neuroreha verbindet Forschung und Therapie Schwerpunkt Obere Extremität ▪ Evidenzbasierte Armrehabilitation nach Schlaganfall ▪ Schlüsseltherapien und Assessments ▪ Schmerzpatienten in Bewegung bringen 2 Juni 2020 Seite 49–96 12. Jahrgang Herausgeber Martin Lotze Jan Mehrholz Klaus Starrost Jetzt neuroreha-App downloaden!

Editorial Prof. Dr. habil. Jan Mehrholz ist Physiothe- rapeut und Professor für Therapie wissenschaften an der SRH Fachhoch- schule Gera. Prof. Dr. Martin Lotze ist Humanmediziner und Neurologe. Klaus Starrost ist Physiotherapeut und hat einen Master of Science in Neuroreha- bilitation. Hand drauf! Seit unserem letzten Editorial hat sich unsere Welt komplett verändert. Wie Sie, liebe Leserinnen und Leser, sind auch wir als Herausgeber von der Corona-Krise betroffen. Jedoch versuchen wir auch weiterhin bestmöglich, Ihnen in der neuroreha relevante und aktuelle Themen zur Verfügung zu stellen – Hand drauf! Ganz in diesem Sinne ist das Thema der aktuellen Ausgabe „Hand-Arm- Aktivitäten“. Im ersten Schwerpunktartikel legt Thomas Platz den Fokus auf einen Überblick über evidenz- basierte Armrehabilitation nach Schlaganfall. Die weiteren Schwerpunktthemen sind „Schlüsseltherapien für die obere Extremität“ und „Assess- ments für die obere Extremität“ von den Autorenteams um Simone Thomas, Bernhard Elsner und Jan Mehrholz. Der vierte Schwerpunkt entstand in internationaler Zusammenarbeit von Martin Lotze und G. Lorimer Moseley und lautet „Schmerzpatienten in Bewegung bringen“. Gerade in Corona-Zei- ten ist das hier verwendete App-basierte Verfahren eine Methode für hochrepetitives und -inten- sives Eigentraining. Vielleicht kann Ähnliches auch in anderen Therapien der sensomotorischen Funktionserholung durchgeführt werden. Es bleibt zu wünschen, dass abrechnungstechnische Hinderungsgründe für intensives App-basiertes ambulantes Eigentraining unter den neuen Gege- benheiten jetzt endlich angegangen werden. Als Praxisartikel beschreiben Alexandra de Crignis und Carmen Fuchs gerätegestützte Therapien in Armstudios („Jump and Run ins nächste Therapielevel“) und Thorsten Böing „Hilfsmittelver- sorgungen der oberen Extremität“. Die Patientenperspektive wird in einem Interview von Wiebke Sporrer „Wie die Hände wieder geschickter werden“ dargestellt. Das Herausgeberteam wünscht „handfeste“ Leseerlebnisse. Ihre Herausgeber der neuroreha Martin Lotze, Jan Mehrholz und Klaus Starrost neuroreha 2020; 12 49

Inhaltsverzeichnis neuroreha Juni 2020 · 11. Jahrgang · Seite 49–96 Aktuelles aus der Forschung 52 Internationale Studienergebnisse 55 Gelesen und kommentiert Schwerpunkt Obere Extremität 58 Evidenzbasierte Armrehabilitation nach Schlaganfall – ein Überblick 63 Schlüsseltherapien für die obere Extremität 71 Assessments für die obere Extremität 82 Schmerzpatienten in Bewegung bringen Das aufgabenspezifische Training des Armes bezieht sich auf eine alltags- relevante Aufgabe. (Quelle: Thieme Gruppe; Symbolbild) 86 Refresher-Fragen Aus der Praxis 87 Jump and Run ins nächste Therapielevel 91 Hilfsmittelversorgungen der oberen Extremität Patientenperspektive 94 Wie die Hände wieder geschickter werden Info 96 Buchbesprechungen | Termine Impressum auf der letzten Seite Titelbild: (Quelle: Thieme Gruppe; Symbolbild) neuroreha 2020; 12 51

tienten mit leichter motorischer Beein- trächtigung. Zwar verbesserten sich Koor- dination und Geschicklichkeit etwas, aber nicht die Stabilität der motorischen Ausfüh- rung über die Zeit. Die Fugl-Meyer-Punkt- zahl der Hand, sensorische Funktionen und die Beeinträchtigungen des kortikalen Trak- tes konnten am ehesten die Koordination und Geschicklichkeit nach sechs Monaten vorhersagen Fazit Die Studie zeigt selbst bei leicht be- troffenen Patienten noch erhebliche, aber gut erklärbare Defizite der Handfunktion. jm Skaterschritte auf dem Laufband verbessern Gehfähigkeit nach Schlaganfall Arch Phys Med Rehabil 2020 doi:10.1016/j.apmr.2019.08.480 Zusätzliche Skaterschritte beim Laufband- training könnten helfen, die Gehfähigkeit nach Schlaganfall zu verbessern. Darauf weisen in ihrer aktuellen Studie Min-Su Kim et al. aus Iksan, Südkorea, hin. Die Untersucher schlossen 36 leicht betrof- fene Patienten nach Schlaganfall im Alter zwischen 20 und 65 Jahren ein. Eine Gruppe führte dreimal wöchentlich für 12 Wochen 30-minütige Skaterschritte auf dem Lauf- band aus. Die Kontrollgruppe erhielt ae- robes Training auf dem Laufband mit der gleichen Frequenz und Dauer. Im Ergebnis zeigten sich deutliche Verbesserungen der Lebensqualität sowie eine Verbesserung der maximalen Sauerstoffaufnahme, der Gangsicherheit und der Balance zugunsten der Skatergruppe. Es gab Zusammenhänge zwischen der Lebensqualität der maxima- len Sauerstoffaufnahme und Balance sowie der Gangsicherheit. Fazit Die Arbeit beschreibt einen innova- tiven Ansatz – Skaterübungen als hochin- tensives Intervall-Trainingsprogramm – zur Steigerung der Trainingsintensität bei sehr leicht betroffenen Patienten. jm neuroreha 2020; 12 Keine Effekte für roboterassistiertes Armtraining mit zusätzlicher Elektro­ stimulation Arch Phys Med Rehabil 2020 doi:10.1016/j.apmr.2019.09.0160 Zusätzliche Elektrostimulation zu einem ro- boterassistierten Armtraining führt nicht automatisch zu zusätzlichen Effekten hin- sichtlich der Armfunktion. Darüber berich- ten die Autoren um Sofia Straudi vom Fer- rara University Hospital, Italien. 40 Patienten wurden innerhalb von acht Wochen nach Schlaganfall eingeschlos- sen. Eine Gruppe erhielt 30 Sitzungen (fünf Sitzungen/Woche) mit roboterassis- tierter Armtherapie und funktioneller elek- trischer Stimulation der Hand (RAT + FES). Die Patienten der Kontrollgruppe erhiel- ten eine hinsichtlich des zeitlichen Um- fangs und der Intensität angepasste kon- ventionelle Therapie (ICT). Beide Grup- pen verbesserten sich gleichermaßen im Fugl-Meyer Motor Assessment, der Hand- Arm-Motorik und in Aktivitäten des tägli- chen Lebens mit Ausnahme der Spastik. Pa- tienten mit geringer Beeinträchtigung und ausgeprägten motorisch evozierten Poten- zialen zeigten die größten klinischen Ver- besserungen. Fazit Die Studie zeigt, dass eine imple- mentierte elektrische Stimulation der Hand eventuell nur bedingt dazu beiträgt, die Armfunktion nach Schlaganfall zu ver- bessern. jm Einfluss der Hemisphären auf die Greiffähigkeit nach Schlaganfall Neurorehabil Neural Repair 2020 doi:10.1177/1545968319876253 Verschiedene Anteile der Hirnhemisphären haben einen Einfluss auf die Greiffähigkeit nach Schlaganfall. Darüber berichtet Ra- chael M. Harrington von der Georgetown University, USA. 20 Patienten mit chronischem Schlaganfall absolvierten eine Greifaufgabe mit ihrem betroffenen Arm. Dabei wurde entweder der primär motorische oder der dorsale prä- motorische Kortex beider Hirnhemisphären mit transkranieller Magnetstimulation sti- muliert. Gemessen wurde der Einfluss der Magnetstimulation auf die Bewegungszeit der oberen Extremität. Die größten Effek- te zeigen sich bei Stimulation des dorsalen prämotorischen Kortex. Bei der nicht be- troffenen Hirnhälfte war der Effekt auf die motorische Bewegungszeit besonders ab- hängig vom Schweregrad des Schlaganfalls, bei der direkt betroffenen Hirnhälfte dage- gen nicht. Fazit Die betroffene Hirnhemisphäre hat in Abhängigkeit von der Schwere der Beein- trächtigung eine wichtige Rolle bei motori- schen Verbesserungen nach Schlaganfall. jm Virtuelles Heim­ Gruppenarmtraining nach Schlaganfall scheint effektiv Arch Phys Med Rehabil 2020 doi:10.1016/j.apmr.2019.10.182 Ein in der Rehabilitation initiiertes und später zu Hause durchgeführtes virtuel- les Heim-Gruppenarmtraining kann nach Schlaganfall effektiv sein, um die Hand- Arm-Funktion zu verbessern. Darauf wei- sen in einer aktuellen Publikation Kelly O. Thielbar et al. aus Chicago, USA, hin. Die Forscher schlossen 20 Patienten nach chronischem Schlaganfall ein. Alle Patien- ten erhielten entweder zuerst eine vier- wöchige Behandlung mit einem maßge- schneiderten Multi-User-Virtual-Reality- System (VERGE) zu Hause und dann eine zweiwöchige Multi-User- (MU) bzw. Einzel- platzversion (SU) von VERGE oder in umge- kehrter Reihenfolge. Gemessen wurde die Armbewegung in jeder Therapiesitzung, ebenso die Zeit, die Teilnehmer mit der virtuellen Realität verbrachten, der Fugl- 53

Gelesen und kommentiert Thieme Effekte zusätzlichen Trainings für die obere Extremität nach Schlaganfall Lannin NA, Ada L, English C et al. Effect of additional rehabilitation after botulinum toxin-A on upper limb activity in chronic stroke: The InTENSE Trial. Stroke 2020; 51: 556–562. doi:10.1161/STROKEAHA.119.027602 Zusammenfassung der Studie Ziele Ziel der Studie war es, die Effektivität von zusätzlichem Hand-Arm-Training auf die Er- reichung von individuellen Rehabilitations- zielen hin zu evaluieren. Methodik Design Multizentrische zweiarmige rando- misierte und kontrollierte Studie (InTENSE- Studie). Ein- und Ausschlusskriterien Einge- schlossen wurden Patienten aus sieben ver- schiedenen Kliniken in Australien im Alter von 18–85 Jahren mit einem Schlaganfall, der länger als drei Monate zurücklag, und die eine planmäßige Injektion von Botuli- numtoxin A erhalten sollten. Ausgeschlos- sen wurden Patienten, die bereits in den letzten sechs Monaten Botulinumtoxin A verabreicht bekamen oder Kontraindika- tionen dafür hatten. Interventionen Alle Patienten erhielten ihre individuellen Injektionen in die ent- sprechenden spastischen Hand- und Arm- muskeln mit Botulinumtoxin A nach natio- nalen australischen Praxisleitlinien. Die Patienten nach Schlaganfall wurden per Zufallsverfahren einer von zwei Inter- ventionen zugeteilt: Die erste Gruppe er- hielt das InTENSE-Übungsprogramm un- mittelbar nach der Injektion. Die zweite Gruppe bekam eine Art Handout für ein Hausübungsprogramm (welches sieben Dehnungsübungen und acht Arm-Hand- Übungen enthielt) und einen anschließen- den Telefonanruf, der die Patienten zum selbsttätigen Üben auffordern sollte. Das InTENSE-Übungsprogramm begann mit drei Seriengips-Applikationen für die Hand in maximaler Streckung für zwei Wo- chen. Anschließend wurde über den Zeit- raum von zehn Wochen ein individuelles Übungsprogramm zur Verbesserung ab- geschwächter Muskeln (Elektrostimulation und progressive individuell gesteigerte Wi- derstandsübungen) und aktives Üben an- gewendet. Die Patienten sollten eine Stun- de am Tag an sieben Tagen die Woche üben (Gesamtübungszeit 70 Stunden). Die Ad- härenz zum Übungsprogramm wurde ein- bis zweimal im Rahmen der Rehabilitation überprüft. Messungen Primäre abhängige Variab- len waren die Goal Attainment Scale und die Hand-Arm-Aktivität gemessen mit dem Box-und-Block-Test. Sekundäre abhängige Variablen waren Spastik (Tardieu-Skala), Beweglichkeit des Handgelenks in Extensi- on, Griffkraft, Schmerz, Pflegeaufwand und Lebensqualität. Alle Variablen wurden vor Beginn des Trainingsprogramms und nach drei Monaten erhoben. Ergebnisse Insgesamt wurden 140 Patienten im mittle- ren Alter von 61 Jahren und im Median drei Jahre nach Schlaganfall in die Studie einge- schlossen. Im Ergebnis zeigten sich keiner- lei Gruppenunterschiede hinsichtlich der erhobenen Parameter mit Ausnahme der Griffkraft, die sich leicht zugunsten der in- tensiver therapierten Gruppe verbesserte. Schlussfolgerung Die Autoren schlussfolgern, dass ein zusätz- liches intensiviertes Übungsprogramm im Anschluss an eine Botulinumtoxin-Injektion keine eindeutigen Effekte liefert. Kommentar Die Studie ist für sehr viele Patienten nach Schlaganfall bedeutsam und übertragbar. Gerade die hier eingeschlossenen Patienten sind diejenigen, die im Alltag durch Spastik, Kontrakturen und vor allem durch fehlende Funktion häufig eingeschränkt sind. Die Ergebnisse sind jedoch insgesamt ent- täuschend. Ein aufwendiges zusätzliches Hand-Arm-Trainingsprogramm führte lei- der weder zu einer besseren Zielerreichung noch zu Verbesserungen der Hand-Arm- Funktion oder von Alltagsfunktionen. Le- diglich die Handgriffkraft verbesserte sich etwas mehr in der intensiver übenden Gruppe. Es kann somit von weiteren Studien dieser Art eher abgeraten werden. Neue Studien sollten sich vielmehr auf eine insgesamt wirklich hohe Intensität der Hand-Arm- Behandlung konzentrieren und vor allem noch individuell maßgeschneiderte Ansät- ze in der Hand-Arm-Rehabilitation anwen- den. So ist gerade mal eine Stunde am Tag Übungstherapie sicherlich zu wenig, um eindeutige Effekte auf patientenseitig be- deutsame Alltagsziele zu erreichen. Fazit Eine leider wahrscheinlich zu gering intensive Rehabilitationsstudie, die keine neuen Aussagen und Effekte aufzeigt. Autorinnen/Autoren Prof. Dr. rer. medic. habil. Jan Mehrholz Professor für Therapiewissenschaften Studiengangsleiter Neurorehabilitation, MSc SRH Hochschule für Gesundheit University of Applied Health Sciences Campus Gera Neue Straße 28–30 07548 Gera Bibliografie DOI https://doi.org/10.1055/a-1156-3718 neuroreha 2020; 12: 55 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 1611-6496 neuroreha 2020; 12 55

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unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Neu- rorehabilitation, DGNR, erstellt wurde und die folgende Frage thematisiert: Führt bei Patienten mit einem Schlag- anfall und einer Armparese die rehabilitative Therapie (z. B. Physiotherapie, Ergotherapie, Akupunktur, Elektrostimu- lation, roboterassistierte Therapie, Biofeedback-Therapie, Medikation) in unterschiedlicher „Dosierung“ (z. B. unter- schiedliche Therapiedauer) oder bei unterschiedlichen In- halten zu einer (differenten) Reduktion der Parese, einer Verbesserung der aktiven Bewegungsfähigkeit und Kraft sowie der Armaktivitäten? Studien Die Evidenz aus randomisierten kontrollierten Studien (RKS) ist die klinisch-wissenschaftliche Informati- on, die am ehesten valide Bewertungen ermöglicht. Syste- matische Reviews (SR) fassen die Datenlage aus den aktuell vorliegenden RKS zusammen und können über Metaana- lysen, die die Wirksamkeit über Studien hinweg statistisch analysieren, den aktuellen Stand der Wissenschaft bezüg- lich der Therapieeffekte und ihrer Stärke ermitteln. Leitlinien Entsprechend hat die Leitlinie (LL) systema- tisch RKS und SR gesucht, kritisch gewürdigt und aus der Evidenz Empfehlungen für die klinische Praxis abgeleitet [2]. Die LL ist kurz vor ihrer Fertigstellung; ihre Veröffent- lichung bei der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich me- dizinischer Fachgesellschaften, AWMF, wird in Bälde er- wartet (www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/080-001.html). Insgesamt umfasst die Leitlinie mehr als 270 Seiten. Die Wiedergabe ihres Inhalts ist entsprechend nicht ansatz- weise möglich. Es soll der Versuch unternommen werden, wesentliche Aspekte für die klinische Praxis, die sich aus der Evidenz ableiten lassen, zusammenzufassen. Die hier dargestellten Schlussfolgerungen für die Praxis stellen je- doch nicht die formell konsentierten Empfehlungen der Leitlinie dar. Den Lesern wird empfohlen, sich anhand des Originaltextes der Leitlinie breiter und näher zu informie- ren und der Leitlinie selbst die konkreten Empfehlungen zu entnehmen. Methodik Zunächst erfolgte, und zwar über die vergangenen Jahre wiederholt, eine systematische Suche nach randomisier- ten kontrollierten Studien und systematischen Reviews, die randomisierte kontrollierte Studien einschließen, in- sofern sie zur Fragestellung der Leitlinie einen Beitrag leis- ten. Die letzte systematische Suche datiert auf Juli 2017. Nach Selektion der Referenzen gemäß Ein- und Ausschluss- kriterien erfolgte zunächst die Beurteilung der Validität der einzelnen Referenzen gemäß einer standardisierten Checkliste. Anschließend wurden die wichtigsten, für die Fragestellung der Leitlinie relevanten Daten aus den einzel- nen Publikationen extrahiert, und es wurde für die einzelne Referenz beurteilt, welche Konsequenzen sich aus diesen Daten für die klinische Praxis ergeben. Für die verschiede- nen Referenzen wurde dann eine Synopsis durchgeführt, bei der für einzelne Interventionen alle eingeschlossenen randomisierten kontrollierten Studien und systematischen Reviews zusammen mit ihren Ergebnissen einerseits in Evi- denztabellen und andererseits im Sinne einer textlichen Zusammenfassung dargestellt wurden. Basierend auf dieser Zusammenstellung, der Zusammen- schau der Ergebnisse zu einer Interventionsform oder einer bestimmten Fragestellung innerhalb der Armrehabilitati- on wurden dann in der Leitlinie Empfehlungen abgelei- tet. Für die Ableitung der Empfehlung war jeweils wichtig zu berücksichtigen, für welche Untergruppe von Schlag- anfallpatienten mit Armlähmung – also leicht, mittel, schwer betroffen oder früh oder spät nach dem Schlagan- fall – welche Behandlung in welcher Art der Durchführung auf welche Zielgröße welchen Effekt erbringt. Dabei wurde nach GRADE die Qualität der Evidenz beurteilt, dann wur- den in Zusammenschau der Effekte einerseits und der Qua- lität der Evidenz andererseits eine Empfehlung und ihre Empfehlungsstärke dokumentiert. Im Volltext der Leitlinie ist dies zunächst in einem Langtext ausgeführt; an dessen Ende finden sich dann über etwa 20 Seiten die Empfehlun- gen im Überblick. Wie bereits oben ausgeführt, ist selbst die Wiedergabe der Empfehlungen hier nicht 1:1 möglich, es sollen aber wich- tige Schlussfolgerungen aus der Evidenz für die klinische Praxis im Überblick dargestellt werden. Ergebnisse Studienlage und Studienqualität Aus den systematischen Literatursuchen bei PubMed und in der Cochrane Library konnten insgesamt 411 randomi- sierte kontrollierte Studien für den Evidenzbasierungspro- zess genutzt werden sowie 114 systematische Reviews. Die methodische Qualität der eingeschlossenen Studien war überwiegend gut, wobei bei einem nicht geringen An- teil der Publikationen auch eine nicht ausreichende inter- ne Validität beurteilt werden musste. Aber auch bei den methodisch eigentlich noch ausreichend guten randomi- sierten kontrollierten Studien gab es häufiger im Detail Schwächen, die für die Interpretation relevant waren. Das betrifft teilweise die Vergleichbarkeit von Interventions- und Kontrollgruppe zu Studienbeginn, ferner den Sach- verhalt, dass häufig nicht alle Probanden der Studiengrup- pen ausgewertet wurden, wie sie ursprünglich zugeordnet waren (keine „Intention to treat“-Analyse). Oft wurden nur nach Ende einer Intervention Effekte beurteilt, aber nicht nach einem therapiefreien Intervall die bleibenden Effekte der Behandlung dokumentiert. Häufig wurden auch keine Nebenwirkungen dokumentiert. Dennoch ist es beachtlich, dass für die Fragestellung der Armrehabilitation nach Schlaganfall überhaupt so viele randomisierte kontrollierte Studien sowie viele systema- Platz T. Evidenzbasierte Arm rehabilitation nach ... neuroreha 2020; 12: 58–62 59

Training von Schulter- und Ellenbogen-, Unterarm- und Handgelenkbewegungen oder Fingerbewegungen mög- lich. Auch im chronischen Stadium kann eine Arm-Robot- Therapie für diese Indikationen angeboten werden. Elektrostimulation Die neuromuskuläre Elektrostimulation, mit der periphe- re Nerven und Muskeln direkt stimuliert werden, ggf. über eine elektromyografische Triggerung an Willküraktivität gekoppelt, stellt eine weitere technische Möglichkeit dar, auch schwer paretische Armmuskelgruppen zu behandeln. Insgesamt ist die Evidenzlage zwar umfänglich, aber den- noch schwach, weswegen die Behandlung mit der Elektro- stimulation als Option eingeschätzt wird. In Betracht kommen insbesondere eine neuromuskuläre Elektrostimulation der Schultermuskulatur im subakuten Stadium zur Behandlung oder Verhinderung einer Sublu- xation oder eine Behandlung der Handgelenk- und Finge- rextensoren, wenn möglich EMG-getriggert, bei schwerer inkompletter Hand- und Fingerparese. Für Patienten mit schwerer inkompletter Handlähmung, aber zumindest teil- weiser erhaltener proximaler Motorik mit Bewegungs- und Haltefunktion kann eine funktionelle mehrkanalige Elek- trostimulation (FES), die ein Greifen und Loslassen durch Elektrostimulation ermöglicht, zur Beübung von Alltags- aktivitäten mit dem Therapieziel der Verbesserung dista- ler selektiver Bewegungsfähigkeit (Hand und Finger) an- geboten werden. Bei der Elektrostimulation insgesamt sind die gerätespe- zifischen Kontraindikationen zu berücksichtigen. Nichtinvasive Hirnstimulation Repetitive transkranielle Magnetstimulation, (rTMS) Sowohl die inhibitorische Niederfrequenz-rTMS („low frequency, LF“) der nicht betroffenen Hemisphäre als auch die exzitatorische rTMS („high frequency, HF“) der betrof- fenen Hemisphäre zeigten in klinischen Studien anhaltend positive therapeutische Effekte mittlerer klinisch relevan- ter Stärke. Das Ergebnis war früh nach dem Schlaganfall am besten und am stärksten in Studien mit fünf Therapie- sitzungen. Diese Ergebnisse sind für Patienten mit leich- ten bis mittelschweren Armparesen zutreffend. Basierend auf dieser Evidenz ist eine Empfehlung für einen klinischen Einsatz im subakuten Stadium gerechtfertigt, im chroni- schen Stadium ist sie eine Option. Sowohl die Sicherheits- standards, die Kontraindikationen als auch die medizin- produktrechtlichen Aspekte sind dabei jedoch ergänzend zu berücksichtigen. Transkranielle Gleichstromtherapie (tDCS) Bei sub- akuten und chronischen Schlaganfallpatienten mit mäßig schwerer bis schwerer Armparese werden bei insgesamt nicht stabil nachweisbaren positiven Therapie effekten in Bezug auf eine Verbesserung der Armfunktion weder eine anodale (exzitatorische) Stimulation (atDCS) des ipsiläsio- nalen motorischen Kortex noch eine kathodale des kontra- läsionalen (ktDCS) oder eine kombiniert bihemisphärische Stimulation außerhalb von Studienprotokollen empfohlen. Medikamente Botulinumtoxin A Insbesondere besteht die klare Indi- kation für die Botulinumtoxin-A-Behandlung bei schwerer Parese, die die Integrierbarkeit des gelähmten Armes im Alltag, also die passiven Funktionen, spastikbedingt all- tagsrelevant beeinträchtigt. In diesen Fällen sollte eine Be- handlung mit Botulinumtoxin A in Betracht gezogen wer- den. Dies könnte auch Schmerzen im Rahmen der spasti- schen Parese günstig beeinflussen. Zur Förderung der aktiven Armmotorik beziehungswei- se Armfunktion wird Botulinumtoxin A jedoch weder früh noch spät nach dem Schlaganfall bei Patienten mit Spastik grundständig empfohlen. Individuell kann eine Spastikbe- handlung mit Botulinumtoxin A dennoch auch zur Unter- stützung der aktiven Funktion beitragen und kann in die- sem Sinne dann auch Anwendung finden. Förderung der motorischen Erholung Es gibt mehrere Medikamente, für die ein gewisser Nachweis vorliegt, dass ihr Einsatz die funktionelle Erholung – vor allem bei schwe- rer Armparese – verbessern könnte. Dazu gehören L-Do- pa, Fluoxetin und Cerebrolysin. Insbesondere früh nach einem Schlaganfall können diese Medikamente die Erho- lungsfunktion unterstützen und könnten in diesem Sinne evidenzbasiert eingesetzt werden. Dabei ist jedoch zu be- achten, dass dieser Einsatz eine Off-Label-Verordnung dar- stellt (L-Dopa, Fluoxetin) bzw. Cerebrolysin nicht überall zugelassen und verfügbar ist (erhältlich z.B. in Österreich). Für andere Medikamente, wie Donepezil oder D-Amphe- tamin, rechtfertigt die Datenlage keinen Einsatz in der Armrehabilitation nach Schlaganfall. Taping und Orthesen Mehrstündiges Anlegen von Handgelenklagerungsschie- nen und glenohumerales Schulter-Taping können einen positiven, ggf. auch prophylaktischen Effekt auf Schmer- zen in den behandelten Gelenken bei schwerer Armläh- mung haben und können bei diesem Behandlungsziel zum Einsatz kommen. Analog gilt dies auch für andere Lagerun- gen, die das Herabhängen eines schwer gelähmten Armes verhindern, wie die Nutzung eines Lagerungskissens oder eines Rollstuhltisches. Diese sollten grundständig in Be- tracht gezogen werden (Expertenmeinung). Durch Lagerungsorthesen und Taping von Gelenken des schwer betroffenen, zentral-paretischen Armes wird die aktive Funktionserholung nicht gefördert. Sie sollten für ein solches Behandlungsziel nicht angewendet werden. Platz T. Evidenzbasierte Arm rehabilitation nach ... neuroreha 2020; 12: 58–62 61

Schwerpunkt Schlüsseltherapien für die obere Extremität Jan Mehrholz, Simone Thomas und Bernhard Elsner Zukünftig wird es bedeutsam sein, Patienten vorab in unterschiedliche Erholungskategorien einzuteilen und anschließend mit sehr spezifischen Behandlungen zu versorgen. Das ist die Idee der Schlüsseltherapien. Der Begriff ist allerdings nicht neu und bezieht sich darauf, dass wir bei bestimmten Problemstellungen (Schloss bzw. Schlüsselloch) ganz bestimmte Problemlösungen (Schlüssel) benötigen. Doch welche Therapieansätze könnten sich als Schlüsseltherapien erweisen? Beim Arm-Fähigkeits-Training übt der Patient zum Beispiel Zielbewegungen. (Quelle: Thieme Gruppe; Symbolbild) In der klinischen Praxis begegnen uns häufig Patienten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: z. B. Patienten früh- zeitig nach einem Ereignis wie einem Schlaganfall oder chronisch Erkrankte oder Patienten mit lediglich gering ausgeprägter oder mit sehr stark ausgeprägter Armpare- se. Neben der Vielzahl unterschiedlicher Schädigungsmus- ter existiert mittlerweile eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen, die den zukünftigen Verlauf innerhalb der Behandlung oder Rehabilitation bestimmen. Längerfristige Verlaufsuntersuchung In einer Untersuchung von Louise Ada und Kollegen aus dem Jahr 2006 [1] wurden beispielsweise knapp 100 Pa- Mehrholz J et al. Schlüsseltherapien für die ... neuroreha 2020; 12: 63–70 63

Schlüssel-Schlüsselloch-Therapie Auch wenn die Ergebnisse dieser ersten Studie zu dieser Thematik (Einsatz von Prognosen zur Steuerung von The- rapieinhalten) nur begrenzte Aussagen zulassen, so ist es doch ein erster Schritt in eine völlig neue Richtung: in die der prognosegestützten Schlüssel-Schlüsselloch-Thera- pien. Dazu werden Patienten vorab in unterschiedliche Er- holungskategorien eingeteilt und anschließend mit spe- zifischen Behandlungen versorgt. Diesem Ansatz liegt der Gedanke zugrunde, dass wir bei bestimmten Problem- stellungen (Schlüsselloch) die passende Problemlösung (Schlüssel) benötigen. Daher könnte man bereits jetzt in der motorischen Arm- rehabilitation bestimmte Ansätze auch als Schlüsselthera- pien bezeichnen. Allerdings findet sich dieser Begriff eher im Alltagssprachgebrauch wieder und wird nicht in Leit- linien verwendet. Zusammengefasst handelt es sich um die Grundannahme, dass bei bestimmten Patienten – bei- spielsweise denen mit schwerer Armparese – komplett an- dere Therapien angewendet werden sollten als bei Patien- ten mit nur sehr gering ausgeprägter Armparese. Im Folgenden werden nun verschiedene möglicherwei- se als Schlüsseltherapien zu bezeichnende Ansätze vor- gestellt. Die Auflistung basiert nicht auf Vollständigkeit und ist willkürlich von den Autoren gewählt. Für eine wis- senschaftliche Auseinandersetzung zur Wirksamkeit von einzelnen Therapien sei auf den Beitrag von Thomas Platz zur aktuellen Leitlinie [31] für die obere Extremität ver- wiesen. MÖGLICHE SCHLÜSSELTHER APIEN ▪ Taub’sches Training, mCIMT, CIMT ▪ Arm-Basis-Training ▪ Arm-Fähigkeits-Training ▪ mentales Üben, mentale Praxis ▪ Bewegungsbeobachtung ▪ Spiegeltherapie ▪ gerätegestützter Einsatz ▪ Wettbewerb, Sport, Motivation Im Folgenden werden diese möglicherweise als Schlüssel- therapien zu bezeichnenden Therapien kurz beschrieben. Taub’sches Training Für die Therapie des erzwungenen Gebrauchs, Taub’sches Training, existieren mehrere Begrifflichkeiten: ▪ Constraint-Induced Movement Therapy, CIMT (sechs Stunden tägliches Training und Handrestriktion der gesunden Seite nach Protokoll) ▪ modifizierte Constraint-Induced Movement Therapy, mCIMT (weniger als sechs Stunden Training, zum Bei- spiel ein bis drei Stunden sowie Handrestriktion nach Protokoll) ▪ Forced-Use-Therapie (Training soweit möglich, Hand- restriktion nach Protokoll) Das Grundprinzip ist bei allen drei Formen das gleiche: Es wird versucht, die nicht betroffene Seite mittels einer Schiene oder einer Schlinge über mehrere Stunden am Tag nicht mehr zu benutzen, um dafür die betroffene Seite verstärkt einzusetzen. Die Therapie wird häufig für maxi- mal zwei, selten bis zu drei Wochen durchgeführt. Damit soll das Prinzip des erlernten Nichtgebrauchs überwun- den werden, das durch die geringe Nutzung der betrof- fenen Seite aufgrund der geringen Funktionalität häufig entsteht, zum Beispiel nach Schlaganfall. Von manchen Autoren und von einigen Studien mit Kindern wird ein anschließendes mehrwöchiges bilaterales Training emp- fohlen. Der einzige Unterschied bei den verschiedenen Unterar- ten dieser Therapie besteht in der Dauer der Therapie und dem Umfang der Zusatztherapie. So macht es gewiss einen großen Unterschied, ob Patienten eine, drei oder sechs Stunden am Tag zusätzlich oder eine Stunde oder gar nicht zusätzlich üben können. Das Taub’sche Training kann als eine bedeutsame Schlüs- seltherapie in der neurologischen Rehabilitation angese- hen werden. Das liegt zum einen darin begründet, dass diese Therapieform wie kaum eine andere bereits sehr gut untersucht ist, zum anderen wurden in vielen Studien recht große Effektstärken selbst bei chronischen Patienten er- reicht. Für das Taub’sche Training ist es jedoch wichtig zu wissen, dass man sowohl als Patient als auch als Betreuer ein hohes Maß an Motivation für diese Form der Therapie sowie Verständnis für die Durchführung benötigt (Immo- bilisation der funktionierenden Seite über eine gewisse Anzahl an Stunden am Tag etc.). Fazit Je mehr Stunden die Schiene am Tag angelegt und je länger am Tag zusätzliche Therapie durchgeführt wer- den kann, umso erfolgversprechender ist die Therapie. Pa- tientenseitig ist jedoch auch ein gewisses Mindestmaß an Funktion der betroffenen Seite nötig. Patienten sollten die Finger leicht strecken können, und auch ein Minimum an leichter Greiffunktion, zum Beispiel zwischen Daumen und Finger, sollte möglich sein, um die Art der Therapie nicht als völlig frustran zu erleben. Diese Schlüsseltherapie eignet sich somit für hochmoti- vierte Patienten, die viel Therapie für die Hand-Arm-Ak- tivitäten erhalten und allgemein eine sehr gute Prognose für die Hand-Arm-Funktion haben. Siehe auch die aktuelle S3-Leitlinie für die obere Extremität [31, 32]. Arm-Basis-Training Für Patienten mit schlechter Prognose (nach oben ge- schildertem Algorithmus zur Funktionserholung des Armes nach Schlaganfall), das heißt Patienten, die keine Mehrholz J et al. Schlüsseltherapien für die ... neuroreha 2020; 12: 63–70 65

integrieren lässt, sind wahrscheinlich keine großen Kos- ten zu erwarten. in der ak tuellen S3-Leitlinie für die obere Extremität [31] empfohlen. Fazit Durch die voraussichtlich großen Effekte auf die Armmotorik wird daher die Kombination aus Bewegungs- beobachtung und anschließender Therapie als Schlüssel- therapie empfohlen. Allerdings bleibt es abzuwarten, wel- che Art von Protokoll (Dauer der Videos, Inhalte der Videos etc. und Häufigkeit der Kombination) am effektivsten ist. Eine alleinige Bewegungsbeobachtung wird nach S3-Leit- linie für die obere Extremität [31] nicht empfohlen. Die Spiegeltherapie kann aber auch als zusätzliche Grup- pentherapie durchgeführt werden [37]. Sowohl Einzel- als auch Gruppentherapie können die motorischen Fä- higkeiten verbessern helfen [37]. Die Spiegeltherapie in der Gruppe (z. B. mit vier Patienten und einer Therapeu- tin durchgeführt) könnte mit Ausnahme von Patienten mit Neglect daher vergleichbare Effekte haben wie eine Einzel- therapie mit Spiegel. Spiegeltherapie Als eine weitere bedeutende Schlüsseltherapie kann eine Spiegeltherapie empfohlen werden. Diese ist mittlerwei- le sehr gut untersucht [39, 40]. Die Spiegeltherapie ist ein moderner und einfacher Thera- pieansatz zur Verbesserung der Motorik und von Schmerz- zuständen nach Schlaganfall. So kann zum Beispiel bei Pa- tienten mit einem sonst schwer zu behandelnden komple- xen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS) die durch einen Spiegel hervorgerufene Illusion einer Bewegung des be- troffenen Armes Schmerzlinderung verschaffen. Zuerst beschrieben diesen Therapieansatz einzelne Studien bei Patienten mit CRPS nach distaler Radiusfraktur [21, 22]. Eine Übertragung der positiven Ergebnisse auf Schmer- zen bei CRPS nach Schlaganfall scheint nach den Ergeb- nissen neuerer Studien grundsätzlich möglich [8, 17]. Ebenso kann die Spiegeltherapie zur Wiederherstellung motorischer und teilweise sensorischer Funktionen nach Schlaganfall beitragen [10, 14, 38, 41]. Die Spiegelthera- pie eignet sich besonders für Patienten nach Schlaganfall mit schweren bis moderaten und distalen Armparesen [7, 9]. Paresen, die proximal betont sind oder die untere Ex- tremität betreffen, sind bezüglich der Spiegeltherapie bis- lang kaum untersucht [36]. Eine Grundvoraussetzung für die Spiegeltherapie ist ein relativ hohes Maß an Aufmerksamkeits- und Konzentra- tionsfähigkeit, da der Blick dauerhaft im Spiegel gehal- ten werden muss. Das Üben mit dem Spiegel erfordert ebenfalls, dass Patienten die Bewegungen der gesunden Hand mit Blick in den Spiegel koordinieren können. Pa- tienten mit einer Spiegelagnosie (Unfähigkeit, sich auf ihr Spiegelbild zu konzentrieren) sind daher nicht für diese Therapie geeignet [5]. Auch Patienten mit einem stark aus geprägten visuellen Neglect können den Blick nicht im Spiegel halten, um die Bewegungen der Hand zu beobachten. Liegt ein leichter Neglect vor, kann die Spiegelthe rapie allerdings förderlich sein. Die Patienten müssen außerdem in der Lage sein, einfache Instruktio- nen um setzen zu können und den Sinn der Spiegelillusion zu verstehen. Von weiterer Bedeutung ist eine moderate Rumpf- und Kopfkontrolle im Sitz. Die Patienten sollten aufrecht im Suhl sitzen und den Kopf gegen die Schwer- kraft halten können. Die Spiegeltherapie wird ebenfalls Fazit Aufgrund der guten Evidenzlage wird die zusätz- liche Spiegeltherapie ebenfalls als Schlüsseltherapie zum Beispiel für Patienten mit Schmerzen im Schulter- Arm-Bereich bzw. mit einer geringen Armfunktion emp- fohlen. Gerätegestütztes, roboterassistiertes Training Gerade der assistierte Robotereinsatz zur Verbesserung der oberen Extremität nach Schlaganfall wurde in den letz- ten Jahren intensiv untersucht. Dabei zeigte sich, dass Pa- tienten nach Schlaganfall sehr gut hinsichtlich Verbesse- rung der Alltagsaktivitäten und der motorischen Armfunk- tion unter Armkraft profitieren können [18]. Hier zeigten sich signifikante Verbesserungen, die aber nur bedingt kli- nisch relevant für Patienten waren [19]. Trotz dieser guten Evidenz führte der nationale Gesund- heitsdienst (NHS) in Großbritannien eine eigene, sehr große Studie zum Thema elektromechanisch assistierte Armtherapie durch [34]. In dieser sogenannten RATULS- Studie wurden 770(!) Patienten von einer Woche bis hin zu fünf Jahre nach Schlaganfall mit deutlichem Armdefizit eingeschlossen. Die Patienten wurden einer von drei Grup- pen zugeteilt. Die erste Gruppe erhielt ein zusätzliches ro- boterassistiertes Armtraining für die Dauer von 45 Minuten an drei Tagen die Woche über zwölf Wochen. Die zweite Gruppe bekam ein zusätzliches intensiviertes Armtraining von 45 Minuten drei Tage pro Woche für zwölf Wochen, die dritte Gruppe bekam kein zusätzliches Armtraining und dient somit als Kontrollgruppe [4, 34]. Im Ergebnis zeigten sich keine klaren Gruppenunterschie- de zwischen den beiden zusätzlichen Armtrainingsgrup- pen, weder nach drei noch nach sechs Monaten. Zwar gab es leichte Trends hinsichtlich der Verbesserung von Arm- fähigkeiten durch ein zusätzliches Armtraining nach drei Monaten, jedoch unterschieden sich die beiden zusätz- lichen Ansätze zum Armtraining nicht in ihren Effekten. Die Studie wurde insgesamt methodisch sehr gut durch- geführt, obgleich die Einschlusskriterien die Krankheits- dauer betreffend vielleicht als suboptimal anzusehen sind. Eine weitere Kritik betrifft die Intensität der Armtherapie, die mit dreimal pro Woche nicht die Intensitäten ande- rer effektiver Rehabilitationsprogramme für den Arm nach Schlaganfall erreicht. Mehrholz J et al. Schlüsseltherapien für die ... neuroreha 2020; 12: 63–70 67

Autorinnen/Autoren Prof. Dr. Jan Mehrholz Leiter wissenschaftliches Institut, Private Europäische Medizinische Akademie für Rehabilitation der Klinik Bavaria Kreischa GmbH, Professor für Therapiewissenschaften, SRH Gesundheitshochschule Gera, Professor für Gesundheitswissenschaften/Public Health, TU Dresden. Dr. rer. medic. Simone Thomas, MSc Wissenschaftl. Mitarbeiterin Private Europäische Medizinische Akademie für Rehabilitation der Klinik Bavaria Kreischa GmbH E-Mail: simone.thomas@klinik-bavaria.de Prof. Dr. Bernhard Elsner Studiengangsleiter Physiotherapie/ Ergotherapie SRH Hochschule für Gesundheit, Gera E-Mail: bernhard.elsner@srh.de Korrespondenzadresse Prof. Dr. rer. medic. habil. Jan Mehrholz Professor für Therapiewissenschaften Studiengangsleiter Neurorehabilitation, MSc SRH Hochschule für Gesundheit University of Applied Health Sciences Campus Gera Neue Straße 28–30 07548 Gera Literatur [1] Ada L, O’Dwyer N, O’Neill E. 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Schwerpunkt Assessments für die obere Extremität Jan Mehrholz, Simone Thomas und Bernhard Elsner In der neurologischen Rehabilitation sollten standardisierte Testverfahren und Assessments den Empfehlungen der Leitlinien folgend, beispielsweise nach Schlaganfall, systematisch eingesetzt werden. Assessments helfen einerseits bei der zuverlässigen Einschätzung von Veränderungen individueller Patienten. Andererseits können Assessmentverfahren Patien- ten motivieren und sie darin unterstützen, das Erreichen ihrer Ziele zu dokumentieren. Gelingende Alltagsaktivitäten gehören für Patienten zu den wichtigsten Zielen. (Quelle: Thieme Gruppe; Symbolbild) Ein mittlerweile anerkannter Ansatz ist, das Testverfah- ren nach der Klassifikation der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) in den Ebenen Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Teilha- be einzuteilen (▶Tab. 1). Für den klinischen Alltag bleibt für angemessene Testverfahren in den einzelnen Ebenen jedoch oft wenig Zeit, weshalb für die klinische Routine schnell durchführbare und möglichst einfache Assess- mentverfahren mit hoher Praktikabilität gewünscht sind (▶Tab. 2). Für Therapeuten, Patienten und für Angehörige scheint es aufgrund der Vielzahl an Testverfahren schwierig, den idealen Test für die individuelle Patientenversor- gung herauszufinden. In diesem Artikel sollen verschie- dene Assessmentverfahren für die obere Extremität nach ihrer Verbreitung und ihrem Nutzen aus Sicht von The- rapeuten, Angehörigen sowie Patienten näher beleuch- tet werden. Häufig genutzte Assessments nach ICF-Ebene: Körperfunktion Bewegungsausmaß Goniometer Die Messung der Gelenkwinkel wird sehr häufig mit einem Goniometer durchgeführt. Vor allem an mittleren und kleinen Gelenken weist das Goniometer eine gute Reliabilität und Validität auf [2, 13, 35]. An großen Gelenken, wie dem Schulter- oder dem Hüftgelenk, ist die Messung mit dem Goniometer hinsichtlich der Zuverläs- sigkeit zwischen mehreren Messungen des gleichen Un- tersuchers (Intrarater-Reliabilität) häufig gut, jedoch bei unterschiedlichen Testern (Interrater-Reliabilität) unge- nügend [9, 17, 18]. Beispielsweise treten am Schulterge- lenk Unterschiede von 20–25° pro Messung durch einen Wechsel des Testers auf [9]. Im Therapiealltag kann die Messung der Gelenkwinkel daher mit dem Goniometer an kleinen und mittleren Gelenken zu- Mehrholz J et al. Assessments für die ... neuroreha 2020; 12: 71–81 71

▶Abb. 1 MRC Stufe 4 für die Schulterabduktion. (Quelle: S. Thomas) ▶Abb. 3 Griffkraft-Dynamometrie. (Quelle: S. Thomas) ▶Abb. 2 MRC Stufe 5 für die Schulterabduktion. (Quelle: S. Thomas) ▶Abb. 4 Motricity Index Schulterabduktion Stufe 5. (Quelle: S. Thomas) Knieextension und Dorsalextension des oberen Sprungge- lenks im Sitz getestet [20]. Um den Widerstand für Stufe 4 und 5 zu objektivieren, bietet es sich an, diesen mit glei- cher Kraft, aber an unterschiedlichen Punkten zu setzen. Für Kraftstufe 4 kann die Hand des Untersuchers zwei Fin- ger breit unter dem zu testenden Gelenk und für Stufe 5 über dem distal angrenzenden Gelenk gegeben werden (▶Abb. 1 und ▶Abb. 2). Dynamometer Weiterhin ist es möglich, diverse Dyna- mometer zur Erfassung der Kraft einzusetzen [33]. Diese können vom Therapeuten leicht bedient werden und zei- gen die Kraft in Kilogramm oder Pfund analog oder digi- tal an. Zu nennen sind hierbei das Griffkraft-Dynamometer für die Hand- und Fingerflexoren (▶Abb. 3) und das Hand- held-Dynamometer für die obere und untere Extremität. Motricity Index Bei Patienten nach einem Schlaganfall eignet sich besonders der Motricity Index, um die Kraft zu testen (▶Tab. 4) [7]. Die Kraftmessung für die Schulterab- duktion wird mit der Hand auf der Brust und für die Ellen- bogenbeugung aus einer 90° flektierten Position durchge- führt, wodurch vorhandene Beugekontraktoren oder eine Spastik an der Schulter und dem Ellenbogen berücksich- tigt werden (▶Abb. 4). Weiterhin wird statt der Kraft der Dorsalextensoren des Handgelenks die feinmotorische Mehrholz J et al. Assessments für die ... neuroreha 2020; 12: 71–81 73

Häufig genutzte Assessments nach ICF-Ebene: Aktivität Armfunktionen Der Wolf Motor Function Test oder der Jebsen-Taylor Hand Test sind sehr bekannte und beliebte Messinstrumente für die obere Extremität [33]. Mit diesen Tests kann eine Reihe von grob- und feinmotorischen Armaktivitäten gemessen werden. Jedoch benötigt man für diese Tests Zeit (mind. 30 min) und z. T. Videoaufnahmen oder mehrtägige Schu- lungen der Untersucher. Außerdem sind Fähigkeiten und Aktivitäten des Patienten wie Lesen/Schreiben oder Ste- hen notwendig. Daher sind diese Tests bei einer sehr aus- gewählten Patientenklientel, z. B. innerhalb einer Inter- ventionsstudie, zuverlässig anwendbar [4, 10, 19, 22]. Wesentlich einfacher und schnell in der klinischen Praxis einsetzbar sind der Box and Block Test für moderate Ein- schränkungen der Grobmotorik und der Nine Hole Peg Test bei Feinmotorikstörungen. Nine Hole Peg Test (NHP) Er kann bei mittleren bis leich- ten Armfunktionsstörungen verwendet werden. Bei die- sem Test sollen neun Stäbchen so schnell wie möglich aus einem Behälter in neun Löcher gesteckt und anschließend wieder nacheinander in den Behälter zurückgelegt werden (▶Abb. 6, ▶Abb. 7 und ▶Abb. 8). Laut den Normwerten von Mathiowetz und Arbeitsgruppe [26] sowie Earhart [12] sind durchschnittlich 19 s für die rechte und 21 s für die linke Hand normal. Ein Probedurchgang für jede Hand ist direkt vor dem jeweiligen Test erlaubt. Sollte ein Stäbchen nach unten fallen, kann der Tester dieses aufheben, es wie- der in den Behälter zurücklegen oder bei der Rückrunde in ein Loch stecken. Die Dauer des gesamten Durchlaufs wird mit einer Stoppuhr gemessen. Die Zeitmessung beginnt, sobald der Patient das erste Stäbchen berührt. Eine Re- duktion der Zeit um ca. 54 % bei Schlaganfallpatienten und nur 4 % bei Parkinson-Patienten ohne Freezing und starken Tremor gilt als minimal messbare Veränderung in diesem Test, die nicht auf Zufall beruhen kann [6, 12]. Die Emp- findlichkeit des Tests scheint somit abhängig von der Di- agnose bzw. auch von der Schwere der Erkrankung zu sein. In der Untersuchung von Chen [6] zur Ermittlung der mi- nimal messbaren Veränderung nach Schlaganfall wurden Patienten mit schweren Armparesen untersucht. Der Test ist jedoch eher für Patienten mit Koordinationsstörungen der Feinmotorik entwickelt worden, wie z. B. in der Ana- lyse zur minimal messbaren Veränderung bei Parkinson- Patienten von Earhart [12]. Die Messfehlerrate des NHP ist bei Patienten mit erheblichen Störungen der Hand- und Armmotorik (> als 60 s Testzeit) sehr hoch [6]. Hier soll- te der Test abgebrochen und ein angepasstes Messver- fahren, wie z. B. der Box and Block Test oder der Motricity Index, gewählt werden. Die Interrater-Reliabilität des NHP ist sehr gut (r = 0,984 rechte Hand; r = 0,993 linke Hand) [36]. Hingegen ist ▶Abb. 6 Nine Hole Peg Test – Ausgangsposition. (Quelle: S. Thomas) ▶Abb. 7 Nine Hole Peg Test – Durchführung 1. (Quelle: S. Thomas) ▶Abb. 8 Nine Hole Peg Test – Durchführung 2. (Quelle: S. Thomas) Mehrholz J et al. Assessments für die ... neuroreha 2020; 12: 71–81 75

▶Tab. 6 Aufgaben- und Bewertungstabelle UE MAL 14 (nach freier deutscher Übersetzung). Aufgabe: Schritt 1) Erklärung der Testbedingungen Schritt 2) Ja/Nein: Haben Sie …? Schritt 3) Häufigkeit: Schätzen Sie mit der Häufigkeitsskala folgende Bewegung ein. Wie häufig haben Sie …? Schritt 4) Qualität: Schätzen Sie mit der Qualitätsskala folgende Bewegung ein. Wie gut haben Sie …? 1. … ein Buch gehalten? 2. … ein Handtuch benutzt? 3. … ein Glas angehoben? 4. … die Zähne geputzt? 5. … sich rasiert/geschminkt? 6. … die Tür mit dem Schlüssel geöffnet? 7. … geschrieben/getippt? 8. … sich generell selbstständig bewegt? 9. … den Arm durch ein Kleidungsstück geführt? 10. … etwas getragen? 11. … Besteck gehalten? 12. … Haare gekämmt? 13. … eine Tasse am Henkel angehoben? 14. … Kleidung zugeknöpft? Anschließend erfolgen die gleichen Anweisungen für die andere Seite [27]. Der Untersucher sollte während des Tests die ungültige Anzahl an transportierten Würfeln per Strichliste vermerken [5]. Die durchschnittliche Anzahl an Würfeln liegt, wenn der Patient unter 50 Jahre alt ist, bei ca. 80–90. Ab 50 Jahre sind zwischen 60 und 70 Würfel pro Minute unabhängig vom Geschlecht normal [27]. Die minimal bedeutende Veränderung der Würfelanzahl pro Minute liegt für Schlag- anfallpatienten bei sechs Würfeln [6]. Upper Extremity Motor Activity Log Wie häufig und wie gut ein Patient z. B. nach einem Schlaganfall seine Arme im Alltag benutzt, misst der Upper Extremity Motor Activity Log (UE MAL) [3, 16, 32]. Es existieren mehrere Versionen des UE MAL, die sich hinsichtlich der Anzahl der Fragen und demnach auch bezüglich der Durchführungs- dauer unterscheiden. Im Praxisalltag ist der UE MAL 14 mit 14 Fragen im Vergleich zum Originaltest mit 30–45 ein- zuschätzenden Bewegungen am praktikabelsten und ist mit der guten bis sehr guten Reliabilität und Validität der Langversion vergleichbar (▶Tab. 6; [42]). In diesem Inter- view soll der Patient in 15–20 min Alltagsbewegungen des Armes hinsichtlich Bewegungshäufigkeit und Bewegungs- qualität mit zwei unterschiedlichen Skalen von jeweils 0–5 einschätzen (▶Tab. 7 und ▶Tab. 8). Die Anleitung des Testverfahrens gliedert sich in vier Schritte: Schritt 2) Ja/Nein Grund Schritt 3) Häufigkeit Schritt 4) Qualität ▶Tab. 7 UE-MAL-Skala für Bewegungshäufigkeit. Skala Bewegungshäufigkeit 0 oder 0,5 Der Arm wird nie benutzt. 1 oder 1,5 Der Arm wird sehr selten benutzt. 2 oder 2,5 3 oder 3,5 4 oder 4,5 5 oder 5,5 Der Arm wird manchmal benutzt. Der Arm wird ungefähr halb so häufig wie vor dem Schlaganfall benutzt. Der Arm wird fast so häufig benutzt wie vor dem Schlaganfall. Der Arm wird genauso häufig benutzt wie vor dem Schlag- anfall. ▶Tab. 8 UE-MAL-Skala für die Bewegungsqualität. Skala Bewegungsqualität 0 oder 0,5 Der Arm kann überhaupt nicht benutzt werden. 1 oder 1,5 Der Arm wird zwar bewegt, ist aber kaum von Nutzen. 2 oder 2,5 3 oder 3,5 4 oder 4,5 Der Arm ist von gewissem Nutzen, benötigt aber Hilfe vom gesunden Arm, oder er kann nur sehr langsam bzw. mit Schwierigkeiten benutzt werden. Der Arm wird benutzt, aber die Bewegungen sind langsam oder können nur mit einiger Anstrengung ausgeführt werden. Die Bewegungen sind fast normal, aber nicht ganz so schnell und genau. 5 oder 5,5 Der Arm kann so gut benutzt werden wie vor dem Schlaganfall. Mehrholz J et al. Assessments für die ... neuroreha 2020; 12: 71–81 77

▶Tab. 10 Die 10 am häufigsten in Armrehabilitationsstudien verwendeten Testverfahren nach Duncan et al. [11]. Ranghäufigkeit und Name Testverfahren Anzahl der Anwendung in 243 Studien Anzahl der Änderungen/Variationen des ursprünglichen Tests in den Studien Fugl-Meyer Assessment Upper Extremity Section Action Research Arm Test Modified Ashworth Scale Motor Activity Log Functional Independence Measure Goniometer to assess range of movement Wolf Motor Function Test Barthel-Index Dynamometry to assess strength Visuelle Analogskala für Schmerzen 79 (33 %) 56 (23 %) 53 (22 %) 43 (18 %) 35 (14 %) 32 (13 %) 29 (12 %) 28 (11,5 %) 28 (11,5 %) 24 (10 %) 12/79 (15 %) 1/56 (2 %) 0/53 (0 %) 7/43 (16 %) 11/35 (31 %) 4/32 (13 %) 5/29 (17 %) 1/28 (4 %) 0/28 (0 %) 5/24 (21 %) Der Box and Block Test (BBT) [27, 39], der unilaterale grobe manuelle Geschicklichkeit misst. Patienten sollen inner- halb von einer Minute so viele einzelne Würfel wie möglich von einer Seite einer genormten Box über eine Trennwand auf die andere Seite transportieren. Gezählt wird die An- zahl der erfolgreich transportierten Würfel. Der Nine Hole Peg Test (NHPT) [28, 39], der die unilate- rale Fingergeschicklichkeit misst. Aus einer Ablage wer- den neun kurze Stifte einzeln entnommen und in ent- sprechende Löcher gesteckt. Es existieren altersgerech- te Normwerte. Assessment von Spastizität Die Ashworth-Skala bzw. die modifizierte Ashworth-Ska- la als landläufig bekannteste und gebräuchlichste Skala zur Beurteilung des Widerstands gegen passive Bewe- gung [39]. Die REsistance to PASsive movement scale (REPAS) [38, 39], die eine Weiterentwicklung des Ashworth-basierten Assessments ist, indem ▪ Standardisierungen für die Durchführung von 13 verschiedenen Gelenksbewegungen (auf jeder Körperseite) vorgegeben sind, ▪ die Beurteilungskriterien der Ashworth-Skala kommentiert bzw. ergänzt werden und ▪ eine Validierung der Bildung von Summenwerten für Arme, Beine, eine Körperseite oder eines Summen- wertes für alle vier Extremitäten erfolgt. Selbstbeurteilung Der bereits eingangs ausführlich beschriebene Motor Ac- tivity Log (MAL) erfasst, inwieweit der Betroffene seinen Arm als funktionell im Alltag einsetzbar beurteilt und wie häufig er ihn einsetzt [39]. Aktuelle Übersichtsarbeit zu Assessmentverfahren der oberen Extremität In einer kürzlich erschienenen Übersichtsarbeit zu Assess- mentverfahren der oberen Extremität von Julie Duncan Millar und Kollegen aus Schottland wurden gleich meh- rere wichtige Themen untersucht [11]. Zum einen wurde systematisch recherchiert, welche Assessmentverfahren der oberen Extremität derzeit angewandt werden. Darü- ber hinaus wurde verglichen, inwieweit diese Assessments für Patienten, Angehörige und klinisches Personal relevant bzw. bedeutsam waren. Die Forschergruppe arbeitete Übereinstimmungen und Diskrepanzen in der Einschät- zung bedeutsamer Assessmentverfahren für die obere Ex- tremität heraus [11]. Insgesamt wurden 144 verschiede- ne Testverfahren aus 243 Studien zur Rehabilitation des Armes nach Schlaganfall extrahiert. Am häufigsten wurde der Fugl-Meyer Test für die obere Extremität in n = 79 von 243 Studien verwendet (33 %), am zweithäufigsten der Ac- tion Research Arm Test (56/243; 23 %) und am dritthäu- figsten die modifizierte Ashworth-Skala (53/243; 22 %). ▶ Tab. 10 zeigt, dass einzelne Skalen, wie z. B. der Fugl- Meyer-Armtest, sehr häufig verwendet und dass viele der im Original beschriebenen Testverfahren in den Studien abgewandelt und in verschiedenen Variationen eingesetzt werden. Etwas überraschend ist auch, dass in den Studien zur Armrehabilitation eine Reihe von Skalen Einsatz finden, die nur bedingt oder gar nicht eine spezifische Armaktivi- tät messen, wie z. B. der Barthel-Index. Auch zeigt sich in dieser Darstellung als weiteres Dilemma, dass die einzelnen ICF-Ebenen sehr unterschiedlich abge- bildet sind. Zu erwarten wäre gewesen, dass in Studien zur Armrehabilitation möglichst alle drei ICF-Ebenen in glei- chem Maße genutzt werden, um Leistungen von Patienten einzuschätzen. Die Tabelle zeigt jedoch, dass insbesondere die ICF-Ebene Körperfunktionen und -strukturen in Studi- Mehrholz J et al. Assessments für die ... neuroreha 2020; 12: 71–81 79

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Mentale Rotation Vorstellungstraining Spiegeltherapie ▶Abb. 1 GMI in den drei Stufen: mentale Rotation; Vorstellungstraining und Spiegeltherapie. Jede Stufe wird für zwei Wochen für für 5–10 Minuten in jeder Wachstunde der Wachphasen trainiert [11]. (Quelle: M. Lotze, li./Mitte, und Thieme Gruppe; re.) jegliche Bewegung zu vermeiden. Aus diesem Grund wur- den Strategien entwickelt, um den Patienten in die Be- wegung schrittweise hineinzuführen. Eine wirksame Vor- gehensweise ist das stufenweise Imaginationstraining (graded motor imagery, GMI) [11]. Geschichte der GMI Vor 25 Jahren publizierte R. Ramachandran einen viel beachteten Artikel über einen Patienten mit Phantom- schmerzen nach traumatischer Amputation der oberen Extremität, bei dem durch ein Spiegeltraining erfolgreich die Phantomschmerzen gelindert werden konnten [17]. Bei der Beobachtung der intakten Hand bei Durchführung einer Bewegung, gespiegelt auf die Seite der fehlenden Extremität, erhält der Patient die dominierende visuelle Rückmeldung, dass die fehlende Extremität eine intakte Bewegung durchführt. Gelingt diese Illusion, so kann da- durch ein zumindest kurzfristiger lindernder Effekt auf die Phantomschmerzen erreicht werden. Interessant ist dies vor allem deshalb, weil es einiges über die Repräsentati- on unseres Körpers aussagt: Das Gehirn führt alle Sinnes- modalitäten zu einer einheitlichen Körperrepräsentation (body matrix; [14]) zusammen. Da hierbei die visuelle In- formation dominant ist, wird die Ansicht der sich bewe- genden gesunden Hand auf die betroffene Seite gespie- gelt. Damit entsteht die Illusion, dass sich die betroffene Hand wie eine gesunde Hand bewegen kann. Diese „Spie- gelillusion“ funktioniert, obwohl wir von unseren pro- priozeptiven Informationen eine statische Haltung unse- rer Hand rückvermittelt bekommen. Schon sehr früh war festgestellt worden, dass sich die Kör- perrepräsentation im Parietallappen befinden muss. So hat Gerstmann bereits 1930 als Ursache für einen Neglekt eine Läsion im Parietallappen kontralateral zur vernachlässig- ten Seite beschrieben. Die dort lokalisierte Repräsentation des Körpers ermöglicht es, dass Objekte ohne zusätzliche Überprüfung (etwa durch den Blick auf den Arm) weitge- hend implizit korrekt ergriffen werden können. Man kann die Körperrepräsentation jedoch auch durch propriozeptive Reize beeinflussen: Vibrationsreize über dem Bizepsmuskel vergrößern die gefühlte Armlänge, und beim gleichzeitigen Ergreifen der Nase scheint der ge- samte Kopf gefühlt mitzuwachsen [6]. Zudem ist die Re- präsentation des eigenen Körpers mit der Wahrnehmung von Körperteilen anderer Personen verbunden: Besteht etwa ein Neglekt bei rechtsseitiger Läsion zur linken Kör- perseite, so werden in der Handerkennung rechte Hände schneller erkannt als linke Hände [2]. Dieses charakteris- tische Muster wurde ebenfalls bei Patienten beobachtet, die unter chronischem CRPS leiden [19]. Aus einem verhaltenstherapeutischen Ansatz heraus sieht man die Angst vor Bewegungsschmerz und dem Vermei- den von Bewegung als ein „fear avoidance model“ (Über- sicht in [8]), das wie andere Ängste in einer Expositions- therapie behandelt werden kann [20]. Tatsächlich ist diese Expositionstherapie wirksam. Eine stufenweise Erhöhung der Bewegung kann dabei die Patienten schrittweise in die Bewegung einführen. Mentales Training ist hierfür eine ideale Möglichkeit, weil sich bei der Bewegungsvorstel- lung Repräsentationen im Gehirn zum Teil mit denen bei tatsächlicher Bewegung überlappen [7]. Darstellung der Durchführung der GMI ▶Abb. 1 zeigt einen Überblick über das stufenweise Ima- ginationstraining GMI. Die GMI [11] wurde auf folgender Basis entwickelt: ▪ Die bestehenden Daten von Neglekt-Patienten wie- sen auf eine schlechtere Leistung in der mentalen Rotation von Händen auf der betroffenen Körper seite hin. ▪ Klinische Beobachtungen zeigten, dass eine Spie- geltherapie allein sich nicht als wirkungsvoll in der Behandlung der CRPS-Schmerzen erwies. ▪ Eine Stimulusreduktion (Bewegung) führt nicht mehr zu einer Schmerzreduktion bei chronischen Schmerz- patienten, sodass eine stufenweise Konfrontation mit Bewegung – ähnlich wie in der Verhaltensthe- rapie [20] – hier insgesamt zu einer Verbesserung von Schmerz und dem Einsatz der Extremität führen kann. Lotze M et al. Schmerzpatienten in Bewegung ... neuroreha 2020; 12: 82–85 83

tation, zumindest in einigen Studien deutlich mit den kli- nischen Pathologien assoziiert sind, bieten sich diese Pa- rameter auch als Biomarker an, um frühzeitig besonders gute und schlechte Therapieresponder zu ermitteln. Da es hier – trotz der im Durchschnitt signifikanten Effekte insbesondere auf den Bewegungsschmerz – noch deut- liche Unterschiede in den Verläufen gibt, sind Biomarker notwendig. Modulation der Therapie Zudem könnten die longitu- dinalen Untersuchungen mit Darstellungen der Biomarker unser Wissen zu der Modulation der Therapie etwa durch sensorisches Diskriminationstraining [13] oder medika- mentöse Strategien [4] hinsichtlich der zugrunde liegen- den Mechanismen erfassen und so den Hauptnachteil der Therapie, den großen Einsatz von Zeit und Motivation des Patienten, günstig modulieren. Autorinnen/Autoren Prof. Dr. Martin Lotze Professor für Funktionelle Bildgebung und Neurologie an der Universität Greifswald. Er forscht unter anderem über neuronale Effekte bei Training, neuronale Plastizität und chronische Schmerzen. Prof. Dr. G. Lorimer Moseley Lorimer Moseley ist Professor für Clinical Neuroscience und Chair in Physiotherapy an der University of South Australia. Sein Interesse gilt der Schmerzforschung. Korrespondenzadresse Prof. Dr. Martin Lotze Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Walter-Rathenau-Str. 46 17475 Greifswald E-Mail: martin.lotze@uni-greifswald.de Literatur [1] Bowering KJ, O’Connell NE, Tabor A et al. The effects of graded motor imagery and its components on chronic pain: A systematic review and meta-analysis. The Journal of Pain: Official Journal of the American Pain Society 2013; 14: 3–13 [2] Coslett HB. Evidence for a disturbance of the body schema in neglect. Brain Cogn 1998; 37: 527–544 [3] Gerstmann J. Zur Symptomatologie der Hirnläsionen im Übergangsgebiet der unteren Parietal- und mittleren Occipitalwindung. Nervenarzt 1930; 3: 691–695 [4] Gustin S, Schwarz A, Birbaumer N et al. NMDA-antagonist and morphine decrease CRPS-pain and cerebral pain-repre- sentation. Pain 2010; 151: 69–76 [5] Harden RN, Oaklander AL, Burton AW et al. Complex regional pain syndrome: Practical diagnostic and treatment guidelines. 4th ed. Pain Medicine (Malden, Mass.) 2013; 14: 180–229 [6] Lackner JR. Some proprioceptive influences on the perceptu- al representation of body shape and orientation. Brain 1988; 111: 281–297 [7] Ladda AM, Lotze M. Mentales Training und Bewegungs- beobachtung. neuroreha 2019; 11: 118–122 [8] Leeuw M, Goossens ME, Linton SJ et al. The fear-avoidance model of musculoskeletal pain: Current state of scientific evidence. J Behav Med 2007; 30: 77–94 [9] Lotze M. Maladaptive Plastizität bei chronisch neuro- pathischen Schmerzen. Der Schmerz 2015; 30: 127–133 [10] McCabe CS, Haigh RC, Ring EF et al. A controlled pilot study of the utility of mirror visual feedback in the treatment of complex regional pain syndrome (type 1). Rheumatology (Oxford, England) 2003; 42: 97–101 [11] Moseley GL. Graded motor imagery is effective for long- standing complex regional pain syndrome: A randomised controlled trial. Pain 2004; 108: 192e198 [12] Moseley GL. Is successful rehabilitation of complex regional pain syndrome due to sustained attention to the affected limb? A randomised clinical trial. Pain 2005; 114: 54–61 [13] Moseley GL, Zalucki NM, Wiech K. Tactile discrimination, but not tactile stimulation alone, reduces chronic limb pain. Pain 2008; 137: 600–608 [14] Moseley GL, Gallace A, Spence C. Bodily illusions in health and disease: Physiological and clinical perspectives and the concept of a cortical “body matrix”. Neuroscience and biobehavioral reviews 2012; 36: 34–46 [15] O’Connell NE, Wand BM, McAuley J et al. Interventions for treating pain and disability in adults with complex regional pain syndrome. Cochrane Database Syst Rev 2013; 4: CD009416 [16] Perez RS, Zollinger PE, Dijkstra PU et al. Evidence based guidelines for CRPS type 1. BMC Neurology 2010; 10: 20–60 [17] Ramachandran VS, Rogers-Ramachandran D, Cobb S. Touching the phantom limb. Nature 1995; 377: 489–490 [18] Reid EJ, Braithwaite FA, Wallwork SB et al. Spatially-defined motor deficits in people with unilateral complex regional pain syndrome. Cortex 2018; 104: 154–162 [19] Schwoebel J, Friedman R, Duda N et al. Pain and the body schema: Evidence for peripheral effects on mental represen- tations of movement. Brain 2001; 124: 2098–2104 [20] Vlaeyen JW, Linton SJ. Fear-avoidance and its consequences in chronic musculoskeletal pain: A state of the art. Pain 2000; 85: 317–332 Bibliografie DOI https://doi.org/10.1055/a-1156-3958 neuroreha 2020; 12: 82–85 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 1611-6496 Lotze M et al. Schmerzpatienten in Bewegung ... neuroreha 2020; 12: 82–85 85

Aus der Praxis Jump and Run ins nächste Therapielevel Alexandra de Crignis und Carmen Fuchs Das Gehirn ist in der Lage, sich durch motorisches Lernen strukturell und funktionell anzupassen. Maßgeblich sind dafür unter anderem ein besonders intensives Training und eine hohe Anzahl an Wiederholungen. Die Funktionen der oberen Extremität können bei Eignung des Patienten mit gerätegestützter Therapie in sogenannten Armstudios trainiert werden. Einleitung Herr M. schaut konzentriert auf einen Bildschirm, auf dem ein kleiner Avatar in einer virtuellen Welt hin- und her- springt. Ziel ist es, möglichst alle sich auf dem Weg befin- denden Münzen einzusammeln. Ebenso muss währenddes- sen Hindernissen und herumfliegenden Kokosnüssen aus- gewichen werden. All das erscheint momentan gar nicht so leicht. Ein Teil der Münzen bleibt im virtuellen Dschun- gel zurück. Doch die Motivation von Herrn M. bleibt hoch, sodass es nach einer kleinen Anzahl an Trainingseinheiten schon viel besser ausschaut. Am Ende lockt das Ergebnis ein Lächeln auf sein Gesicht: 87 Punkte – sein bisheriger Highscore. Das Szenario ist virtuell, aber gesteuert wird der Avatar auf dem Bildschirm durch die Armbewegungen von Herrn M. Das ist nur gerade jetzt nicht selbstverständ- lich. Erst vor einem Monat erlitt er einen linkshemisphäri- schen Mediainfarkt. Seither kann Herr M. seinen rechten Arm im Alltag nicht mehr einsetzen. Die Frustration darü- ber ist groß. Doch der neue Highscore zeigt Herrn M. die Fortschritte, die er täglich durch die Therapie erzielt. Motorisches Lernen Wie die Forschung in den letzten Jahren belegen konnte, ist das Gehirn nicht nur bei Kin- dern, sondern auch bei Erwachsenen und sogar nach Schä- digungen des zentralen Nervensystems in der Lage, sich durch motorisches Lernen strukturell und funktionell an- zupassen [6]. Maßgeblich für das motorische Lernen bzw. zur Aktivierung von neuronalen Prozessen ist unter an- derem ein besonders intensives Training mit einer hohen Anzahl an Wiederholungen [1, 3]. Therapiedichte Die dazu nötige hohe Therapiedichte ist sowohl im Klinikalltag als auch in der ambulanten Therapie nicht immer einfach umzusetzen, da gerade neurologisch beeinträchtigte Patienten zur Durchführung der Therapie häufig die Unterstützung eines Therapeuten benötigen. Vor diesem Hintergrund und mit dem Ziel, den Therapie- umfang der Patienten bei gleichem Personalaufwand zu erhöhen, entwickeln Ingenieure seit den 1990er-Jahren diverse Therapiegeräte [5]. Therapiegeräte Diese Geräte zeichnet aus, dass sie die Bewegung der Patienten erfassen, automatisiert steuern oder unterstützen können. Zusätzlich visualisieren die Ge- räte auf einem Bildschirm unterschiedliche Aspekte der Bewegung, z. B. den Bewegungsumfang. Häufig wird diese Visualisierung indirekt mit sogenannten „Exergames“ (englisch für „Therapiespiele“) umgesetzt. Dabei können über verschiedene Aspekte der Bewegung des Patienten Spiele in einer virtuellen Welt (engl.: Virtual Reality) ge- steuert werden. So bewegen sich kleine Avatare durch Hin- dernisparcours, fallende Münzen müssen aufgefangen und aufflackernde Feuer durch einen Feuerwehrmann gelöscht werden. Armstudio In der Schön Klinik Bad Aibling werden seit 1994 Patienten mit neurologischen Erkrankungen in der Akutneurologie und den Rehaphasen B bis D behandelt. Die Funktionen der oberen Extremität werden dabei er- gotherapeutisch in Einzel- und Gruppensettings trainiert und, bei Eignung des Patienten, zusätzlich mit gerätege- stützter Therapie im sogenannten „Armstudio“ ergänzt. Der Grundstein für das heutige Armstudio wurde 2004 mit der Anschaffung des ersten robotischen Armtherapie- geräts gelegt. Seither wurden mehr und mehr innovative Armtherapiegeräte entwickelt und auf den Markt gebracht [2]. Im ständigen Streben nach Optimierung der Therapie mit modernster und effizienter Methodik wurden über die Jahre verteilt zahlreiche unterschiedliche Therapiegeräte getestet. Mittlerweile wurde eine Geräteausstattung etab- liert, die für die verschiedenen Bedürfnisse der Patienten Möglichkeiten bietet und aus dem therapeutischen Alltag nicht mehr wegzudenken ist. Die gerätegestützte Thera- pie im Armstudio stellt eine wichtige Säule in der Versor- gung der Ergotherapie im Haus dar. de Crignis A et al. Jump and Run ... neuroreha 2020; 12: 87–90 87

▶Tab. 1 Übersicht über die Eigenschaften der Geräte im Armstudio der Schön Klinik Bad Aibling Abk.: DIP = distales Interphalangealgelenk; PIP = proximales Interphalangealgelenk; MCP = Metakarpophalangealgelenk Gerätname und Hersteller Gelenke Bewegungsausführung Trainingsmodalitäten ArmeoPower (Hocoma AG) ArmeoSpring (Hocoma AG) Schulter Ellbogen Unterarm (Pro-/Supination) Hand und Finger (Greiffunktion) Schulter Ellbogen Unterarm Hand und Finger (Greiffunktion) Amadeo (Tyromotion GmbH, AT) Finger Pablo Plus (Tyromotion GmbH, AT) Biometrics Hand Kit (Biometrics Ltd, US) Rumpf Schulter Ellbogen Unterarm (Pro-/Supination) Hand und Finger (Greiffunktion) Hand und Finger (Greiffunktion) Bewegungstherapiegeräte (z. B. MOTOmed, Reha-Slide) Schulter Ellbogen Hand und Finger passiv assistiv aktiv assistiv aktiv passiv assistiv aktiv assistiv aktiv aktiv aktiv assistiv passiv ein- oder mehrgelenkig zwei- oder dreidimensional unilateral ein- oder mehrgelenkig zwei- oder dreidimensional unilateral mehrgelenkig (DIP, PIP, MCP) zweidimensional unilateral ein- oder mehrgelenkig zwei- oder dreidimensional uni- oder bilateral mehrgelenkig zweidimensional unilateral mehrgelenkig zwei- oder dreidimensional bilateral rung. Emotionen, Äußerungen und natürlich Funktionsver- besserungen machen immer wieder aufs Neue deutlich, wie wertvoll dieses Therapieangebot für die Patienten ist. Zusätzlich weckt der Aspekt, im Armstudio „miteinander“ zu trainieren, in manchen Patienten den Ehrgeiz, eine Ein- stellung ähnlich der des Nachbars zu erreichen bzw. sich dahingehend zu verbessern, das Therapiegerät wechseln zu können. So streben Patienten beispielsweise danach, von dem voll motorisierten ArmeoPower auf den Armeo- Spring zu wechseln. Der ArmeoSpring bietet im Vergleich zum ArmeoPower lediglich eine Gewichtsentlastung des Armes durch ein Federsystem und setzt daher eine intrin- sische Armfunktion des Patienten voraus. Indikationen für die Therapie im Armstudio Die Voraussetzungen für das Training im Armstudio sind grundsätzlich eine Sitz- und Konzentrationsfähigkeit für die Therapiedauer. Damit können, je nach individuellen Symptomen, in Bad Aibling Patienten von der Rehaphase B bis D im Armstudio trainieren. Die Studienlage über die Evidenz der gerätegestützten Therapie stützt sich bislang vor allem auf Patienten, die durch einen Schlaganfall Einschränkungen der oberen Ex- tremität erlitten haben [2]. Bei dieser Patientengruppe wurde gezeigt, dass die gerätegestützte Therapie zu Ver- besserung der Armfunktion, Muskelkraft und Aktivitäten des täglichen Lebens führt [4, 7]. Die Wirksamkeit des ge- rätegestützten Trainings wird durch die aktive, hoch re- petitive und individuell angepasste Therapie begründet [3, 7]. Da die Prinzipien des motorischen Lernens unabhängig von der zugrunde liegenden Pathologie bestehen, profitieren in Bad Aibling auch Patienten, die aufgrund anderer Krank- heitsbilder (z. B. Querschnitt oder Schädel-Hirn-Trauma) Beeinträchtigungen der Arm- und Handfunktion erleiden, von der gerätegestützten Therapie im Armstudio. Implementierung in den Klinikalltag Um die eingangs erwähnte nötige hohe Dichte an Thera- piezeiten im Armstudio anzubieten, können in diesem bis zu neun Patienten gleichzeitig trainieren. Sie können hier, ähnlich wie in einem Fitnessstudio, unter Supervision ne- beneinander die Therapie durchführen. Abhängig vom jeweiligen Gerät trainieren die Patienten im Armstudio zwischen 15 und 45 Minuten. Die spezialisier- ten, mit Virtual Reality gekoppelten Therapiegeräte sind hierbei die Geräte, die eine längere Therapiezeit erfordern. Im patienteneigenen Therapieplan sind für diese Geräte 45 Minuten vorgesehen. Nach Positionierung und patien- tenspezifischer Anpassung trainiert jeder Patient effektiv ca. 35 Minuten an den Armeo-Geräten, dem Pablo-Plus-System oder dem Amadeo. An diesen Geräten betreut aufgrund der de Crignis A et al. Jump and Run ... neuroreha 2020; 12: 87–90 89

Aus der Praxis Hilfsmittelversorgungen der oberen Extremität Thorsten Böing Die Hilfsmittelversorgung der oberen Extremität ist komplex. In fast allen Phasen der neurologischen Rehabilitation findet sie jedoch ein geeignetes Einsatzfeld. Ein Überblick. Hintergrund Während für die Versorgungsoptionen der unteren Extre- mität eine Vielzahl von Studien unterschiedlichster Inhalte (z. B. zu Orthesen aus Silikon, Polypropylen, Polyethylen, Carbon oder zu Funktioneller Elektrostimulation) und Evi- denzleveln (RCT, Kohortenstudien, Anwendungsbeobach- tungen) vorliegen, sind die Suchergebnisse für die obere Extremität wesentlich geringer ausgeprägt. Einerseits sind Hilfsmittelversorgungen für die obere Extremität im Hin- blick auf einen funktionellen Zugewinn bis dato nur unzu- reichend systematisch untersucht, andererseits sind sie zur Lagerung oftmals notwendig und werden beim Spas- tik-, Schmerz- und Rollstuhlmanagement routinemäßig eingesetzt [13]. Somit definieren insbesondere Diagno- se, Zeitpunkt und Verwendung (ADL, Therapie) die Sinn- haftigkeit und den Erfolg des zum Einsatz kommenden Hilfsmittels. Dennoch bleiben die zugrunde liegende Me- thodik und die daraus resultierende Evidenz häufig inkon- sistent [6, 8, 9]. Orthesen und Lagerung Eine erste Option der Patientenversorgung sind vorgefer- tigte Handlagerungsorthesen, die mindestens über fol- gende Qualitätsmerkmale verfügen: ▪ einfache Handhabung zur Lagerung und Stabilisation ▪ Schmerzlinderung und Schutz vor äußeren Ein- wirkungen ▪ gute propriozeptive Wirkung und Förderung der Aktivität ▪ Erleichterung des Funktionstrainings von Hand und Fingern im Rahmen der Therapie Diese Art von Orthesen kommt primär bei schlaffen Pare- sen zum Einsatz und wird zumeist volar appliziert. Aller- dings birgt diese Variante der Anlage deutliche Schwierig- keiten in der ADL-Handhabung. Bedarf es zudem einer si- cheren Fixierung von Hand und Fingern – beispielsweise im Rahmen einer Tonuserhöhung –, sind individuell gefertig- te Orthesen das Mittel der Wahl, häufig in einer Kombina- tion von Silikon und Carbon [14]. Die gleichen Materialien bieten hervorragende Versorgungsoptionen für funkti- onsfördernde Orthesen. Ein Blick in die Literatur zeigt al- lerdings ein Dilemma: Das Evidenzniveau herkömmlicher Handorthesenversorgungen nach Schlaganfall ist gering bis schwach [3]. Werden jedoch zeitgemäße Materialien benutzt und individuelle Handorthesen gefertigt, steigt die Versorgungsqualität rapide [3]. Etwa 15–40 % der Schlaganfallpatienten sind von Hume- ruskopfluxationen oder -subluxationen betroffen, wobei die größte Inzidenz etwa drei bis sechs Wochen nach dem Schlaganfall liegt [10]. Sie sind schmerzbedingt mit un- günstigem Reha-Verlauf verknüpft und definieren gleich- zeitig die anzustrebenden Ziele, die mit einer speziellen Orthese erreicht werden sollen: ▪ Rezentrierung des Oberarmkopfes und Sicherung des Armes bei freier Beweglichkeit im Schultergelenk ▪ Schmerzlinderung und Stabilisation entgegen dem paretischen Muster ▪ Erleichterung der aktiven Rehabilitation Hesse et al. konzipierten eine Orthese, die exakt dieses An- forderungsprofil erfüllt [2]. Sie besteht aus einem Schul- terteil mit einem Gurt, der unter der kontralateralen Ach- sel hindurchführt. Der Gurt kann mithilfe von Klettbän- dern sowohl an der Brust als auch am Rücken individuell angepasst werden. Ober- und Unterarmmanschette sor- gen für den richtigen Sitz (▶Abb. 1). Eine aktuelle Erwei- terung verknüpft Hand- und Schulterorthese (beide Teile sind durch zwei Gurte miteinander verbunden) und erfüllt folgende Funktionen: ▪ Positionierung des Humeruskopfes exakt in der Gelenkpfanne ▪ Entlastung des Handgelenks in Funktionsstellung mit stufenloser Einstellung ▪ Stabilisation des Armes in gestreckter und leicht supinierter Position ▪ Therapiekompatibilität, das heißt, die Orthese kann während der Therapie getragen werden ▪ einhändiges An- und Ausziehen und einfache Reposi- tionierung im Patientenalltag ▪ mit Handlagerungsschale für die Nachtlagerung geeignet (▶Abb. 2) Böing T. Hilfsmittelversorgungen der oberen ... neuroreha 2020; 12: 91–93 91

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▶Abb. 2 Mit der Therapieknete werden gezielt Bewegungen geübt. (Quelle: W. Sporrer) ▶Abb. 1 Übungen mit Therapieknete machen die Kraft der Finger spürbar. (Quelle: W. Sporrer) wegen, kleine Gegenstände ergreifen und wieder able- gen – diese Übungen gefallen mir. Man merkt dabei ziem- lich schnell, ob und wie gut man die Kontrolle über die eigenen Finger hat. Manchmal muss ich mich so stark kon- zentrieren, die Finger bewusst zu bewegen oder anzusteu- ern, dass es richtig anstrengend sein kann. Gut sind auch die Übungen mit Therapieknete. Da merkt man erst, wie viel Kraft man eigentlich in den Fingern hat, und führt ge- zielt Bewegungen durch, die man sonst im Alltag nicht unbedingt macht. Haben Sie auch spezielle Übungen für das Schreiben durchgeführt? Ja, zum Glück. Wir haben erst verschiedene Stifte und Schreibhaltungen ausprobiert. Gefolgt von Übungen, die erst einmal mit dem Schreiben nicht viel zu tun hatten. Zum Beispiel Flächen schraffieren oder auch einfache Krit- zelbewegungen, um zu sehen, welche Bewegungen even- tuelle Verkrampfungen oder Fehlhaltungen auslösen. Wir haben gemeinsam Strategien erarbeitet, wie ich länge- re Texte flüssiger schreiben kann, und haben den Unter- schied zwischen Schreibschrift und Druckbuchstaben aus- probiert – gerade, wenn die Hand einmal zittert. In welcher Form haben Sie Feinmotoriktraining erhalten und welche war am besten für Sie geeignet? Das Training hat sowohl einzeln mit der Therapeutin als auch in der Gruppe stattgefunden. Beides hatte seine Vor- und Nachteile: In der Einzeltherapie war ich besser fokussiert und konnte individueller auf meine alltäglichen Probleme eingehen. Wir haben sogar mit Legosteinen ge- spielt, um das Spielen mit meinem Sohn nachzuahmen. In der Gruppentherapie hatten wir dagegen die Möglich- keit, Kontakt mit anderen Betroffenen aufzunehmen und uns auszutauschen. Oft waren die Gruppen sehr durch- mischt, manchmal waren Patienten dabei, die mit den Übungen nicht zurechtgekommen sind. Daher empfand ich das Training im Rahmen der Einzeltherapie effekti- ver. Es war deutlicher auf mich und meine Bedürfnisse zugeschnitten. Haben sich die feinmotorischen Leistungen seit dem Feinmotoriktraining verändert? Ja, ich denke schon. Auf jeden Fall habe ich das Gefühl, mehr Kontrolle über meine Finger zu haben. Vielleicht auch mehr Kraft. Wenn ich mir Zeit lasse, greife ich viel zielgerichteter nach Gegenständen als zuvor. Die Hand verkrampft zwar immer noch und alles dauert extrem lang, aber insgesamt habe ich den Eindruck, mehr Bewusstsein für die Bewegun- gen meiner Finger und Hände bekommen zu haben. Wie motivieren Sie sich, nach der Klinik weiter- zumachen? Meine Therapeutin hat mir ein Feinmotorikübungspro- gramm für zu Hause mitgegeben, und Therapieknete habe ich mir auch schon zugelegt. Viele Übungen kann man zwi- schendurch ohne viel Zeitaufwand machen, sodass ich dafür eine Viertelstunde am Tag einplanen kann. Auch werden in dem Programm viele Materialien verwendet, die man sowie- so zu Hause hat. Das erleichtert es auch noch mal. Autorin Wiebke Sporrer Wiebke Sporrer ist Ergotherapeutin und schloss 2016 ihren Master of Science in Neuro- rehabilitation ab. Seit 2017 leitet sie die Abteilung Ergotherapie an der Schön Klinik München-Schwabing. Korrespondenzadresse Wiebke Sporrer Schön Klinik München-Schwabing Parzivalplatz 4 80804 München E-Mail: wsporrer@schoen-klinik.de Bibliografie DOI https://doi.org/10.1055/a-1156-3785 neuroreha 2020; 12: 94–95 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 1611-6496 Sporrer W. Wie die Hände ... neuroreha 2020; 12: 94–95 95

Impressum neuroreha 12. Jahrgang erscheint 4-mal jährlich. ISSN (Print): 1611-6496 Eigentümer & Copyright © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York 2020 Herausgeberteam Jan Mehrholz, Gera (D) Martin Lotze, Greifswald (D) Klaus Starrost, München (D) Verlag Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 301120, 70451 Stuttgart Tel.: + 49 711 8931-0, Fax: + 49 711 8931-874 www.thieme.de, www.thieme.de/neuroreha www.thieme-connect.de/products Redaktion manuskriptwerkstatt Susanne Schimmer, Aldingen V.i.S.d.P.: Andrea Pötting, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart Verantwortlich für den Anzeigenteil Thieme Media Pharmedia Anzeigen- und Verlagsservice GmbH Johannes Moser, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 300880, 70448 Stuttgart Tel.: +49 711 8931-469, Fax: +49 711 8931-470 E-Mail: Johannes.Moser@thieme-media.de Produktionsmanagement Tel.: + 49 711 8931-258, Fax: + 49 711 8931-393 E-Mail: Franziska.Billmann@thieme.de Abonnentenservice Wir bitten unsere Abonnenten, Adressänderungen dem Abonnentenservice mitzuteilen, um eine rei- bungslose Zustellung der Zeitschrift zu gewährlei- sten. 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