorspektrum ist breit; jedoch gibt es einige typische Entitäten, die auf ein LFS hinweisen. D Die Tumoren treten erst im Erwachsenenalter auf. E Das Tumorrisiko gleicht ab dem 18. Lebensjahr dem der Nor- malbevölkerung. B Die Penetranz der Erkrankung ist sehr niedrig. C Eine Genotyp-Phänotyp-Korrelation ist nicht bekannt. D Genetische Mosaike machen ein Drittel der De-novo-Muta- tionen aus. E Sie tritt deutlich häufiger auf als die Neurofibromatose Typ 1. ▶ Weitere Fragen auf der folgenden Seite … Decarolis B. Genetische Krebsprädisposition und … Pädiatrie up2date 2022; 17: 77–94 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 93

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