Praxis | Onkologie 15 – Colette Regensburger – Phase I meines Erwachsenwerdens bezieht sich vor allem auf den Zeitraum zwischen acht und 13 Jahren, in dem ein Kind be- ginnt, logisch zu denken, tiefgründige Fra- gen zu stellen, sich Gedanken über das Sein und über das eigene Handeln zu machen und auch über mögliche Konsequenzen, die damit verbunden sein könnten. Mei- ne Tochter ist acht Jahre alt und hat den Sprung zwischen „Ich kann lesen“ (Buch- staben entziffern) und „Ich kann lesen!“ (den Inhalt des Gelesenen verstehen) ge- rade überwunden. Bevor sie sich heute also – vermeintlich unbemerkt – eine Sü- ßigkeit stibitzt, analysiert sie ihre Erfolgs- aussichten sehr genau: Wo ist Mama gera- de? Wie sehr würde sie schimpfen, wenn sie mich erwischt? Wo genau liegt die Sü- ßigkeit, die ich haben will? Lohnt sich das Risiko überhaupt oder sollte ich sie doch besser fragen? Bei der Einschulung war sie noch ein kleiner Tollpatsch, der seine Grenzen austestet; nun ist sie eine kleine Strategin, die analysiert, taktiert, Chancen und Risiken abwägt und logische Schluss- folgerungen zieht. In eben dieser Phase meines Lebens steckte ich, als ich das erste Mal an Leukä- mie erkrankte. Ich war noch nicht reif ge- nug, um das Ausmaß dessen zu erfassen, was da auf mich zukam, aber ich war alt genug, um zu verstehen, dass es sich hier nicht um einen Schnupfen handelte. Nachdem ich bereits lange Zeit meine Mutter angebettelt hatte, meine fast hüft- langen Haare kürzen zu dürfen, fuhr sie mit mir kurzerhand zum Frisör und ge- währte mir diesen Wunsch. Dass ich bald gar keine Haare mehr haben würde, ahnte ich bis dato noch nicht. Kurz nach Ostern 1996 kam ich schließlich ins Krankenhaus. Nachdem ich ein Jahr lang zur Diagnose- findung regelmäßige Blutuntersuchungen über mich ergehen lassen musste, war meine Belastungsgrenze in Bezug auf Spritzen bereits weit überschritten. Für mich war daher bereits in den ersten Wo- chen meines Krankenhausaufenthalts nicht, wie erwartet wurde, die bevorste- hende Therapie das große Übel; es waren vielmehr die kleinen Dinge, die sich nicht mehr ertragen ließen: Spritzen, Warten, Fingerpikse, Warten, Vitalwerte messen, Warten, Warten, Warten … Geteiltes Leid ist halbes Leid Die Chemo empfand ich als halb so schlimm, weil ich in meinen Mitpatienten schnell Freunde fand, die dasselbe erleb- ten, und wir haben uns gemeinsam wort- wörtlich die Seele aus dem Leib gekotzt. In den Präsenzphasen im Krankenhaus be- kam ich Schulunterricht von den Lehrern dort und zu Hause besuchten und lehrten mich die Lehrer meiner Heimatschule. Ich hatte einen recht geregelten Alltag, denn meine Therapie verlief reibungslos und ich wusste bereits, welche Therapieblöcke als Nächstes anstünden. Es ging mir bedeu- tend besser als noch ein Jahr zuvor, und auch wenn ich kaum Kontakt zu meinen ehemaligen Mitschülern hatte – die gängi- gen informationstechnischen Medien stan- den mir noch nicht zur Verfügung –, fühlte ich mich dennoch recht wohl in dieser neu- en Welt mit den netten Schwestern, lusti- gen Ärzten, Klinik-Clowns und den vielen Kindern, die einen ähnlichen Leidensweg mit mir teilten. Trotzdem war ich traurig darüber, dass mich nur eine Freundin re- gelmäßig zu Hause besuchen kam. Oft hat- te ich auch keine Lust oder Kraft zu telefo- nieren, und so fühlte ich mich, obwohl ich nie allein war, dennoch einsam. Davon ab- gesehen bemerkte ich recht schnell, wie unaufgeklärt mein Umfeld war. Ich glau- be, viele Eltern ließen ihre Kinder mich nicht besuchen, weil sie der Meinung wa- ren, ich sei ansteckend, oder weil sie ihrem Kind den Anblick eines todkranken Kindes ersparen wollten. Sehr schmerzlich wur- de ich mir dieser Tatsache gewahr, als ich mit Kopftuch und meinem aufgedunsenen Cortisongesicht das erste Mal wieder al- lein zum Bäcker ging; die meisten Passan- ten wechselten die Straßenseite – darun- ter auch Nachbarn. Die „Reintegration“ in meine alte Schulklasse war zunächst recht einfach, weil mich die Lehrer viel unter- stützten und ich für meine Mitschüler, auf- grund meiner Andersartigkeit, interessant war. Nach einem halben Jahr jedoch nor- malisierte sich das Schulleben: Meine Haa- re wurden fülliger, das Gesicht wieder nor- mal und meine Noten konkurrierten mit denen der Klassenbesten. Anfänglich wur- de mir das noch gegönnt, aber nach und nach wurde immer mehr hinter meinem Rücken gelästert. Ich verstand mich mit meinen Mitschülern nicht mehr. Ich hatte ein Jahr ausgesetzt, alle Leistungen bestan- den, musste keine Klasse wiederholen und war jetzt auch noch eine der Besten – das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Sie distanzierten sich von mir und ich mich von ihnen. Ich fühlte mich unverstanden, gleichzeitig konnte ich aber auch kein Ver- ständnis für ihre „Probleme“ aufbringen. Das waren alles nur noch Kindereien für mich. Ist es nicht völlig belanglos, ob Lisa eine „Hochwasserhose“ trägt oder ob Mia auch manchmal mit den „Losern“ der Klas- se abhängt? Ich hatte durch die Erfahrun- gen der letzten beiden Jahre so viel dazuge- lernt, dass uns die reifliche Distanz immer weiter entfernte. Von den Lehrern als ver- antwortungsbewusste und wissbegierige Schülerin geliebt, von den Mitschülern als Außenseiterin toleriert, fristete ich meinen Schulalltag in dieser Klasse, während ich mich in meiner Freizeit anderweitig orien- tierte. In Ermangelung heutiger Social-Me- dia-Selbsthilfegruppen suchte ich den Kon- takt zu Älteren, die, ebenso wie ich, schon ihren weiteren Lebensweg und ihre kom- menden Zwischenziele vor Augen hatten. Meine Mutter ließ sich scheiden. Eine Krankheit dieser Art war eine Zerreißpro- be für meine Eltern, die ihre Ehe nicht überstanden hat. Kaum ein Kind hätte die- sen Schritt so sehr unterstützt, für gut ge- heißen und herbeigesehnt wie ich. Meine Mutter hatte die Hölle mit mir allein durchgestanden und nebenher meinen beiden kleineren Geschwistern ihre volle Aufmerksamkeit gewidmet. Sie hatte es verdient, das sogenannte „vierte Kind“ ab- stoßen zu dürfen und endlich wieder glücklich zu sein. Bereits durch die erste Krankheitsphase haben wir beide, aus un- seren unterschiedlichen Perspektiven her- aus, schmerzlich erfahren müssen, welche vermeintlich guten Freunde und Partner tatsächlich gewillt sind, auch in schweren Zeiten mit uns das Leid zu teilen. Ich würde ein zweites Mal erkranken. Das spürte ich ganz tief in mir drin. Bis da- hin wollte ich aber noch die Welt erobern. Ich heimste kräftig Belobigungen ein, en- gagierte mich in verschiedenen Vereinen, gestaltete manche Biologiestunde, um über Krebs aufzuklären, und flog mit 15 Jahren nach Amerika. Nach meiner Rückkehr wollte ich auf ein bilinguales Gymnasium wechseln, da ich mir davon ei- www.thieme.de/jukip JuKiP 1|18