m o c . e b o d a . k c o t s – y o h c u i l l © DIE NEUE Fortbildungszeitschrift für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen 4-MAL JÄHRLICH AB AUGUST 2024 INKLUSIVE DIGITALZUGANG Fortbildung pur Prozesse, Techniken, Methoden: Schritt-für-Schritt erklärt, wie es geht Leitliniengerecht und ausgerichtet am Curriculum: alle wichtigen Themen und Krankheitsbilder, systematisch und mit multiaxialem Ansatz SOPs, Handlungsanweisungen, Fallbeispiele: voneinander lernen gibt Sicherheit bei der Behandlung CME-zertifizierte Fortbildung: 4 Fortbildungsbeiträge pro Ausgabe mit klarem Bezug zu Ihrem Alltag und zu Ihren Patient*innen. Sammeln Sie bis zu 48 CME-Punkte pro Jahr! Abonnieren Sie jetzt zum Einstiegspreis mit Wunschgutschein als Prämie! thieme.com/kjp-up2date up2date CME-Fortbildung▪ ADHS, ein praxisorientierter Überblick ▪ Depression im Kindes- und Jugendalter ▪ Elterntraining ▪ Auswirkungen der Corona-PandemieSOP / Arbeitsabläufe ▪ Umgang mit psychogenen AnfällenSchritt für Schritt ▪ Einschätzung von Suizidalität1 Juli 2024 Seite 1–64 01 . JahrgangPsychiatrie · Psychologie · Psychotherapie · Psychosomatik im Kindes- und Jugendalterup2date

Univ.-Prof. Dr. Sarah Hohmann Ärztliche Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsy- chiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik, Universi- tätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg. Gastwissen- schaftlerin und Co-Leitung der Arbeitsgruppe ADHS im Kindes- und Jugendalter am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim (Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg). Dr. Thomas Lempp Jahrgang 1977, Medizinstudium in Heidelberg und Zürich. KJP-Facharztausbildung in Marburg und Frankfurt. Zusatz- ausbildungen in Medizinethik, Kinderschutz und forensi- scher Begutachtung. Seit 2019 Chefarzt am Clementine Kinderhospital Frankfurt am Main. Lehrbuchautor eines KJP-Kurzlehrbuchs für Medizinstudierende. Klinische Schwerpunkte: Geschlechtsdysphorie, Ess-Störungen, psychische Stö- rungen bei somatisch kranken Kindern, Lehre und Strafrecht. (Foto: www.das-portrait.com) Univ.-Prof. Dr. Katajun Lindenberg Leiterin des Lehrstuhls für Klinische Psychologie des Kin- des- und Jugendalters an der Universität Heidelberg, der Hochschulambulanz für Kinder- und Jugendlichenpsycho- therapie und der Akademie für Präventionswissenschaf- ten. Forschung zu evidenzbasierten Interventionen in der Prävention und Psychotherapie im Kindes- und Jugend- alter, E-Mental-Health, transdiagnostischen Prozessen und Psychothera- pieprozessen. (Foto: Sonja Kewitz) Dr. Ulf Thiemann Studium der Humanmedizin an der Medizinischen Univer- sität zu Lübeck, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Weiterbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psy- chotherapie am Universitätsklinikum Heidelberg. For- schungsaufenthalt als Marie Curie Research Fellow am In- stitute of Psychiatry, King’s College London. Oberarzt an den Universi- tätskliniken in Frankfurt und Köln. Seit 2021 Chefarzt der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der LVR-Klinik Bonn. Herausgeberboard Herausgeberboard Univ.-Prof. Dr. Dipl.-Psych. Michael Huss Studium der Psychologie und Medizin in Heidelberg, Chi- cago und Berlin. Facharztausbildung an der Charité in Ber- lin. Seit 2006 Professur an der Universitätsmedizin Mainz, Mitwirkung am Aufbau der Klinik für Kinder- und Jugend- psychiatrie. Seit 2018 Ärztlicher Direktor der Rheinhessen- Fachklinik in Alzey. Seit 2021 Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin Mainz. Träger des Herrmann-Emminghaus-Preises, internationales Patent über Doppler- Radar-Aktografie zur Messung von Bewegungsunruhe, Leitung einer Vielzahl klinischer Studien. (Foto: Rheinhessen-Fachklinik Alzey/Wolf- gang Pape) Univ.-Prof. Dr. Stefan Bender Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Univer- sität zu Köln und Direktor der Kölner Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kin- des- und Jugendalters. Er studierte Medizin in Heidelberg und parallel zum Licenciado en psicología an der UNED (Madrid, Spanien). Schwerpunkte sind die Entwicklung neuer Versorgungsformen, Digitalisierung, Schematherapie und nicht- invasive Neuromodulation. (Foto: MFK/Michael Wodak) Dr. Dipl.-Kfm. (FH) Gundolf Berg Jahrgang 1965, Studium in Heidelberg und Mannheim, Facharztweiterbildung in Lübeck und Hamm. Seit 2000 niedergelassen in der sozialpsychiatrischen Praxis für Kin- der- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Mainz. Berufsbegleitendes grundständiges Studium der Betriebs- wirtschaftslehre mit Zusatzschwerpunkt Gesundheitswe- sen an der Hochschule in Wismar. Seit 2014 Vorsitzender des Berufsver- bandes für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psycho- therapie, Arbeit in vielen Gremien der Selbstverwaltung (G-BA, KBV, KV Rheinland-Pfalz, Ärztekammer RLP, BÄK u.a.) Prim. Univ.-Prof. Dr. Isabel Böge Jahrgang 1969, Medizinstudium an der Universität Ham- burg, nach Ausflügen in die Pädiatrie und Innere Medizin Fachrarztausbildung zur Kinder- und Jugendpsychiaterin in Nordrheinwestfalen. Im Anschluss Ober- und Chefärztin der KJPP am Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie Südwürttemberg, Ravensburg, parallel dazu Forschung und Lehre an der Universität Ulm. Seit April 2022 Professorin der Abtei- lung für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Universität Graz, Österreich und Primarärztin der KJP am LKH Süd. Systemikerin und Traumatherapeutin, Forschungsschwerpunkte: Versorgungsforschung, Trauma, Anorexie und Hometreatment. (Foto: Wiesner) Dr. Raphael Gutzweiler Jahrgang 1989, studierte Psychologie in Mannheim und Landau. Promotion 2021 in Landau. Ausbildung in Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (Verhaltenstherapie) in Landau und am Zentralinstitut für seelische Gesundheit (ZI) Mannheim. PostDoc in der AE Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der RPTU Kaiserslautern-Landau. Forschungsschwerpunkte: Emotionsregu- lation und die Verbesserung psychotherapeutischer Angebote. (Foto: Landauer Psychotherapie-Ambulanz für Kinder und Jugendliche) 2 KJP up2date 2024; 1 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

Editorial Prof. Michael Huss, Rheinhessen-Fach- klinik Alzey, Uni- versitätsmedizin Mainz Schriftleiter Editorial Liebe Leserinnen und Leser, die Sorge um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist nach der Pandemie, den aktuellen Belastungen durch Kriege, vielfältigen Traumatisierungen z. B. im Rahmen von Migration und gesellschaftlichen Veränderungen aber auch an- gesichts des Klimawandels und den damit verbundenen Zukunftsängsten aktueller denn je. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP), deren integraler Bestandteil im- mer auch die Psychotherapie und die Psychosomatik für Kinder und Jugendliche ist, steht daher wie alle interdisziplinär eng mit ihr verbundenen Fächer der Psycho- logie, der Pädiatrie aber auch der Allgemeinpsychiatrie vor immensen Herausforde- rungen. Mit der neu ins Leben gerufenen Zeitschrift KJP up2date wollen wir einen interdiszip- linären Beitrag leisten, auf Basis der aktuellen wissenschaftlichen Evidenz und dabei aber konsequent praxisorientiert („aus der Praxis für die Praxis“), die Versorgung von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Wie gesagt: Der Bedarf ist dringender denn je und der Ansatz kann angesichts der Komplexität an Themen nur evidenz- basiert wie auch interdisziplinär und praxisbezogen sein. Die Zeitschrift wendet sich an alle, die sich in Fort- und Weiterbildung befinden bzw. die KJP-bezogenen Inhalte hochwertig und aktuell vermitteln möchten. Dabei versteht sich die KJP von jeher als ein in hohem Maße interdisziplinäres Fach, das maßgebliche Vernetzungen mit anderen Disziplinen pflegt und diese beständig weiterentwickelt. Neben den Kernthemen von Diagnostik und Behandlung von psy- chischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter kommen insbesondere Fragen der Entwicklung, aber auch neurobiologische, psychosoziale wie auch gesellschaft- liche und umweltbezogene Einflüsse zum Tragen. Wer die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien und Le- bensbezüge verstehen möchte um diagnostisch und therapeutisch tätig zu werden, kommt gar nicht umhin, einen engen Austausch mit der Psychologie, der Pädago- gik, der Pädiatrie mit ihren Subdisziplinen, der Allgemeinpsychiatrie, den Neurowis- senschaften aber auch mit der Genetik und den Disziplinen bildgebender Verfahren zu pflegen. Konsequenterweise haben wir uns daher als Team von Herausgeberin- nen und Herausgebern von Anfang an interdisziplinär aufgestellt und innerhalb der KJP auch darauf geachtet, dass sowohl Belange der ambulanten Versorgung durch Niedergelassene als auch klinische und wissenschaftliche Fachexpertise vertreten sind. Schon im Mutterleib, wie später dann nach der Geburt und im weiteren Entwick- lungsverlauf, finden Kinder bestimmte Lebensbedingungen vor, mit denen sie auf Basis ihrer verfügbaren biologischen und psychosozialen Ressourcen umgehen müssen. Wie gut ihnen das gelingt und ob sie bei Bedarf auch therapeutische Hilfen in Anspruch nehmen können, ist für die psychische Gesundheit maßgeblich. Ein we- sentlicher Faktor dabei ist auch, dass sie, ihrem Entwicklungs- und Reifungsstand angemessen, ihr Lebensumfeld mitgestalten können. Als neues Herausgeberteam sind wir mit dem up2date-Konzept im Thieme Verlag nicht nur auf ein bereits gut etabliertes Format gestoßen, dessen erfolgreiche Kon- zepte wir einerseits nutzen konnten aber andererseits auch erweitern durften. So bot sich uns die Möglichkeit mit einem mehrdimensionalen Ansatz ein eigenes kin- 4 KJP up2date 2024; 1: 4–5 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

In eigener Sache Ihre neue KJP up2date Liebe Leserin, lieber Leser, Sie halten heute die erste Ausgabe der neuen KJP up2date in Händen. Eine neue Fort- bildungszeitschrift – „braucht es das denn?“, werden Sie sich vielleicht fragen. – Ja! Denn die KJP up2date ist nicht einfach eine weitere Zeitschrift, sondern die erste im deutschsprachigen Raum, die sich vollkommen der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Psycho- loginnen und Psychologen sowie der zahlreichen Beteiligten aus weiteren Berufs- gruppen der Psychiatrie, Psychotherapie, Psychologie und Psychosomatik im Kin- des- und Jugendalter widmet. Gemeinsam mit einem engagierten Team motivierter Herausgeberinnen und Herausgeber, alles Vertreter*innen des Fachbereichs, haben wir die KJP up2date speziell auf Ihre Bedürfnisse als Handelnde in der psychiatrischen, psychotherapeutischen, psychologischen und psychosomatischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen zugeschnitten. Darüber hinaus soll Sie die KJP up2date in der Ausbildung zur Fachärztin/zum Facharzt Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie bzw. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin/-therapeut ideal begleiten und optimal auf die Facharzt- bzw. Fachkundeprüfung vorbereiten. Wir haben bei der Planung der KJP up2date viel Rückenwind in Gesprächen mit Ihnen und Ihren Kolleg*innen erhalten und Sie haben uns überzeugt, dass Sie sich in der Versorgung der psychischen Gesundheit von Kinder und Jugendlichen genau das wünschen, wofür unser seit vielen Jahren erfolgreiches up2date-Konzept steht: Fort- bildung pur, ohne Ballast, praxisrelevant und mit System. Daher haben wir uns ent- schieden, die vielen Rückmeldungen umzusetzen und unsere bisher 17-köpfige up2date-Familie um ein neues Familienmitglied zu erweitern: die KJP up2date. Das up2date-Konzept für Ihren ärztlichen Alltag Die KJP up2date erscheint 4-mal im Jahr. Nicht zu häufig (denn wir wissen, dass Ihr Alltag bereits mit der Versorgung der Patientinnen und Patienten gut ausgefüllt ist) und doch so, dass Sie sich regelmäßig fortbilden können. Jede Ausgabe enthält 4 CME-Artikel, die Sie systematisch und übersichtlich auf den neuesten Stand in einem relevanten Gebiet bringen. Hierfür haben wir ein Curriculum entwickelt, wel- ches nach und nach den kompletten Inhalt der Weiterbildung bzw. Ausbildung zur Fachärztin/Facharzt bzw. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin/-therapeut laut Weiterbildungsordnungen abbildet. Um der Arbeit in Ihrem Fach gerecht zu werden, verfolgt das Curriculum einen multiaxialen Ansatz. Alle relevanten Sympto- me und Syndrome werden über verschiedene Dimensionen abgebildet, die Sie in den Rubriken finden: 1. Symptome und Syndrome – aus ICD-10 und ICD-11 2. Toolbox – die Techniken und Methoden zur Diagnostik und Therapie 3. Lifespan – die Ausprägung der Symptome und Syndrome über Entwicklung des Kindes und Jugendlichen zum Erwachsenen 4. Schule, Gesellschaft und Familie – das Zusammenwirken der Symptome und Syndrome mit dem Umfeld des Patienten 5. Perspektivwechsel – der interdisziplinäre Blick auf die verschiedenen Sympto- me und Syndrome und 6. Berufspolitik, Recht und Ethik – alle Rahmenbedingungen rund um KJP Wir publizieren immer dann eine Aktualisierung zu einem Thema, wenn sich zu einem Beitrag interessante Neuerungen ergeben haben. So sind Sie stets auf dem neuesten Stand und können Ihr persönliches Handbuch im Sammelordner (s. u.) stets aktuell halten. 6 KJP up2date 2024; 1: 6–7 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

Studienreferat Psychopathologie: Welche Rolle spielt die Emotionsregulation? Lincoln TM et al. The role of emotion regulation in the characterization, development and treat- ment of psychopathology. Nat Rev Psychol 2022; doi:10.1038/s44159-022-00040-4 Da dysfunktionale emotionale Pro- zesse bei vielen psychischen Störun- gen in Erscheinung treten, stellt sich die Frage nach ihrer Bedeutung für die zu Grunde liegende Psychopatho- logie. Lincoln et al. wollten in diesem Zuge in einer Übersichtsarbeit er- gründen, welche Rolle die Emotions- regulation in der Entstehung, Auf- rechterhaltung und Behandlung psy- chischer Störungen spielt. Fehlgeleitete Prozesse der Emotionsre- gulation spielen bei vielen psychischen Störungen eine wichtige Rolle und machen sich nicht nur bei einschlägigen Diagnosen wie der Persönlichkeitsstö- rung vom Borderline-Typ oder Störungen der Impulskontrolle bemerkbar. Lincoln und ihre Arbeitsgruppe aus der Abtei- lung für Klinische Psychologie und Psy- chotherapie am Universitätsklinikum Hamburg und von der Freien Universität Berlin wollten vor diesem Hintergrund mehr über die Bedeutung der Emotions- regulation bei der Charakterisierung, der Entwicklung und bei der Behandlung ver- schiedener Psychopathologien erfahren und stellen nun ihre Übersichtsarbeit zum Thema vor. transdiagnostisches Die Autor*innen wollten u.a. die Frage beantworten, ob spezifische Schwierig- keiten in der Regulation von Gefühlen ein treibender Faktor psychopathologi- scher Prozesse sind und somit ein loh- nendes Behand- lungsziel darstellen. Auf der Suche nach Antworten geben sie in diesem Review einen Überblick über theoretische Mo- delle der Emotionsregulation sowie über aktuelle Forschung zu Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation im Zusam- menhang mit psy- chischen Störungen. Ferner stellen sie Längsschnittstudien zur Frage der Kausa- verschiedenen lität und Untersuchungen zu gezielten klinischen Interventionen vor. Neuer Forschungszweig Das Prozessmodell der Emotionsregulati- on nach Gross erwies sich als das theore- tische Konstrukt mit dem stärksten Ein- fluss. Dieses Modell geht davon aus, dass man in jedem Schritt der Entste- hung von Emotionen mit Regulationsme- chanismen eingreifen kann und be- schreibt eine Sequenz von Kreisläufen. Strategien zur Regulation von Emotionen werden ferner verschiedenen Kategorien zugeteilt, da- runter beispielsweise Adaptivität, Auto- matisierung, Modifikation und Sozialisie- rung. Entwicklung die als Nach Auswertung verschiedener Studien zum Thema liege – nach Ansicht des For- schungsteams – die finale Synthese na- he, dass die Psychopathologie bei einer Reihe von Störungen mit einem unflexi- blen Muster der Emotionsregulation ver- bunden sei, bei dem überwiegend Ver- meidungs-, Grübel- und Unterdrü- ckungsstrategien zum Einsatz kämen. Entsprechende Muster der Emotionsre- gulation bezeichneten die Autor*innen dabei sowohl als Prädiktor als auch als eine Folge der Psychopathologie. Dass allerdings Menschen mit psychischen Störungen ein grundlegendes Defizit hätten, potentiell hilfreiche Strategien zur einzusetzen, konnte in den meisten betrachteten Stu- dien nicht nachgewiesen werden. Emotionsregulation zur Obgleich es inzwischen eine separate Forschungsrichtung Entwicklung wirksamer transdiagnostischer Interven- tionen zur Emotionsregulation gibt, muss die Effektivität zunächst noch wei- ter untersucht und in Studien bewiesen werden. Schließlich empfehlen Lincoln und ihr Team eine Intensivierung der Verknüpfung zwischen klinischer Grund- lagenforschung und Interventionsfor- schung zur Förderung der Entwicklung wirksamerer Interventionen zur Unter- stützung der Emotionsregulation. FAZIT Diese Übersichtsarbeit legt nahe, dass die Psychopathologie bei einer Reihe von Störungen mit einem unflexiblen Muster der Emotionsregulation ver- bunden sein könnte, bei dem über- wiegend Vermeidungs-, Grübel- und Unterdrückungsstrategien zum Ein- satz kommen. Obgleich aktuell be- reits gezielte Interventionen zur Emotionsregulation entwickelt wer- den, sei – nach Ansicht der Autor*in- nen – eine noch intensivere Verbin- dung zwischen Grundlagen- und In- terventionsforschung auf lange Sicht erforderlich. Dipl.-Psych. Annika Simon, Braunschweig Psychische Störungen im Alter von 9 und 10: Sozialer Status als Risikofaktor Olfson M et al. Prevalence and Correlates of Mental Disorders in Children Aged 9 and 10 Years: Results From the ABCD Study. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2023; doi:10.1016/j. jaac.2023.04.005 Wie hoch liegen die Prävalenzen ak- tueller psychischer Störungen bei Kindern im Alter von 9 bis 10 Jahren in den USA? Und mit welchen sozio- demografischen und körperlichen Merkmalen lassen sich eventuelle Zu- sammenhänge herstellen? Olfson und seine Arbeitsgruppe wollten die- se beiden Fragen beantworten und führten eine Analyse der Daten aus der ersten Erhebungsphase der „Ado- lescent Brain Cognitive Develop- ment“ (ABCD) Studie durch. Aufgrund ihrer hohen Prävalenz und zahlreicher negativer Folgen für das Sozi- alverhalten gehen psychische Erkrankun- gen im Kindesalter mit einer großen Be- lastung der sozialen und Gesundheits- systeme einher. Olfson et al. wollten in diesem Kontext mehr über die aktuellen 8 KJP up2date 2024; 1: 8–9 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

SOPs / Arbeitsabläufe SOP Dissoziative Anfälle bei stationär behandelten Kindern und Jugendlichen Thomas Lempp, Marin Tenorth, Frank Enning, Sarah Hohmann Dissoziative Anfälle treten meist bei Patient*innen mit dissoziativen Störungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und emotional-instabilen Persönlich- keitsstörungen auf. Sie sind keine Notfälle, von denen eine akute Gefahr ausgeht. Gesundheitsschäden resultieren eher aus nicht notwendiger Diagnostik und Therapie. Die Herausforderungen sind eine differenzialdiagnostische Abgrenzung von epileptischen Anfällen und Synkopen sowie eine gelassene, einheitliche und eng am Wohl der Patient*innen orientierte Therapie. Einleitung Definition: Was sind dissoziative Anfälle? Unter dem Begriff Dissoziation wird der Verlust oder die Veränderung körperlicher Funktionen verstanden, was eine körperliche (meist neurologische) Erkrankung vermuten lässt, tatsächlich aber psychogen bedingt ist. Diese Symptome stehen nicht unter willkürlicher Kon- trolle, diese kann aber im Therapieverlauf erlernt wer- den. Während eines dissoziativen Anfalls (DSM-5: PNES, psy- chogenic non-epileptic Seizures) kommt es zu einem akut auftretenden, vorübergehenden Verlust der Kon- trolle über die eigenen Körperbewegungen (teilweise mit Bewusstseinsverlust). Auslöser sind überfordernde Gedanken, Gefühle oder Intrusionen, die oft durch Um- weltreize ausgelöst werden. Nach dem Anfall tritt oft eine verzögerte Reorientierung auf, das Ereignis wird meist lückenhaft erinnert. Obwohl dissoziative Anfälle häufig mit für Außenste- hende potenziell dramatisch wirkender Hyper- oder Hypoventilation verbunden sind, besteht während des Anfalls medizinisch keine bedrohliche Situation. Auch kommt es nur selten zu Verletzungen, daher müssen diese Anfälle nicht unterbrochen werden. Gleichzeitig befinden sich betroffene Patient*innen während des Anfalls in einer hoch vulnerablen Situation, in der sie erhöhten Schutz benötigen, gerade auch vor nicht not- wendiger medizinischer Diagnostik und Notfallversor- gung. Die Anfälle können individuell sehr unterschiedlich aus- sehen und teils Ähnlichkeit mit epileptischen Anfällen oder auch Synkopen aufweisen, was die Gefahr von Fehldiagnosen und -behandlungen erhöht. Erschwe- rend kann hinzukommen, dass Patient*innen dissozia- tive Anfälle zeigen, gleichzeitig aber eine neurologi- sche Grunderkrankung z. B. im Sinne einer manifesten Epilepsie besteht. Ist dies bekannt, sollte versucht wer- den anhand ausführlicher Verhaltensbeobachtung und Gesprächen mit Patient*in und Angehörigen, sowie in Rücksprache mit den behandelnden Neuropädiater*in- nen Unterschiede zwischen dem dissoziativen und dem epileptischen Anfallsgeschehen und potenzielle Auslö- ser zu identifizieren, um einerseits die dissoziative Symptomatik nicht zu verstärken aber andererseits re- levante epileptische Anfälle nicht zu übersehen. Eine kurze Krankheitsdauer bis zur korrekten Diagnose- stellung und Therapie ist sowohl bei einer Epilepsie als auch bei dissoziativen Anfällen prognostisch günstig. Die Differenzialdiagnostik ist deshalb entscheidend: Die primäre Behandlung von dissoziativen Anfällen be- steht in Psychotherapie, die primäre Behandlung einer Epilepsie ist die medikamentöse Therapie mit Antikon- vulsiva. Differenzialdiagnostische Abgrenzung zu epileptischen Anfällen Epileptische Anfälle sind plötzlich einsetzende, zeitlich begrenzte, totale oder partielle Störungen der Hirn- funktion mit oder ohne Bewusstseinseintrübung, ab- normer motorischer Aktivität, Verhaltensauffälligkei- ten und/oder Störungen des sensorischen oder auto- nomen Nervensystems. Sie sind Ausdruck einer abnor- men elektrischen Entladung zerebraler Neuronenver- bände. Es handelt sich um eine sehr häufige chronische Erkrankung, von der ca. 1% der Bevölkerung betroffen sind. Über 75% der epileptischen Erkrankungen begin- nen vor dem 18. Lebensjahr. 10 Lempp Thomas et al. SOP Dissoziative Anfälle … KJP up2date 2024; 1: 10–16 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

SOPs / Arbeitsabläufe INFOBOX 2 Einsatz von Medikamenten ▪ Antikonvulsiva sind bei dissoziativen Anfällen wirkungslos, aber nicht nebenwirkungslos. ▪ Antikonvulsiva sollten deshalb unbedingt und sofort abge- setzt werden, wenn sich Dissoziation als Ursache für die An- fälle bestätigt. ▪ Benzodiazepine können dissoziationsfördernd, suchterzeu- gend und atemdepressiv wirken. ▪ Die Gabe von Placebo fördert ein inadäquates Krankheits- verständnis und gilt daher als obsolet. ▪ Bei psychischen Komorbiditäten kann die Langzeittherapie mit Psychopharmaka (außerhalb der Akutsituation) sinnvoll sein und die Häufigkeit von dissoziativen Anfällen reduzieren. diesem Kontext entsprechend Hilfestellung bezüglich des Anfallsgeschehens. Eine andere, eher altersgemischtere Patientengruppe (Gruppe 2) besteht aus Kindern und Jugendlichen, in deren Vorgeschichte es gehäuft somatische Diagnosen gibt. Des Öfteren sind epileptische Erkrankungen in der Familie oder bei den Patient*innen selbst bekannt. Pri- mär stellen sich diese Patient*innen oft in Kinderklini- ken oder in psychosomatischen Abteilungen vor. Die Patienten der Gruppe 2 erhalten zumeist die Diagnose „dissoziative Krampfanfälle“ (6B60.4), seltener treten diese Symptome im Rahmen von somatoformen Stö- rungen auf. Während sich das psychotherapeutische Vorgehen zwi- schen beiden Gruppen unterscheidet, ist das Vorgehen im Akutfall (bei Auftreten der Anfälle) weitgehend identisch. Weiterhin ist das Handeln im Akutfall abhängig von der Behandlungsphase: Anfänglich geht es primär um Di- agnostik, Situationsberuhigung und Schadensminimie- rung, später darum, die Betroffenen zunehmend in die Eigenverantwortung zu führen. Die Autor*innen sind sich bewusst, dass durch die un- terschiedlichen Untergruppen kein vollständig einheit- liches Vorgehen möglich ist. Wir sind dennoch der An- sicht, dass einige grundsätzlichen Handlungsempfeh- lungen für alle psychogenen Anfälle im Kindes- und Ju- gendalter Gültigkeit haben, die hier vorgestellt werden sollen. Vorgehen bei Patient*innen mit bekannten dissoziativen Anfällen 1. Hektik und Rettungskette vermeiden Merke Wichtigstes Ziel ist die Vermeidung einer Überreakti- on von Personal, Mitpatient*innen, Augenzeug*in- nen und Angehörigen und eine Bewahrung der Wür- de der Betroffenen. Wird man als ärztlich-psychotherapeutisch Mitarbei- tende über einen dissoziativen Anfall informiert oder wird dieser bei Betroffenen beobachtet, hilft zunächst ein tiefes Durchatmen und die innerliche Einstellung, dass hier keine medizinische Notfall-Situation vorliegt (initialer „Schritt zurück“ in eine selbstreflexive Hal- tung). Daher ist ein Rennen zum Ort des Geschehens nicht sinnvoll. Ein möglichst ruhiges und sicheres Auf- treten hilft dabei, dem steigenden Handlungsdruck zu begegnen. Der Rettungsdienst sollte nicht verständigt, die Gabe von Medikamenten vermieden werden, da sie als nicht indiziert und potenziell schädlich einzuschät- zen sind (siehe Infobox 2). 2. Auf die Uhr schauen Das Zeitempfinden von medizinischem Personal, das nicht häufig mit dissoziativen Anfällen konfrontiert ist, trügt oft und führt nicht selten zu Fehlentscheidungen im Verlauf. Um die Zeitdauer während des Anfalls ob- jektiv zu bewerten und in der Nachbesprechung mit dem Behandlungsteam und den Betroffenen adäquat einschätzen zu können, ist es sinnvoll die Uhrzeit von Anfallsbeginn bis -ende zu erfassen. 3. Verletzungen verhindern Insgesamt sind Verletzungen selten. Dennoch sollten Patient*innen während dissoziativen Anfällen nach Möglichkeit flach auf dem Boden liegen. Kleine Möbel (Stühle etc.) und umherliegende Gegenstände sollten, wenn möglich, außer Reichweite gebracht werden. Es ist zudem sinnvoll Patient*innen vorsichtig und mit verbaler Vorankündigung die Brille vom Gesicht zu nehmen, um Beschädigungen zu vermeiden und Ver- letzungsgefahr für den Gesichtsbereich zu minimieren. 4. Von Mitmenschen abschirmen In den allermeisten Fällen ist die Anwesenheit von einer medizinisch ausgebildeten Person völlig ausreichend (im Therapieverlauf ist oft auch das entbehrlich). Eine weitere Person sollte sich in der Nähe aufhalten, um ggf. Unterstützung leisten zu können (Decke bringen etc). Zuschauende sollten konsequent weggeschickt wer- den, um den Persönlichkeitsschutz des/der Betroffe- nen zu wahren und keine ungewollte positive Verstär- 12 Lempp Thomas et al. SOP Dissoziative Anfälle … KJP up2date 2024; 1: 10–16 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

SOPs / Arbeitsabläufe 6. Nach Möglichkeit nicht anfassen Es ist kritisch zu betrachten, ob eine Person während eines Anfalls berührt werden sollte, sei es im Rahmen der Anfallsbegleitung oder zur Unterbrechung. Meist bekommen Patient*innen mehr von den Anfällen mit, als es den Anschein hat, können sich später erinnern und nehmen Berührungen aversiv wahr. In Bezug auf potenzielle traumatische Vorerfahrungen der Betroffe- nen, wird oft davon abgeraten körperlichen Kontakt aufzubauen. Merke Personen mit dissoziativen Krampfanfällen sollten in der Regel nicht angefasst, nicht festgehalten oder gar fixiert werden. Mündlich angekündigte Berührungen zur Herstellung von Sicherheit, z. B. Verbringung vom Stuhl auf den Fußboden zur Sturzvermeidung, können aber notwen- dig sein. Es kann sinnvoll sein, Personen mit Dissoziationserfah- rungen frühzeitig vor einem Anfall danach zu befragen, ob körperlicher Kontakt im Rahmen eines solchen An- falles von ihnen als hilfreich oder eher aversiv/die Dis- soziation verstärkend erlebt wird. Nach individuellen Absprachen zur Anfallsbegleitung sind vorsichtige Be- rührung, auch durch Außenstehende, möglich. Generell gilt also: Nicht anfassen ohne vorherige An- sprache. Falls Anfassen notwendig ist, wenn möglich an der Schulterregion. Merke Die Schulter ist allgemein die günstigste Körperregi- on um Patienten in dissoziativen Anfällen zu berüh- ren. 7. Anfall nicht unterbrechen Im Allgemeinen gilt, dass dissoziative Anfälle nicht mit schweren organischen Schäden assoziiert sind, wes- halb diese nicht unterbrochen werden müssen. Besteht keine Verletzungsgefahr, kann eine Anfallsunterbre- chung seitens der Fachperson sogar kontraindiziert sein, wenn im Einzelfall dadurch eine Verschlimmerung des Anfalls hervorgerufen werden könnte. In Bezug auf die mittelfristigen Behandlungsziele ist es sinnvoll, einen Anfall nicht von außen zu verkürzen, sondern dem Betroffenen die Möglichkeit zu geben, den Zu- stand selbstständig, z. B. durch den Einsatz von vorher eingeübten Skills, zu beenden, was die Selbstwirk- samkeitserwartung und den Therapiefortschritt steigert. Während des psychotherapeutischen Prozesses erfolgt bestenfalls eine graduelle Verlagerung der Verantwort- lichkeit für das Anfallsmanagement von Therapeut*in hin zum betroffenen Kind oder Jugendlichen. Wenn vorab vereinbart, können die Betroffenen daher auch für einen fest definierten Zeitraum (z. B. 5 Minuten) im Zimmer allein gelassen werden. 8. Schnelle Wiedereingliederung in den (Stations-)Alltag ermöglichen. Unmittelbar nach dem Anfall sollte Patient*innen eine schnelle Wiedereingliederung in den (Stations-)Alltag ermöglicht werden. Übertriebenes Schonverhalten sollte unbedingt vermieden werden, da es ein inadä- quates Krankheitskonzept vermittelt und sekundären Krankheitsgewinn verursachen kann. Das Therapiepro- gramm wird bestenfalls so kurzzeitig wie möglich pau- siert. Auch eine Wiedereingliederung in die Patient*in- nengruppe gelingt am besten, wenn die Betroffenen nach einem dissoziativen Anfall nicht von Aktivitäten der Gruppe getrennt werden. 9. In Psychotherapie nachbesprechen Am besten ist es, den Vorfall in der nächsten regulären Psychotherapiestunde nachzubesprechen (keine vor- gezogenen Termine aufgrund des Ereignisses!). Der Anfall kann in der Regel als Hinweis auf aktuell er- höhtes Belastungserleben gewertet werden. Hier ist es hilfreich eine Situationsanalyse (vergleichbar beim Auf- treten von selbstverletzenden Verhalten) durchzufüh- ren. Zu bearbeitende Fragestellungen in diesem Kontext könnten sein: ▪ Warum ist der Anfall gerade jetzt aufgetreten? ▪ Welche Gedanken, Gefühle, Handlungen sind in den Stunden davor bei dir aufgetreten? ▪ Wann hast du bemerkt, dass ein Anfall auftreten wird (Vorzeichen)? ▪ In welchem Moment hättest du noch handeln kön- nen? ▪ Was wäre eine Möglichkeit für dich gewesen, den Anfall abzumildern oder zu verhindern (z. B. durch den Einsatz passender Skills)? Bei häufigem Auftreten können dazu auch Symptomta- gebücher hilfreich eingesetzt werden. Falls ein dissoziativer Anfall in der Psychotherapie selbst auftritt, kann er bestenfalls unmittelbar therapeutisch zur gemeinsamen Exploration genutzt werden. 14 Lempp Thomas et al. SOP Dissoziative Anfälle … KJP up2date 2024; 1: 10–16 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

SOPs / Arbeitsabläufe ▪ *Senf-Beckenbach P, Devine J, Hoheisel M, Hrsg. Behandlung psychogener nicht epileptischer Anfälle. Göttingen: Hogrefe; 2021 ▪ Priebe K, Schmahl, C, Stiglmayer C. Dissoziation von Priebe. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag; 2013 ▪ *Noeker M, Hrsg. Leitfaden Kinder- und Ju- gendpsychotherapie – Band 32. Konversions- störungen mit funktionellen neurologischen Symptomen. Göttingen: Hogrefe; 2023 ▪ Lafrance WC, Wincze JP, Hrsg. Treating Nonepi- leptic Seizures. Oxford, United Kingdom: Oxford University Press; 2015. ▪ *Fritzsche K, Baumann K, Götz-Trabert K et al. Dissoziative Anfälle: Eine Herausforderung für Neurologen und Psychotherapeuten. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(15): 263–8; DOI: 10.3238/arztebl.2013.0263. Dr. med. Frank Enning Jahrgang 1978. 1999–2006 Studium der Hu- manmedizin an den Universitäten Kiel und Marburg. 2012 FA für Psychiatrie und Psycho- therapie, 2020 FA für Psychosomatische Me- dizin und Psychotherapie. Seit 2017 Leitender Oberarzt der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am ZI Mannheim. Supervisor für Verhaltenstherapie und DBT. Schwerpunkte: Border- linestörung und Posttraumatsche Belastungsstörung. Prof. Dr. med. Sarah Hohmann Ärztliche Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psy- chosomatik, Universitätsklinikum Hamburg- Eppendorf, Hamburg. Gastwissenschaftlerin und Co-Leitung der Arbeitsgruppe ADHS im Kindes- und Jugendalter am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim (Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg). * besonders hilfreich für den klinischen Alltag. Korrespondenzadresse Danksagung Wir bedanken uns bei unseren Testleserinnen Dr. med. Angelika Gensthaler und Anna-Lena Philipp für wert- volle Hinweise. Dr. med. Thomas Lempp Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik Clementine Kinderhospital Theobald-Christ-Straße 16 60316 Frankfurt am Main Deutschland t.lempp@ckhf.de Interessenkonflikt Literatur Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht. Autorinnen/Autoren [1] De Paola L, Terra VC, Silvado CE et al. Improving first res- ponders' psychogenic nonepileptic seizures diagnosis accu- racy: Development and validation of a 6-item bedside diag- nostic tool. Epilepsy Behav 2016; 54: 40–6 doi: 10.1016/j. yebeh.2015.10.025. Dr. med. Thomas Lempp Bibliografie KJP up2date 2024; 1: 10–16 DOI 10.1055/a-2269-0982 ISSN 2942-4666 © 2024. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Medizinstudium in Heidelberg und Zürich. KJP-Facharztausbildung in Marburg und Frankfurt. Zusatzausbildungen in Medizin- ethik, Kinderschutz und forensischer Begut- achtung. Seit 2019 Chefarzt am Clementine Kinderhospital Frankfurt am Main. Lehrbuch- autor eines KJP-Kurzlehrbuchs für Medizinstudierende. Kli- nische Schwerpunkte: Geschlechtsdysphorie, Ess-Störun- gen, psychische Störungen bei somatisch kranken Kindern, Lehre und Strafrecht. Marin Tenorth Studium der Humanmedizin von 1996–2003 an der Charité Berlin, in Marburg und das praktische Jahr in Bremen. Assistenzärztin in Leer und Hanau. Seit 2009 am Clementine Kinderhospital. Fachärztin für Kinder- und Ju- gendmedizin seit 2011. Neuropädiaterin seit 2018. Epileptologin seit 2019. Seit 2018 Neuropädiatrische Oberärztin, Leiterin der Neurologischen Frührehabilitation. 16 Lempp Thomas et al. SOP Dissoziative Anfälle … KJP up2date 2024; 1: 10–16 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

Schritt für Schritt Meist tritt im Jugendalter impulsive Suizidalität ohne längere Planungsphase auf, oft nach sozialen Konflik- ten oder Kränkungserleben. Fest zum Suizid entschie- dene Jugendliche sind eine Seltenheit, die meisten sind bis zuletzt ambivalent und damit therapeutisch er- reichbar [3]. Bei akuter Suizidalität bestehen individuelle Hinweise, dass eine (weitere) Suizidhandlung unmittelbar bevor- steht. Oft liegen drängende Suizidgedanken und kon- krete Handlungsabsichten vor, betroffene Jugendliche können einer Fachperson nicht eindeutig zusichern, sich nicht zu suizidieren, sind also „nicht distanzierungs- fähig“. Merke Safety first! Von akuter Suizidalität muss auch dann ausgegangen werden, wenn Hinweise auf eine Sui- zidgefahr bestehen, die Abklärung aber nicht ausrei- chend möglich ist, z. B. durch eine fortbestehende Intoxikation oder bei Patient*innen, die sich nicht äußern wollen oder können. Rechtliche Konsequenzen eines falsch eingeschätzten Suizidrisikos In Deutschland wurde nach unserem Kenntnisstand bisher kein Strafantrag bei professionellen Fehlein- schätzungen und nachfolgenden Suizidhandlungen bei minderjährigen Patient*innen zu einem Hauptver- fahren zugelassen. Eine realistische Gefahr für die Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen besteht also nicht darin, strafrechtlich verurteilt zu werden, son- dern in der psychischen Belastung, einen Suizid nicht verhindert zu haben. Behandlungsempfehlungen Die Rechtslage ermutigt daher zu einem angstfreien Umgang mit Suizidalität zum Wohle der Patient*innen: explizit die Frage nach dem Todeswunsch zu stellen, der Patient*in und den Eltern die Risiken offen darzu- stellen, auszusprechen und dies gründlich zu dokumentieren. Die Sterberaten durch Suizide sind im Kindes- und Jugendbereich im Vergleich zur Erwachsenenpsychiatrie viel seltener, umso schwerer sind diese singulären Ereignisse jedoch für professionelle Akteure zu verarbeiten. Für vollzoge- ne Suizide sollten die Kliniken mit Postventionskonzep- ten vorbereitet sein, die u. a. psychohygienische Maß- nahmen für die Mitarbeitenden einschließen. Praktische Durchführung Schritt 1: Akute Gefährdung einschätzen Zu Beginn der Suizidabklärung ist eine kurze, aber voll- ständige Einschätzung der akuten Gefährdungslage sinnvoll (▶ Abb. 1). Selten liegt diese vor, die Folgen einer für initialen Fehleinschätzung können aber ▶ Abb. 1 Akute Gefährdung einschätzen. (©Bildgigant/stock.adobe.com) Patient*in und Fachperson hoch sein. Besonders wich- tig ist dies, wenn bereits Rettungsdienst und/oder Poli- zei involviert sind (nicht vergessen: Übergabe auch über Auffindesituation und Verhalten während des Transports einholen). Leitfragen zur Gefährdungseinschätzung (▶ Abb. 2): ▪ Ist die Patient*in aktuell möglicherweise verletzt oder intoxikiert? Wenn ja: medizinische Erstversorgung und weitere Diagnostik, Kontaktaufnahme mit Giftnotrufzentra- le, Kontakt zu pädiatrischen Kolleg*innen aufneh- men und eine interdisziplinäre Versorgung organi- sieren. ▪ Ist die Patient*in akut psychotisch und gibt es Hin- weise darauf, dass die Patient*in abrupt wegläuft? Wenn ja, wird die weitere Abklärung im geschützten Bereich der Klinik durchgeführt. ▪ Könnte neben der Suizidalität auch eine Fremdge- fährdung vorliegen? Wenn ja: Personelle Verstärkung hinzuziehen, im Untersuchungsraum nahe an der Türe sitzen, falls möglich Untersuchung auf geschützter Akutstation vornehmen. Schritt 2: Für ungestörtes Gespräch sorgen Während eine Suizideinschätzung für die einen zum Berufsalltag gehört, befinden sich die Patient*in und seine Eltern in einer Ausnahmesituation. Die Familie sollte daher zunächst über den Untersuchungsablauf möglichst genau informiert werden. Fast immer ist dann zunächst ein Gespräch unter 4 Augen mit dem Jugendlichen sinnvoll (▶ Abb. 3). In Anwesenheit von Angehörigen berichten Patient*innen weniger offen über Suizidalität. 18 Radeloff Daniel et al. Abklärung von Suizidalität … KJP up2date 2024; 1: 17–24 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

Schritt für Schritt ▶ Abb. 4 Suizidalität konkret ansprechen. ▶ Abb. 5 Situationsanalyse. berichten. Ein gefährlicher Mythos ist, dass konkretes Nachfragen Suizidalität fördern könne. Im Gegenteil: Für viele Jugendliche ist dies die erstmalige Möglich- keit, mit einer erwachsenen Person einen Austausch über die oft quälenden Suizidgedanken zu haben. Dies verschafft meist Erleichterung. Merke Nicht ausweichen! Die Suizidalität so detailgenau wie möglich explorieren und der Patient*in dabei echtes Interesse und Wertschätzung entgegenbringen. Weiterhin ist es wesentlich, genau zu erfragen, wo sich die Patient*in gerade auf dem suizidalen Spektrum be- findet und welche zeitliche Dynamik ggf. zu erwarten ist (Schlüsselfrage: „Kann der Jugendliche die Grenze zwischen Suizidgedanken und Suizidhandlungen sicher halten?“). Schritt 4: Situationsanalyse und Risikoprofil Um akute Belastungsfaktoren zu erkennen ist es sinn- voll, sich zunächst die Abläufe der letzten 12 Stunden berichten zu lassen. Neben den objektiven Informatio- nen (inhaltliche Abfolge der Ereignisse) ist es wichtig, das subjektive Erleben zu erfragen und zu verstehen. Auf diese Weise wird die suizidale Krise gemeinsam nachvollziehbar. Ist der Bericht inkonsistent und unklar, muss nachgefragt werden. Am Ende des Gesprächs sollte die Fachperson die Ereignisse vor dem Hinter- grund des subjektiven Erlebens der Patient*in nachvoll- ziehen können (▶ Abb. 5). Suizidanamnese Nun ist wichtig, die suizidale Vorgeschichte der Pa- tient*in genauer zu erfassen: Dabei geht es um den biografischen Verlauf und um die Art suizidaler Phäno- mene, sowie um das Vorliegen (möglicher) psychischer Erkrankungen: ▪ Gab es bereits Suizidversuche in der Vorgeschichte? ▪ Was war das Gefährlichste, was die Patient*in jemals getan hat? ▪ Waren die bisherigen Auslöser alltägliche oder exzeptionelle Ereignisse? ▪ Konnte sich die Patient*in in der Vergangenheit Hilfe organisieren, in dem er sich an Erwachsene wandte? Merke Für eine erhöhte Tötungsabsicht sprechen: ▪ Suizidversuch in völliger Isolation durchge- führt ▪ Ort oder Zeitpunkt macht eine Entdeckung unwahrscheinlich ▪ Vorkehrungen gegen eine frühzeitige Entde- ckung wurden ergriffen ▪ Suizidmethode mit geringer Überlebenswahr- scheinlichkeit Eine Vorhersage anhand der Summe aller Risikofakto- ren kann nicht getroffen werden, dafür sind die Zusam- menhangsmaße bei Jugendlichen zu schwach. Das indi- viduelle Risikoprofil sollte aber dennoch in die Gesamt- bewertung eingehen (s. Infobox). Ein Suizidversuch in der Vorgeschichte ist der relevanteste singuläre Faktor. Ein wesentlicher suizidprotektiver Faktor liegt in der Fä- higkeit, mit Erwachsenen über Krisen und Suizidalität zu kommunizieren. Die Patient*in ist dann in der Lage und bereit dazu, sich eigeninitiativ an erwachsene Ver- trauenspersonen zu wenden. Dieses Kommunikations- verhalten zu festigen ist eine wichtige Aufgabe der Nachsorgetermine (s. Schritt 10). Die Vorstellungssi- tuation gibt oft Aufschluss über das Kommunikations- verhalten (mit Eltern?, mit Rettungsdienst?, alleine?, von der Patient*in geäußerter Vorstellungsgrund?). Psychopathologische Befunderhebung Während der Exploration kann der psychopathologi- sche Befund erhoben werden, der auch für die spätere Dokumentation (s. Schritt 9) wesentlich ist. Hierbei ist auf Hinweise für psychische Erkrankungen zu achten, die die Urteilsfähigkeit beeinträchtigen, mit starken oder sich abrupt ändernden Affekten oder mit einer hohen Impulsivität einhergehen (ADHS, Sozialverhal- tensstörung, emotionale Instabilität, Psychosen, Into- xikation). Diese Patient*innen sind möglicherweise trotz Distanzierung von Suizidideen nicht überdauernd absprachefähig. 20 Radeloff Daniel et al. Abklärung von Suizidalität … KJP up2date 2024; 1: 17–24 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

Schritt für Schritt Merke Never worry alone. Rücksprache mit Kolleg*innen und Vorgesetzten erhöhen die diagnostische Sicher- heit und dienen dem Lernfortschritt sowie der Psy- chohygiene. Wenn akute Suizidalität vorliegt, darf die Patient*in nicht mehr unbeaufsichtigt gelassen werden und es er- folgt immer eine Einweisung in eine KJP-Klinik mit Überwachungsmöglichkeiten. Dafür müssen ggf. auch die notwendigen rechtlichen Voraussetzungen organi- siert werden. Schritt 7: Vom Einzelgeheimnis zum Familienthema Viele Jugendliche haben, wenn sie über Suizidalität be- richten, Sorge, ihre Eltern zu belasten oder Angst vor deren Reaktion. Ein vertrauensvoller familiärer Aus- tausch ist aber suizidprotektiv. Daher gilt es, diese Chance zu nutzen und zu einem Informationsaustausch in der Familie zu kommen, der ohne die Fachperson oft nicht oder nur rudimentär stattfinden würde. Vorab sollte mit dem Jugendlichen besprochen werden, ob der Jugendliche oder die Fachperson den Eltern berich- ten soll und was diese nicht erfahren sollen. Für die El- tern sind diese Gespräche ebenso emotional besetzt wie für die Jugendlichen, es ist für sie aber hilfreich, eine klare Einschätzung der Situation zu erhalten. Merke Family Affair. Die möglichst enge Einbeziehung von Familienangehörigen in die Behandlungsplanung gilt als wichtiger günstiger Prognosefaktor. Schritt 8: Notfallplan Für jede Krisenintervention sollte ein konkreter Notfall- plan erstellt werden, z. B. auch in Form eines Kurzarzt- briefes, der direkt mitgegeben wird. In diesem wird dargestellt, welche Rollen und Verantwortung die ein- zelnen Personen des Helfersystems zukünftig einneh- men. Wesentlich ist, dass die Patient*in sich an fest be- nannte erwachsene Personen wendet, wenn die Suizid- gedanken wieder drängend werden. Hat er Schwierig- keiten mit der Kommunikation, so kann er auch ein Symbol (z. B. eine rote Karte) nutzen und die Bezugs- personen auf diese Weise informieren. Die erwachse- nen Bezugspersonen sollen sich bei Unsicherheit jeder- zeit an die 24h-Notfallnummer der zuständigen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie wenden. Es muss verdeutlicht werden, dass der Familie jederzeit eine er- fahrene Fachperson zur Seite steht und dass eine Vor- stellung nicht notwendigerweise zur stationären Auf- nahme führt. Der Notfallplan kann und sollte im Lauf der weiteren Betreuung eingeübt, überprüft und angepasst werden. Durch die meist impulsiv auftretende Suizidalität bei Jugendlichen können häusliche Vorsichtsmaßnahmen lebensrettend sein. So sollten Eltern letale Mittel im Haushalt wie Medikamente, Lösungsmittel, alkoholi- sche Getränke und Waffen entfernen oder sicher weg- schließen. Schritt 9: Dokumentation Die klinische Dokumentation dient in erster Linie der Information der zukünftig am Behandlungsprozess be- teiligten Kolleg*innen (innerhalb der Klinik und in der Niederlassung). Sie stellt auch eine rechtliche Absiche- rung dar, denn es gilt hier der Grundsatz: Was nicht do- kumentiert ist, ist nicht geschehen (▶ Abb. 7). Aus der Dokumentation sollte ersichtlich werden, dass sich mit angemessener Zeit und Sorgfalt der Einschätzung der Suizidalität gewidmet wurde (s. Infobox). Standardsät- ze wie „Die Patient*in ist von akuter Suizidalität glaubhaft distanziert“ sind nicht ausreichend, um ein individuelles Bild der vorgefundenen Situation zu vermitteln. ▶ Abb. 7 Dokumentation. (©Kittiphan/stock.adobe.com) INFO Was enthält eine gute Dokumentation bei Suizidabklärung? ▪ Datum, Uhrzeit und Dauer des Gesprächs ▪ Namen der anwesenden (und konsultierten) Personen ▪ Zusammenfassung des Vorstellungsgrunds und psychopathologischen Befunds ▪ konkrete Hinweise für Suizidalität ▪ Distanzierungsfähigkeit sicher vorhanden? ▪ Kann die Patient*in zusichern, sich im Notfall Hilfe zu organisieren? ▪ gemeinsam vereinbartes Procedere 22 Radeloff Daniel et al. Abklärung von Suizidalität … KJP up2date 2024; 1: 17–24 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

Bibliografie KJP up2date 2024; 1: 17–24 DOI 10.1055/a-2245-7211 ISSN 2942-4666 © 2024. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Schritt für Schritt Literatur [1] Bridge JA, Goldstein TR, Brent DA. Adolescent suicide and suicidal behaviour. J Child Psychol Psych 2006; 47: 372–394 [2] Windfuhr K, While D, Hunt I et al. Suicide in juveniles and adolescents in the United Kingdom. J Child Psychol Psychi- atr 2008; 49: 1155–1165 doi: 10.1111/j.1469- 7610.2008.01938.x [3] Becker M, Correll CU. Suizidalität im Kindes- und Jugendal- ter. Dtsch Aerztebl 2020; 117: 261–267 [4] AWMF. S2k-Leitlinie Suizidalität im Kindes- und Jugendalter. Registernummer 028–031. Zugriff am 15. Mai 2024: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028–031 Weiterführende Literatur [5] Brent DA. Master clinician review: Saving Holden Caulfield: Suicide prevention in children and adolescents. J Am Acad Child Adolesc Psych 2019; 58: 25–35 doi: 10.1016/j. jaac.2018.05.030 [6] Wewetzer C, Quaschner K. Suizidalität. Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie. Bern: Hogrefe; 2019 24 Radeloff Daniel et al. Abklärung von Suizidalität … KJP up2date 2024; 1: 17–24 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen: ADHS – ein praxisorientierter Überblick Dilara Tomal, Marie Elisa Mey, Konstantin Mechler, Sarah Hohmann Heft 1/2024 Depression im Kindes- und Jugendalter – ein Überblick Ellen Greimel, Lisa Feldmann, Gerd Schulte-Körne Heft 1/2024 ALLES ONLINE LESEN IHR ONLINE-SAMMELORDNER JETZT FREISCHALTEN Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: online wie offline, am PC und mobil, alle bereits erschienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! https://eref.thieme.de/kjp-up2date Sie möchten jederzeit und überall auf Ihr up2date-Archiv zu- greifen? Kein Problem! Ihren immer aktuellen Online- Sammelordner finden Sie unter: https://eref.thieme.de/FQ2TD Sie haben Ihre Zeit- schrift noch nicht freigeschaltet? Ein Klick genügt: www.thieme.de/eref-registrierung.

CME-Fortbildung Ätiologie Leibliche Verwandte von ADHS-Patient*innen zeigen oft ähnliche Symptomatik bzw. sind selbst betroffen. Metaanalysen bezüglich Zwillingsstudien konnten zei- gen, dass ein Großteil der ADHS-Symptomatik (70– 80%) eines Individuums auf genetische Ursachen zu- rückgeführt werden kann (Heritabilität) [4]. In den letz- ten Jahren wurden zahlreiche Anstrengungen unter- nommen, um dieser genetischen Basis auf die Spur zu kommen, auch in der Hoffnung, hierdurch z. B. Ansatz- punkte für neue, wenn möglich kausale therapeutische Interventionen ableiten zu können. Wie bei anderen psychiatrischen Erkrankungen auch, hat es sich jedoch herausgestellt, dass es sich bei ADHS um ein Störungs- bild mit einem komplexen Erbgang handelt, bei dem zahlreiche, häufig vorkommende genetische Varianten (jede für sich genommen nicht als Erklärung für ADHS heranzuziehen) im Zusammenspiel mit seltenen Vari- anten mit größeren Effekten, Gen-Umwelt-Interaktio- nen, epigenetischen Mechanismen und ggf. inflamma- torischen Prozessen zu einem erhöhten Risiko für die Entwicklung der Symptomatik führen. Dies kann eben- so zur Erklärung der Heterogenität des Phänotyps (be- züglich bestimmter Schwerpunkte der Kernsymptoma- tik wie vorwiegend unaufmerksam oder vorwiegend impulsiv/hyperaktiv) herangezogen werden, wie auch für den dimensionalen Charakter der Symptomatik, wobei die stärkste Symptomausprägung mit dem höchsten genetischen Risikostatus korreliert. Gleich- zeitig bestehen Überlappungen in der genetischen Ba- sis zwischen ADHS und anderen psychiatrischen Krank- heitsbildern wie Autismus-Spektrum-Störungen oder auch Schizophrenie. Einige Genvarianten können (ab- hängig von spezifischen genetischen oder auch Um- weltfaktoren) ein Risiko oder auch einen protektiven Faktor in Bezug auf mehrere psychiatrische Krankheits- bilder darstellen (Pleiotropie), was auch das hohe Aus- maß an komorbiden Erkrankungen im psychiatrischen Bereich erklären könnte [5]. Zusätzlich zu den genetischen Faktoren wurden zahl- reiche Umweltrisiken mit der Entstehung von ADHS in Zusammenhang gebracht, neben der Exposition mit Umweltgiften wie Blei oder Folgen von Verletzungen, z. B. Schädel-Hirn-Traumata, auch peripartale Risiken wie Frühgeburtlichkeit, mütterliche Adipositas oder Präeklampsie, mütterlicher Nikotin- oder Alkoholkon- sum während der Schwangerschaft sowie psychosozia- le Risiken wie frühkindliche Deprivation oder Traumati- sierung. Hierbei handelt es sich zumeist jedoch um be- richtete Assoziationen oder Korrelationen. Ob das je- weils berichtete Umweltrisiko tatsächlich im Rahmen eines kausalen Zusammenhangs die Entwicklung eines ADHS fördert, ist in den meisten Fällen weitgehend un- klar [6]. Korrelate Bei Individuen mit ADHS zeigen sich über den Entwick- lungsverlauf während Inhibitionsaufgaben sowohl in der strukturellen als auch in der funktionellen Bildge- bung Unterschiede im Vergleich zu neurotypischen Kontrollprobanden (u. a. reduzierte kortikale Oberflä- che, Volumenminderungen in subkortikalen Bereichen bei Kindern, verminderte graue Substanz im Bereich der Basalganglien und der Insula, Minderaktivierung im Bereich des inferioren frontalen Kortex). Im Elektroenzephalogramm (EEG) von Kindern mit ADHS treten oft nicht altersentsprechende, auf eine Reifungsverzögerung hinweisende Wellenmuster mit eingestreuten langsameren Wellen auf. Auch bezüglich einiger ereigniskorrelierter Potenziale (P3, contingent negative Variation [CNV], Error-related Negativity [ERN]) unterscheiden sich ADHS-Betroffene von Gleichaltrigen. Diese Unterschiede werden sich z. B. im Rahmen von Neurofeedback-Verfahren zunutze ge- macht (s. u.), auch gab es Ansätze, die EEG-Verände- rungen im diagnostischen Prozess mit heranzuziehen, was aufgrund der mangelnden Spezifität jedoch bisher nicht empfohlen werden kann [6]. Veränderung der Symptomatik im Entwicklungsverlauf, Neurodiversi- tät Erste Vorläufersymptome einer ADHS können sich be- reits früh im Entwicklungsverlauf im Sinne von z. B. er- höhter Irritabilität, geringem Schlafbedürfnis und ver- mehrtem Schreien bei Säuglingen und Kleinkindern äu- ßern, die Stellung einer Diagnose ist aber aufgrund der großen Varianz von Entwicklungsverläufen in diesem Alter noch nicht valide möglich und nicht empfohlen. Ab dem Vorschulalter, mit ca. 3–4 Jahren, ist die Verga- be der ADHS-Diagnose grundsätzlich möglich, sollte weiterhin aber mit Vorsicht und vor allem bei schwerer und deutlich beeinträchtigender Symptomatik gestellt werden. Die betroffenen Kinder sind im Vergleich mit den Gleichaltrigen zumeist motorisch deutlich unruhi- ger, zeigen kaum Ausdauer beim Spielen und wechseln oft die Tätigkeiten. Oft treten Schwierigkeiten in Grup- pensituationen wie Stuhl-/Singkreis auf oder es kommt zu Wutanfällen und teils aggressiven Verhaltensweisen. Mit Eintritt in die Grundschule und sich ändernden An- forderungen (längeres Stillsitzen, geordnetes Melden, längere Zeiten der Konzentration im meist recht gro- ßen Gruppenkontext) treten oft deutlichere Beein- trächtigungen auch bei Kindern zu Tage, die zuvor im offeneren Kontext des Kindergartens noch recht gut zurechtkommen konnten. In diesem Alter kommt es oft zu ersten Vorstellungen, zumeist auf Empfehlung der Lehrkräfte. Es imponiert die „klassische“ Sympto- 28 Tomal Dilara et al. ADHS – ein … KJP up2date 2024; 1: 25–43 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung ▶ Tab. 1 Übersicht der unterschiedlichen Bezeichnungen und diagnostischen Kriterien der ADHS [9, 10, 11]. Kriterien ICD-10 ICD-11 DSM-5 Bezeichnung ▪ Hyperkinetische Störungen (F90) ▪ Einfache Aktivitäts- und Aufmerk- ▪ Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyper- ▪ Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyper- aktivitätsstörung (6A05) aktivitätsstörung samkeitsstörung (F90.0) ▪ Vorwiegend unaufmerksames Er- ▪ Vorwiegend unaufmerksames ▪ Hyperkinetische Störung des scheinungsbild (6A06.0) Erscheinungsbild (F90.0) Sozialverhaltens (F90.1) ▪ Sonstige hyperkinetische Störungen (F90.8) ▪ Vorwiegend hyperaktiv-impulsives ▪ Vorwiegend hyperaktiv-impulsives Erscheinungsbild (6A06.1) Erscheinungsbild (F90.1) ▪ Vorwiegend gemischtes Erschei- ▪ Vorwiegend gemischtes Erschei- ▪ Hyperkinetische Störung, nicht nungsbild (6A06.2) nungsbild (F90.2) näher bezeichnet (F90.9) ▪ Anderweitig bezeichnete Aufmerk- ▪ Möglichkeit der Schweregradein- samkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts- störung (6A05.Y) ▪ Nicht näher bezeichnete Aufmerk- samkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts- störung (6A05.Z) teilung (leicht, mittel, schwer) Kernsymptome bestehende Symp- tomatik Beginn der Symp- tomatik Symptome ▪ Unaufmerksamkeit ▪ Hyperaktivität ▪ Impulsivität ▪ Unaufmerksamkeit ▪ Hyperaktivität ▪ Impulsivität ▪ Unaufmerksamkeit ▪ Hyperaktivität ▪ Impulsivität mind. 6 Monate mind. 6 Monate mind. 6 Monate vor dem 7. Lebensjahr vor dem 12. Lebensjahr vor dem 12. Lebensjahr Symptome sollten in mehr als 1 Si- tuation vorkommen (z. B. zu Hause und Schule) mehrere Symptome der Unaufmerk- samkeit oder der Hyperaktivität-Im- pulsivität wirken sich auf verschiede- ne Lebensbereiche aus Beeinträchtigung soziale, schulische oder berufliche Funktionsfähigkeit Diagnose Die Störung erfüllt nicht die Kriterien für eine tiefgreifende Entwicklungs- störung (F84), eine manische Episode (F30), eine depressive Episode (F32) oder eine Angststörung. Die Symptome lassen sich nicht bes- ser durch eine andere psychische Störung erklären (z. B. eine Angst- oder angstbedingte Störung oder eine neurokognitive Störung wie Delir). mehrere Symptome der Unaufmerk- samkeit oder der Hyperaktivität- Impulsivität bestehen in 2 oder mehr Lebensbereichen (z. B. zu Hause und Schule) soziale, schulische oder berufliche Funktionsfähigkeit Die Symptome treten nicht aus- schließlich im Verlauf einer Schizo- phrenie oder anderen psychotischen Störung auf und können auch nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden. die Symptomatik nur schwer von einem altersange- messenen aktiven Verhalten abgrenzen lässt. Im Vor- schulalter können Hyperaktivitätssymptome dominie- ren, welche mit zunehmendem Alter eher remittieren und dafür Aufmerksamkeitsschwierigkeiten und ein Gefühl von Rastlosigkeit in den Vordergrund geraten. Die Symptomatik kann in Gruppen- und Eins-zu-eins- Konstellationen verändert auftreten. So haben Pa- tient*innen mit ADHS insbesondere Schwierigkeiten, ihr Verhalten in Gruppensituationen zu regulieren [10]. Zudem können unspezifische Symptome wie eine ge- ringe Frustrationstoleranz, Sprachauffälligkeiten oder eine wechselnde Stimmung auftreten, welche jedoch keine sicheren Diagnosekriterien darstellen. Als Be- standteil der Kernsymptomatik werden auch Emotions- regulationsschwierigkeiten diskutiert. Da die Selbstwahrnehmung der Symptome von der Fremdwahrnehmung abweichen kann, ist die Einbezie- hung der Eltern und anderer Beobachter unerlässlich. Die fremdanamnestischen Angaben sollten familiäre, Schwangerschafts- und entwicklungsbezogene Aspek- te zwingend mit einbeziehen. Die schulischen Leistun- gen können erheblich eingeschränkt sein, sodass auch (Grundschul-)Zeugnisse und die Einschätzung von Lehrkräften wichtige diagnostische Hinweise geben können. Studien, die auf die Validität von Zeugnissen hinweisen, gibt es bisher jedoch nicht [10]. Für eine umfassende klinische Beurteilung sind Eindrücke von Verhaltensbeobachtungen aus unterschiedlichen Be- reichen, auch vor dem Hintergrund der Variabilität der Symptomatik, von großer Bedeutung. Die Bewertung einzelner Angaben sollte dennoch unter Berücksichti- gung eines Gesamteindrucks entstehen. Testpsychologische Verfahren, beispielsweise zur Intel- ligenzuntersuchung (WISC-V oder CFT-20 R), dienen insbesondere der differenzialdiagnostischen Abklä- rung. Auch Fragebogenverfahren sollten als ergänzen- de Informationsquelle eingesetzt werden, stellen je- 30 Tomal Dilara et al. ADHS – ein … KJP up2date 2024; 1: 25–43 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung I m p u l s i v i t ät Beziehungs- und Bindungsstörungen Affektregulationsstörungen Substanzkonsum bipolare Störung Unaufmerksamkeit Autismus-Spektrum- depressive Störungen Störungen Störungen des Sozialverhaltens Persönlichkeitsstörungen Intelligenzminderung psychotische Störungen umschriebene Entwicklungsstörungen Schlafstörungen Seh- und Hörstörungen PTBS Angststörungen Schilddrüsenfunktions- störungen Tic- und Tourette-Störungen stereotype Bewegungen Hyperaktiv i t ä t ▶ Abb. 1 Symptomüberschneidungen von ADHS und anderen psychischen und somatischen Störungen. dividuellen Faktoren der Patient*innen (u. a. Alter, Schweregrad der Symptomatik, Komorbiditäten, Wün- sche) berücksichtigt werden. Insbesondere bei Kindern ist ein Einbezug des psychosozialen Umfelds, vorrangig der Eltern, in die Behandlung wichtig. Bei ADHS sind lange Behandlungsverläufe die Regel, die Zusammen- setzung der Behandlungsbausteine sollte daher regel- mäßig überprüft und ggf. angepasst werden [3, 6]. Darüber hinaus stellt – wie üblich bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen – die Etablierung eines informierten sowie partizipativen Entscheidungspro- zesses eine besondere Herausforderung aber auch eine Notwendigkeit für einen erfolgreichen Behand- lungsverlauf dar. Psychoedukation Nach Diagnosestellung und vor Behandlungsbeginn ist es elementar, die Patient*innen und die Sorgeberech- tigten ausführlich über ADHS aufzuklären. Die Psycho- edukation sollte dem Alter und dem Funktionsniveau der Patient*innen angepasst werden. Sie sollte min- destens Ätiologie, Symptomatik und Behandlungsop- tionen umfassen und auf die individuell vorliegenden Aspekte und Fragen eingehen. Die Psychoedukation sollte im Laufe der Behandlung angepasst an das jewei- lige Entwicklungsniveau und die jeweilige Lebenssitua- tion wiederholt werden. Eine individuell abgestimmte Psychoedukation erhöht auch die Adhärenz zu den Fol- gebehandlungen [15]. Psychotherapie, Elterntraining und andere Interventionen im sozialen Umfeld Psychotherapie und Elterntraining haben in der Be- handlung der ADHS einen hohen Stellenwert. Zwar kann durch psychotherapeutische oder pädagogische Maßnahmen im Vergleich zur pharmakologischen Be- handlung keine signifikante Reduktion der ADHS-Kern- symptomatik erwartet werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass solche Maßnahmen keinen Nutzen haben. Vielmehr können sie zu anhaltenden Verhaltensände- rungen und somit verbessertem Funktionsniveau und Lebensqualität führen. Es existieren mittlerweile diver- se Therapiemanuale, u. a. auch mit dem Fokus auf die Behandlung verschiedener Altersstufen. Eine Psychotherapie ist gemäß Leitlinie unabhängig vom Schweregrad indiziert und kann ggf. in Kombinati- on mit einer pharmakologischen Behandlung erfolgen, wobei hier synergistische Effekte auftreten und ge- nutzt werden können. 32 Tomal Dilara et al. ADHS – ein … KJP up2date 2024; 1: 25–43 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung FALLBEISPIEL ADHS mit leichter Symptomatik Bei dem 7-jährigen Alexander (Name redaktionell geändert) wurde vor kurzem eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivi- tätsstörung mit leichter Symptomatik diagnostiziert. In einem Gespräch mit ihm und seinen Eltern erfolgte die Aufklärung über ätiologische Faktoren, die Symptome und Behandlungs- optionen. Der Familie wurde insbesondere die Teilnahme an einem Elterntraining und der Beginn einer Psychotherapie für Alexander empfohlen. Im Verlauf der 60-stündigen Verhal- tenstherapie wurden seine sozialen Kompetenzen gefördert und die Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit gestärkt. Alexander gelingt es immer mehr, über sein eigenes Handeln nachzudenken und dieses zu überprüfen. Dies kann insbeson- dere in Konfliktsituationen beobachtet werden. Auch in der Schule lenke er nicht mehr so häufig seine Mitschüler ab und bearbeite Arbeitsblätter mit weniger Flüchtigkeitsfehlern. Alexanders Eltern konnten lernen, konstruktiv auf das Verhal- ten ihres Sohnes zu reagieren und positives Verhalten durch Lob zu verstärken. Zudem konnte mit den Eltern an einer ent- wicklungsfördernden Haltung gearbeitet werden, was sich po- sitiv auf die Eltern-Kind-Beziehung auswirkte. Aufgrund der insgesamt positiven Entwicklung in unterschiedlichen Lebens- bereichen wurde auf eine medikamentöse Behandlung ver- zichtet. ausgeprägter Symptomatik sollte den Betroffenen und ihren Eltern eine pharmakologische Behandlung emp- fohlen werden, wohingegen die sich im Überarbei- tungsprozess befindliche AWMF-S3-Leitlinie bisher bei leichter Symptomatik und im Vorschulalter primär psy- chosoziale Interventionen empfiehlt. Für eine Abschät- zung des Schweregrades können Funktionsniveau, Lei- densdruck, Funktionseinschränkungen im schulischen Kontext sowie psychosoziale Gegebenheiten und Ko- morbiditäten berücksichtigt werden. schwer ausgeprägter Insbesondere bei Fällen mit Symptomatik kann jedoch eine adäquate pharmakolo- gische Behandlung die Voraussetzung für eine erfolg- reiche Umsetzung von psychotherapeutischen und pä- dagogischen Maßnahmen darstellen und somit erst den Aufbau nachhaltiger Kontroll- und Bewältigungs- strategien ermöglichen. Sollte bei Kindern im Vorschulalter bereits eine das Funktionsniveau deutlich einschränkende ADHS-Symp- tomatik vorliegen, kann in Einzelfällen auch hier eine Diagnosestellung und pharmakologische Behandlung erfolgen. Die Indikation hierfür sollte aber besonders genau geprüft werden und es sollten primär verhal- tenstherapeutische Interventionen (z. B. Elterntrai- ning) Anwendung finden. Studienergebnisse deuten auf eine im Vergleich zu Schulkindern geringere Wirk- samkeit bei gleichzeitig schlechterer Verträglichkeit von pharmakologischen Behandlungsansätzen bei Vor- schulkindern hin. Merke Eine pharmakologische Behandlung zielt zunächst nur auf die Symptomatik. Komplexere Verhaltensän- derungen jenseits der Reduktion der Kernsymptoma- tik sind vorrangig durch Psychotherapie und päda- gogische Maßnahmen zu erreichen [19]. Die verfügbaren Präparate zur pharmakologischen Be- handlung lassen sich in Stimulanzien (Methylphenidat und Amphetamine) und Nichtstimulanzien (Atomoxe- tin und Guanfacin) aufteilen (▶ Tab. 2). Verschiedene Studien konnten zeigen, dass Stimulanzien den Nicht- stimulanzien in Bezug auf die Effektstärke auf die Re- duktion der ADHS-Kernsymptome überlegen sind [20]. Grundsätze der pharmakologischen Behandlung Nach Stellung der Indikation für eine pharmakologi- sche Behandlung sind die notwendigen Untersuchun- gen zum Ausschluss von etwaigen Kontraindikationen durchzuführen. Wenn keine solche für Methylphenidat bestehen, stellt dies das Mittel der 1. Wahl dar. In einer Metaanalyse konnte gezeigt werden, dass Methylphe- nidat im Kindes- und Jugendalter eine bessere Wirk- samkeit bei gleichzeitig besserer Verträglichkeit im Vergleich zu anderen pharmakologischen Behand- lungsoptionen hat [21]. Die Dosierung sollte bedarfs- orientiert titriert werden. Grundsätzlich sind langwirk- same Präparate, aufgrund der besseren Adhärenz und des nicht abrupt wegfallendenden Medikamentenspie- gels, auch bereits zu Beginn der Behandlung den kurz- wirksamen Präparaten vorzuziehen. Es gilt, eine Mono- therapie anzustreben. Geplante Pausen der pharmako- logischen Behandlung können je nach individueller Si- tuation (Wunsch der Patient*innen, Wachstum nicht gefährden wollen, Überprüfung der Wirksamkeit der Medikation) eine Option darstellen, z. B. an Wochenen- den oder in den Ferien, wenn kein Leidensdruck und keine Einschränkungen im schulischen Kontext domi- nieren [20]. Merke Die pharmakologische Behandlung der ADHS zeigt eine höhere Effektstärke auf die Reduktion der Kern- symptome als nicht pharmakologische Interventio- nen. Dabei zeigen Stimulanzien höhere Effektstärken als Nichtstimulanzien. Stimulanzien Zu den Stimulanzien zählen Methylphenidat und (Lis-) Dexamphetamin. In Deutschland sind diese bei Kindern ab 6 Jahren mit einer ADHS zugelassen, wobei Methylp- henidat Mittel der 1. Wahl ist. Amphetamine können 34 Tomal Dilara et al. ADHS – ein … KJP up2date 2024; 1: 25–43 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung NAT DAT NA Neuron DA Neuron ▶ Abb. 2 Dopamin- und Noradrenalin-Transporterhemmung durch Stimulanzien. DA: Dopamin; NA: Noradrenalin; DAT: Dopamin-Transporter; NAT: Noradrenalin-Transporter dieser Neurotransmitter aus dem synaptischen Spalt blockiert wird und die Konzentration von Dopamin und Noradrenalin dort steigt (▶ Abb. 2). Dabei zeigen Stimulanzien eine deutlich höhere Affinität zu Dopa- min-Transportern, weswegen der Einfluss von Stimu- lanzien auf das dopaminerge System wesentlich höher ist als auf das noradrenerge System. Methylphenidat zeigt zusätzlich eine agonistische Wirkung an einem Serotoninrezeptor (SHT1A), wohingegen (Lis-)Dexam- phetamin zusätzlich den vesikulären Monoamintrans- porter 2 hemmt, sodass es zu einer erhöhten Freiset- zung von Monoaminen im synaptischen Spalt kommt. Diese Wirkverstärkung von Dopamin und Noradrenalin vermittelt gemäß dem gegenwärtigen Forschungs- stand eine Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit, Impulsivität und der motorischen Unruhe [20]. Pharmakokinetik Sowohl für Methylphenidat als auch für Dexampheta- min sind kurz- und langwirksame („retardierte“) Präpa- rate mit unterschiedlicher Pharmakokinetik verfügbar. Diese können zur individuellen bedarfsorientierenden pharmakologischen Optimierung genutzt werden. Die Wirkdauer ist je nach Präparat unterschiedlich lang, je- doch zeitlich begrenzt, sodass kein permanenter Wirk- spiegel im Blut aufgebaut wird. Daher nimmt die Wir- kung je nach Präparat in wenigen bis einigen Stunden ab. Eine Einmalgabe eines retardierten Präparats ist der Gabe eines unretardierten Präparats zu mehreren Zeitpunkten vorzuziehen, auch im Hinblick auf eine möglichst optimale Adhärenz. Die Fachinformationen der einzelnen Präparate enthalten Hinweise zur Dosie- rung [20]. Nebenwirkungen In der Regel werden Stimulanzien gut vertragen und die meisten Nebenwirkungen sind mild und/oder vorü- bergehend. Zu den häufigeren Nebenwirkungen zählen verminderter Appetit, Reizbarkeit, Erhöhung von Puls und Blutdruck und Schlafstörungen (▶ Tab. 2). In ver- schiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass die kardiovaskulären Effekte über mehrere Jahre gering ausgeprägt sind. 36 Tomal Dilara et al. ADHS – ein … KJP up2date 2024; 1: 25–43 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung ▶ Tab. 3 Empfohlene Untersuchungen vor und während einer pharmakolo- gischen Behandlung der ADHS. Untersuchungen im Rahmen einer pharmakologischen Behandlung vor pharmakologischer Behandlung während pharmakologischer Behandlung Anamnese mit Erhebung etwaiger kardiovaskulärer Risikofaktoren regelmäßige Überprüfung von Nebenwirkungen körperliche und neurologische Untersuchung Messen von Körpergröße und Kör- pergewicht und Bestimmung der Altersperzentilen Messen von Blutdruck und Herz- frequenz Messung des Körpergewichts 3 Monate nach Beginn der Behand- lung Messung der Körpergröße und des Körpergewichts alle 6 Monate und Bestimmung entsprechender Al- tersperzentilen Blutdruck- und Herzfrequenzkon- trollen alle 6 Monate (bei Guanfa- cin häufiger, s. Fachinformation) regelmäßige Indikationsprüfung 1×/Jahr, Beobachtung während Medikationspause Atomoxetin Atomoxetin steigert die Noradrenalin-Konzentration im synaptischen Spalt, indem es an den Noradrenalin- Transporter bindet und als Noradrenalin-Wiederauf- nahmehemmer fungiert. Im präfrontalen Kortex regeln Noradrenalin-Transporter auch die Wiederaufnahme von Dopamin, weswegen Atomoxetin auch die Dopa- min-Konzentration erhöht. Hinweise zur Dosierung können der Fachinformation entnommen werden. Zu den häufigeren Nebenwirkungen zählen verminder- ter Appetit, Schläfrigkeit und Übelkeit (▶ Tab. 2). In mehreren placebokontrollierten Studien an Kindern und Jugendlichen zeigte sich eine Assoziation der Be- handlung mit Atomoxetin und dem Auftreten von Sui- zidgedanken. Die genauen Mechanismen, die dieser Assoziation zugrunde liegen, werden weiterhin disku- tiert. In den USA und Australien wurden von Bundesbe- hörden besondere Warnhinweise erlassen. Alle Kinder und Jugendliche, die mit Atomoxetin behandelt wer- den, müssen engmaschig hinsichtlich Suizidalität, klini- sche Verschlechterung und ungewöhnliche Verhaltens- änderungen überwacht werden, insbesondere in den ersten Monaten der Behandlung oder nach einer Dosis- anpassung [19, 20]. Guanfacin Guanfacin wirkt agonistisch an α2-adrenergen Rezep- toren im Gehirn, wodurch es im präfrontalen Kortex zu einer verstärkten noradrenergen Neurotransmission kommt. Hinweise zur Dosierung können der Fachinfor- mation entnommen werden. Zu den häufigsten Neben- wirkungen zählen Müdigkeit, Reizbarkeit und Albträu- me (▶ Tab. 2) [19, 20]. Zur Indikationsstellung ist vor einer pharmakologi- schen Behandlung eine Untersuchung nötig, weitere Untersuchungen im Laufe der Behandlungen sind emp- fohlen und in ▶ Tab. 3 zusammengefasst. Adhärenz in der pharmakologischen Behandlung Eine mangelnde Adhärenz bezüglich der Medikamen- teneinnahme (früher: Compliance) kann eine reduzier- te Wirksamkeit oder vermehrte Nebenwirkungen (z. B. Absetzphänomene) zur Folge haben [15, 20]. INFO Adhärenz Um eine möglichst optimale Adhärenz bei Kin- dern und Jugendlichen zu erreichen, können fol- gende Maßnahmen helfen [15]: 1. Bevorzugung von langwirksamen Medikamen- ten 2. einmalige Verabreichung der Medikation 3. Monotherapie anstreben 4. Vermeidung von Stigmatisierung (Einnahme in der Schule vermeiden) 5. unerwünschte Nebenwirkungen regelmäßig überprüfen 6. regelmäßige Überprüfung der Indikation 7. ausführliche Aufklärung über Wirkungen und Nebenwirkungen vor Beginn und regelmäßig während der Behandlung Neurofeedback Immer wieder diskutiert als eine weitere nicht pharma- kologische Behandlungsoption für ADHS wird das sog. Neurofeedback-Training. Hierbei wird sich das Prinzip des Biofeedbacks zunutze gemacht, in dessen Rahmen physiologische Prozesse bzw. Signale gemessen und sichtbar gemacht werden, um eine willentliche Beein- flussung durch die Betroffenen zu ermöglichen. Beim Neurofeedback werden hierfür Elektroden auf der Kopfhaut platziert und EEG-Signale abgeleitet. Bei ADHS kommen hierbei z. B. Unterschiede in der Theta- Beta-Ratio bzw. bezüglich bestimmter ereigniskorre- lierter Potenziale zwischen Patient*innen und gesun- den Kontrollproband*innen zum Tragen. Eine Beein- flussung der EEG-Signale kann visuell (z. B. über Steue- rung eines Flugzeugs in unterschiedliche Richtungen je nach Konzentrationsleistungen) oder auch akustisch rückgemeldet werden. Ist es den Proband*innen ge- lungen, das Signal erfolgreich in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen, erfolgt i. d. R. zusätzlich eine 38 Tomal Dilara et al. ADHS – ein … KJP up2date 2024; 1: 25–43 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung KERNAUSSAGEN ▪ Unbehandelt kann ADHS zu langfristigen negativen psycho- sozialen Folgen führen, z. B. schlechterer Schulabschluss, niedrigerer sozioökonomischer Status, mehr Unfälle im Stra- ßenverkehr, geringere Lebenszufriedenheit, höhere Wahr- scheinlichkeit von Suizidversuchen. ▪ Die Kernsymptomatik besteht aus Unaufmerksamkeit, Hy- peraktivität und Impulsivität und kann in ihrem Ausmaß vari- ieren. ▪ Die Indikation für eine Psychotherapie ist gemäß Leitlinie un- abhängig vom Schweregrad zu überprüfen und kann ggf. in Kombination mit einer pharmakologischen Behandlung er- folgen. ▪ Elterntrainings unterstützen Eltern im Umgang mit heraus- forderndem Verhalten ihrer Kinder und leiten sie an, er- wünschtes Verhalten zu fördern. ▪ Psychotherapie und Elterntrainings können zu anhaltenden Verhaltensänderungen und somit zu einem verbesserten Funktionsniveau und Lebensqualität führen. ▪ Psychotherapeutische Interventionen sind zwar gemäß ver- blindetem Urteil deutlich weniger effektiv als eine Pharma- kotherapie in Bezug auf eine Verbesserung der ADHS-Kern- symptomatik, gleichzeitig können sie aber den Betroffenen Coping-Strategien im Umgang mit den Herausforderungen des Alltags vermitteln, begleitende psychische Störungen behandeln und deren Lebensqualität verbessern. ▪ Bei der pharmakologischen Behandlung sind langwirksame Präparate, aufgrund der besseren Adhärenz und des nicht abrupt wegfallendenden Medikamentenspiegels, auch be- reits zu Beginn der Behandlung den kurzwirksamen Präpara- ten vorzuziehen. ▪ Die pharmakologische Behandlung der ADHS zeigt eine hö- here Effektstärke auf die Reduktion der Kernsymptome als nicht pharmakologische Interventionen. Dabei zeigen Stimu- lanzien höhere Effektstärken als Nichtstimulanzien. Interessenkonflikt Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: ja, von einer ande- ren Institution (Pharma- oder Medizintechnikfirma usw.); Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsemp- fänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Part- ner, Ehepartner, Kinder) an im Bereich der Medizin aktiven Firma: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an zu Sponsoren dieser Fortbildung bzw. durch die Fortbildung in ihren Geschäftsinteressen berührten Firma: nein Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen S Hohmann: geplante Tätigkeit im Vorstand der DGKJP, Mit- gliedschaft im European Network für Hyperkinetic Disor- ders (EUNETHYDIS). Autorinnen/Autoren Dr. med. Dilara Tomal Assistenzärztin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugend- alters und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Klinische Psychopharma- kologie des Kindes- und Jugendalters am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim (Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg). Dr. med. Marie Elisa Mey Assistenzärztin und wissenschaftliche Mitar- beiterin an der Klinik für Kinder- und Jugend- psychiatrie, -psychotherapie und -psychoso- matik, Universitätsklinikum Hamburg-Eppen- dorf, Hamburg. Dr. med. Konstantin Mechler Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psy- chotherapie des Kindes- und Jugendalters und Co-Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Psychopharmakologie des Kindes- und Ju- gendalters am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim (Medizinische Fakul- tät Mannheim, Universität Heidelberg). Prof. Dr. med. Sarah Hohmann Ärztliche Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psy- chosomatik, Universitätsklinikum Hamburg- Eppendorf, Hamburg. Gastwissenschaftlerin und Co-Leitung der Arbeitsgruppe ADHS im Kindes- und Jugendalter am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim (Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg). Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Sarah Hohmann Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosoma- tik Martinistr. 52 20246 Hamburg Deutschland E-Mail: s.hohmann@uke.de Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbe- stimmungen für diesen Beitrag ist Prof. Dr. med. Sarah Hohmann, Hamburg. 40 Tomal Dilara et al. ADHS – ein … KJP up2date 2024; 1: 25–43 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

Fragen und Antworten | CME Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Unter https://eref.thieme.de/CXMEMK5 oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests und zum Artikel. Sie finden dort auch den genauen Einsendeschluss. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführ- liche Anleitung. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! VNR 2760512024165721703 Frage 1 Ab welchem Alter sollte frühestens eine ADHS-Diagnose erfol- gen? A 5 Jahre 3 Jahre B C 6 Jahre D 10 Jahre E Es gibt keine Altersbegrenzung. Frage 2 Welcher Fragebogen bzw. welches Interview kann nicht zur Er- fassung der ADHS-Symptomatik genutzt werden? Kinder-DIPS A Conners 3 B C DISYPS D ADOS E Kiddie-SADS Frage 3 Welches Symptom gehört nicht zur Kernsymptomatik eines ADHS? A verminderte Konzentrationsleistung B motorische Unruhe C D erhöhte Impulsivität E Verminderung von Motivation und Antrieb erhöhte Irritabilität, Schwierigkeiten in der Emotionsregu- lation Frage 4 Welche Aussage zu ADHS trifft zu? A ADHS kommt im Kindesalter häufiger bei Mädchen als bei B Jungen vor. Begleitende Erkrankungen sind besonders oft Zwangsstö- rungen. C Die Symptomatik eines ADHS verändert sich im Verlauf der individuellen Entwicklung. D Es handelt sich um eine reine Störung des Kindesalters, die E sich fast immer „auswächst“. Ursächlich für die Entstehung ist vor allem zu starker Medienkonsum. Frage 5 Welche Aussage über die Ätiologie von ADHS ist richtig? A Bei der Entstehung von ADHS spielen primär Umweltfakto- B C ren eine Rolle. Bis zu 80% der Ausprägung des Phänotyps einer ADHS kann durch genetische Faktoren erklärt werden. Bei den genetischen Risikofaktoren für ADHS handelt es sich vorwiegend um seltene Mutationen mit starker Aus- wirkung. D Es existieren zahlreiche Biomarker für ADHS, die im Rah- men der Diagnostik wegweisend sein können. Starker Zuckerkonsum kann ADHS hervorrufen. E Frage 6 Welche Aussage trifft nicht auf das überarbeitete Diagnosesys- tem ICD-11 zu? A Eine Differenzierung des ADHS in Schwerpunkttypen ist B C möglich. ADHS gehört zu den entwicklungsneurologischen Störun- gen. Für eine Diagnosestellung müssen erste Symptome bereits im Kleinkindalter aufgetreten sein. D Zusätzlich zur Kernsymptomatik muss eine deutliche Be- E einträchtigung bestehen. Eine Vergabe der Kombinationsdiagnose „Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens“ ist nicht mehr möglich. Frage 7 Welche therapeutische Intervention ist bei Vorschulkindern mit ADHS-Symptomatik in jedem Fall zu empfehlen? A Pharmakotherapie mit Methylphenidat B Konzentrationstrainings im einzeltherapeutischen Setting C Ergotherapie D Elterntraining E regelmäßige orale Gabe von Omega-3-/Omega-6-Fettsäu- ren 42 Tomal Dilara et al. ADHS – ein … KJP up2date 2024; 1: 25–43 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

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CME-Fortbildung Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen: ADHS – ein praxisorientierter Überblick Dilara Tomal, Marie Elisa Mey, Konstantin Mechler, Sarah Hohmann Heft 1/2024 Depression im Kindes- und Jugendalter – ein Überblick Ellen Greimel, Lisa Feldmann, Gerd Schulte-Körne Heft 1/2024 ALLES ONLINE LESEN IHR ONLINE-SAMMELORDNER JETZT FREISCHALTEN Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: online wie offline, am PC und mobil, alle bereits erschienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! https://eref.thieme.de/kjp-up2date Sie möchten jederzeit und überall auf Ihr up2date-Archiv zu- greifen? Kein Problem! Ihren immer aktuellen Online- Sammelordner finden Sie unter: https://eref.thieme.de/FQ2TD Sie haben Ihre Zeit- schrift noch nicht freigeschaltet? Ein Klick genügt: www.thieme.de/eref-registrierung.

CME-Fortbildung shift“ kommt. Das bedeutet, dass in diesem Altersab- schnitt phasenweise ein häufigerer Einsatz dysfunktio- naler Emotionsregulationsstrategien auch bei der Re- gulation von Trauer beobachtet wird, beispielsweise durch Strategien wie Rückzug und aggressives Verhal- ten [3, 4]. Merke Die Symptome der Depression können sich zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen unterschei- den. Sie sind auch beeinflusst von der sozio-emotio- nalen Entwicklung. In der Kindheit und Jugend lässt sich bei der Depressi- on, wie auch im Erwachsenenalter, eine Affekt- und An- triebsstörung beobachten. Die Betroffenen leiden un- ter einer depressiven und gedrückten Stimmung, emp- finden keine Freude und kein Interesse an Aktivitäten, die zuvor Spaß bereitet haben. Eine Besonderheit für die Altersspanne stellt das Symptom der Reizbarkeit dar, welches bei den meisten Kindern und vor allem Ju- gendlichen während der Depression persistiert. Diese kann sich beispielsweise bei Vorschulkindern als Irrita- bilität [5] und bei älteren Kindern als gereizte Stim- mung im Kontext externer Stressfaktoren äußern [6]. Betroffene sind leichter ermüdbar und leiden unter einer Motivationslosigkeit und Lethargie [6], was zum sozialen Rückzug, Fernbleiben von Freizeitaktivitäten und Aussetzen des Schulbesuchs führen kann. Auch kognitive Störungen in Form von Aufmerksam- keits- und Gedächtnisstörungen können bereits im Kin- des- und Jugendalter auftreten, jedoch ist die Studien- lage hierzu weniger konsistent als für das Erwachse- nenalter. Kinder und Jugendliche berichten häufig, sich in der Schule oder bei Hausaufgaben nicht konzen- trieren zu können, was zum Leistungseinbruch in der Schule führen kann, der sich wiederum als Stressor auf die Verstärkung- und Aufrechterhaltung der depressi- ven Symptomatik auswirken kann (siehe auch Ab- schnitt 5 zu den Ursachen). Ebenso kommen bei der Depression im Kindes- und Ju- gendalter häufig vor: ▪ vegetative Symptome häufig wie Appetitverlust oder gesteigerter Appetit mit entsprechender Ge- wichtsveränderung [7] sowie ▪ somatische Symptome wie Bauchschmerzen, Kopf- schmerzen und Verdauungsstörungen. Merke Körperliche Beschwerden wie Bauchschmerzen, Kopfschmerzen und Verdauungsstörungen ohne somatisches Korrelat können ein Hinweis auf eine Depression im Kindes- und Jugendalter sein. Die meisten Kinder und Jugendlichen mit einer Depres- sion klagen über Schlafstörungen, wobei die Insomnie häufiger vorzukommen scheint als die Hypersomie [6, 7]. Schlafprobleme können bereits vor der Depression auftreten. Suizidalität kann im Kontext einer depressi- ven Störung bereits im Vorschulalter auftreten [5], wo- bei sich Vorschulkinder der Endgültigkeit des Todes noch nicht bewusst sind. Erst im Verlauf der Entwick- lung, etwa zwischen 9–12 Jahren erkennen Kinder, dass der Tod endgültig ist. Ab dem Alter von 12 Jahren realisieren Jugendliche die Konsequenzen, die der Tod für sie haben kann und beschäftigen sich (unabhängig von der Psychopathologie) mit der Sinnfrage des Le- bens [8]. Die meisten älteren Kinder und Jugendlichen mit einer Depression leiden unter Suizidgedanken, etwa 10–25% begehen einen Suizidversuch [6]. Daher ist die Abklärung der Suizidalität bei der Depression un- abhängig vom Alter der Betroffenen bereits beim Erst- kontakt unabdinglich und suizidale Äußerungen sind unbedingt ernst zu nehmen und von Fachpersonen ab- zuklären. PR A XISTIPP Bei einem Verdacht auf eine depressive Sympto- matik sollte beim Erstkontakt unabhängig vom Alter der Patient*innen eine Abklärung von Sui- zidgedanken durch eine Fachperson erfolgen. Häufigkeiten und Erscheinungsbild im Vorschul- und Kindesalter Im Vor- und Grundschulalter ist die klinische Depressi- on noch selten. Es wird von einer 3-Monats-Prävalenz von 0,3–0,4% ausgegangen (siehe [9] für eine detail- lierte Übersicht). Leider gibt es für das Kleinkind- und Vorschulalter nur wenig Studien. Die depressive Stim- mung kann bei jüngeren Kindern mehr fluktuieren und ein Interessenverlust kann sich durch eine Spielunlust oder repetitives Spielen äußern. Suizidgedanken und Schuldgefühle oder ein niedriges Selbstwertgefühl können sich in szenischen Spielen mit diesen Inhalten äußern [5]. Im Kindesalter zeigt sich die depressive Symptomatik häufig durch externalisierende Verhaltensweisen, wie beispielsweise durch Wutausbrüche oder oppositionel- les Verhalten. Zudem treten bei Kindern depressive Symptome häufiger in Reaktion auf äußere Einflüsse (z. B. als Reaktion auf Streit zwischen den Eltern) auf und sind im Vergleich zu älteren Betroffenen weniger beständig. Weiterhin klagen Kinder über oft somati- sche Probleme wie Kopf- und Bauchschmerzen, wes- halb häufig erst die Vorstellung bei Pädiater*innen zur Abklärung einer somatischen Ursache erfolgt. Sofern 48 Greimel Ellen et al. Depression im Kindes- … KJP up2date 2024; 1: 45–61 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung DEPRESSIVE STÖRUNGEN Klassifikation depressiver Störungen gemäß ICD-10 depressive Episode (F32) ▪ leicht (F32.0) ▪ mittelgradig (F32.1) ▪ schwer ohne psychotische Symptome (F32.2) ▪ schwer mit psychotischen Symptomen (F32.3) ▪ schwer mit synthymen psychotischen Symptomen (F32.30) ▪ schwer mit parathymen psychotischen Symptomen (F32.31) ▪ sonstige depressive Episode (F32.8) ▪ nicht näher bezeichnete depressive Episode (F32.9) rezidivierende depressive Störung (F33) ▪ gegenwärtig leicht (F33.0) ▪ gegenwärtig mittelgradig (F33.1) ▪ gegenwärtig schwer ohne psychotische Symptome (F33.2) ▪ gegenwärtig schwer mit psychotischen Symptomen (F33.3) ▪ gegenwärtig remittiert (F33.4) ▪ sonstige rezidivierende depressive Störung (F33.8) ▪ nicht näher bezeichnete rezidivierende Störung (33.9) wie z. B. das Aufstehen oder die Körperpflege, fallen zu- nehmend schwer. Für die Diagnose ist erforderlich, dass die Symptomatik für die meiste Zeit des Tages und fast jeden Tag über einen Zeitraum von 14 Tagen anhält, wobei davon ab- gewichen werden kann, wenn die Symptomatik z. B. außergewöhnlich ausgeprägt ist. Ausschluss für eine F32-Diagnose sind (hypo)manische Episoden. Zudem darf die Symptomatik nicht auf psy- chotrope Substanzen oder eine organische Erkrankung rückführbar sein. Altersabhängige Symptome, wie bei- spielsweise die erhöhte Reizbarkeit bei Kindern und Jugendlichen, werden in der ICD-10 nicht spezifisch be- rücksichtigt. Sehr charakteristisch für die Depression ist der phasen- hafte Verlauf mit Rezidiven, die unter F33 klassifiziert werden, sofern die Phasen klar abgrenzbar sind, dazwi- schen ein mindestens 2-monatiges Intervall ohne deut- liche affektive Symptomatik vorliegt und keine Phase mit (hypo)manischer Symptomatik auftritt. PR A XISTIPP Sofern bei Kindern und Jugendlichen eine de- pressive Symptomatik über den Zeitraum von mindestens einem Jahr (bei Erwachsenen sind es mindestens 2 Jahre) persistiert, ohne dass die Kriterien für eine depressive Episode bzw. eine rezidivierende depressive Störung erfüllt sind, wird eine Dysthymie klassifiziert (F34.1). Wichtige Neuerungen in der ICD-11 in Bezug auf die Klassifikation depressiver Störungen umfassen u. a. fol- gende Aspekte: Zukünftig zählt Antriebsminderung/ Energieverlust nicht mehr zu den Haupt- sondern zu den Nebensymptomen; Hoffnungslosigkeit wird als Nebensymptom neu aufgenommen und die Dysthy- mie, die in der ICD-10 noch unter den anhaltenden af- fektiven Störungen verschlüsselt ist, wird nunmehr bei den depressiven Störungen kodiert. Weiterhin können psychotische Symptome zukünftig auch bei einer mit- telschweren Episode klassifiziert werden. Eine Neue- rung ist auch, dass zukünftig für depressive Episoden Zusatzkodierungen vergeben werden können, darunter die Zusatzkodierung „mit markanten Angstsympto- men“. Dies soll der Tatsache Rechnung tragen, dass de- pressive Störungen häufig mit Angstsymptomen ein- hergehen. Diagnostik Die Diagnose einer Depression bei Heranwachsenden sollte nur von Fachpersonen gestellt werden, die um- fangreiche Kenntnisse über psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter sowie über regelrechte Ent- wicklung in diesen Altersgruppen verfügen, wie z. B. Kinder- Jugendlichenpsychotherapeut*innen, Fachärzt*innen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie Psychologische Psychothera- peut*innen mit der Zusatzqualifikation für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. und Im Rahmen der Diagnostik ist ein multimodales Vorge- hen geboten, bei dem Informationen mit verschiede- nen Methoden und aus unterschiedlichen Quellen er- hoben und integriert werden. Für internalisierende Störungen wie die Depression sind Informationen auf Basis des Selbstberichts besonders relevant, da viele Symptome der Depression, darunter z. B. Schuldgefüh- le, nicht immer für Außenstehende offensichtlich sind. Dennoch ist es unverzichtbar, die Eltern eng in die Di- agnostik miteinzubeziehen, was umso wichtiger ist, je jünger die Kinder sind. 50 Greimel Ellen et al. Depression im Kindes- … KJP up2date 2024; 1: 45–61 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Schilddrüsenunterfunktion oder ein Eisenmangel bei jugendlichen Mädchen). Ein Elektrokardiogramm ist im Vorfeld einer pharmakologischen Behandlung durchzuführen [19]. Merke Im Kontext des diagnostischen Prozesses ist eine so- matische Diagnostik zum Ausschluss körperlicher Ur- sachen für die depressive Symptomatik unabdingbar. Differenzialdiagnostik Im Rahmen der Differenzialdiagnostik gilt es abzuklä- ren, ob die Kriterien einer depressiven Störung erfüllt sind oder ob die depressive Symptomatik ursächlich auf eine andere körperliche Erkrankung, auf Nebenwir- kungen von Medikamenten oder eine andere psy- chische Störung rückführbar ist. Wichtige somatische Differenzialdiagnosen stellen bspw. endokrinologische und hirnorganische Erkrankungen (wie z. B. Tumorer- krankungen) dar. Derartige Ursachen sollten vor allem dann in Betracht gezogen werden, wenn der Beginn der Symptomatik unvermittelt einsetzt, ohne dass Stresso- ren ermittelt werden können, oder wenn das Erschei- nungsbild atypisch ist. Insbesondere wenn auffällige körperliche Beschwerden berichtet werden, wie z. B. starke oder anhaltende Kopfschmerzen, oder wenn bei der körperlich-neurolo- gischen Untersuchung Auffälligkeiten beobachtet wer- den, ist eine weiterführende somatische Abklärung zwingend. Medikamente, die bei Jugendlichen oft verschrieben werden und die als Nebenwirkung depressive Sympto- me hervorrufen können, umfassen manche Kontrazep- tiva, Antihistaminika und Schmerzmittel (z. B. Ibupro- fen) und Pharmaka zur Behandlung von Akne [20]. Merke Vor der Diagnosestellung einer Depression muss abgeklärt werden, ob die Symptomatik durch andere psychische oder körperliche Erkrankungen oder durch Nebenwirkungen von Medikamenten erklärt werden kann. Im Kontext psychischer Störungen sind u. a. die Anore- xia nervosa sowie Angststörungen wichtige Differenzi- aldiagnosen, wobei diese gleichzeitig auch häufige Ko- morbiditäten der Depression bei Heranwachsenden darstellen. Angststörungen gehen zeitlich depressiven Erkrankungen häufig voraus und können das Risiko für Depressionen erhöhen. Bei der Anorexia nervosa treten vor allem während der Starvation depressive Sympto- me wie gedrückte Stimmung oder eine veränderte Psy- chomotorik auf. Die depressive Symptomatik nimmt nach der Gewichtsrehabilitation häufig ab, es sei denn, eine depressive Störung lag bereits vor der Anorexia nervosa vor bzw. manifestiert sich im weiteren Verlauf als komorbide Störung. Hinsichtlich der Angststörun- gen sei exemplarisch die Generalisierte Angststörung (GAS) als wichtige Differenzialdiagnose für das Jugend- alter genannt, deren Symptome – wie etwa die ausge- prägte Grübelneigung, anhaltende Anspannung sowie somatische Beschwerden – auch bei der Depression auftreten können. Zudem treten auch bei der GAS häu- fig Schlafstörungen auf, die in der Folge zu Abgeschla- genheit führen. PR A XISTIPP Ein typisches Merkmal der GAS, das für die Ab- grenzung hilfreich sein kann, ist das starke Be- dürfnis nach Rückversicherung in Bezug auf die eigenen Sorgen bzw. Ängste (z. B. die Gesundheit der Eltern), die im Unterschied zur Depression die Leitsymptomatik bilden. Ursachen Die Ursachen der Depression im Kindes- und Jugendal- ter sind multifaktoriell und durch ein komplexes Zu- sammenspiel von Stressoren und einer Diathese cha- rakterisiert, die sowohl biologische als auch psycholo- gische Aspekte umfasst. Stressoren, die eine depressi- ve Episode im Kindes- und Jugendalter mit auslösen und aufrechterhalten können, sind vielfältig. Ihre Rele- vanz hängt wesentlich davon ab, als wie belastend He- ranwachsende die Stressoren selbst wahrnehmen und welche Ressourcen sowie eigene Strategien (z. B. in Form von Coping- oder Emotionsregulationsstrate- gien) sie haben, um den Stressoren etwas entgegenzu- setzen. So stellt bspw. ein Umzug in eine andere Stadt gerade im Jugendalter für viele eine große Belastung dar, da der Anschluss an die eigene Peer-Gruppe damit verloren geht oder zumindest deutlich erschwert wird. Für manche Jugendliche kann ein Umzug aber auch eine Entlastung darstellen, z. B. wenn sie in ihrem alten Umfeld Mobbing erlebt haben. Gleichwohl konnten in längsschnittlichen Studien Stressoren identifiziert werden, die nachweisbar zur Entstehung einer Depression beitragen können. Dabei sind insbesondere traumatische Erfahrungen, z. B. in Form von sexueller, körperlicher oder psychischer Ge- walt, oder Vernachlässigung zu nennen. Auch der Ver- lust enger Bezugspersonen stellt ein einschneidendes Erlebnis dar, das mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko einhergeht. 52 Greimel Ellen et al. Depression im Kindes- … KJP up2date 2024; 1: 45–61 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung FALLBEISPIEL Ursachen Bei Lena besteht eine familiäre Vorbelastung: Die Mutter sowie die Großmutter mütterlicherseits waren ebenfalls an einer Depression erkrankt. Als belastende Lebensereignisse vor Be- ginn der Symptomatik lassen sich die pandemiebedingte Lockdown-Situation und das darunter leidende familiäre Klima und die Überforderung durch das Homeschooling benennen. Durch Letzteres habe sich Lena auch zunehmend weniger mit ihrer Schule und den Mitschülerinnen und Mitschülern ver- bunden gefühlt. Auch der Wegfall von Ressourcen wie das Treffen von Freundinnen und der Besuch des Handballvereins sowie die fehlende Struktur können als Stressoren zu der Ent- wicklung der Depression beigetragen haben. Als aufrechter- haltende Faktoren könnten der häufig ausbleibende Schulbe- such sowie der soziale Rückzug benannt werden. Die Wahr- nehmung der eigenen reduzierten Leistungsfähigkeit und des Schulversagens trägt zusätzlich zu einem Stresserleben bei, was wiederum die Depression verstärkt und zu einer negativen Selbstsicht im Sinne einer negativen kognitiven Triade beitra- gen kann. Negative Sicht der Umwelt „Überall gibt es nur Probleme und Stress“ Negative kognitive Triade Negative Sicht der eigenen Person „Ich bin wertlos und zu nichts zu gebrauchen“ Negative Sicht der Zukunft „Es hat sowieso keinen Sinn, die Probleme werden zukünftig immer größer“ ▶ Abb. 1 Negative kognitive Triade der Depression nach Beck [26]. tionen mehr beachtet werden. Kognitive Fehler schließlich umfassen z. B. Schwarz-Weiß-Denken oder Personalisierung („Mein Freund hat sich getrennt von mir, daran bin ich allein schuld.“). Exemplarische Ansätze der Auf- klärung und Entstigmatisierung Da depressive Störungen im Kindes- und Jugendalter oft erst spät erkannt und behandelt werden [1], kommt der laiengerechten Aufklärung über das Störungsbild eine wichtige Bedeutung zu. Entsprechende Ansätze können dazu beitragen, dass Anzeichen einer Depressi- on rechtzeitiger erkannt werden und Betroffene ge- meinsam mit ihren Familien professionelle Hilfsange- bote aufsuchen. Ein wichtiger Aspekt bei der Aufklä- rung ist auch die Entstigmatisierung der Erkrankung, da empfundene Scham und Vorurteile gegenüber der Depression eine große Barriere für Hilfesuchverhalten darstellen. In diesem Zusammenhang ist hervorzuhe- ben, dass bei Jugendlichen in Deutschland die empfun- dene Stigmatisierung in der Schule aufgrund einer psy- chischen Erkrankung im Vergleich zu anderen Ländern (wie z. B. Frankreich) mit am höchsten ausfällt und gleich hohe Werte nur für das Vereinigte Königreich und die Niederlande berichtet werden [27]. Um einem dringenden Handlungsbedarf in zeitgemä- ßer Weise gerecht zu werden, hat die Klinik und Polikli- nik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des LMU Klinikums gemeinsam mit der Beisheim Stiftung das webbasierte Infoportal „ich bin alles“ entwickelt (https://www.ich-bin-alles. de/). Es steht seit 2021 zur Verfügung und wird durch Social-Media-Kanäle ergänzt. Das Portal klärt sowohl an Depression erkrankte als auch gesunde Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern evidenzbasiert u. a. da- rüber auf, wie Depressionen erkannt, diagnostiziert und behandelt werden können und wie die eigene psy- chische Gesundheit gestärkt werden (▶ Abb. 2). In mehreren präregistrierten Studien mit den verschie- denen Zielgruppen wurde überprüft, ob das „ich bin alles“-Portal auf hohe Akzeptanz stößt und die Rezepti- on der Webseite zu einem anhaltenden Wissenszu- wachs hinsichtlich der dargebotenen Inhalte führt. Be- reits publizierte Daten für die Zielgruppe der Eltern be- troffener Heranwachsender belegen die hohe Akzep- tanz und einen Wissenszuwachs nach Rezeption der Webseiten-Inhalte [28]. Die naturalistische Nutzung des Portals wird aktuell im Rahmen einer Online-Studie evaluiert, um Rückschlüsse auf Aspekte wie die Akzep- tanz des Angebots und Veränderungen in der Verhal- tensintention der Nutzerinnen und Nutzer zu ermögli- chen. Aufgrund des gestiegenen Bedarfs nach fundierten In- formationen über Depression und psychische Gesund- heit im schulischen Kontext wurde dieses Angebot 2023 um eine eigene Webseite ergänzt, die sich spe- ziell an Lehrkräfte richtet: „ich bin alles @Schule“ (https://schule.ich-bin-alles.de/) (▶ Abb. 3). Die praxis- bezogene Wissensvermittlung soll Lehrkräfte und pä- dagogische Fachkräfte dabei unterstützen, Erkrankun- gen wie die Depression zu verstehen, die psychische Gesundheit ihrer Schüler*innen zu fördern und Auffäl- ligkeiten auf geeignete Weise anzusprechen. Zudem verweist das Portal auf professionelle Hilfsangebote, an die sich Schülerinnen und Schüler sowie deren El- tern wenden können. 54 Greimel Ellen et al. Depression im Kindes- … KJP up2date 2024; 1: 45–61 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung ▶ Abb. 3 Webseiten-Ansicht des Infoportals „ich bin alles @Schule“ (Quelle: https://www.ich-bin-alles.de/, Klinikum der Universität München). Merke Kinder und Jugendliche mit einer Depression sollten eine Psychotherapie erhalten. Bei einer schweren Depression ist zusätzlich eine pharmakologische Be- handlung in Erwägung zu ziehen. Bei einer schweren Depression sollte eine Kombinati- onstherapie aus Psychotherapie und Pharmakotherapie in Erwägung gezogen werden. Als Medikament der ers- ten Wahl wird der selektive Serotonin-Wiederaufnah- mehemmer (SSRI) Fluoxetin empfohlen. Für die Umset- zung der Pharmakotherapie sollten aufgrund des indi- viduellen Entwicklungstandes des Kindes und Jugendli- chen mit einer depressiven Störung das Körpergewicht, der körperliche Entwicklungsstand und das Vorliegen von körperlichen Erkrankungen berücksichtigt werden. Die Pharmakotherapie sollte in der Kombination mit einer Psychotherapie angeboten werden. Aufgrund der Nebenwirkungen von SSRI in Form einer Verstär- kung von Suizidgedanken ist ein enges Monitoring des Therapieverlaufs notwendig. Ein therapeutisches Drug- Monitoring (TDM) wird empfohlen [31]. Als Alternative zu der Verordnung von Fluoxetin, das für Kinder ab dem 8. Lebensjahr in Deutschland zur Behandlung der De- pression zugelassen ist, sollten die Medikamente Esci- talopram, Citalopram oder Sertralin eingesetzt wer- den. Cave Wegen mangelnder Evidenz für die Wirksamkeit in der Behandlung der Depression im Kindes- und Ju- gendalter sollten Paroxetin, Venlafaxin und Mirtaza- pin nicht eingesetzt werden. Auch standardisierter Johanniskrautextrakt (Hypericum) wird aufgrund fehlender Evidenz für die Wirksamkeit nicht empfoh- len. Da Schlafstörungen häufig ein zentraler, für die Ju- gendlichen sehr belastender Teil der Symptomatik sind, sollte der Einsatz von Melatonin in Betracht gezo- gen werden [32]. Die Revision der Leitlinie wird Emp- fehlungen zu unterstützenden Therapiemethoden, wie z. B. der sportlich/körperlichen Aktivität und der künst- lerischen Therapie enthalten. 56 Greimel Ellen et al. Depression im Kindes- … KJP up2date 2024; 1: 45–61 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Interessenkonflikt Korrespondenzadresse Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: ja, von einer anderen Insti- tution (Pharma- oder Medizintechnikfirma usw.); Honorar/ geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsemp- fänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Part- ner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht‐Sponsor der Ver- anstaltung): nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/ Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Sponsor der Veran- staltung): nein Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht. apl. Prof. Dr. rer. medic. Ellen Greimel Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, LMU Klinikum Nussbaumstr. 5 80336 München Deutschland E-Mail: Ellen.Greimel@med.uni-muenchen.de Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbe- stimmungen für diesen Beitrag ist Prof. Dr. med. Gerd Schulte-Körne, München. Autorinnen/Autoren Literatur apl. Prof. Dr. rer. medic. Ellen Greimel 1998–2004 Psychologiestudium, Julius-Maxi- milians-Universität Würzburg und Universi- dad Autónoma de Madrid. 2010 Promotion. 2017 Habilitation, Approbation als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. 2024 außerplanmäßige Professur. Seit 2012 Ar- beitsgruppenleiterin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des LMU Klinikums. Forschungsschwerpunkte: Affektverarbeitung und Wirk- samkeit psychoedukativer Ansätze bei Kindern und Jugend- lichen mit Depression. Dr. rer. biol. hum. Lisa Feldmann 2010–2015 Studium der Psychologie an der Paris Lodron Universität Salzburg und LMU München. 2018–2023 Ausbildung zur Psy- chologischen Psychotherapeutin. 2023 Ap- probation (Verhaltenstherapie). Seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des LMU Klinikums. Forschungsschwerpunkte: Verlauf de- pressiver Erkrankungen, Emotionsregulation, Neurophysio- logie. Prof. Dr. med. Gerd Schulte-Körne 1981–1988 Medizinstudium, RWTH Aachen und Philipps Universität Marburg. 1988 Ap- probation. 1991 Promotion. 1999 Habilitati- on. 2001–2006 Hochschuldozent (C2), Phi- lipps Universität Marburg. Seit 2006 W3-Pro- fessor (Lehrstuhl) für Kinder- und Jugend- psychiatrie und Psychotherapie an der LMU München und Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psy- chosomatik und Psychotherapie am LMU Klinikum. For- schungsschwerpunkte: Neurophysiologie, Neuropsycholo- gie und Genetik depressiver und schulischer Entwicklungs- störungen, Therapieentwicklung und -evaluation, Präventi- onsforschung. [1] Hintzpeter B, Metzner F, Pawils S et al. Inanspruchnahme von ärztlichen und psychotherapeutischen Leistungen durch Kinder und Jugendliche mit psychischen Auffälligkei- ten. Kindheit und Entwicklung 2014; 23: 229–238 doi:10.1026/0942-5403/a000148 [2] Weiss B, Garber J. Developmental differences in the pheno- menology of depression. Dev Psychopathol 2003; 15: 403– 430 [3] Zimmermann P, Lichtenstein L, Iwanski A. Entwicklung der Emotionsregulation in Kindheit und Jugend. In: In-Albon T (eds.) Emotionsregulation und psychische Störungen im Kindes-und Jugendalter: Grundlagen, Forschung und Be- handlungsansätze. Stuttgart: Kohlhammer Verlag; 2023: 36–59 [4] Lange S, Tröster H. Adaptive und maladaptive Emotionsre- gulationsstrategien im Jugendalter. Zeitschrift für Gesund- heitspsychologie 2015; 23: 101–111 doi:10.1026/0943- 8149/a000141 [5] Luby JL, Heffelfinger AK, Mrakotsky C et al. Preschool major depressive disorder: preliminary validation for develop- mentally modified DSM-IV criteria. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2002; 41: 928–937 [6] Yorbik O, Birmaher B, Axelson D et al. Clinical characteristics of depressive symptoms in children and adolescents with major depressive disorder. J Clin Psychiatry 2004; 65: 1654– 1659 [7] Rice F, Riglin L, Lomax T et al. Adolescent and adult diffe- rences in major depression symptom profiles. J Affect Dis- ord 2019; 243: 175–181 [8] Senf B, Eggert L. Entwicklungspsychologische Aspekte in der Arbeit mit trauernden Kindern und Jugendlichen. In: Röseberg F, Müller M (eds.) Handbuch Kindertrauer: Die Begleitung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG; 2014: 17–24 [9] Piechaczek CE. Epidemiologie. In: Schulte-Körne G, Greimel E (eds.) Depression im Kindes- und Jugendalter – Rechtzei- tig erkennen, wirksam behandeln und vorbeugen. Stutt- gart: Kohlhammer; 2023 58 Greimel Ellen et al. Depression im Kindes- … KJP up2date 2024; 1: 45–61 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

Fragen und Antworten | CME Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Unter https://eref.thieme.de/CXN3D1M oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests und zum Artikel. Sie finden dort auch den genauen Einsendeschluss. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführ- liche Anleitung. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! VNR 2760512024165722768 Frage 1 Welche Aussage über die Prävalenz der Depression ist richtig? A Die Prävalenzen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter Frage 3 Welche Aussage trifft zu? Jugendliche mit erhöhten depressi- ven Symptomen… sind vergleichbar. B Die Prävalenzraten sind bei jugendlichen Mädchen und C Jungen vergleichbar. Es gibt zu wenig Studien, um Aussagen zur Prävalenz im Kindes- und Jugendalter treffen zu können. D Ab der Pubertät kommt es zu einem Anstieg der Prävalenz- A begeben sich meistens in professionelle Behandlung. B befinden sich selten in professioneller Behandlung, weil es wenig wirksame Behandlungsangebote gibt. befinden sich meistens nicht in professioneller Behandlung, u. a. weil eine depressive Symptomatik in diesem Alter leicht übersehen werden kann. C E raten. Vor der Pubertät können Kinder nicht an einer Depression erkranken, weshalb die Prävalenz vor der Pubertät 0 be- trägt. D sollten vorrangig mit Antidepressiva behandelt werden. können zu Fachpersonen für erwachsene Patient*innen E gehen, da es kaum Unterschiede in der Behandlung zu Erwachsenen gibt. Frage 2 Welche Aussage über die Symptomatik der Depression ist nicht richtig? Frage 4 Welche Aussage bezüglich der Neuerungen im ICD-11 ist richtig? A Bei jüngeren Kindern kann sich Suizidalität in Form von A Psychotische Symptome können nur in Zusammenhang mit B C Spielen mit dem Inhalt Tod äußern. Eine Depression bei Kindern und Jugendlichen äußert sich häufig durch Gereiztheit. Kinder und Jugendliche klagen häufig über somatische Probleme. B einer schweren Depression klassifiziert werden. Antriebslosigkeit wird in der ICD-11 als Kardinalsymptom der Depression aufgeführt. C Die Dysthymie wird zu den anhaltenden affektiven Störun- gen gezählt. D Die Diagnosestellung ist im Jugendalter erschwert, da es D Aufgrund der häufig koexistierenden Angstsymptomatik Überlappungen mit pubertären Veränderungen und den Depressionssymptomen gibt. Suizidalität kommt erst ab dem Jugendalter als Depressi- onssymptom vor. E neben der Depression können bei depressiven Episoden neuerdings Zusatzkodierungen für Angstsymptome verge- ben werden. E Hoffnungslosigkeit wird als Kardinalsymptom der Depres- sion neu aufgenommen. 60 Greimel Ellen et al. Depression im Kindes- … KJP up2date 2024; 1: 45–61 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

Notizen

Richtig diagnostizieren und leitliniengerecht behandeln Im komplexen Gebiet den Überblick behalten Mit diesem Buch verstehen Sie die psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter ganzheitlich. Es bietet Ihnen die Voraussetzungen für alle diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen – orientiert an den verschiedenen Lebenswelten der Kinder- und Jugendlichen. Neben einem interdisziplinären Ansatz bezieht es die Familie in alle diagnostischen und therapeutischen Interventionen ein. Von der Behandlung bis hin zu Prävention sowie rechtlichen und organisatorischen Themen. Mit präzisen Hinweisen und praktischen Anleitungen für den Umgang mit psychisch kranken Kindern und Jugendlichen. Buch + Online-Version in der eRef ISBN 978 3 13 241122 7 130,- € [D] . 9 9 4 3 A R H n e d n e l l i a f n a e d n e d r e w ] D l [ b a h r e ß u a n e g n u r e f e i L i e B . n e t l a h e b r o v r e m ü t r r I d n u n e g n u r e d n ä s i e r P , t r a g t t u t S r e t s i g e r s l e d n a H d n u - z t i S , G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . t e n h c e r e b r e t i e w n e t s o k d n a s r e V shop.thieme.de

CME-Fortbildung Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen: Expositionstherapie in vivo mit Kindern und Jugendlichen mit Angststörungen Tina In-Albon, Verena Pflug, Silvia Schneider Heft 1/2024 ALLES ONLINE LESEN IHR ONLINE-SAMMELORDNER JETZT FREISCHALTEN Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: online wie offline, am PC und mobil, alle bereits erschienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! https://eref.thieme.de/kjp-up2date Sie möchten jederzeit und überall auf Ihr up2date-Archiv zu- greifen? Kein Problem! Ihren immer aktuellen Online- Sammelordner finden Sie unter: https://eref.thieme.de/FQ2TD Sie haben Ihre Zeit- schrift noch nicht freigeschaltet? Ein Klick genügt: www.thieme.de/eref-registrierung.

CME-Fortbildung DEFINITION Exposition Exposition [engl. exposition; lat. exponere, aussetzen, offen hinstellen], syn. Expositionstherapie; das Konfrontieren mit dem furchteinflößenden Gegenstand (https://dorsch.hogrefe. com/stichwort/exposition). Exposition beschreibt die Kon- frontation mit angstbesetzten Situationen und Reizen; dies umfasst reale Objekte und Kontexte, angstbesetzte Körper- empfindungen, Gedanken oder imaginative Vorstellungen. Für eine Beschreibung der möglichen Wirkprozesse von Expo- sitionen, wie das Erleben von Habituation, das Überprüfen von Kognitionen in Verhaltensexperimenten und insbesondere das inhibitorische Lernen, wird auf Pittig et al. [10] verwiesen. Obwohl die Behandlung von Angststörungen gute Ef- fekte zeigt, gibt es noch Raum für Verbesserungen. Dazu gehört einerseits, die Wirkmechanismen besser zu verstehen, andererseits, dass die Therapien lege ar- tis durchgeführt werden. Trotz klarer Empfehlung wer- den Expositionsübungen bei Angststörungen in der Praxis noch viel zu selten eingesetzt [11, 12]. Im Folgenden gehen wir speziell auf das Vorgehen bei Expositionen in vivo mit Kindern und Jugendlichen mit Angststörungen ein. Dabei wird zunächst die Vorberei- tung von Expositionsübungen und anschließend die Durchführung beschrieben (entsprechende Arbeits- blätter dazu finden sich bei [13]). Begleitend wird ein Fallbeispiel des 14-jährigen Leon mit sozialer und spezi- fischer Phobie vorgestellt. Zusätzlich werden konkrete Beispielübungen für verschiedene Angststörungen auf- gezeigt. Vorbereitung zur Exposition Eine sorgfältige Vorbereitung ist für den Erfolg dieses zentralen Therapiebausteins unerlässlich. Ein Bestand- teil der Vorbereitung ist das Erstellen einer Angsthie- rarchie. Dabei wird eine Liste von Situationen/Objekten erstellt und in eine Rangordnung von „gar nicht“ bis „sehr stark“ angstauslösend eingestuft. Bei der Rang- ordnung kann ein Hinweis erfolgen, dass diese Rang- ordnung nicht als fix zu betrachten ist, sondern es auch vorkommen kann, dass eine Übung leichter oder schwieriger als gedacht sein kann. Die Reihenfolge der Übungen ist zudem nicht starr einzuhalten. Manchmal macht es Sinn, z. B. erst eine mittelschwere Situation zu üben, danach zwei leichte und erst danach wieder in der Rangordnung weiter nach oben zu gehen. Die Hie- rarchie kann bildlich, z. B. mit Hilfe einer Leiter oder ei- nes Berges, festgehalten werden. Das Bild des Berges soll veranschaulichen, dass Expositionsübungen an- strengend sind, dass der Therapeut*in entsprechend eines Bergführers das Kind begleitet, sie gemeinsam Schritt für Schritt in Richtung Gipfel gehen – und auch, dass es manchmal sein kann, einen Umweg oder einen Schritt rückwärts zu machen, um weiter vorwärts zu kommen. Auf diese Weise können mögliche schwierige Situationen in der Therapie (z. B. ein Stillstand) bereits im Vorfeld angesprochen werden, so dass das Kind in einer schwierigen Übungssituation daran erinnert wer- den kann und es einen Misserfolg nicht zu persönlich nimmt. Die Angsthierarchie kann je nach Motivation des Kindes durch einen Verstärkerplan ergänzt werden. Ein weiterer wichtiger Vorbereitungsschritt ist das ge- meinsame Erarbeiten eines Expositionsrationals, damit das Kind versteht, warum es sich seiner Angst stellen soll. Dabei hat es sich bewährt, frühere Lernerfahrun- gen des Kindes herauszuarbeiten. Dies kann eine Lern- erfahrung sein, bei der das Kind früher Angst hatte oder eine von Angst unabhängige Lernerfahrung, wie Fahrradfahren oder das Erlernen eines Musikinstru- ments. Es ist wichtig, dem Kind zu verdeutlichen, dass aller Anfang schwer ist und dass das Üben eine wesent- liche Komponente des Lernens darstellt. Durch den Vergleich mit einer aktuellen typischen angstauslösen- den Situation kann gezeigt werden, dass Vermeidung Angst aufrechterhält: Die Vermeidung führt zwar kurz- fristig zu einer Angstreduktion, aber langfristig ver- stärkt sie sogar die Angst. Merke Ziel ist es also, dass das Kind anhand des geleiteten Entdeckens erkennt, dass es durch Übung lernen kann, seine Angst zu überwinden. Zum Abschluss der Vorbereitung kann ein Übungsver- trag zwischen Kind, Eltern und Therapeut*in sinnvoll sein, in dem explizit festgehalten wird, dass verstanden wurde, warum das Üben wichtig ist und dass dafür Zeit reserviert werden soll. Das Einverständnis in eine Expo- sitionsbehandlung ist gemäß Berufsordnung notwen- dig und zu dokumentieren. Planung der Expositionsübung Bei Kindern sollte die Exposition in vivo graduiert erfol- gen, d. h. es wird bei einer mäßig stark angstauslösen- den Situation begonnen und das Kind dann an die Spitze der Hierarchie herangeführt. Mit Jugendlichen können die Vorteile eines massierten Vorgehens besprochen werden, z. B. dass nach Bewältigung der schwierigsten Situation die anderen Stufen leichter werden und damit evtl. die Therapiedauer verkürzt werden kann. Vor der 1. Übung ist aus der Psychoedukation zu wie- derholen, dass die Angst womöglich versuchen wird, das Kind dazu zu veranlassen, Vermeidungs- oder Si- cherheitsverhalten zu zeigen oder die Angst sich in kör- perlichen Symptomen wie Bauchschmerzen verstecken 68 In-Albon Tina et al. Expositionstherapie in vivo … KJP up2date 2024; 1: 65–79 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung SCHWIERIGE SITUATIONEN WÄHREND E XPOSITIONSÜBUNG 1a. Patient*in: „Heute ist kein guter Tag, ich habe Bauch- schmerzen.“ (Das Kind verweigert die Übung.) Therapeut*in: „Warum hast du wohl Bauchschmerzen? Kann es sein, dass du ein bisschen Angst vor der Übung hast? Erin- nerst du dich noch, dass auch unser Körper reagiert, wenn wir Angst haben? Wahrscheinlich ist das bei dir gerade so. Sollen wir dann heute die Übung sein lassen? Was meinst du, was spricht dafür und was dagegen? Wenn wir uns entscheiden es nicht zu machen, werden deine Bauchschmerzen wahrschein- lich sofort aufhören, es würde sich also gut anfühlen. Was würde aber dann beim nächsten Mal passieren, wenn wir die Übung wieder machen wollen? Ja, mit großer Wahrscheinlich- keit werden die Bauchschmerzen dann wieder kommen und manchmal sind sie dann sogar noch stärker. Wenn wir es aber heute zusammen schaffen, die Übung zu machen, was glaubst du passiert dann mit deinen Bauchschmerzen? Genau, deswe- gen sollten wir jetzt üben, obwohl du Bauchschmerzen hast.“ 1b. Patient*in: „Heute ist kein guter Tag, ich habe Bauch- schmerzen.“ Therapeut*in: Ich kann mir vorstellen, dass du gerade Angst hast. Daher ist es ganz toll, dass du hier bist. Wir haben letzte Woche besprochen, dass du heute vielleicht Angst haben wirst, aber auch den Übungsvertrag unterschrieben. Wir soll- ten daher jetzt mit der Übung starten. Schau mal, hier haben wir noch deine Mutmach-Karten. 2a. Das Kind berichtet während der Übung, keine Angst zu haben, obwohl Angstsymptome beobachtbar sind. Therapeut*in: „Du sagst, deine Angst ist bei null. Wie ist es mit deinen Gedanken und deinen körperlichen Symptomen? Wir hatten im Vorfeld besprochen, dass man auch in einer Übung Vermeidungsverhalten, sog. Sicherheitsverhalten, zeigen kann, also z. B. mit den Gedanken ganz woanders als beim Üben ist. Wie würde ich das merken? Für wen wäre es gut (für dich oder die Angst), wenn wir die Übung jetzt beenden wür- den?“ 2b. Das Kind berichtet während der Übung, keine Angst zu haben, und es sind keine Angstsymptome sichtbar. Therapeut*in: „Das ist doof, wir wollten doch unbedingt aus- probieren, wie das ist, wenn du Angst bekommst und du nicht wegläufst wie sonst. Dadurch können wir prüfen, was mit dei- ner Angst passiert. Aber dazu brauchen wir Angst, sonst geht das nicht. Hast du eine Idee, wie wir die Angst hervorrufen können?“ fen oder der Intensität einer aversiven Konsequenz ma- ximal widerspricht. Das Ende der Expositionsübung hängt von der optimalen Widerlegung der jeweiligen Erwartung ab und nicht von einer Angstreduktion. Da- bei ist die Aufmerksamkeit auf den angstbesetzten Reiz und die Erwartungsverletzung zu lenken und am Ende der Übung zu besprechen, was der Patient gelernt hat. Übungen sind so häufig zu wiederholen, bis diese Er- wartungen abnehmen. Entscheidend ist die Nachbe- sprechung der Erwartungen – dies kann mit folgenden Fragen geschehen: ▪ „Wie viel Angst hattest du vor, während und nach der Übung?“ (0–100%) ▪ „Ist deine Befürchtung eingetreten?“ ▪ „Woran hast du gemerkt, dass dies nicht passiert ist?“ ▪ „Was hast du gelernt?“ ▪ „Wie sehr glaubst du, dass deine Befürchtung beim nächsten Mal passieren wird?“ Vertiefte Extinktion Dabei werden zuerst unterschiedliche Angstreize ein- zeln aufgesucht und dann gemeinsam in einer weiteren Expositionsübung zusammengeführt, z. B.: Es wird zu- erst geübt, allein zu schlafen, dann übt man im Dun- keln zu sein und danach wird im eigenen Zimmer die Beleuchtung reduziert, so dass beim Alleinschlafen nur noch ein kleines Nachtlicht brennt und nicht mehr 3 Lampen. Entfernen von Sicherheitssignalen bzw. Sicherheitsverhalten Manchmal wenden Patient*innen Sicherheitsverhal- tensweisen an, um die Angst besser kontrollieren oder reduzieren zu können. Dadurch machen sie aber nicht die Erfahrung, dass ihre Befürchtung auch dann nicht eintritt, wenn sie nichts machen. Deswegen soll das Si- cherheitsverhalten graduiert reduziert oder komplett entfernt werden (z.B. das Reduzieren von wiederholten Anrufen oder Textnachrichten an die Eltern, um diese zu fragen, wann sie nach Hause kommen und ob mit ih- nen alles in Ordnung ist). Variabilität Mit der Variabilität ist die Unterschiedlichkeit von Rei- zen und Kontexten während der Exposition gemeint, aber auch die Variabilität bezüglich der Zeiträume zwi- schen den Expositionssitzungen oder die Länge der Ex- positionen. Dazu zählt auch, dass die Reihenfolge der Expositionen unabhängig vom Angstlevel erfolgt, also der Rangfolge einer Angsthierarchie. Setzen Sie mög- lichst unterschiedliche Angstreize ein, z. B. Spinnen un- terschiedlicher Größe, unterschiedliche Hunderassen. Expositionsübungen sollten in mehreren und verschie- denen Kontexten durchgeführt werden, z. B. durch Va- riation Ort, Tageszeit, Stimmung, Begleitpersonen, vo- rausgehende Aktivitäten. Erinnerungs- oder Hinweisreize Um die neuen Lernerfahrungen zu festigen (konsolidie- ren), können Fotos, Videoaufnahmen, Souvenirs (Bus- fahrkarte, Kassenzettel) von erfolgreichen Expositio- nen oder ein Therapietagebuch von gelungenen Expo- sitionen zusammengestellt werden. So können Lerner- fahrungen während der Exposition immer wieder be- 70 In-Albon Tina et al. Expositionstherapie in vivo … KJP up2date 2024; 1: 65–79 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Biografie Vorbereitung Die Schwangerschaft und Geburt von Leon seien un- auffällig verlaufen, ebenso die frühkindliche Entwick- lung. Leon habe den Kindergarten besucht und sei dort als ruhig und zurückhaltend beschrieben worden. Im Vergleich zu anderen Kindern sei er schon damals ein eher ängstliches Kind gewesen, das z. B. nicht gerne geschaukelt habe. Die Grundschulzeit sei unauffällig verlaufen. In der 6. Klasse habe es angefangen, dass sich Klassenkameraden über sein Aussehen lustig ge- macht hätten (buschige Augenbrauen, eher schmäch- tige Statur). Er habe sich in seiner Klasse beobachtet und nicht mehr wohl gefühlt und daraufhin vom Gym- nasium auf die Gesamtschule gewechselt. Die Angst vor negativer Bewertung durch andere sei in dieser Zeit entstanden. Durch den Schulwechsel habe sich die Symptomatik kurzzeitig verbessert, so dass Leon danach wieder relativ gerne zur Schule ging. Im Laufe der Jahre hätten die Ängste jedoch wieder zugenom- men. Momentan seien sie für Leon sehr einschränkend, so dass er sich immer mehr sozial zurückzöge. Diagnostik Um die Verdachtsdiagnose des Erstgesprächs abzusi- chern, wurde das Kinder-DIPS-OA (Diagnostisches In- terview bei psychischen Störungen des Kindes- und Ju- gendalters) [21] mit dem Patienten und seinen Eltern einzeln durchgeführt. Beide Diagnosen „Soziale Pho- bie“ und „Spezifische Phobie vor Hunden“ konnten nach ICD-10 und DSM-5 bestätigt werden. Therapieverlauf Die Therapie orientierte sich an dem Therapiemanual „Kinder bewältigen Angst (KibA)“ [22] (Das KibA-Ma- nual wird zukünftig frei verfügbar auf der Open Access Homepage des FBZ der Ruhr-Universität verfügbar sein: https://fbz-bochum.de/open-access). In den ers- ten 4 Sitzungen stand die Psychoedukation und die Vorbereitung auf die Expositionsübungen im Vorder- grund. Leon lernte, was eine Angststörung ist, wie häu- fig diese auftritt (Prävalenzraten) und wie sie sich bei ihm physiologisch, kognitiv und behavioral äußert. Er erkannte, dass es in Gefahrensituationen sogar hilf- reich ist, wenn man Angst entwickelt und körperlich reagiert, um schnell handeln zu können; wohingegen es in eigentlich nicht gefährlichen Situationen hinder- lich ist, starke Angst zu haben, wie bei ihm bei der Kon- frontation mit Hunden. Besonders beeindruckend für ihn war die neue Erkenntnis, dass Gedanken Körper- symptome beeinflussen können. Anhand der Zitronen- Imaginationsübung, bei der er sich vorstellen sollte, dass er in eine ganz saure saftige Zitrone hineinbeißt, bemerkte er, dass er Speichelfluss im Mund erzeugen konnte. So verstand er, welche Kraft unsere Gedanken haben und dass wir durch die Veränderung unserer Ge- danken auch Einfluss auf die Angst nehmen können. Im nächsten Schritt wurde dann mit ihm zusammen überlegt, welche Situationen ihm aktuell ein wenig Angst machen, mittlere Angst bereiten oder starke Angst auslösen, die er in Zukunft gerne bewältigen würde; jeweils getrennt für die spezifische und soziale Phobie. Danach wurde Leon befragt, ob es Situationen gibt, vor denen er früher Angst hatte, die er aber jetzt schon be- wältigen kann. Leon gab an, dass es ihm früher sehr schwergefallen war, im Schwimmbad über tiefe Stellen zu schwimmen, weil er damals immer befürchtet hatte, dass ein Krake oder ein Seeungeheuer auftauchen und ihn nach unten ziehen würde. Das habe er in einem Film gesehen. Obwohl er damals schon sehr gut schwim- men konnte, habe er es vermieden, im tiefen Wasser zu schwimmen. Jetzt gibt er an, es mache ihm gar nichts mehr aus, er habe das schon oft gemacht. Ge- meinsam wurden dann Angstverlaufskurven gemalt: „Wie war deine Angst, als du zum 1. Mal über die tiefe Stelle im Becken geschwommen bist? Wie war sie beim 2., 5., 10. Mal?“ Anhand des Schaubilds erkannte er, dass mit der Übung die Angst immer weniger ge- worden war. Seine Befürchtung traf nie ein, so dass er heute darüber lachen konnte, dass er sich damals vor Kraken im Schwimmbad gefürchtet hatte. Dieser Habi- tuationssituation wurden dann die aktuellen Angstsi- tuationen gegenübergestellt und herausgearbeitet, was ähnlich ist und wobei es Unterschiede gibt. Leon erkannte beispielsweise, dass er Hunde meidet und ih- nen aus dem Weg geht, so wie er damals die tiefen Stel- len im Schwimmbad gemieden hatte. Er verstand auch, dass es eigentlich gut wäre, zu den Hunden hinzugehen und zu überprüfen, ob seine Befürchtungen zutreffen, so wie er damals seinen Mut zusammengenommen hatte, um über die tiefe Stelle zu schwimmen. Gleich- zeitig machte ihm dieser Gedanke aber viel Angst. Aus diesem Grund wurde die Bergmetapher einge- führt: „Wenn wir uns Angstsituationen stellen, dann fangen wir nicht mit der schwierigsten Situation an, sondern wir machen das Schritt für Schritt. An einem Tag schaffen wir die erste Etappe, am nächsten Tag ein Stück mehr, dann nochmal und irgendwann stehen wir am Gipfel und haben es geschafft. Wir unterteilen also dein großes Ziel, keine Angst mehr vor Hunden zu ha- ben, in viele kleine Schritte. So könnte es ein Teilziel sein, es zu schaffen, im Abstand von 5 Metern hinter ei- nem angeleinten Hund herzulaufen. Das Endziel dabei ist aber nicht, gar keine Angst mehr vor Hunden zu ha- ben. Was glaubst du, warum? Gibt es manchmal auch Situationen, in denen es gut ist, wenn du vor einem be- stimmten Hund Angst hast?“ 72 In-Albon Tina et al. Expositionstherapie in vivo … KJP up2date 2024; 1: 65–79 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung ▶ Abb. 1 Fragebogen zur Expositionsübung „Übung macht den Meister“ Zukünftig frei verfügbar auf der Open Access Homepage des FBZ der Ruhr-Universität: https://fbz-bochum.de/open-access (Quelle: KibA-Studie, Ruhr-Universität Bochum [22]). ten und schaffte es stehenzubleiben. Durch Bewegung (1 Schritt zurück, 1 Schritt nach vorne auf den Hund zu, 2 Schritte zurück, 2 nach vorne usw.) und der damit verbundenen Abwechselung zwischen Angstanstieg und Angstabfall gelang es ihm, die Ängste wieder bes- ser in den Griff zu bekommen. Am Ende der Doppel- stunde konnte er mit dem Hund ohne Leine im Thera- pieraum spielen und ihm Leckerlis geben. Es wurden Fotos und Videos von Leon und dem Hund aufgenom- men, die sich Leon zuhause immer wieder anschauen konnte, um den Gedächtnisabruf des Extinktionslernen zu verbessern. Zum Ende der Stunde war Leon sehr stolz und vor allem total überrascht davon, dass er in so kurzer Zeit einen so großen Fortschritt erreicht hat- te. Er nahm sich als Hausaufgabe für die nächsten Wo- chen vor, dieselben Übungen bei einem Freund durch- zuführen, der einen Hund hatte, und auch seine Tante mit dem Schäferhund zu bitten, die Angsthierarchie noch einmal mit ihm zusammen durchzugehen. Die weiteren Expositionssitzungen wurden dann vor- rangig für die Bearbeitung der sozialen Phobie genutzt. Als 1. Übung in der Doppelsitzung wurde abgespro- chen, dass Leon nach einem Stift im Sekretariat fragen sollte. Seine Befürchtung dabei lautete: „Wenn ich vor dem Sekretariat stehe, dann habe ich so viel Angst, dass ich kein Wort herausbekomme und nicht fragen kann. Das wird dann eine sehr peinliche Situation.“ Die Übung sollte max. 15 Minuten dauern. Sobald er ge- fragt habe, könne die Übung beendet werden, dann dürfe er gehen. Ansonsten solle er 15 Minuten vor dem Sekretariat stehen bleiben und probieren zu fra- gen. Er war überzeugt davon, dass in dieser Zeit die Angst nicht abnehmen würde, wenn er vor dem Sekre- tariat stehen bleiben würde und nicht weglaufen dürfe. Hilfreiche Gedanken wurden für die Situation gesam- melt: „Ich schaffe das!“, „Jeder fragt doch mal nach ei- nem Stift, man hat doch nicht immer einen dabei“, „Die Angst möchte, dass ich die Situation vermeide und weglaufe, deswegen mache ich das extra nicht, sondern bleibe stehen.“ Dann stellte sich Leon der Si- tuation. Zuerst stieg seine Angst an und er schaffte es nicht, sich zu überwinden, aber nach 10 Minuten ge- lang es ihm, nach dem Stift zu fragen. Stolz und glück- lich kam er mit dem Stift zurück. Zu jeder Therapiesit- zung wurde daraufhin vereinbart, dass er entweder ein paar Minuten früher kommen oder länger bleiben soll- te, um die Übung zu wiederholen. Schon beim 3. Mal war es für ihn gar kein Problem mehr, nach einem Stift zu fragen. Angstverlaufskurven wurden gezeichnet, um 74 In-Albon Tina et al. Expositionstherapie in vivo … KJP up2date 2024; 1: 65–79 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Interessenkonflikt Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Be- rater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht‐Sponsor der Veranstaltung): nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Sponsor der Veranstaltung): nein Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen T.I-A ist Vorsitzende der KJPVT. Autorinnen/Autoren Prof. Dr. phil. Tina In-Albon Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU), Leiterin der Landauer Psychotherapie-Ambu- lanz für Kinder und Jugendliche sowie appro- bierte Psychotherapeutin und Supervisorin (Verhaltensthe- rapie). Dr. rer. nat Verena Pflug, M.Sc. Klinische Psychologin (M.Sc.) und approbier- te Kinder- und Jugendpsychotherapeutin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie der Ruhr-Universität Bochum und Leiterin der Angstsprechstunde für Kinder und Jugendli- che am Forschungs- und Behandlungszentrum für psy- chische Gesundheit in Bochum. Prof. Dr. rer. nat. Silvia Schneider Professorin für Klinische Kinder- und Jugend- psychologie an der Ruhr-Universität Bochum, Direktorin des Forschungs- und Behand- lungszentrums für psychische Gesundheit und Standortkoordinatorin Bochum-Marburg des Deutschen Zentrums für Psychische Ge- sundheit. Verhaltenstherapeutin und Supervisorin. Korrespondenzadresse Prof. Dr. phil. Tina In-Albon Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Rheinland-Pfälzische Technische Universität (RPTU) Kaiserslautern-Landau Ostbahnstr. 12 76829 Landau Deutschland E-Mail: Tina.in-albon@rptu.de Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbe- stimmungen für diesen Beitrag ist Prof. Dr. med. Michael Huss, Alzey, Deutschland. Literatur [1] Weisz JR, Kuppens S, Ng MY et al. What five decades of re- search tells us about the effects of youth psychological therapy: A multilevel meta-analysis and implications for science and practice. Am Psycholog 2017; 72: 79–117 doi:10.1037/a0040360 [2] Krause K, Zhang XC, Schneider S. Long-term effectiveness of cognitive behavioral therapy in routine outpatient care for youth with anxiety disorders. Psychother Psychosom 2024: 1–10 doi:10.1159/000537932 [3] Polanczyk GV, Salum GA, Sugaya LS et al. Annual research review: A meta-analysis of the worldwide prevalence of mental disorders in children and adolescents. J Child Psy- chol Psych 2015; 56: 345–365 doi:10.1111/jcpp.12381 [4] Solmi M, Radua J, Olivola M et al. Age at onset of mental disorders worldwide: Large-scale meta-analysis of 192 epi- demiological studies. Mol Psychiatry 2022; 27: 281–295 doi:10.1038/s41380-021-01161-7 [5] Woodward LJ, Fergusson DM. Life course outcomes of young people with anxiety disorders in adolescence. J Am Acad Child Adoles Psych 2001; 40: 1086–1093 [6] In-Albon T. Angststörungen im Kindes- und Jugendalter. In: Fegert J, Resch F, Plener P (eds.) Psychiatrie und Psychothe- rapie des Kindes- und Jugendalters. et al. Heidelberg: Springer; 2022: 1–15 [7] National Institute for Health and Care Excellence (NICE). NICE guideline Anxiety Disorders QS53; 2014. Zugriff am 11. Juni 2024: https://www.nice.org.uk/guidance/qs53 [8] In-Albon T, Schneider S. Psychotherapy of Childhood Anxie- ty Disorders: A Meta-Analysis. Psychother Psychosom 2007; 76: 15–24 doi:10.1159/000096361 [9] Kendall PC, Robin JA, Hedtke KA et al. Considering CBT with anxious youth? Think exposures Cogn Behav Pract 2005; 12: 136–148 doi:10.1016/S1077-7229(05)80048-3 [10] Pittig A, Stevens S, Vervliet B et al. Optimierung expositi- onsbasierter Therapie. Psychotherapeut 2015; 60: 401–418 doi:10.1007/s00278-015-0042-7 [11] Pittig A, Kotter R, Hoyer J. The struggle of behavioral thera- pists with exposure: Self-reported practicability, negative beliefs, and therapist distress about exposure-based inter- ventions. Behav Ther 2019; 50: 353–366 doi:10.1016/j. beth.2018.07.003 [12] Whiteside SPH, Deacon BJ, Benito K et al. Factors associated with practitioners’ use of exposure therapy for childhood anxiety disorders. J Anx Disord 2016; 40: 29–36 doi:10.1016/j.janxdis.2016.04.001 [13] Traub J, In-Albon T. Therapie-Tools Angststörungen im Kin- des- und Jugendalter. Weinheim: Beltz; 2024 [14] Pittig A, Stevens S, Vervliet B et al. Optimierung expositi- onsbasierter Therapie. Psychotherapeut 2015; 60: 401–418 doi:10.1007/s00278-015-0042-7 [15] Mohr C, Schneider S. Zur Rolle der Exposition bei der The- rapie von Angststörungen. Verhaltenstherapie 2015; 25: 32–39 doi:10.1159/000376614 76 In-Albon Tina et al. Expositionstherapie in vivo … KJP up2date 2024; 1: 65–79 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

Fragen und Antworten | CME Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Unter https://eref.thieme.de/CXNZP9Z oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests und zum Artikel. Sie finden dort auch den genauen Einsendeschluss. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführ- liche Anleitung. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! VNR 2760512024165725381 Frage 1 Welches Verfahren ist bei der Blut-Spritzen-Verletzungsphobie vor Expositionsverfahren anzuwenden? Frage 4 Welche Aussage zur Optimierung von Expositionstherapien ist falsch? progressive Muskelrelaxation autogenes Training A angewandte Anspannung B C D interozeptive Verfahren E Fantasiereisen Frage 2 Welche Aussage zum Einbezug der Eltern in die Therapie ist richtig? A Sicherheitsverhalten ist hilfreich. B Expositionsübungen sollten in verschiedenen Kontexten durchgeführt werden. Erwartungsverletzungen sollten nachbesprochen werden. C D Sicherheitssignale sind zu reduzieren. E Eine vertiefte Extinktion ist wünschenswert. Frage 5 Welche Form der Exposition gibt es nicht? A Der Einbezug der Eltern ist unabdingbar für die wirksame A interozeptive Exposition (Expositionen mit internalen B C Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Angststö- rungen. Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Angststörungen sollten keinesfalls in die Behandlung einbezogen werden. Eltern, die selbst eine Angststörung haben, sind in die Be- handlung ihrer Kinder und Jugendlichen mit Angststörun- gen einzubeziehen. D Eltern, die selbst eine Angststörung haben, sind in die Be- E handlung ihrer Kinder und Jugendlichen mit Angststörun- gen besser nicht einzubeziehen. Bei Kindern ab dem Schulalter ist die Wirksamkeit der Ver- haltenstherapie ohne Einbezug der Eltern signifikant bes- ser. Frage 3 Was ist der entscheidende Wirkmechanismus der Exposition? Applied Tension inhibitorisches Lernen A Habituation B C D assoziatives Lernen E Modelllernen B C körperlichen Symptomen) Expositionen in sensu (Expositionen in der Imagination) introspektive Exposition (Expositionen mit Fokus auf Kognitionen) D Expositionen in vivo (Exposition mit konkreten angst- E auslösenden Situationen oder Objekten) graduierte und massierte Expositionen (verschiedene Intensitäten von Expositionen) Frage 6 Was ist kein Bestandteil der Vorbereitung auf eine Exposition? A Das gemeinsame Erarbeiten eines Expositionsrationals mit Einbezug früherer Lernerfahrungen, um dem Kind die Not- wendigkeit der Exposition zu verdeutlichen. B Das Sammeln von angstauslösenden Situationen im Rah- men einer Angsthierarchie. C Das Unterzeichnen eines Übungsvertrag zwischen Patient*in (und ggf. Eltern) und Therapeut*in. D Die Durchführung von Entspannungsübungen, um die Angst des Kindes vor der Exposition zu senken. E Die optionale Hinzunahme eines Verstärkerplans nach der Erarbeitung einer Angsthierarchie. 78 In-Albon Tina et al. Expositionstherapie in vivo … KJP up2date 2024; 1: 65–79 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

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CME-Fortbildung Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen: Modellprojekte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie: Innovative Behandlungsmöglichkeiten Annette Duve Heft 1/2024 ALLES ONLINE LESEN IHR ONLINE-SAMMELORDNER JETZT FREISCHALTEN Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: online wie offline, am PC und mobil, alle bereits erschienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! https://eref.thieme.de/kjp-up2date Sie möchten jederzeit und überall auf Ihr up2date-Archiv zu- greifen? Kein Problem! Ihren immer aktuellen Online- Sammelordner finden Sie unter: https://eref.thieme.de/FQ2TD Sie haben Ihre Zeit- schrift noch nicht freigeschaltet? Ein Klick genügt: www.thieme.de/eref-registrierung.

CME-Fortbildung wickelt werden, die stationäre Behandlungen verkür- zen oder gar ersetzen. Durch integrierte Behandlungs- formen sollen Behandlungskontinuität gestärkt, häufi- ge Wechsel mit den entsprechenden Schnittstellenthe- men vermieden und stationsersetzende Behandlungs- formen im häuslichen Umfeld (Home Treatment) ge- schaffen werden. Home Treatment konnte bis 2017 nicht als Regelleis- tung angeboten werden, da es bis dato keine Gesetzes- grundlage für eine Finanzierung der aufsuchenden Be- handlungsform durch die Kostenträger gab. Neben den Modellprojekten wurde in 2017 die aufsuchende stati- onsäquivalente Behandlung (StäB) eingeführt. Diese neue Behandlungsform im familiären Umfeld findet täglich statt, wobei Multiprofessionalität der Behand- lung Voraussetzung ist [6]. Stand 2022 gab es in Deutschland 23 Kliniken der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie (EPP) sowie 6 Kinder- und Jugendpsychiatrien (KJP), die ein Modellprojekt nach § 64b verhandelt haben [7]. Die Fi- nanzierungsmodelle unterscheiden sich erheblich und bewegen sich zwischen Regionalbudgets und sektoren- übergreifenden Quartals- oder Kopfpauschalen (PerCa- pita-Modelle). In der 8. Stellungnahme und Empfeh- lung der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte vom 29.09.2023 ergeht folgende Empfehlung [8]: „Mittel- fristig ist eine Ausweitung auf alle im SGB V geregelten Psych-Behandlungsmöglichkeiten anzustreben. Hier- bei sollte das gegenwärtige Nebeneinander verschie- dener Vergütungssysteme für vollstationäre Behand- lung, Tagesklinikbehandlung, stationsäquivalente Be- handlung und ambulante Behandlung einschließlich PIAs (Psychiatrische Institutsambulanzen; Anm. d. Au- torin) in ein einheitliches, flexibles Vergütungssystem überführt werden.“ Krankenhausversorgung Merke Ziel der Modellprojekte nach §64b SGB V ist die Ent- wicklung neuer sektorenübergreifender stationser- setzender Behandlungsformen. Das Vitos Klinikum Riedstadt mit der Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit (KJP) und der Erwachsenenpsychiatrie (EP) ist seit 01.01.2016 Mo- dellklinik. Für einen Zeitraum von zunächst 8 Jahren wurde ein Gesamtbudget mit allen Kostenträgern (d. h. allen gesetzlichen und der überwiegenden Anzahl der privaten Krankenkassen) festgeschrieben, in des- sen Rahmen die Mittel flexibel eingesetzt werden kön- nen, um innovative, settingübergreifende und stati- onsersetzende Behandlungsformen zu entwickeln. Mittlerweile wurde die Laufzeit bis 2030 verlängert mit dem Ziel, das Modellprojekt anschließend in die Re- gelversorgung zu überführen. Ausgangslage der kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung in der KJP Riedstadt Die Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Ge- sundheit (KJP) Riedstadt ist eine Pflichtversorgungskli- nik in Südhessen und versorgt die 5 südlichen hessi- schen Landkreise Groß-Gerau, Darmstadt-Dieburg, Odenwald, Bergstraße und Offenbach mit den kreis- freien Städten Darmstadt und Offenbach mit zunächst 3 Außenstellen (Institutsambulanz und Tagesklinik mit 12–15 Plätzen) in Höchst/Odenwald, Heppenheim und Dietzenbach. Seit 01.10.2023 ist die Pflichtversorgung für Stadt und Land Offenbach an die neue Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Hanau übergegangen, die auch die Außenstelle Dietzenbach übernommen hat. 85 Planbetten im Haupthaus Ried- stadt verteilen sich auf 6 Stationen unterschiedlichen Alters und Indikation, hinzu kommen Institutsambu- lanz und Kindertagesklinik. Seit 2019 betreiben wir am Klinikum eine Adoleszentenstation für junge Erwachse- ne zwischen 16–25 Jahren mit 20 Plätzen als Kooperati- onsprojekt von Erwachsenen- und Kinder- und Jugend- psychiatrie, ebenfalls unter Modellprojektbedingun- gen. Stationäre oder teilstationäre Rahmenbedingungen spielen in der kinder- und jugendpsychiatrischen Be- handlung eine große Rolle. Zum einen geht es um die Entlastung der Familien, z. B. bei häuslicher Konfliktla- ge oder verzerrten Kommunikationsmustern. Zum an- deren stellt die Milieutherapie den Kindern und Ju- gendlichen ein Übungsfeld zur Verfügung, indem sie ihre unterschiedlichen Probleme wie Beziehungsge- staltung, Emotionsregulation, Selbstwertproblematik, Akzeptanz von Regeln und Strukturen bewältigen ler- nen und alternative Handlungsstrategien erarbeiten können. In regelmäßigen Familiengesprächen und In- teraktionsterminen mit den Sorgeberechtigten können familiäre Konflikte aufgearbeitet und alternative Kom- munikationsstrukturen erlernt werden. Spezialthera- peutische Behandlungen wie Ergo-, Kunst- und Moto- therapie oder tiergestützte Therapien sichern einer- seits einen oft nonverbalen Zugang zu den Patient*in- nen und sprechen andererseits kindliche Kompetenzen oder Entwicklungsmöglichkeiten auf unterschiedliche Weise an. Darüber hinaus liefern sie wichtige diagnosti- sche Einschätzungen. Viele Patient*innen unserer Kli- nik zeigen erhebliche Störungen bei der Emotionsregu- lation und Gruppenfähigkeit. Auch hier bieten die un- terschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten von Einzel- terminen zu Kleingruppe und Großgruppe gute Ent- wicklungsmöglichkeiten. 84 Duve Annette. Modellprojekte in der … KJP up2date 2024; 1: 81–94 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Die Patient*innen nehmen an ihren Behandlungstermi- nen gemäß Plan teil und verbringen den Alltag weiter wie bisher in der Patient*innengruppe, einschließlich der Mahlzeiten in der Gruppe. Je nachdem besuchen sie zunächst noch die Klinikschule oder direkt die exter- ne Stammschule. Daran orientiert sich entsprechend die Tagesstruktur. Die AAB-Tage auf der Station sind stets durch Bezugspersonengespräche eingerahmt, d. h. der erste und letzte Kontakt des Tages ist das Tages- reflexionsgespräch mit der Bezugsperson aus dem Pfle- ge- und Erziehungsdienst. Die tägliche Behandlungs- dauer kann individuell gestaltet werden: Bei Beschu- lung in der Klinikschule für Kranke halten sich die Pa- tient*innen i. d. R. zwischen 7.30 Uhr und 16.30 Uhr auf der Station auf. Bei externer Beschulung kommen sie gewöhnlich erst am Mittag oder Nachmittag auf der Station an. Therapeutische Angebote können in den frühen Abend hinein ausgedehnt werden, ebenso können ressourcenstärkende Aktivitäten im häuslichen Umfeld wahrgenommen werden, z. B. Sport im Verein. FALLBEISPIEL Schwere depressive Episode mit Suizidversuch und selbst- verletzendem Verhalten Ein 15-jähriger Patient wird im Bereitschaftsdienst nach Sui- zidversuch mit Tablettenintoxikation und anschließender In- tensivüberwachung zur weiteren Abklärung vorgestellt. Es zeigen sich drängende Suizidgedanken und -impulse, eine ausgeprägte Antriebsstörung, Selbstwertproblematik, selbst- verletzendes Verhalten, Schlafstörungen mit Grübeln und Schulabsentismus seit mehreren Monaten. Unter der Diagnose der schweren depressiven Episode (ICD-10 F32.2), vorsätzliche Selbstbeschädigung durch scharfen Gegenstand (ICD-10 X78), erfolgt die Notaufnahme zur Krisenintervention und Stabilisie- rungsphase im stationären Setting mit Einstellung auf eine an- tidepressive Medikation. Hierunter finden sich eine deutliche Verbesserung von Antrieb, Alltagsorganisation und Schlaf bei nur noch gelegentlichen latenten Suizidgedanken ohne Um- setzungsimpulse. Selbstverletzendes Verhalten ist deutlich rückläufig. Der Patient bewältigt in Folge den Schulbesuch der Schule für Kranke gut. Bei deutlicher Besserung im stationären Umfeld äußert er große Ängste bezüglich der Entlassung und des Übertrags der Behandlungserfolge in den Alltag. Daher wird die externe Beschulung im AAB-Status begleitet, d. h. der Patient besucht zunächst mit reduzierter Stundenzahl seine Stammschule, flankiert von der Behandlung auf der Station mit Bezugspflegegesprächen zur Stützung der Alltagsorganisati- on, psychotherapeutischen Einzel- und Familiengesprächen durch den behandelnden Kinder- und Jugendlichentherapeu- ten sowie sozio- und spezialtherapeutischen Angeboten. Im Laufe der nächsten Wochen kann der Schwerpunkt immer mehr auf den Alltag des Patienten gelegt werden, die beglei- tenden Termine werden sukzessive reduziert. Bei weiterer Sta- bilisierung erfolgt schließlich die Entlassung in die Nachsorge einer niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiaterin. Merke Treten krisenhafte Symptomverschlechterungen auf, z. B. mit suizidalen Gedanken und Handlungsimpul- sen bei fehlender Absprachefähigkeit, werden die je- weiligen Patient*innen zu einer Krisenintervention stationär aufgenommen. Die Therapien im AAB-Bereich können bei ausreichen- der Absprachefähigkeit tagsüber weitergeführt wer- den, sodass kein Therapeut*innenwechsel nötig wird. INFO Kernelemente der AAB ▪ stationsersetzende Behandlung ▪ ambulante Abrechnungsmodalitäten ▪ multiprofessionelle Behandlungsangebote an 5–7 Tagen/Woche ▪ individuell angepasster Behandlungsplan (▶ Tab. 1) ▪ eigenständige Bewältigung des Weges in die Klinik Da die AAB integriert auf allen Stationen angeboten wird, verbleiben die Patient*innen im gleichen Behand- lungsteam; sie können also direkt an den bisherigen Zielen und Inhalten anknüpfen und müssen nicht in ein anderes Behandlungssetting wechseln. Dies wird von den Betroffenen und Mitarbeitenden als entschei- dender Wirkfaktor des Modellprojekts gesehen [1]. Be- handlungserfolge können direkt in den Alltag der Pa- tient*innen übertragen werden. Bei auftretenden Schwierigkeiten oder Rückfällen kann direkt reagiert werden, indem an die erarbeitenden Strategien ange- knüpft oder ergänzende therapeutische Maßnahmen erarbeitet werden. Merke Die Behandlungen erweisen sich dadurch als nach- haltiger und kurzfristige stationäre Wiederaufnah- men können vermieden werden. Durch den integrierten Ansatz auf allen Stationen kön- nen Settingwechsel darüber hinaus im Behandlungs- verlauf therapeutisch genutzt werden, z. B. bei Be- handlungen von Patient*innen mit Anorexia nervosa: Je nach Gewicht kann die Behandlung im vollstationä- ren, tagesklinischen oder AAB-Status erfolgen. Einer- seits kann ein möglicher Settingwechsel einen Anreiz zum Erreichen bestimmter Behandlungsziele setzen, andererseits können sich die Patient*innen im AAB- Setting erproben: Bei beispielsweise stärkerer Ge- wichtsabnahme kann eine Wiederaufnahme in den sta- tionären Rahmen zur erneuten Stabilisierung erfolgen. Die Flexibilität des Settings ermöglicht unterschiedli- 86 Duve Annette. Modellprojekte in der … KJP up2date 2024; 1: 81–94 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung ZUSATZINFO Ambulante Abrechnungsziffern Modellprojekt Vitos KJP Riedstadt ▪ Serie Kurzkontakte ▪ Einzeltherapie x ≤20 min ▪ Einzeltherapie 20 min < x ≤ 60 min ▪ Einzeltherapie x >60 min ▪ multiprofessionelle Fallbesprechung der Behandelnden ohne Patienten und/oder Umfeld ▪ multiprofessionelle Behandlungsbesprechung mit Patient und/oder Umfeld ▪ Wegezeit ▪ Gruppentherapie n ≤4 Patienten ▪ Gruppentherapie n >4 Patienten ▪ AAB-Case-Management-Pauschale ▪ Sachkosten Alltagskompetenztraining FALLBEISPIEL Posttraumatische Belastungsstörung Einer unserer ersten AAB-Patienten war ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der nach einer Eskalation in der Ju- gendhilfeeinrichtung mit aggressivem Impulsdurchbruch als Notaufnahme in unsere stationäre Behandlung kam. Hinter- grund waren eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS; ICD-10 F43.1) aufgrund der multiplen Erlebnisse bei der Flucht über die verschiedenen Kontinente. Eine stationäre Krisenin- tervention konnte von dem Patienten nicht angenommen werden, da er sich nicht auf das Setting und Regelwerk der Station einlassen konnte. Die Übernachtung in fremden Räu- men und die Handyregelungen waren für ihn nicht akzeptabel (der Handykontakt stellte die einzige Verbindung zu seiner Heimatwelt dar). Wir vereinbarten daher einen AAB-Plan mit täglichen Terminen auf der Station und klaren Absprachen für die verbleibende Zeit in der Einrichtung und die Bewältigung des Weges zu uns. Die Zustimmung der Einrichtung, dieses – aus ihrer Sicht – Risiko einzugehen, stellte eine große Hürde dar. Mit einem klaren Krisenplan konnte dies schließlich um- gesetzt werden. Der Patient kam täglich pünktlich und regel- mäßig auf die Station, nahm all seine Termine motiviert wahr und hielt sich an die Absprachen in der Einrichtung. Wir konn- ten so eine Behandlung zur Verbesserung seiner Impulskon- trollstörung und Psychoedukation der PTBS durchführen und ihn stabilisiert in die ambulante Weiterbehandlung entlassen. Organisatorische Herausforderungen der AAB Die verschiedenen Behandlungstermine des Tages wer- den im ambulanten Krankenhaus-Informations-Modul (KIS-Modul) als Einzelleistungen dokumentiert und ver- schlüsselt. Dies muss in den Teams geschult und die Verantwortlichkeiten für das Anlegen des täglichen Kontakts geregelt werden. Sinnvoll ist hier eine enge Absprache mit dem Medizincontrolling. In unserem Abrechnungssystem sind 7 ambulante Ziffern festge- legt, die berufsgruppenübergreifende Behandlungster- mine nach Dauer und Anzahl der Teilnehmenden (Ein- zel oder Gruppe) differenziert. Eine Ziffer „Serie Kurz- kontakte“ fasst die vielfältigen kürzeren Termine des Tages zusammen (z. B. kurze Absprachen, Telefonate). Für die Home-Treatment-Termine wurde eine Wege- pauschale vereinbart (s. Infobox). In Absprache mit den zuständigen oberärztlichen und therapeutischen Leitungen entscheiden die Teams zu- sammen mit den Patient*innen und deren Sorgebe- rechtigten in den Behandlungsplanungen über mögli- che Settingwechsel. Dies führt zu regelmäßigen Dis- kussionen, was den Patient*innen schon zugetraut werden kann oder wo sie noch das stützende Setting der Station benötigen. Hier sind wir im Laufe der Zeit mutiger geworden und nehmen die Patient*innen und ihre Bezugspersonen stärker in die Mitsprache und Ver- antwortung. Das Fallbeispiel zeigt, dass es enge Absprachen zwi- schen allen Beteiligten sowie enge Rückkopplungen im Verlauf benötigt. Die AAB-Patient*innen erhalten bei uns einen verbindlichen Wochenplan. Der Tag beginnt jeweils auf der Station mit einem Bezugspflegege- spräch und endet ebenso. Darüber behalten die Statio- nen den Überblick, ob die Patient*innen an dem Tag auch anwesend sind. Da es sich um eine stationserset- zende Behandlung handelt, werden die Patient*innen in dieser Zeit i. d. R. auch in unserer Schule für Kranke beschult. Merke Innerhalb der integrierten Versorgung sind Setting- wechsel ohne Behandler*innenwechsel je nach Indi- kation möglich. Inhaltliche und organisatorische Umsetzung des Modellprojekts Die Einführung eines Modellprojekts in einer Klinik er- fordert ein effektives Veränderungsmanagement. Es braucht i. d. R. 2 Jahre, bis Veränderungen ausreichend implementiert und von Patient*innen und Mitarbeiten- den als gewinnbringend beurteilt werden [9]. Zwar konnten wir als KJP von den Erfahrungen der Erwachse- nenpsychiatrie profitieren, es gab jedoch zum Zeit- punkt des Beginns unseres Modellprojekts 2016 noch keine vergleichbaren Entwicklungen einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Es galt daher, eine Balance zu finden zwischen freiem Ausprobieren neuer Ideen und der Entwicklung entsprechender Strukturen. Wir haben zu- nächst Schwerpunkte in verschiedenen Teams gesetzt 88 Duve Annette. Modellprojekte in der … KJP up2date 2024; 1: 81–94 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Konzeptuelle Entwicklung Im Entwicklungsprozess des Modellprojekts haben sich die unterschiedlichen Bereiche strukturell und inhalt- lich ausdifferenziert. Zu Beginn haben wir die Leitun- gen der Bereiche und Stationen und einzelne Mitarbei- tende aller Stationen systemisch geschult. Eine unserer Stationen entwickelte einen DBT-A-Schwerpunkt: Nach Schulung des gesamten Teams finden hier regelmäßige Supervisionsworkshops statt. Eine weitere Station plant gerade einen traumatherapeutischen Schwer- punkt; auch hier haben entsprechende Schulungen stattgefunden. Alle Stationen setzen Interventionen nach Safewards um [10]. Neben der fachlichen Weiter- bildung entwickelt sich in den Teamschulungen eine gemeinsame Haltung den Patient*innen und Familien gegenüber. Die verschiedenen Berufsgruppen nähern sich an und verbessern ihre Kommunikation unterei- nander. Als weitere Entwicklungsmöglichkeit könnten ambulante Spezialsprechstunden an die jeweiligen Be- reiche angegliedert werden. Merke Für die inhaltliche und organisatorische Umsetzung eines Modellprojekts bedarf es eines gelungenen Veränderungsmanagements unter hoher berufs- gruppenübergreifender Mitarbeitendenpartizipati- on. Der ständige Austausch zwischen den Berufsgruppen hat die multiprofessionelle Zusammenarbeit in den Teams sehr gestärkt. Therapeutische, oberärztliche und pflegerische Leitung bilden Teams auf Augenhöhe. Trotz aller organisatorischen Herausforderungen füh- len sich die Mitarbeitenden an den Prozessen stärker beteiligt und mitverantwortlich. Sie bewerten die Flexi- bilität in den Behandlungsmöglichkeiten sowie den Übertrag in den Alltag der Patient*innen als besonders positiv und sinnstiftend. Die Entscheidungen über den Settingwechsel der Patient*innen innerhalb der Be- handlungen stellen die Teams vor spezifische Heraus- forderungen. Hat der Pflege- und Erziehungsdienst im Rahmen der Bezugspflege überwiegend unterstützen- de Aufgaben, gilt es nun, stärker Verselbstständigungs- prozesse zu unterstützen. In Bezug auf mögliche eigen- oder fremdgefährdende Aspekte und die Ressourcen des umgebenden Systems (Familie, Jugendhilfeeinrich- tung) bedarf es einer sorgfältigen Abwägung eventuel- ler Risiken. Die Patient*innen, ihre Sorgeberechtigten und entsprechende komplementäre Dienste (wie z. B. Jugendhilfeträger) werden eng in diese Entscheidungs- prozesse eingebunden und spezifische Absprachen ge- troffen, z. B. zum Vorgehen in Krisensituationen. Not- fallpläne beinhalten Krisenkontakte (u. a. Arzt vom Dienst), Skillsketten zur Stressbewältigung und Kom- munikationswege innerhalb der Familie. Im Laufe der Modellprojektentwicklung sind die Teams mutiger ge- worden: Durch die stetige Durchlässigkeit des Settings ist ein Ausprobieren bei gleichzeitig gut gespanntem Krisennetz möglich und bringt manch überraschende Entwicklung zu Tage. Evaluationsstudie In einer von Mai bis Oktober 2016 in der KJP Riedstadt und KJP Nordhausen durchgeführten Evaluationsstudie fanden Befragungen in jeweils 3 Fokusgruppen mit je- weils 4–9 Teilnehmenden statt [1]. Befragt wurden Pa- tient*innen, Angehörige, ehemalige Patient*innen und Mitarbeitende. Die Ergebnisse zeigen, dass die intensiv ambulante Behandlung von akut behandlungsbedürfti- gen Patient*innen aus Sicht der Stakeholder einen zen- tralen Aspekt der Modellvorhaben darstellt. Der Alltag der Familien wird aufrechterhalten und unterstützt, Übergänge aus der stationären Behandlung begleitet. Ängste und Befürchtungen bezüglich eines erneuten Scheiterns können aufgefangen werden. Durch den en- gen Einbezug des Alltags werden Behandlungserfolge direkt zuhause umgesetzt. Die Behandlungsprozesse können durch die Flexibilisierung der Behandlung dy- namisiert und der jeweiligen Behandlungsnotwendig- keit angepasst werden. Die Möglichkeit, eine stationä- re Behandlung durch AAB anzubahnen, wird als äußerst hilfreich erlebt. Sowohl Patient*innen als auch Sorge- berechtigte konnten hierdurch Vorbehalte gegenüber psychiatrischer Behandlung abbauen. Es entsteht der Eindruck, dass die Compliance verbessert und Zwangs- maßnahmen verringert werden konnten. Eine Auswer- tung der richterlichen Unterbringungen in unserer Kli- nik zeigt eine deutliche Abwärtstendenz, allerdings bei schwankenden Daten aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie. Sowohl Patient*innen als auch Sorgeberechtigte schätzen die Behandlungskontinuität und geben an, sich so besser auf die Behandlung einlas- sen zu können. Behandlungskontinuität bedeutet auch Informationskontinuität, in dem Sinne, dass einerseits die Betroffenen ihre Geschichte nicht immer wieder neu erzählen müssen, andererseits umfassendes Wis- sen und Verständnis im Behandlungsprozess im Team erworben und bewahrt wird. Limitierungen Limitierungen stationsersetzender Behandlungsfor- men stellen die organisatorischen und strukturellen Anforderungen dar. Zunächst ist der selbstständig zu bewältigende Weg in die Klinik für viele Patient*innen eine große Herausforderung. Im Rahmen der Behand- lungsplanung wird daher sogfältig abgewogen, ob das Alter bzw. der Reifungsgrad, die Symptomatik und das familiäre System eine AAB realistisch erscheinen las- sen. Kinder unter 12 Jahren sind i. d. R. je nach Entfer- nung des Wohnortes zur Klinik ausgeschlossen. Fahr- zeiten über 60 Minuten sind wenig umsetzbar: Wir ori- 90 Duve Annette. Modellprojekte in der … KJP up2date 2024; 1: 81–94 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

[6] Boege I, Schepker R. Kinder- und jugendpsychiatrische sta- tionsäquivalente Behandlung (StäB): Therapieoption – für alle oder für wenige? Z Kind Jugendpsych Psychother 2020; 48: 148–357 [7] Wilms B. Modellprojekte: Stand und Aufgaben 2022. Vor- trag 19. Online-Workshop vom 19.01.2022 . Zugriff am 21. Juni 2024: https://ackpa.de/wp-content/uploads/2022/03/ Vortrag_Wilms_Homepage202201.pdf [8] BMG Bund. Achte Stellungnahme und Empfehlung der Re- gierungskommission für eine moderne und bedarfsgerech- te Krankenhausversorgung: Psychiatrie, Psychosomatik und Kinderund Jugendpsychiatrie („Psych-Fächer“): Reform und Weiterentwicklung der Krankenhausversorgung. Berlin; 29.09.2023. Zugriff am 21. Juni 2024: https://www.bun- desgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/ 3_Downloads/K/Krankenhausreform/BMG_Stellungnah- me_8_Psych-Faecher.pdf [9] Petereit-Zipfel H. Kriterien für die Überführung von Modell- projekten in die Regelversorgung aus Sicht der Angehörigen von Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen. Nervenheilkunde 2023; 11: 793–796 [10] Safewards. Mittel und Wege für Safewards. Zugriff am 21. Juni 2024: https://www.safewards.net Bibliografie KJP up2date 2024; 1: 81–94 DOI 10.1055/a-2252-6446 ISSN 2942-4666 © 2024. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany CME-Fortbildung Autorinnen/Autoren Dr. med. Annette Duve 1984–91 Medizinstudium JLU-Giessen und 1988/89 an der University of Newcastle GB, 1991-94 Assistenzarzttätigkeit in Westafrika, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie seit 2004 (Weiterbil- dung Vitos KJP Herborn), seit 2014 Chefärztin der Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Riedstadt, Schwerpunkte: Modellprojekt, interkulturelle Psychiatrie, Traumatherapie, Schulabsentismus, Adoleszen- tenbehandlung. Korrespondenzadresse Dr. med. Annette Duve Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Riedstadt Philippsanlage 101 64550 Riedstadt Deutschland E-Mail: Annette.Duve@vitos-suedhessen.de Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbe- stimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Annette Duve, Riedstadt. Literatur [1] Schwarz J, Duve A, Hoffmann S et al. Erfahrungen der Sta- keholder mit den Modellvorhaben nach § 64b SGB V in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie – eine qualitative Studie. Z Kind Jugendpsych Psychother 2020; 48: 358–368 [2] Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (dkjp). Kranken- hausreform und Psych-Fächer. Stellungnahme vom 30.03.2023. Zugriff am 21. Juni 2024: https://www.dgkjp. de/krankenhausreform-und-psych-faecher/ [3] Signorini G, Singh SP, Boricevic-Marsanic V et al. Archi- tecture and functioning of child and adolescent mental he- alth services: A 28-country survey in Europe. Lancet Psy 2017; 4: 715–724 doi:10.1016/S2215-0366(17)30127-X [4] Deister A, Wilms B. Regionale Verantwortung übernehmen. Modellprojekte in Psychiatrie und Psychotherapie nach § 64 b SGB V. Köln: Psychiatrie; 2014 [5] Deister A, Heinze M, Kieser C et al. Regionale Verantwor- tung übernehmen: Positionierung zu grundsätzlichen Ver- änderungen der Behandlung mit den Mitteln des Kranken- hauses des Netzwerks „Steuerungs- und Anreizsysteme für eine moderne psychiatrische Versorgung“. Nervenheilkun- de 2023; 11: 773–778 92 Duve Annette. Modellprojekte in der … KJP up2date 2024; 1: 81–94 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

Fragen und Antworten | CME Punkte sammeln auf CME.thieme.de Fortsetzung ... Frage 7 Welche Empfehlung der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung vom 29.09.2023 ergeht für die „Psych-Fächer“? Frage 9 Welche Antwort zu Therapiemöglichkeiten ist falsch? A Voll- und teilstationäre Behandlung spielen in der kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung eine große Rolle. A Mittelfristig ist eine Ausweitung der stationären Versor- B Milieutherapie stellt den Patient*innen ein wichtiges gung anzustreben. B Das Nebeneinander verschiedener Vergütungssysteme für die vollstationäre Behandlung, Tagesklinikbehandlung, sta- tionsäquivalente Behandlung und ambulante Behandlung einschließlich PIAs sollte in ein einheitliches, flexibles Ver- gütungssystem überführt werden. C Das Nebeneinander verschiedener Vergütungssysteme für die vollstationäre Behandlung, Tagesklinikbehandlung, sta- tionsäquivalente Behandlung und ambulante Behandlung einschließlich PIAs sollte weiter ausdifferenziert werden. D Mittelfristig ist eine Ausweitung der Tagesklinikbehand- lung anzustreben. E Das Nebeneinander verschiedener Vergütungssysteme für die vollstationäre Behandlung, Tagesklinikbehandlung, sta- tionsäquivalente Behandlung und ambulante Behandlung einschließlich PIAs wird als zukunftsweisend angesehen. Frage 8 Welche Antwort spricht nicht für ein gelungenes Veränderungs- management? A Partizipation der Mitarbeitenden am Veränderungsprozess. B C Strikte Vorgaben statt Freiraum zum Ausprobieren. Regelmäßiger berufsgruppenübergreifender Erfahrungs- austausch. D Aus Erfahrungen Strukturen entwickeln. E Offener Ideenaustausch. C Übungsfeld im Alltag zur Verfügung. Im Rahmen der multiprofessionellen voll- und teilstationäre Behandlung können Nachreifungsprozesse ermöglicht wer- den. D Voll- und teilstationäre Behandlung können Familien bei häuslicher Konfliktlage und verzerrten Kommunikations- mustern entlasten. Stationsersetzende Behandlungsformen machen die voll- und teilstationäre Behandlung überflüssig. E Frage 10 Was ist ein Nachteil integrierter Behandlungsformen? A Behandlungskontinuität im gleichen Team bei Setting- B wechsel. Erprobung von Behandlungserfolgen im niederfrequenten Setting bei Begleitung durch dasselbe Team. C Möglicher Settingwechsel bei Erreichen vereinbarter Behandlungsziele. D Flexibilität des Settings je nach Indikation. E Jeder Settingwechsel wird als Scheitern empfunden. 94 Duve Annette. Modellprojekte in der … KJP up2date 2024; 1: 81–94 | © 2024. Thieme. All rights reserved.

Impressum KJP up2date 1. Jahrgang Die KJP up2date erscheint 4-mal jährlich. ISSN (Print): 2942-4666 eISSN: 2942-4674 Copyright & Ownership Wenn nicht anders angegeben: © 2024. Thieme All rights reserved. Die Zeitschrift KJP up2date ist Eigentum von Thieme. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Schriftleitung Univ.-Prof. Dr. Dipl.-Psych. Michael Huss Chefarzt/Ärztlicher Direktor Kinder- und Jugendpsychiatrie Rheinhessen-Fachklinik Alzey Dautenheimer Landstr. 66 55232 Alzey Telefon (Klinik): (06731) 50-1482 E-Mail: m.huss@rfk.landeskrankenhaus.de Herausgebende Univ. Prof. Dr. Stefan Bender, Köln Dr. Dipl.-Kfm. (FH) Gundolf Berg, Mainz Univ. Prof. Dr. Isabel Böge, Graz, Österreich Univ.-Prof. Dr. Sarah Hohmann, Hamburg Dr. Raphael Gutzweiler, Landau Dr. Thomas Lempp, Frankfurt am Main Univ.-Prof. Dr. Katajun Lindenberg, Mainz Dr. Ulf Thiemann, Bonn Die Herausgebenden sind nicht verantwortlich für in der Zeitschrift enthaltene Anzeigen und Beilagen. Verlag Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 301120, 70451 Stuttgart Tel.: +49 711 8931-0, Fax: +49 711 8931-298 https://www.thieme.de/de/kjp-up2date/ profil-175056.htm www.thieme-connect.de/products Web-App: www.thieme.de/eref-app Umsatzsteuer-ID DE147638607 Handelsregister Sitz und Handelsregister Stuttgart, Amtsgericht Stuttgart HRA 3499, Verkehrsnummer 16427 Redaktion Sie erreichen die Redaktion unter: kjp-u2d.impressum@thieme.de V.i.S.d.P.: Regina Schweizer, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart Verantwortlich für den Anzeigenteil Thieme Media Pharmedia Anzeigen- und Verlagsservice GmbH Nicole Dörr, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 300880, 70448 Stuttgart Tel.: +49 711 8931-446 E-Mail: nicole.doerr@thieme-media.de Produktionsmanagement Tel.: +49 711 8931-189, Fax: +49 711 8931-393 E-Mail: laura.diemand@thieme.de Abonnentenservice Wir bitten unsere Abonnent*innen, Adressänderungen dem Abonnentenservice mitzuteilen, um eine reibungs- lose Zustellung der Zeitschrift zu gewährleisten. 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Soweit in diesem Heft eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, dürfen die Lesenden zwar da- rauf vertrauen, dass Autor*innen, Herausgebende und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass die- se Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung der Zeitschrift entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applika- tionsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede*r Benutzende ist angehal- ten, durch sorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Präparate und ggf. nach Konsultation ei- nes Spezialisten oder einer Spezialistin festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung für Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegenüber der Angabe in dieser Zeitschrift abweicht. Eine solche Prü- fung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Prä- paraten oder solchen, die neu auf den Markt gebracht worden sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Ge- fahr des Benutzenden. Autor*innen und Verlag appellie- ren an alle Benutzenden, ihnen etwa auffallende Unge- nauigkeiten dem Verlag mitzuteilen. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen einzelnen Bei- träge und Abbildungen sind für die Dauer des Urheber- rechts geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustim- mung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt ins- besondere für Vervielfältigung und Verbreitung in ge- druckter Form, Übersetzung, Übertragung und Bearbei- tung in andere Sprachen oder Fassungen sowie die Ein- speicherung und Verbreitung in elektronischen Medien- formen (z. B. CD-Rom, DVD, USB-Speicher, Datenbank, cloud-basierter Dienst, e-book und sonstige Formen des electronic publishing) und auch öffentlicher Zu- gänglichmachung (z. B. Internet, Intranet oder andere leitungsgebundene oder -ungebundene Datennetze), u. a. durch Wiedergabe auf stationären oder mobilen Empfangsgeräten, Monitoren, Smartphones, Tablets oder sonstigen Empfangsgeräten per Download (z. B. PDF, ePub, App) oder Abruf in sonstiger Form etc. Hinweis zu Studien-Referaten Die Autorinnen und Autoren unserer Referate-Rubriken schreiben frei- oder nebenberuflich für verschiedene Auf- traggebende aus Verlagsbranche, Wissenschaft und In- dustrie. Bei Fragen zu Interessenkonflikten einzelner Au- tor*innen wenden Sie sich bitte mit der im Impressum un- ter „Redaktion“ genannten E-Mail-Adresse an den Verlag. Datenschutz Wo datenschutzrechtlich erforderlich, wurden die Na- men und weitere Daten von Personen redaktionell ver- ändert (Tarnnamen). Dies ist grundsätzlich der Fall bei Patient*innen, ihren Angehörigen und ihrem Freundes- kreis, z. T. auch bei weiteren Personen, die z. B. in die Behandlung von Patient*innen eingebunden sind. Wertschätzende Sprache und geschlechtergerechter Sprachgebrauch Thieme Publikationen streben nach einer fachlich kor- rekten und unmissverständlichen Sprache. Dabei lehnt Thieme jeden Sprachgebrauch ab, der Menschen belei- digt oder diskriminiert, beispielsweise aufgrund einer Herkunft, Behinderung oder eines Geschlechts. Thieme wendet sich zudem gleichermaßen an Men- schen jeder Geschlechtsidentität. Die Thieme Recht- schreibkonvention nennt Autor*innen mittlerweile kon- krete Beispiele, wie sie alle Lesenden gleichberechtigt ansprechen können. Die Ansprache aller Menschen ist ausdrücklich auch dort intendiert, wo im Text (etwa aus Gründen der Leseleichtigkeit, des Text-Umfangs oder des situativen Stil-Empfindens) z. B. nur ein generi- sches Maskulinum verwendet wird. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Thieme Group Satz: seitenweise, Tübingen Druck und Bindung: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, Calbe (Saale) 96 KJP up2date 2024; 1: 96 | © 2024. Thieme. All rights reserved.