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Hebamme 2 · 2025 38. Jahrgang Vaginismus erkennen und Schwangere adäquat begleiten Tokophobie: Geburtsängste reduzieren, Frauen stärken Social Freezing – eine Option für Frauen mit Kinderwunsch Frauengesundheit Forum Hebammenarbeit 21.-22.11.2025 in Mainz
Thieme Hebammen Mehr wissen. Sicher handeln. Die Wissenswelt für die Hebammenarbeit: Hier finden Sie verlässliche Antworten auf Ihre Fragen. Passend zur Situation. Passend zu Ihnen. Thieme Hebammen ist an Ihrer Seite – in Studium und Lehre, in der Praxis und bei der Fortbildung. Eine Plattform – alles drin. Mit PROMETHEUS LernAtlas Einzigartige Bildsprache Jetzt kostenlos testen! hebammen.thieme.de © MR Vector/stock.adobe.com. Edited by Thieme
Editorial Anne-Katrin Klotzsch Hebamme in Berlin, BSc International Midwifery Studies Frauengesundheit Warum wichtig ist, wie wir Frauen in der fertilen Lebensphase begleiten Frauengesundheit ist ein komplexes Thema und betrifft uns als Hebammen in allen Phasen des Lebens. Die Schwerpunktartikel dieser Ausgabe widmen sich einigen beratungsrelevanten As- pekten: Dr. Laura Lotz bietet einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum Polyzys- tischen Ovarsyndrom – der häufigsten hormonellen Störung bei Frauen im fertilen Lebensalter (Seite 82). Dr. Rumina Goshe stellt die Methode des Social Freezing vor – einer Option der repro- duktiven Gesundheitsversorgung für die Frau (Seite 78). Und Sarah Graf hat zusammengefasst, was Sie zum Thema Vaginismus im Kontext von Schwangerschaft und Geburt wissen sollten, um Frauen und Paare adäquat begleiten zu können (Seite 88). Wir Hebammen versorgen Frauen nicht nur bei der Geburt, sondern sind auch in anderen Berei- chen ihrer reproduktiven Gesundheit gefragt. Mit fachlicher Sensibilität gehen wir auf individu- elle Herausforderungen jeder Schwangeren ein – diese Ausgabe widmet sich u. a. dem Thema To- kophobie: Lesen Sie ab Seite 96, wie Hebammen die Geburtsangst von Frauen reduzieren und Schwangere stärken können. Mit dem Blick nach England stellt Anna Hultsch das Konzept von Preceptorship vor – ein Modell, das in der Ausbildung und Praxisbegleitung von Hebammen zu- nehmend an Bedeutung gewinnt (Seite 108). Die Artikel dieser Ausgabe zeigen, wie wichtig ein ganzheitlicher Ansatz für unsere Hebammen- arbeit ist, der medizinische und psychosoziale Aspekte gleichermaßen umfasst. Mögen sie wert- volle Impulse für Ihren Berufsalltag geben und Sie dabei unterstützen, Ihre Expertise und Empa- thie in der Frauenbetreuung weiter auszubauen. Bleiben Sie neugierig und profitieren Sie von den vielfältigen Erkenntnissen. Herzlichst, Anne-Katrin Klotzsch Mitherausgeberin HEBAMME Herausgeberinnen-Team Anna Brodersen Freiberufliche Hebamme, BSc, in Memmingen Anne-Katrin Klotzsch Hebamme in Berlin, BSc International Midwifery Studies Johanna Hünig Hebamme, MSc, wissenschaftliche Mitarbeiterin ZHAW Gesundheit, Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit, Winterthur Katharina Kerlen-Petri Freiberufliche Hebamme und freie Autorin, Berlin Dr. rer. medic. Astrid Krahl Dipl. Pflegewirtin (FH), Hebamme, Studiengangleitung MSc Hebamme, ZHAW Gesundheit, Institut für Hebammen, Winterthur Prof. Dr. rer. medic. Ute Lange Hebamme und Professorin für Hebammenwissenschaft an der Hochschule für Gesundheit in Bochum Hebamme 2025; 38: 65 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 65
Inhalt Hebamme April 2025 . 38. Jahrgang CNE Schwerpunkt: Frauengesundheit Lesen Sie in den Schwerpunktartikeln dieser Ausgabe, wann Social Freezing eine Option für Frauen mit Kinderwunsch ist, wie Sie schwangere Frauen mit Vaginismus erkennen sowie was Sie für deren Betreuung wissen sollten und das Wichtigste zu Symptomatik, Überwachung und Therapie des polyzystischen Ovarsyndroms. (Illustration: Quelle: © M. Bürger / Thieme) Ab Seite 77 65 Editorial 69 Profession Studienergebnisse | Gestationsdiabetes nach Sterilitäts- behandlung | Dammschutzhilfe | Meinungen über Haus- und Klinikgeburten | Ausstreichen der Nabelschnur Gelesen und kommentiert | Ergebnisse bei Frauen mit Diabetes, die hebammengeleitete Geburtshilfe in Groß britannien in Anspruch nahmen: eine nationale pro- spektive Kohortenstudie und Erhebung unter Verwen- dung des UK Midwifery Study Systems (UKMidSS) CNE Schwerpunkt: Frauengesundheit CNE Schwerpunkt | Frauengesundheit CNE Schwerpunkt | Selbstbestimmung oder Fantasie? Ein Blick auf Social Freezing CNE Schwerpunkt | Das polyzystische Ovarsyndrom CNE Schwerpunkt | Vaginismus verstehen und Schwan- gere begleiten – ein Leitfaden für Hebammen 72 75 77 78 82 88 66 Hebamme 2025; 38: 66–67 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
96 Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und 1. Lebensjahr Schwangerschaft | Tokophobie und Selbstwirksamkeit – welchen Einfluss hat die Geburtsvorbereitung durch Hebammen? 101 Wochenbett | Neugeborenensepsis im häuslichen Wochenbett und die Rolle der Hebamme 108 Beruf | Preceptorship: das praktische Jahr nach dem Hebammen studium – ein Blick über den Tellerrand nach England 113 Geburt | Geburtshilfliche Notfälle (2): Allgemeine Handlungsrichtlinien Service 123 Rezensionen 125 Projekt | Frauenrechte: „Viel ist erreicht – viel mehr bleibt zu tun“ 127 Forum der Industrie 128 Impressum | Vorschau Covergestaltung: © Thieme Titelbild: Quelle: © M. Bürger / Thieme Das polyzystische Ovarsyndrom Frauen mit PCOS brauchen mehr Zeit, um schwanger zu werden, bzw. benötigen sie häufiger reproduktionsmedizinische Maßnahmen, um ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Eine frühe Diagnose im Rahmen der Schwange- renvorsorge hilft dabei, Schwangerschafts- und Langzeitkomplikationen zu vermeiden. (© Orawan/stock.adobe.com) Ab Seite 82 Herausgeberinnen Anna Brodersen, Memmingen Johanna Hünig, Winterthur (CH) Katharina Kerlen-Petri, Berlin Anne-Katrin Klotzsch, Berlin Astrid Krahl, Winterthur (CH) Ute Lange, Bochum Hebamme digital Alle Artikel dieser Zeitschrift und ein Online-Archiv finden Sie unter: Thieme E-Books & E-Journals – Hebamme/Ausgabe CNE Fragebogen Certified Nursing Education (CNE) ist das multimediale Fortbildungskonzept von Thieme. Hebammen, die in einer CNE-Kundenklinik arbeiten, können den Fragebogen zum Schwerpunkt dieser Ausgabe online bearbeiten und CNE Punkte sammeln unter → cne.thieme.de Redaktionsanschrift Wir freuen uns über Ihr Feedback und Ihre Themenvorschläge oder Artikeleinreichungen: Georg Thieme Verlag KG Redaktion Hebamme Oswald-Hesse-Str. 50 70469 Stuttgart E-Mail: hebamme@thieme.de Ansprechpartnerinnen Sophia Laquai (Projektmanagement) Frank Aschoff (Redaktion) Anja Stamm (Redaktion) Margit Gehrig (Redaktion) Hebamme 2025; 38: 66–67 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 6767
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Profession | Kurz berichtet Geburtshilfe in Zahlen Weltweit 34 %! So viel ist – laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) – die „Maternal Mortality Ratio”, also die Fälle der Müttersterblichkeit auf 100 000 Lebendgeburten, zwischen 2000 und 2020 gesunken. Fast 95 % dieser Todesfälle sind in einkommensschwachen bzw. einkommensschwächeren Ländern. Quelle: https://www.who.int/news-room/fact-sheets/ detail/maternal-mortality WHO-Positionspapier Gesundheits förderung durch Hebammenversorgung Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) besteht weltweit nach wie vor eine zu hohe Mütter- und Säuglingssterblich- keit. Die tatsächlichen Zahlen variieren je nach Entwicklungsstand des Landes. Dabei wird davon ausgegangen, dass mit dem Zu- gang zu adäquater Gesundheitsversorgung ein Großteil dieser Todesfälle verhindert werden könnte. In dem 2024 veröffentlich- ten Positionspaper der WHO betonen die Autor*innen die Wichtigkeit von Hebam- men als Teil der Gesundheitsversorgung. Darüber hinaus werden verschiedene Mo- delle der Hebammenversorgung darge- stellt und Vorteile der Implementierung solcher Versorgungsmodelle untersucht. Auf dieser Basis und vor dem Hintergrund der Kosteneffizienz spricht sich die WHO für die Förderung der globalen Implementie- rung von Hebammen als Teil der primären Gesundheitsversorgung aus. Aktuell wird zusätzlich an einem Handlungsleitfaden ge- arbeitet, welcher – angepasst an die ent- sprechende Region – für diesen Prozess zur Verfügung gestellt werden soll. Quelle: https://iris.who.int/bitstream/han dle/10665/379236/9789240098268-eng. pdf?sequence = 1 Gesundheitsbroschüre Bluthochdruck in der Schwangerschaft Die Broschüre „Basiswissen Bluthochdruck“ der Deutschen Hochdruckliga e.V. infor- miert über Bluthochdruck während der Schwangerschaft und richtet sich sowohl an werdende Mütter als auch an Fachpersonal. Sie erklärt verständlich die Entstehung von Bluthochdruck, die verschiedenen damit einhergehenden Komplikationen/Krank- heitsbilder sowie den Umgang mit Bluthoch- druck während der Schwangerschaft, Ge- burt und Stillzeit. Wichtige Hinweise zur Prä- vention, Diagnostik und Therapie stehen im Fokus, um mögliche Risiken für Mutter und Kind zu minimieren. Die Broschüre gibt praktische Tipps zur korrekten Blutdruck- messung sowie zur Ernährung und Lebens- weise während der Schwangerschaft, um den Blutdruck in einem physiologischen Rahmen zu halten. Zudem erläutert sie, wel- che Medikamente bei einem auftretenden Hypertomus sicher eingesetzt werden kön- nen. Besondere Aufmerksamkeit gilt den Symptomen der Präeklampsie/des HELLP- Syndroms, die frühzeitig erkannt und behan- delt werden müssen, um Komplikationen zu vermeiden. Abschließend finden sich nütz- liche Links und Hinweise zu weiterem Mate- rial, welches Schwangeren bei der aktiven Teilnahme an ihrer Gesundheitsvorsorge un- terstützt. Die Broschüre steht zum kosten- losen Download auf der Webseite der Deut- schen Hochdruckliga e.V. zur Verfügung. Quelle: https://www.hochdruckliga.de/fi- leadmin/downloads/patienten/Basiswis- sen-Schwangerschaft.pdf Critical Midwifery Studies Aufruf für weltweit ge- rechte Geburtshilfe Die Webseite „Critical Midwifery Studies“ stellt die Plattform eines Kollektivs aus Geburtshelfer*innen, Forschenden, Kün- stler*innen etc. dar, welches sich der För- derung kritischer und interdisziplinärer An- sätze in der Hebammenforschung und -pra- xis widmet. Sie betont die Bedeutung eines reflektierten Diskurses über Machtstruktu- ren, soziale Gerechtigkeit und Diversität im Bereich der Geburtshilfe. Das Ziel ist, beste- hende Praktiken zu hinterfragen und neue Perspektiven auf die Rolle der Hebammen in unterschiedlichen sozialen, kulturellen und politischen Kontexten zu entwickeln. Die Plattform richtet sich an Wissen schaft- ler*in nen, Praktiker*innen sowie Studie- rende und bietet vielfältige Ressourcen wie Blogbeiträge, Forschungsartikel und Infor- mationen zu Konferenzen. Sie fördert den internationalen Austausch und die Vernet- zung von Fachleuten, die sich für transfor- mative und inklusive Ansätze in der Hebam- menarbeit engagieren. Dabei legt sie be- sonderen Wert auf die Förderung eines gerechteren Zugangs zu qualitativ hoch- wertiger Geburtshilfe weltweit. Quelle: https://www.criticalmidwiferystu- dies.com Hebamme 2025; 38: 69–70 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 69
Profession | Kurz berichtet Drei Fragen an … Lena Henke Sexuelle und reproduktive Rechte Drei Fragen an … Lena Henke. Quelle: privat Lena Henke arbeitet seit 2022 als Referentin für sexuelle und reproduktive Rechte bei „Terre des Femmes“, nachdem sie ihr Mas- terstudium Nachhaltiges Wirtschaften in Kassel abschloss. Ihre Schwerpunktthemen im Referat sind unter anderem Verhütung, Eizellspende, Leihmutterschaft und Schwan- gerschaftsabbrüche. 1. Was umfasst der Begriff „sexuelle und reproduktive Rechte“ genau? Der Begriff umfasst die uneingeschränkten Menschenrechte von Frauen in Bezug auf ihr reproduktives System. Frauen müssen das uneingeschränkte Recht haben, frei und selbstbestimmt über ihren eigenen Körper zu entscheiden. Frauen müssen die Freiheit haben, eigenständig Entscheidun- gen über folgende Bereiche zu treffen: ▪ Anzahl, Zeitpunkt und Durchführung von Geburten, ▪ Wahl der Partnerin/des Partners und der Familienform, ▪ Auswahl und Nutzung von Verhütungs- und Familienplanungsmethoden, ▪ Gestaltung und Ausleben ihres Sexuallebens. Ein barrierefreier Zugang zu umfassenden Informationen und Aufklärung muss ge- währleistet sein. Ein flächendeckendes, qualitativ hochwertiges und ausreichend ausgestattetes Gesundheitssystem ist un- abdingbar und muss für alle gleichermaßen zugänglich sein. Der Schutz vor Gewalt und Diskriminierung muss ein fundamentaler Bestandteil sexueller und reproduktiver Rechte sein. 2. Was sind Ihrer Meinung nach die größ- ten Herausforderungen für umfassende sexuelle Aufklärung? ▪ Mangelnde fundierte sexuelle Aufklärung, tief verwurzelte Desinfor- mationen, gesellschaftliche Mythen (z. B. das Jungfernhäutchen), patriar- chale Strukturen, Schamgefühl. ▪ Beachtung fachlicher Grundlagen: Werte, Normen, religiöse oder kulturelle Ansichten dürfen keinen Einfluss haben. ▪ Frühestmögliche umfassende sexuelle Bildung in Schulen. ▪ Abbau von Barrieren wie Sprachunsi- cherheiten oder Behinderungen, um gleiche Bildungschancen für alle zu gewährleisten. ▪ Verantwortung bei Eltern, Lehrkräften und externen Fachkräften wie Sexualpädagog*innen oder Mediziner*innen. ▪ Neben Schulen müssen auch Medien, Jugendeinrichtungen und die Politik ihren Beitrag leisten. 3. Inwieweit können Hebammen in ihrer Arbeit sexuelle und reproduktive Rechte stärken? Hebammen spielen eine zentrale Rolle bei der Stärkung sexueller und reproduktiver Rechte. Durch die Nähe zu Patientinnen, Ver- ständnis für kulturelle und religiöse Hinter- gründe sowie Kenntnis individueller Lebens- situationen haben sie direkten Zugang zu Frauen und Familien. Hebammen können durch ihre Fachkompetenz einen wertvollen Beitrag leisten, um Desinformation rund um reproduktive Gesundheit zu entkräften. Im Verlauf der Lebensbiografie von Frauen sind Hebammen in unterschiedlichen Pha- sen wichtige Ansprechpersonen. Sie beglei- ten die Frauen nicht nur während der Schwangerschaft und Geburt, sondern kön- nen ihnen auch nach Schwangerschaftsab- brüchen oder Fehlgeburten beratend zur Seite stehen. Als Schlüsselfiguren in der Ge- sundheitsversorgung tragen Hebammen besondere Verantwortung in der Förderung und Durchsetzung sexueller und reproduk- tiver Rechte. Eine regelmäßige Weiterbil- dung im Bereich der sexuellen und repro- duktiven Rechte ist essenziell. NEWS-TICKER + + + „Essalltag in Familien gestalten“: Auf der Lernplattform des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen steht ein neuer, qualitätsgesi- cherter Online-Kurs zur Verfügung. Dieser richtet sich an Fachkräfte, um junge Familien in der Gestaltung eines gesunden Essalltags begleiten und unterstützen zu können. Der Kurs ist nach Registrierung kosten- los. https://www.fruehehilfen.de/ qualitaetsentwicklung-fruehe-hilfen/ qualifizierung/lernplattform-fruehe- hilfen. + + + Dokumentation Fachtage: Anfang November 2024 fanden in Dresden Fachtage zur Eizellspende und Leihmutterschaft sowie zu Frauengesundheit und Klimawandel statt. Der Arbeitskreis Frauengesundheit e.V. stellt auf der Internetseite eine Online-Dokumen- tation dieser Veranstaltungen zur freien Ansicht zur Verfügung, unter anderem mit Videomitschnitten. https://www.arbeitskreis-frauenge- sundheit.de/2024/06/28/fachtage- im-deutschen-hygiene-museum- dresden. + + + Stellungnahme DHV: Als Reaktion auf das Gesundheitsver- sorgungsstärkungsgesetz spricht sich der Deutsche Hebammenver- bund (DHV) für eine Umgestaltung des G-BA aus, um den Fokus mehr auf die Bedürfnisse der Patient*innen zu lenken und die Beteiligungsrechte verschiedener Berufsgruppen auszuweiten. Darüber hinaus bedauert der DHV den Wegfall der Konzepte zu Primärversorgungszentren, Gesundheitskiosken und Gesund- heitsregionen. https://hebammen- verband.de/wp-content/ uploads/2024/11/2024_11_11- DHV_SteNa_GVSG.pdf. + + + 70 Hebamme 2025; 38: 69–70 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Studienergebnisse | Kurz berichtet Gestationsdiabetes nach Sterilitätsbehandlung F S Rep 2023. DOI: 10.1016/j.xfre.2023.11.008 Unter dem Begriff „Sterilitätsbehandlung“ werden verschiedene Therapien zusam- mengefasst. Darunter fallen neben der me- dikamentösen Therapie auch eine Intracy- toplasmatische Spermieninjektion (ICSI) und eine In-vitro-Fertilisation (IVF). Jede dieser Behandlungen hat verschiedene Ne- benwirkungen und bringt gewisse Risiken mit sich. Die Zahl der nach einer Sterilitäts- behandlung geborenen Kinder nimmt welt- weit zu. Darüber hinaus entwickeln insge- samt mehr Frauen in der Schwangerschaft einen Gestationsdiabetes (GDM), welcher mit einer entsprechenden Ernährung oder einer zusätzlicher medikamentösen Thera- pie eingestellt wird. Ein erhöhter Body Mass Index (BMI) ebenso wie die ethnische Her- kunft können das Risiko für einen GDM er- höhen. Ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten eines Gestationsdiabetes und einer Sterilitätsbehandlung wird vermutet, ist bisher jedoch wenig erforscht. Die Autor*innen stellten die Hypothese auf, dass Schwangere nach einer Sterilitätsbe- handlung ein höheres Risiko für einen GDM aufweisen und testeten diese in einer Ko- hortenstudie in den USA mit Daten von 2015–2020. Insgesamt wurden 21 943 384 Frauen mit einer Einlingsschwangerschaft ohne vorherigen Diabetes untersucht, die zwischen der 20. und 44. Schwanger- schaftswoche geboren haben. 1,5 % der Frauen hatten zuvor eine Sterilitätsbehand- lung erhalten. Bei 11,0 % wurde ein GDM di- agnostiziert, wohingegen nur 6,5 % der spontan schwangeren Frauen einen GDM entwickelten. Insgesamt berechneten die Autor*innen für Frauen nach Sterilitätsbe- handlung ein um 24 % erhöhtes Risiko, einen GDM zu entwickeln. Für hispanische Frauen erhöhte sich dieses Risiko zusätzlich, während ein größerer BMI das Risiko nicht zusätzlich beeinflusste. Fa z it Immer mehr Frauen erhalten bei unerfülltem Kinderwunsch eine Sterilitätsbehandlung. Damit einhergehende Risiken sind zwar bekannt, jedoch muss auch die steigende Wahrscheinlichkeit der Entwicklung eines GDM Beachtung finden. Sowohl bei der Beratung zur Sterilitätsbehandlung als auch in der folgenden Schwangerenvorsorge sollten die betreuenden Personen hierfür sensibilisiert sein, um die Frauen und ihre Kinder bestmöglich zu versorgen. Trotzdem ist selbstver- ständlich zu berücksichtigen, dass eine Sterilitätsbehandlung für die Paare in der Regel eine große Herausforderung und Belastung darstellt, und die zusätzlichen damit verbundenen Risiken sind in der Betreuung einzuordnen. Worin genau die Ursachen des Zusammen- hangs liegen, muss weiter erforscht werden, um die Betreuung und Beratung entsprechend der Gesundheitsförderung anpassen zu können. fest, jedoch hatten mehr Frauen einen in- takten Damm und weniger sonstige Ge- burtsverletzungen. André et al. vergrößerten die damals ver- wendete Dammschutzhilfe und untersuch- ten, ob sich damit das Risiko von Dammris- sen 2. Grades (DR II) und höher bei Erstge- bärenden reduzieren lässt. Ein DR II kann bei Frauen nachhaltig die sexuelle Funktion beeinträchtigen. Zudem steigt das Risiko einer Harninkontinenz und eines Beckenor- ganprolapses. Bei Frauen mit einem DR II sind außerdem die Schmerzen im Wochen- bett größer als bei Frauen mit einem DR I oder ohne Dammverletzung. In die For- schungsarbeit wurden 92 Erstgebärende in einer reifen Schwangerschaftswoche ein- geschlossen, die vaginal geboren hatten. 49 Frauen wurden bei der Geburt mit einem Dammschutz mit warmen Kompressen un- terstützt und bei 38 Frauen wurde die Dammschutzhilfe eingesetzt. Bei 5 Gebur- ten wurde wegen Zeitmangels oder der Nutzung einer Saugglocke auf den geplan- ten Einsatz verzichtet. Die Autor*innen kommen zu dem Schluss, dass der Einsatz der Dammschutzhilfe das Risiko eines DR II signifikant reduziert und darüber hinaus Verletzungen an den Labien verringert. Marlene Koch Dammschutzhilfe American Journal of Obstetrics & Gynecology MFM 2024. DOI: 10.1016/j.ajogmf.2024.101402 Bereits 2014 untersuchte eine Studie die Auswirkungen auf Dammverletzungen bei Einsatz einer Dammschutzhilfe (Lavesson T et al. A perineal protection device designed to protect the perineum during labor: a multicenter randomized controlled trial. Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol 2014. DOI: 10.1016/j.ejogrb.2014.07.006). Bei der un- tersuchten Dammschutzhilfe handelt es sich um eine oval geformte Kunststoffschei- be, die bei krönendem Kopf in den Introitus eingeführt wird. Um den Druck gleichmä- ßig auf das Gewebe zu verteilen, liegen 2 Flügel beiderseits (medio-)lateral am Damm an. Diese Studie stellte zwar keinen Einfluss auf Schließmuskelverletzungen Fa z it In Deutschland ist der Einsatz von Dammschutzhilfen nicht üblich. Die Ergebnisse der vorliegenden ebenso wie der Studie von 2014 deuten einen protektiven Effekt der Dammschutzhilfe auf die Geburts- wege und vor allem den Damm an. Die Fallzahl der aktuellen Studie ist mit 92 Frauen sehr klein, was die Übertragbarkeit verringert. Für aussagekräftige Ergebnisse ist weiterer Forschung notwendig. Darüber hinaus wäre interessant, wie Gebärende den Einsatz bewerten. Ein positiver Effekt auf Schließmus- kelverletzungen fand sich bislang noch nicht; vielleicht wäre eine Anpassung der Dammschutzhilfe in dieser Hinsicht möglich. Maureen Kuhn & Marlene Koch 72 Hebamme 2025; 38: 72–74 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
STARTHELFER 6 AUSGABEN PRO JAHR Einstiegspreis für Neuabonnenten! inkl. DIGITALZUGANG aktuelle Ausgabe und Archiv Von Beginn der Schwangerenvorsorge bis über die Geburt hinaus: Die ZGN ist Organ der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin und bietet Ihnen als einzige deutsche Zeitschrift in diesem Gebiet aktuelle und interdisziplinäre Informationen. Holen Sie sich frisches Wissen aus Übersichts- und Originalarbeiten und dem Journal Club. Ganz praktisch wird es mit „Perinatalmedizin in Bildern“ – seltene, aber einprägsame Befunde jenseits der Routine. shop.thieme.de
Studienergebnisse | Kurz berichtet Meinungen über Haus- und Klinikgeburten Cureus 2024. DOI: 10.7759/cureus.57621 Seit 2019 ist in den USA die Rate an Haus- geburten deutlich angestiegen. Forschen- de vermuten, dass dies unter anderem mit den medizinischen Versorgungslücken für Schwangere, aber auch mit den Vorstellun- gen der Frauen über Hausgeburten im Ver- gleich zu Klinikgeburten zusammenhängt. Laut amerikanischen Studien sind Hausge- burten mit höheren Risiken als Klinikgebur- ten assoziiert. Aus diesem Grund spricht sich das American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) eher gegen die Geburt außerhalb der Klinik aus, befürwor- tet aber Diskussionen über Vorteile und po- tenzielle Risiken mit interessierten Schwan- geren. Um die Vorstellungen von Personen über Hausgeburten versus Klinikgeburten auf- zuzeigen, untersuchten Morris et al. Beiträ- ge zu diesen Schlagworten auf TikTok und Reddit, zwei der meistgenutzten Social Media Plattformen der USA. Äußerungen auf Social Media sind meist spontan und an- onym und können so ungefilterte Meinun- gen zur Thematik abbilden. Insgesamt wur- den 257 Posts und 2408 Kommentare ana- lysiert, wobei nur Posts mit mindestens 10 Likes und Kommentare eingeschlossen wurden. 69 % der Posts unterstützten Haus- geburten, 20 % sprachen sich dagegen aus und 11 % waren neutral. In den Kommenta- ren votierte die Mehrheit weiterhin für Hausgeburten und knapp 30 % dagegen. Befürwortende Äußerungen über Hausge- burten betrafen Themenbereiche wie posi- tive Erfahrungen (eigene/andere) mit Haus- geburten, die Kontrolle über die eigene Ge- burt und eine höhere Sicherheit für Mutter und Kind. Demgegenüber standen ableh- nende Posts und Kommentare zu Themen wie Angst vor Komplikationen im häusli- chen Setting und Falschinformationen von Frauen über Hausgeburten und deren Si- cherheit sowie Beiträge über nur im klini- schen Setting mögliche Interventionen bei Komplikationen. Neutrale Kommentare dis- kutierten über die Geburt im Geburtshaus als Kompromiss und über die Wahl des Ge- burtsorts als individuelle Entscheidung. Fa z it Aufgrund der unterschiedlichen medizinischen Versorgung für Schwangere in Deutschland (z. B. werden Hausgeburtshebammen von der Krankenkasse finanziert) sind die Ergebnisse nicht unbedingt übertragbar. Sie können aber trotzdem als Orientierung dienen, welche Themen Frauen bei der Wahl des Geburtsorts beschäftigen. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass keine Differenzie- rung des Geschlechts der Beitrags- schreiber erfolgte, wodurch eher eine gesellschaftliche als spezifisch die Meinung von (schwangeren) Frauen zu dieser Thematik darge- stellt wird. 15 Lebenssekunden einen schlechten Tonus, weißen Hautkolorit und/oder eine insuffiziente Atmung trotz Erstmaßnahmen wie Stimulation und Wärme aufwiesen. Entgegen der Hypothese der Autor*innen konnte das Ausstreichen der Nabelschnur die Aufnahmen in die neonatale Intensiv- station nicht verringern. Jedoch brauchten die Neugeborenen mit verabreichtem Cord milking signifikant weniger kardiopulmo- nale Unterstützung und Hypothermiethe- rapien, entwickelten seltener eine moderat schwere HIE und hatten einen höheren Hb- Wert, aber auch einen durchschnittlich niedrigeren 1-Minuten-Apgar-Score. Die Rate an HIE (insgesamt) und Fototherapien war in beiden Gruppen gleich. Ebenso zeig- te sich kein Unterschied beim 5-Minuten- Apgar-Score und der Dauer des Klinikauf- enthalts. Maureen Kuhn Ausstreichen der Nabelschnur American Journal of Obstetrics and Gynaecology 2023. DOI: 10.1016/j.ajog.2022.08.015 Jedes Jahr benötigen weltweit etwa 6 Milli- onen Neugeborene eine Reanimation nach der Geburt. Diese Kinder haben nach wie vor eine erhöhte Mortalität und Morbidität, wie z. B. ein größeres Risiko für das Auftre- ten einer hypoxisch ischämischen Enzepha- lopathie (HIE). Verschiedene Studien be- wiesen bereits, dass das Ausstreichen der Nabelschnur (Cord milking) direkt nach der Geburt die kardiopulmonale Anpassung und Perfusion des Hirns positiv beeinflusst und Anämien verhindern kann. Kommt ein Neugeborenes deprimiert zur Welt, ist die aktuelle Empfehlung das direkte Abnabeln, um die notwendigen Maßnahmen nicht zu verzögern. Die vorliegende Studie wollte herauszufinden, ob diese Kinder von einem Ausstreichen des Nabelschnurbluts profi- tieren. Die Cluster-randomisierte Crossover-Studie in 10 Krankenhäusern in den USA, Kanada und Polen schloss insgesamt 1730 zwi- schen der 35. und 42. SSW entbundene Neugeborene ein, die innerhalb der ersten Fa z it Das Ausstreichen der Nabelschnur ist ein viel diskutiertes Thema, und die diesbezüglichen Empfehlungen haben sich in den letzten Jahrzehn- ten häufig verändert. Das Auspulsie- ren lassen der Nabelschnur ist natürlich Goldstandard, in einer Notfallsituation wie der oben beschriebenen kann aber das Cord milking durchaus Vorteile für das Neugeborene haben, vorausgesetzt, es handelt sich um ein (fast) Reifgeborenes. Die Sorge, dass das größere Blutvolumen nach dem Ausstreichen zu einer erhöhten Rate an Hyperbilirubinämien führt, konnte diese Untersuchung nicht bestätigen: tatsächlich gab es in beiden Untersuchungsgruppen keinen einzigen Fall. In der Studie wurde die Nabelschnur 4-mal zum Kind ausgestrichen und die Kinder dadurch durchschnittlich 9 Sekun- den später abgenabelt. Dieses Verfahren erwies sich als sichere, einfach anwendbare und wirksame Methode, um das Outcome von deprimiert geborenen Neugebore- nen zu verbessern. Emilia Campbell 74 Hebamme 2025; 38: 72–74 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Studienergebnisse | Gelesen und kommentiert Gelesen und kommentiert: Ergebnisse bei Frauen mit Diabetes, die hebammengeleitete Geburtshilfe in Groß britannien in Anspruch nahmen: eine nationale prospektive Kohor- tenstudie und Erhebung unter Verwendung des UK Midwifery Study Systems (UKMidSS) Morelli A, Smith L, Karia A et al. Outcomes for women with diabetes admitted for labour care to midwifery units in the UK: a national prospective cohort study and survey of practice using the UK Midwifery Study System (UKMidSS). BMJ Open 2024; 14: e087161. DOI: 10.1136/ bmjopen-2024-087161 Ziel der Studie Zum Zeitpunkt der Studiendurchführung bestand in Großbritannien (GB) eine natio- nale Empfehlung dafür, dass schwangere Frauen mit präexistentem Diabetes oder Gestationsdiabetes (GDM) ihre Geburt in einer ärztlich geleiteten Geburtsabteilung planen sollten. Bis dato existiert keine Evi- denz dazu, wie viele Gebärende mit Diabe- tes hebammengeleitete Geburtshilfe in GB in Anspruch nehmen und welche Outcomes damit einhergehen. Ziel der Studie war es, Evidenz zu sammeln, um Schwangere mit Diabetes in der Entscheidungsfindung zur Wahl des Geburtsortes zu unterstützen. Methodik Für die nationale populationsbasierte Ko- hortenstudie wurden alle hebammengelei- teten (an Kliniken angeschlossenen und freistehenden) Einrichtungen in GB zwi- schen Oktober 2021 und September 2022 zur Betreuung von Frauen mit präexisten- tem Diabetes oder GDM befragt. Als Ver- gleichsgruppe meldeten die Einrichtungen Gebärende mit gleichem Aufnahmezeit- punkt ohne Diabetes in der Anamnese. Im Anschluss fand eine Umfrage unter den hebammengeleiteten Einrichtungen mit hoher Anzahl an Gebärenden mit Diabetes zu hausinternen Leitlinien statt. Beide Be- fragungen erfolgten über das UKMidSS, welches zum Studienzeitpunkt insgesamt 199 hebammengeleitete Einrichtungen in GB umfasste. Als primäre mütterliche Outcomes wurden unter anderem Einleitung mit Oxytocin, operative Geburtsbeendigung, umfassen- de Anästhesie, Dammriss 3. oder 4. Grades und Intensivpflege in der Nachgeburtspha- se ausgewählt. Als sekundäre maternale Outcomes galten unter anderem Verlegung in die ärztlich geleitete Geburtshilfe, Schul- terdystokie und postpartale Hämorrha- gie ≥ 1500 ml. An kindlichen Outcomes standen Apgar-Scores < 7 nach 5 Minuten, Stillbeginn und Verlegung auf die Neonato- logie im Vordergrund. Hinsichtlich der Dia- beteserkrankung wurden Art des Diabetes, Diagnoseverfahren und Behandlung wäh- rend der Geburt erhoben. Es erfolgten deskriptive statistische Berech- nungen mit einem 95 %-Konfidenzintervall (KI) und einem p-Wert < 0,05. Relative und bereinigte Risiken (RR und aRR) wurden mit der log-Poisson-Regression ermittelt. Ergebnisse An der Studie nahmen 186 hebammenge- leitete Einrichtungen (116 an Kliniken an- geschlossene, 70 freistehende) teil. Inner- halb von 12 Monaten wurden der Studie 482 Schwangere mit Diabetes mitgeteilt. Nach Berücksichtigung von Exklusionskri- terien nahmen 420 Frauen mit Diabetes und 411 gesunde Frauen für die Vergleichs- gruppe teil. Die Patientinnen mit Diabetes entsprachen 0,7 % (KI: 0,67–0,82 aller in den teilnehmenden Einrichtungen ange- meldeten Schwangeren. Außer 3 Frauen hatten alle einen GDM, und 16 % erhielten ein medikamentöses Management. Im Ver- gleich zur Kontrollgruppe wiesen die Pa- tientinnen mit Diabetes unter anderem einen höheren BMI-Wert, ein niedrigeres Gestationsalter bei der Geburt und ihre Kin- der ein niedrigeres Geburtsgewicht auf. Die Gruppe der Frauen mit Diabetes zeig- ten zu 21 % mindestens ein primäres Out- comes im Vergleich zur Kontrollgruppe mit 19 % (aRR: 1,31, KI: 0,96–0,80). Auch im Be- reich der maternalen und neonatalen se- kundären Outcomes waren die Werte der Patientinnen mit Diabetes geringfügig höher. Allerdings waren keine Ergebnisse statistisch signifikant. Fazit Die Autor*innen der Studie resümieren, dass Schwangere mit gut eingestelltem GDM für die Geburtsplanung problemlos eine an eine Klinik angebundene hebammengeleitete Einrichtung aufsuchen können. Mithilfe kla- rer Einschlusskriterien und hausinternen Leitlinien ermöglicht dieser Geburtsort Frau- en mit GDM eine interventionsärmere Ge- burt mit besseren Outcomes. Kommen t ar Da die im Voraus geschätzte Stichprobenanzahl höher lag als die tatsächliche Zahl eingeschlossener Frauen mit Diabetes, ist die Studie statistisch unterpowert und für das primäre Ergebnis nicht aussagekräf- tig genug. Daher sind die Ergebnisse mit Vorsicht zu behandeln. Die Autor*innen gehen bei der Interpre- tation der Ergebnisse zurückhaltend vor, indem sie z. B. aufgrund der geringen Anzahl medikamentös eingestellter Frauen mit Diabetes für diese keine Empfehlung ausspre- chen. Darüber hinaus weisen sie darauf hin, dass die Patient*innen mit Diabetes in den hebammen- geleiteten Einrichtungen für die Aufnahme sorgfältig ausgewählt wurden und für die Gesamtheit an Schwangeren mit Diabetes in GB (ca. 2–5 % aller Schwangeren) wahrscheinlich nicht repräsentativ sind. Autorin r ahel Pröhmer Hebamme MSc, studiert aktuell Pflegepäd- agogik im Master an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Korrespondenzadresse Rahel Pröhmer r.proehmer@web.de Pröhmer R. Hebamme 2025; 38: 75–76 | © 2025. Thieme. All r ig hts r es erved. 75
Studienergebnisse | Gelesen und kommentiert Einfach mal reinschauen: Thieme web.shop digitale Lösungen Bücher Print und online Fachzeitschriften Print, online & Open Access shop.thieme.de Hebammenwissenschaft DGHWi wählte neue Präsidiumsmitglieder Am 31. Januar 2025 wählten die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Hebammen- wissenschaft (DGHWi) vier neue Präsidiums- mitglieder. Die folgenden Informationen sind einer Pressemitteilung entnommen. Neue Präsidentin der DGHWi ist Prof. Dr. Ni- cola H. Bauer. Sie hat den Lehrstuhl für Heb- ammenwissenschaft an der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln inne und ist Leiterin des Instituts für Hebammenwissen- schaft. Das Gründungsmitglied der DGHWi gehörte dem Präsidium als Beisitzerin für Öff entlichkeitsarbeit bereits seit 2024 an freut sich auf die neuen Aufgaben und He- rausforderungen sowie auf den interprofes- sionellen Austausch mit anderen Fachge- sellschaften und Verbänden. Neue Beisitzerin für Leitlinien ist Prof. Dr. Lena Agel, Gründungsdekanin der Fakultät Gesundheitswissenschaften (i.Gr.) und seit 2022 Professorin für Hebammenwissen- schaft an der TH Aschaff enburg. Sie war von 2018 bis 2024 bereits Leitlinienbeauftrag- te der DGHWi. Zur neuen Schatzmeisterin wählten die Mitglieder Prof. Julia Berger Ph.D. Sie ist Professorin für Hebammenwis- senschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und bringt als selbstständige Ma- nagement- und Unternehmensberaterin ihre Erfahrung in der strategischen Füh- rungs- und Personalentwicklung mit ein. Anna Brodersen wurde zur kommissari- schen Beisitzerin für Öff entlichkeitsarbeit bis 2026 gewählt. Die freiberufl iche Heb- amme in Eichenau und Umgebung ist Lehr- beauftragte in Hebammenstudiengängen und Mitherausgeberin der Fachzeitschrift Hebamme. Das Präsidium komplettieren Vize-Präsidentin Dr. Astrid Krahl, Schrift- führerin Julia Steinmann und die Beisitzerin für Stellungnahmen Dr. Nancy Stone. Bibliografie Hebamme 2025; 38: 75–76 DOI 10.1055/a-2473-2450 ISSN 0932-8122 © 2025 . Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG , Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany Pröhmer R. Hebamme 2025; 38: 75–76 | © 2025 . Thieme. All rights reserved.
CNE Schwerpunkt | Frauengesundheit Frauengesundheit ▪ Social Freezing – eine Option für Frauen mit Kinderwunsch ▪ Vaginismus erkennen und Schwangere adäquat begleiten – ein Leitfaden ▪ Das polyzystische Ovarsyndrom – Erkennung in der Schwangerenvorsorge, Überwachung und Therapie Illustration: © M. Bürger / Thieme CNE (Certified Nursing Education) ist das multimediale Fortbildungskonzept von Thieme. Es wurde in enger Zusammen- arbeit mit dem Deutschen Pflegerat e. V. (DPR) entwickelt. Weitere Informationen finden Sie unter cne.thieme.de Immunkompetenz. Hebamme 2025; 38: 77 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 77
CNE Schwerpunkt | Frauengesundheit Selbstbestimmung oder Fantasie? Ein Blick auf Social Freezing Rumina Goshe Social Freezing ist inzwischen eine weit verbreitete Methode, mit der Frauen ihre Frucht- barkeit für die Zukunft bewahren können. Die Konservierung von Eizellen stammt ur- sprünglich aus der Onkologie, um durch eine Krebstherapie in ihrer Fruchtbarkeit beein- trächtigte Patientinnen eine spätere Schwangerschaft zu ermöglichen. Die Methode entwickelte sich über mehrere Jahrzehnte und bietet nun Frauen generell eine realistische Option, ihren Kinderwusch auf eine spätere Lebensphase zu verlegen. Aufgrund der zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz wird Social Freezing mittlerweile weltweit von Fruchtbarkeitskliniken angeboten und hat sich als fester Bestandteil der reproduktiven Gesundheitsversorgung etabliert. Der Artikel soll betreuenden Hebammen Aufklärung und wichtige Informationen zu Social Freezing vermitteln. Social Freezing ist ein reproduktionsmedizinisches Verfahren, bei dem einer Frau nach einer hormonellen Stimulation Eizellen ent- nommen und für eine spätere künstliche Befruchtung eingefroren werden. Quelle: © koya979/stock.adobe.com 78 Goshe R. Selbstbestimmung oder Fantasie? Ein … Hebamme 2025; 38: 78–81 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
In Deutschland sind 75,2 % der Frauen berufstätig und be- legen damit den 3. Platz der weiblichen Erwerbstätigen- quote in Europa [1]. Dies könnte erklären, warum viele Frauen erst nach ihrem 30. Lebensjahr einen Kinderwunsch entwickeln. Das durchschnittliche Alter von Erstgebären- den in Deutschland lag 2024 bei 29,9 Jahren [2]. Im Jahr 2023 wurden 3700 Social-Freezing-Zyklen ver- zeichnet – ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu den 1637 Zyklen im Jahr 2020 [3]. Diese Zahlen verdeutlichen, warum das Thema Social Freezing in Deutschland immer mehr an Bedeutung gewinnt. Doch welche Vorteile und Nachteile bringt diese Methode mit sich? Wie funktioniert der Prozess? Wann ist es sinnvoll, Social Freezing in An- spruch zu nehmen, und wie sehen die tatsächlichen Er- folgsaussichten aus? Was ist Social Freezing? Social Freezing bezeichnet das Einfrieren von nach einer hormonellen Stimulation entnommenen Eizellen. Diese können zu einem späteren Zeitpunkt aufgetaut und für eine künstliche Befruchtung verwendet werden. Wie funktioniert Social Freezing? Der Prozess beginnt mit einer medikamentösen Stimula- tion der Eierstöcke über 10–14 Tage unter Verwendung von Hormonen, die auch der Körper verwendet [4]. Dabei erhält die Frau subkutane Hormonspritzen, um mehrere Eizellen gleichzeitig heranreifen zu lassen. Die erste Phase ist die Eizellreifung durch FSH/LH Gonadotropine, danach wird ein vorzeitiger Eisprung verhindert durch GNRH-An- tagonisten. Während dieser Phase überwachen Ärzt*innen die Entwicklung der Eizellen mithilfe von Ultraschall und Bluttests. Ist der optimale Zeitpunkt erreicht, werden die Eizellen mittels einer Follikelpunktion entnommen. Dabei wird unter Betäubung oder Sedierung eine dünne Nadel vaginal eingeführt, um die Eizellen aus den Follikeln abzu- saugen. Dieser minimal-invasive Eingriff dauert etwa 15–30 Minuten. Nach der Entnahme werden die Eizellen untersucht und mittels Vitrifikation (ultraschnelles Einfrieren) in flüssigem Stickstoff bei –196 ° C konserviert. Diese Technik schützt die Zellen vor Schäden und ermöglicht eine langfristige Lagerung ohne Qualitätsverlust. Smith et al. [5] untersuch- ten die Vitrifikation im Vergleich zu langsamem Einfrieren, um die Effizienz beider Verfahren bei der Erzielung einer Schwangerschaft zu bewerten. Da die die Vitrifikation zu höheren Überlebens-, Befruchtungs- und Schwanger- schaftsraten sowie einer verbesserten Embryoentwicklung führte, empfehlen die Autoren diese Methode als die ef- fektivste Methode zur Kryokonservierung von Eizellen [5]. Zu einem späteren Zeitpunkt können die eingefrorenen Eizellen wieder aufgetaut, befruchtet und in den Uterus eingesetzt werden. Der Erfolg hängt von verschiedenen Faktoren ab, insbesondere vom Alter der Frau zum Zeit- punkt des Einfrierens – idealerweise vor dem 35. Geburts- tag – je früher, desto besser. Wie viele Eizellen sind nötig? Laut der Studie von Goldman et al. [6], die 520 Frauen mit intrazytoplasmatischer-Spermieninjektion-Behandlung (ICSI) untersuchte, liegt die Wahrscheinlichkeit für min- destens eine Lebendgeburt mit 20 eingefrorenen Eizellen bei 90 % für Frauen im Alter von 34 Jahren, bei 75 % für Frauen im Alter von 37 Jahren und bei 37 % für Frauen im Alter von 42 Jahren. Daher empfehlen die Autoren zur Ma- ximierung der Erfolgschancen, mindestens 10 und idea- lerweise 20 Eizellen einzufrieren [6]. Die Daten des Deutschen IVF-Registers zeigen, dass das durchschnittliche Alter von Frauen, die Social Freezing zwi- schen 2020 und 2023 nutzten, bei 35,6 Jahren lag [6]. Verlieren eingefrorene Eizellen an Qualität? In einer retrospektiven Studie zu den Erfolgsraten von IVF- Behandlungen mit zuvor vitrifizierten und aufgetauten Ei- zellen war die Befruchtungsrate bei vitrifizierten Eizellen (70 %) fast identisch mit der frischer Eizellen (72 %) [7]. Be- merkenswerterweise fielen die Implantationsrate (43 % vs. 35 %) und die klinische Schwangerschaftsrate (57 % vs. 44 %) bei vitrifizierten Eizellen sogar höher aus [7]. Aller- dings fand sich bei der Lebendgeburtenrate (39 % vs. 35 %) kein signifikanter Unterschied [7]. Insgesamt ergab sich eine Effizienz von 6,4 % pro vitrifizierter Eizelle für eine Le- bendgeburt [7]. Diese Ergebnisse sind besonders für Pa- tientinnen beruhigend, die ihre Eizellen aufgrund fehlen- der Spermien des Partners oder zur Begrenzung der be- fruchteten Eizellen konservieren möchten. Eine weitere Studie analysierte die Schwangerschafts- und Geburtsverläufe von insgesamt 1027 aus 804 Schwanger- schaften mit vitrifizierten Eizellen geborenen Kindern im Vergleich zu 1224 Kindern aus 996 Schwangerschaften mit frischen Eizellen [8]. Die Ergebnisse zeigten keine relevan- ten Unterschiede bei Schwangerschafts- oder Geburtskom- plikationen wie Schwangerschaftsdiabetes, Bluthochdruck oder Frühgeburten. Auch Geburtsgewicht, Apgar-Werte, Fehlbildungen oder Aufnahmen auf die Intensivstation un- terschieden sich nicht signifikant. In der Gruppe mit vitri- fizierten Eizellen wurden lediglich eine erhöhte Anzahl in- vasiver Eingriffe (Odds Ratio: 2,12) und weniger Harn- wegsinfektionen (Odds Ratio: 0,51). Um die Erkenntnisse zu untermauern, sind jedoch weitere Studien mit größe- ren Stichproben erforderlich. In der Untersuchung von Noyes et al. [9] wiesen bei 936 Lebendgeburten nach der Kryokonservierung von Eizellen lediglich 1,3 % der Neugeborenen Geburtsanomalien auf. Goshe R. Selbstbestimmung oder Fantasie? Ein … Hebamme 2025; 38: 78–81 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 79
CNE Schwerpunkt | Frauengesundheit Diese Rate entsprach der Häufigkeit von Anomalien bei na- türlich gezeugten Kindern, was auf eine vergleichbare Si- cherheit der Methode hinweist [9]. Kosten des Social Freezing Social Freezing ist mit erheblichen Kosten verbunden. Ein Behandlungszyklus einschließlich hormoneller Stimula tion und Eizellentnahme kostet etwa 3000–4000 Euro. Die not- wendigen Medikamente schlagen mit weiteren 1000– 1500 Euro zu Buche. Hinzu kommen jährliche Lagerungs- kosten von 300–500 Euro sowie 2000–4000 Euro für die spätere Befruchtung und den Embryotransfer. Insgesamt können die Kosten – abhängig von der Anzahl der Zyklen und der Lagerdauer – zwischen 6000 und 11 000 Euro oder mehr liegen. Vorteile des Social Freezing Ein wesentlicher Vorteil des Social Freezing liegt darin, dass der gefühlte Zeitdruck für eine Schwangerschaft gemin- dert wird. Frauen können ihre Eizellen in jungen Jahren ein- frieren lassen, was das Risiko genetischer Fehlbildungen reduziert. Außerdem könnte die Anzahl notwendiger künstlicher Befruchtungszyklen verringert werden. Social Freezing stärkt zudem die reproduktive Autonomie der Frauen, besonders für diejenigen, die aktuell keinen Part- ner haben oder sich zunächst auf ihre berufliche Entwick- lung konzentrieren möchten. Nachteile des Social Freezing Die hohen Kosten stellen eine der größten Hürden dar. Neben den Ausgaben für die Entnahme und das Einfrieren der Eizellen fallen auch bei der späteren Befruchtung er- hebliche Kosten an, die Frauen ohne ausreichende finan- zielle Mittel von der Behandlung ausschließen können. Darüber hinaus birgt der medizinische Prozess gewisse Ri- siken. Sowohl die hormonelle Stimulation als auch die Ei- zellentnahme können – wenn auch selten – Nebenwirkun- gen verursachen. Laut dem Deutschen IVF-Register kam es 2023 bei 68 089 Eizellentnahmen in 522 Fällen (0,8 %) zu Komplikationen wie vaginale Blutungen, intraabdomi- nelle Blutungen, Darmverletzungen und Peritonitis [3]. Das Überstimulationssyndrom wurde in etwa 0,2 % der Fälle festgestellt [3]. Ethische Diskussion Ethische und gesellschaftliche Fragestellungen rund um Social Freezing sind vielschichtig und regen eine kontro- verse Debatte an. Kritiker führen an, dass die Methode möglicherweise einen gesellschaftlichen Trend unterstützt und Frauen ermutigt, den Kinderwunsch systematisch zu verschieben. Zwar bietet Social Freezing eine technische Lösung zur Bewahrung der Fruchtbarkeit, jedoch bleiben biologische und gesundheitliche Einschränkungen beste- hen: Schwangerschaften im höheren Alter gehen statis- tisch mit einem erhöhten Risiko für Komplikationen wie hypertensive Erkrankungen, Frühgeburt oder Sectio ein- her [10]. Auch die Qualität des Uterus und altersbedingte Veränderungen können durch eingefrorene Eizellen nicht ausgeglichen werden, was die Erfolgsaussichten trotz der modernen Technologie begrenzen kann. Dies könnte bei Frauen falsche Erwartungen wecken und zu einer Unter- schätzung der natürlichen biologischen Grenzen führen. Darüber hinaus wird Social Freezing als Symptom einer zu- nehmenden Kommerzialisierung der Fruchtbarkeit gese- hen. Da die Methode mit hohen Kosten verbunden ist, bleibt sie überwiegend wohlhabenderen Schichten vorbe- halten und wirft Fragen nach sozialer Gerechtigkeit auf. Kritiker bemängeln, dass Frauen mit geringerem Einkom- men oft von dieser Möglichkeit ausgeschlossen sind und dadurch eine Ungleichheit in der Reproduktionsmedizin entsteht. Diese Problematik wird durch Unternehmensan- gebote verschärft, die Social Freezing als „Work-Life-Ba- lance-Vorteil“ präsentieren. Solche Maßnahmen könnten den Druck auf Frauen erhöhen, sich zwischen Karriere und Familiengründung entscheiden zu müssen, und vermitteln möglicherweise die Botschaft, berufliche Verpflichtungen sollten Vorrang haben. Ein weiterer Punkt betrifft die kulturelle Botschaft, die durch Social Freezing ausgesendet werden könnte. Die Technologie kann den Eindruck erwecken, dass Fruchtbar- keit nahezu unbegrenzt „auf Vorrat“ verfügbar ist, was zu einer Verzerrung der Wahrnehmung biologischer Realitä- ten führen könnte. Dies stellt nicht nur eine Herausforde- rung für die individuelle Entscheidungsfindung dar, sondern könnte langfristig auch das gesellschaftliche Verständnis von Familienplanung und Mutterschaft verändern. Es bleibt frag- lich, ob solche Entwicklungen für Frauen tatsächlich mehr Freiheit oder vielmehr neue soziale Zwänge bedeuten. Schließlich sind auch die potenziellen Auswirkungen auf die durch Social Freezing gezeugten Kinder ein ethisches Thema. Obwohl aktuelle Studien keine Hinweise auf er- höhte Gesundheitsrisiken zeigen, bleibt unklar, wie sich Faktoren wie die Dauer der Eizelllagerung langfristig aus- wirken könnten. Die Verantwortung gegenüber zukünfti- gen Generationen und die Abwägung zwischen technologi- schen Möglichkeiten und ethischen Grenzen stehen hier- bei im Mittelpunkt. Social Freezing ist somit nicht nur eine medizinische Inno- vation, sondern auch ein gesellschaftliches Thema, das weitreichende Diskussionen über Gleichberechtigung, in- dividuelle Freiheit und kollektive Verantwortung auslöst. Es bedarf einer differenzierten Auseinandersetzung, um sowohl die Chancen als auch die Risiken der Methode in ihrem gesamten Kontext zu verstehen. 80 Goshe R. Selbstbestimmung oder Fantasie? Ein … Hebamme 2025; 38: 78–81 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Fa z it Literatur In Deutschland gewinnt Social Freezing zunehmend an Bedeutung, da viele Frauen aufgrund ihrer hohen Erwerbsbeteiligung und der Tendenz, ihre Familienplanung nach hinten zu verschieben, verstärkt daran interessiert sind, ihre Fruchtbarkeit für die Zukunft zu erhalten. Das Verfahren beinhaltet eine hormonelle Stimulation, gefolgt von der Entnahme und dem Einfrieren von Eizellen für eine spätere künstliche Befruchtung. Studien zeigen, dass die Methode der Vitrifikation im Vergleich zu herkömmlichen Einfriertechniken bessere Ergebnisse in Bezug auf die Überlebens- fähigkeit, Befruchtung und Schwangerschaft erzielt, ohne die Qualität oder Sicherheit der Eizellen zu beeinträchtigen. Zwar bietet Social Freezing viele Vorteile wie eine größere reproduktive Entschei- dungsfreiheit, demgegenüber stehen jedoch potenzielle Hindernisse wie hohe Kosten und seltene medizinische Risiken. Langfristige Untersu- chungen belegen außerdem, dass Schwanger- schaftsverläufe und Geburtsrisiken bei vitrifizierten Eizellen mit denen natürlicher Schwangerschaften vergleichbar sind. Autorin Rumina Goshe ist Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshil- fe. Sie befindet sich derzeit in der Weiterbil- dung für Reproduktionsmedizin im Medizini- schen Versorgungszentrum (MVZ) Helle-Mitte in Berlin. In ihrer Rolle beschäftigt sie sich mit verschiedenen Aspekten der Frauengesund- heit, insbesondere mit Themen rund um Schwangerschaft, Geburt und reproduktive Gesundheit. Korrespondenzadresse Rumina Goshe MVZ für Gynäkologie Helle-Mitte Fritz-Lang-Str. 2 12627 Berlin Deutschland [1] Statistisches Bundesamt. Europa in Zahlen: Erwerbstätigkeit von Frauen: Deutschland mit dritthöchster Quote in der EU. 2023. Zugriff am 21.02.2025 unter: https://www.destatis.de/ Europa/DE/Thema/Bevoelkerung-Arbeit-Soziales/Arbeitsmarkt/ ArbeitsmarktFrauen.html#:~:text = Deutschland %20hat %20 im %20Vergleich %20zu,75 %2C2 %20 %25 %20dieser %20 Altersgruppe [2] Statistisches Bundesamt. Europa in Zahlen: Das erste Kind kommt immer später. 2024. Zugriff am 21.02.2025 unter: https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Bevoelkerung- Arbeit-Soziales/Bevoelkerung/Alter-bei-Geburt.html [3] Deutsches IVF-Register. Schwerpunktthema: Kryokonservierung von Oozyten und deren Verwendung nach Auftau. Zugriff am 21.02.1025 unter: https://www. deutsches-ivf-register.de/perch/resources/dir-jahrbuch- 2023-deutsch.pdf [4] Next Fertility IVF Prof. Zech Bregenz. Follikel-Stimulation. 2025. Zugriff am 21.02.2025 unter: https://www.ivf.at/ kinderwunsch-behandlung.php?c = stimulation [5] Smith GD, Serafini PC, Fioravanti J et al. Prospective randomized comparison of human oocyte cryopreservation with slow-rate freezing or vitrification. Fertil Steril 2010; 94: 2088–2095. DOI: 10.1016/j.fertnstert.2009.12.065 [6] Goldman RH, Racowsky C, Farland LV et al. Predicting the likelihood of live birth for elective oocyte cryopreservation: a counseling tool for physicians and patients. Hum Reprod 2017; 32: 853–859. DOI: 10.1093/humrep/dex008 [7] Doyle JO, Richter KS, Lim J et al. Successful elective and medically indicated oocyte vitrification and warming for autologous in vitro fertilization, with predicted birth probabilities for fertility preservation according to number of cryopreserved oocytes and age at retrieval. Fertil Steril 2016; 105: 459–466.e2. DOI: 10.1016/j.fertnstert.2015.10.026 [8] Cobo A, Serra V, Garrido N et al. Obstetric and perinatal outcome of babies born from vitrified oocytes. Fertil Steril 2014; 102: 1006–1015.e4. DOI: 10.1016/j. fertnstert.2014.06.019 [9] Noyes N, Porcu E, Borini A. Over 900 oocyte cryopreservation babies born with no apparent increase in congenital anomalies. Reprod Biomed Online 2009; 18: 769–776. DOI: 10.1016/s1472-6483(10)60025-9 [10] Attali E, Yogev Y. The impact of advanced maternal age on pregnancy outcome. Best Pract Res Clin Obstet Gynaecol 2021; 70: 2–9. DOI: 10.1016/j.bpobgyn.2020.06.006 Bibliografie Hebamme 2025; 38: 78–81 DOI 10.1055/a-2512-6673 ISSN 0932-8122 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany Goshe R. Selbstbestimmung oder Fantasie? Ein … Hebamme 2025; 38: 78–81 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 81
CNE Schwerpunkt | Frauengesundheit Das polyzystische Ovarsyndrom Laura Lotz Das polyzystische Ovarsyndrom (PCOS) ist die häufigste hormonelle Störung bei Frauen im fertilen Lebensalter. In der Schwangerenvorsorge wird ihm trotz möglicher Auswirkungen auf Mutter und Fetus häufig wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei ist eine frühe Diagnose unverzichtbar, um Schwangerschafts- und Langzeitkomplikationen zu vermeiden bzw. zu reduzieren. Der Artikel vermittelt, was Hebammen über die Diagnostik, pathophysiologische Prozesse, bisherige Behandlungsmöglichkeiten und potenzielle Schwangerschaftskomplikatio- nen bei Frauen mit PCOS wissen sollten. ▶Abb. 1 Frauen mit PCOS brauchen mehr Zeit, um schwanger zu werden, bzw. benötigen häufiger reproduktionsmedizinische Maßnahmen, um ihren Kinderwunsch zu erfüllen. ©Orawan/stock.adobe.com Einleitung Das polyzystische Ovarsyndrom (PCOS) stellt die häufigs- te endokrine Störung bei Frauen dar. Weltweit wird die Prä- valenz auf 6–12 % geschätzt [3]. Es resultiert ein hetero- genes Krankheitsbild mit den Kardinalsymptomen einer Androgenisierung ( = erhöhte männliche Geschlechtshor- mone) in Kombination mit einer Zyklusstörung. Der And- rogenexzess, der zu einem männlichen Behaarungsmus- ter ( = Hirsutismus), Haarausfall ( = Alopezie) und Akne füh- ren kann, bedeutet häufig eine große Belastung für die betroffenen Frauen. Kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Adipositas, Insulinresistenz und Dyslipidämie sind eben- falls charakteristisch für PCOS und führen zu einer erhöh- ten Morbidität und Mortalität. Des Weiteren treten De- pressionen und Schlafapnoe gehäuft auf. Aufgrund seiner Verbindung mit Anovulation ( = Ausblei- ben des Eisprungs) und unregelmäßigen Menstruations- zyklen ist PCOS eine Hauptursache für Unfruchtbarkeit bei Frauen. Patientinnen mit PCOS bedürfen in der Schwan- gerschaft aufgrund erhöhter maternaler und neonataler Schwangerschaftskomplikationen einer besonderen Über- wachung und Fürsorge. Das PCOS stellt damit kein alleini- ges gynäkologisch endokrinologisches Problem dar, son- dern ist für die lebenslange Gesundheit der betroffenen Frauen von zentraler Bedeutung. Diagnostik bei PCOS Die Diagnose des PCOS wird anhand der überarbeiteten Rotterdam-Konsenskriterien gestellt. Bei Erwachsenen Frauen erfordert dies das Vorhandensein von 2 der folgen- den 3 Kriterien: 1. klinischer/biochemischer Hyperandrogenismus 2. irreguläre Zyklen 3. polyzystische Eierstöcke im Ultraschall oder neu erhöhte AMH-Werte (Anti-Mullerian-Hormon/ Anti-Müller-Hormon) 82 Lotz L. Das polyzystische Ovarsyndrom. Hebamme 2025; 38: 82–87 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Die Diagnosekriterien sind im Infokasten zusammenge- fasst. Wenn unregelmäßige Menstruationszyklen und Hyperan- drogenismus vorliegen, sind Ultraschall oder AMH-Bestim- mung für die Diagnose nicht weiter erforderlich. Das heißt, eine Diagnosestellung ist auch ohne die namensgebenden polyzystischen Ovarien möglich. Bei Jugendlichen sollen weder die vaginale Sonografie noch die AMH-Messung wegen mangelnder Validität verwendet werden [14]. Wichtig ist zudem, dass das PCOS eine Ausschlussdiagno- se darstellt, d. h. andere Ursachen einer Hyperandrogen- ämie und Zyklusstörungen (z. B. late-onset adrenogenita- les Syndrom, Cushing Syndrom, Hyperprolaktinämie etc.) müssen zuvor weitestgehend ausgeschlossen werden. DiAgn o sek r it er ien ▪ klinische und/oder laborchemische Hyper androgenämie: – Biochemische Hyperandrogenämie: Messung des Serum-Hormonstatus von Testosteron, Dehydroepiandrosteron (DHEA), Dihydrotes- tosteron, Sexualhormon-bindendem Globulin (SHBG) und weiteren androgenen Steroiden. Kombinierte orale Kontrazeptiva müssen mindestens 3 Monate vorher abgesetzt werden, da sie das sexualhormon- bindende Globulin erhöhen und Androgene senken. – Klinische Hyperandrogenämie: Dabei wird der Hirsutismus (Ferriman-Gallwey- Score ≥ 4–6) als starkes Hinweiszeichen für eine Hyperandrogenämie gewertet. Schwächere Zeichen sind isoliert auftretende Akne oder Haarausfall (ohne Hirsutismus). ▪ Zyklusunregelmäßigkeiten: 1 bis 3 Jahre nach der Menarche gelten Zykluslängen von 21 bis 45 Tagen als normal, danach bis zur Perimenopause Zyklen von 21 bis 35 Tagen. Als irregulär gelten Zyklen außerhalb dieser Intervalle, Abstände von mehr als 90 Tagen oder weniger als 8 Zyklen pro Jahr. ▪ Polyzystische o varmorphologie oder erhöhte AMHWerte (AntiMüllerHormon): Die Schwelle für die PCOS-Diagnose bei Erwachse- nen liegt bei > 10 Follikel pro Schnittbild in zumindest einem Eierstock oder ein Ovarvolu- men > 10 ml. Alternative Bestimmung des Anti-Müller-Hormons (AMH) als Marker für den ovariellen Follikelpool bei erwachsenen Frauen. Ätiologie und Pathophysiologie Die Ätiologie und Pathophysiologie des PCOS sind kom- plex und teilweise noch nicht vollständig geklärt. Ein PCOS entwickelt sich wahrscheinlich auf dem Boden einer poly- genetischen Prädisposition. Die Genese ist multifaktoriell. Genaue Ursachen sind bislang trotz zahlreicher Veröffent- lichungen noch wenig verstanden. Ein Hauptmerkmal des PCOS ist die gestörte neuroendokrine Funktion der Hypo- physen-Hypothalamus-Achse, wobei erhöhte Werte des luteinisierenden Hormons (LH) im Verhältnis zum follikel- stimulierenden Hormon (FSH) ein häufiger Befund sind [4]. Insulinresistenz und Hyperinsulinämie spielen ebenfalls eine zentrale Rolle bei der Pathogenese von PCOS und tragen zum Hyperandrogenismus bei, indem sie die Androgenpro- duktion in den Ovarien stimulieren und den Spiegel des Sexualhormon-bindenden Globulins (SHBG) senken, wodurch die Bioverfügbarkeit von Androgenen erhöht wird [17]. Der Hyperandrogenismus stört die normale Follikel- entwicklung, was zu Anovulation und der charakteristischen Morphologie polyzystischer Eierstöcke führt. Langzeitfolgen – metabolische und kardiovaskuläre Risikofaktoren Kardiovaskuläre Erkrankungen gehören zu den wichtigsten Mortalitätsursachen bei Frauen. Bei Patientinnen mit PCOS treten gehäuft eine Dyslipidämie, arterielle Hypertonie sowie eine gestörte Glukosetoleranz und Diabetes mellitus auf [16]. Über 50 % der Patientinnen mit PCOS sind adipös, wodurch die kardiometabolischen Risikofaktoren verstärkt werden. Aber auch ohne erhöhten BMI sind Patientinnen aufgrund der Insulinresistenz prädisponiert für kardiovas- kuläre Risiken [5]. Daher wird ein standardisiertes Screening von Frauen mit PCOS auf metabolische und kardiovaskuläre Risikofaktoren gemäß der aktuellen internationalen Leitlinie empfohlen. In ▶tab. 1 sind die Screening-Untersuchungen zusammen- gefasst. Der Diabetesstatus mittels 75 g oGTT (oraler Glukosetole- ranztest) sollte bei aktivem Kinderwunsch bereits vor Schwangerschaftseintritt abgeklärt werden. Bei schwange- ren Frauen mit PCOS, die diese Diagnostik präkonzeptio nell nicht erhalten haben, wird ein 75 g oGTT im 1. Trimester und erneut bei 24 + 0–27 + 6 SSW empfohlen. Anhand der nationalen Empfehlungen der Deutschen Diabetes Gesell- schaft (DDG) und der Deutschen Gesellschaft für Gynäko- logie und Geburtshilfe (DGGG) kann ein Screening im 1. Tri- menon für Frauen mit erhöhtem Diabetesrisiko im ersten Schritt auch durch eine Bestimmung von Nüchternglukose oder HbA1c erfolgen. Im Falle eines HbA1c im Prädiabetes- bereich erfolgt dann die Durchführung eines 75 g oGTT zur weiteren Abklärung auch schon im 1. Trimenon. Im Falle un- auffälliger Befunde des Frühscreenings wird die Durchfüh- Lotz L. Das polyzystische Ovarsyndrom. Hebamme 2025; 38: 82–87 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 83
CNE Schwerpunkt | Frauengesundheit ▶tab. 1 (modifiziert nach Sonntag B 2023 [13]). Screening auf kardiovaskuläre und metabolische Risiken Blutdruckmessung Bei Diagnose, Jährlich und präkonzeptionell Lipidprofil (Gesamtcholeste- rin, HDL-Cholesterin, LDLCholesterin, Triglyzeride) Glukosestoffwechsel (oGTT, alternativ Nüchternglukose und/oder HbA1c) Bei Diagnose, dann abhängig von den Werten und dem individuellen Risikoprofil Bei Diagnose, dann alle 1–3 Jahre sowie präkonzeptionell bei Kinder- wunsch oder in der Frühschwanger- schaft, erneut in der 24.–28. SSW rung eines 75 g oGTT zum Zeitpunkt des regulären GDM- Screenings (24 + 0–27 + 6 SSW) empfohlen. Des Weiteren besteht eine hohe Prävalenz von Depressio- nen, Angsterkrankungen und Essstörungen bei PCOS [15]. Androgenisierungserscheinungen, Übergewicht, Körper- schemastörungen und Angst vor Infertilität können zudem zu einer psychosexuellen Dysfunktion führen. Es sollte ge- zielt nach entsprechenden Symptomen gefragt werden und bei Bedarf eine psychologische Anbindung erfolgen. PCOS und Fertilität Frauen mit PCOS benötigen zur Erfüllung ihres Kinderwun- sches mehr Zeit und häufiger medizinische Maßnahmen. In einer bevölkerungsbezogenen Studie aus Schweden konn- te anhand der Daten von 45 395 Frauen mit PCOS festgestellt werden, dass diese im Vergleich zu Frauen ohne PCOS selte- ner spontan ein Kind bekommen und dass sie zum Erreichen der 1. Schwangerschaft mehr Zeit benötigen (im Durch- schnitt 2,3 Jahre länger). Betroffene hatten im Vergleich zu Frauen ohne PCOS seltener mehr als ein Kind [10]. Aufgrund der Verbindung mit Anovulation und unregel- mäßigen Menstruationszyklen ist PCOS eine häufige Ursa- che für Unfruchtbarkeit bei Frauen. Es gibt jedoch eine Vielzahl an reproduktionsmedizinischen Maßnahmen, um diesen Frauen zu helfen. Unter Berücksichtigung von as- sistierten Schwangerschaften weisen Frauen mit PCOS daher eine vergleichbare Wahrscheinlichkeit auf, ein Kind zu bekommen wie Frauen ohne PCOS [10]. Schwangerschaftskomplikationen bei PCOS In der Schwangerschaft benötigen Frauen mit PCOS aufgrund multipler Risikofaktoren für Schwangerschaftskomplikationen eine besondere medizinische Wahrnehmung und Überwachung [12]. Merke Patientinnen mit PCOS weisen ein ungünstiges metaboli- sches Profil auf und leiden häufig bereits vor der Schwanger- schaft an Adipositas, Diabetes oder Hypertonie. Des Weite- ren ist aufgrund der PCOS-bedingten Subfertilität durch die Anovulation die Anwendung stattgehabter In-vitro-Fertili- sationen und Mehrlingsschwangerschaften erhöht [6]. In einer populationsbasierten Analyse von 9,1 Mio. Gebur- ten konnte für Frauen mit PCOS eine 30-40%ige Risikoer- höhung für Gestationshypertonie und Präeklampsie sowie ein 2-fach erhöhtes Risiko für einen Gestationsdiabetes festgestellt werden [6]. Auch die aktuelle ESHRE-Leitlinie [14] weist explizit in ihrem systematischen Review und gepoolten Metaanaly- se darauf hin, dass Frauen mit PCOS ein signifikant höhe- res Risiko für Fehlgeburten, Gestationsdiabetes, Schwan- gerschaftsbluthochdruck, Präeklampsie und Kaiserschnitt aufweisen. Auch besteht ein erhöhtes Risiko für eine hö- here Gewichtszunahme während der Schwangerschaft und für einen höheren BMI. Neonatales Outcome bei PCOS Die mütterlichen Komorbiditäten bedingen auch fetale und neonatale Probleme. Adipositas und ein schlecht eingestell- ter Diabetes zum Zeitpunkt der Organogenese können das Fehlbildungsrisiko erhöhen [12]. Sowohl in Kohortenstudi- en als auch in der ESHRE-Leitlinie konnte ein 2-fach erhöh- tes Risiko für Frühgeburten nachgewiesen werden [14]. Des Weiteren sind ein niedriges Geburtsgewicht und intraute- rine Wachstumsretardierungen sig nifikant häufiger, ver- mutlich infolge des vermehrten Auftretens von Hypertonie und Präeklampsie [8]. Eine Risi koerhöhung für Large for Ge- stational Age (LGA) und Makrosomie konnte in der Leitlinie nicht festgestellt werden [14]. Die maternalen und fetalen Komplikationen bedingen auch eine erhöhte Verlegungs- rate und perinatale Mortalitätsrate [1]. Therapeutische Maßnahmen für Frauen mit PCOS bei Kinderwunsch Lebensstilintervention Merke Zur Reduktion von Schwangerschaftskomplikationen ist es essenziell, bereits vor einer Schwangerschaft Faktoren zu erfassen und zu optimieren, die die Fertilität, eine Kinderwunschbehandlung und den Schwangerschaftsverlauf beeinflussen können. Hierzu zählen die Optimierung des Gewichts, des Blut- drucks, des Blutzuckers und psychischer Komorbiditäten, das Einstellen des Nikotin- und Alkoholkonsums sowie re- gelmäßige körperliche Aktivität und eine ausreichende 84 Lotz L. Das polyzystische Ovarsyndrom. Hebamme 2025; 38: 82–87 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Folsäuresupplementierung (bei BMI > 30 kg/m2 höhere Do- sierung). Die präkonzeptionelle Gewichtsreduktion bei übergewich- tigen Frauen mit PCOS und Kinderwunsch wird als First- line-Therapie empfohlen. In Studien konnte gezeigt wer- den, dass die Reduktion von 5–10 % des Körpergewichts bei Frauen mit PCOS und Adipositas die Ovulationsfunk- tion, die Menstruationsregelmäßigkeit und die Insulin- empfindlichkeit signifikant verbessert [7]. Die Gewichtsreduktion umfasst diätetische Maßnahmen und körperliche Aktivität. Eine Überlegenheit einer speziel- len Diätform oder Art der körperlichen Aktivität konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Zur Förderung einer Gewichtsabnahme und der Verhinderung einer erneuten Gewichtszunahme sollten Erwachsene (18–64 Jahre) ein Minimum von 250 Minuten/Woche mit mäßig intensiven Aktivitäten oder 150 Minuten/Woche mit intensiven Ak- tivitäten oder eine gleichwertige Kombination aus beidem anstreben – plus muskelstärkende Aktivitäten (z. B. Wider- stands-/Bewegungsübungen), idealerweise an 2 nicht auf- einanderfolgenden Tagen pro Woche [14]. Ovarielle Stimulation und Ovulationsinduktion Bei anovulatorischen Zyklen infolge eines PCOS ist eine ovarielle Stimulation die Therapie der Wahl [2]. Der Aro- matashemmer Letrozol hat sich zur Ovulationsinduktion bei unfruchtbaren, anovulatorischen Frauen mit PCOS ohne weitere Unfruchtbarkeitsfaktoren durchgesetzt. Le- trozol senkt durch die Hemmung der Aromatase die Est- radiol-Serumspiegel und bewirkt dadurch eine reflektori- sche Erhöhung der FSH-Ausschüttung. Letrozol ist in der Therapie des Hormonrezeptor-positiven Mammakarzi- noms zugelassen und nicht zur Ovulationsinduktion. Let- rozol wird daher bei PCOS im Off-label-Use eingesetzt und bedarf einer entsprechenden Aufklärung und Einwilligung der Patientin. Zugelassen zur Ovulation ist Clomifen. Clomifen ist ein Es- trogenrezeptor-Modulator, der durch seine partiell anti- estrogene Wirkung in der Hypophyse die Ausschüttung von FSH fördert. Verglichen mit Letrozol weist Clomifen jedoch eine signifikant niedrigere Lebendgeburtenrate auf [2]. Metformin Metformin ist ein zugelassenes Diabetesmedikament, das bei Frauen mit PCOS und Kinderwunsch im Off-label-Use eingesetzt werden kann. Es weist allerdings als Monothe- rapie eine geringe Effektivität im Vergleich zu Letrozol und Clomifen auf. Eine Kombination von Metformin und Clo- mifen ist effektiver zur Steigerung der Schwangerschafts- rate als Clomifen allein. Zum Einsatz von Metformin in der Schwangerschaft gibt es derzeit keine generelle Empfehlung. Laut der interna- tionalen ESHRE-Leitlinie könnte Metformin bei Frauen mit PCOS unter bestimmten Umständen (z. B. beim Risiko einer Frühgeburt) in Betracht gezogen werden, da es in Studien das Risiko für eine Frühgeburt und eine übermä- ßige Gewichtszunahme während der Schwangerschaft re- duziert [14]. Allerdings scheint es nach bisheriger Daten- lage nicht die Entstehung eines Gestationsdiabetes, späte Fehlgeburten, Bluthochdruck in der Schwangerschaft, Prä- eklampsie sowie Makrosomie oder ein Geburtsge- wicht ≥ 4000 g zu verhindern [14]. Des Weiteren sind die Auswirkungen der Metformin-Exposition auf die langfris- tige Gesundheit der Nachkommen unklar. Es gibt Hinwei- se auf ein erhöhtes Gewicht in der Kindheit nach Metfor- min-Gabe während der Schwangerschaft, obwohl die Kau- salität nicht sicher ist [11]. Bei einer Unverträglichkeit von Metformin werden Inosi- tole als Nahrungsergänzungsmittel beworben. Diese sind jedoch im Hinblick auf ihren klinischen Nutzen zur Verbes- serung der Ovulation und Schwangerschaftsrate limitiert und dem von Metformin unterlegen. Weitere Maßnahmen Ein Viertel der Patientinnen reagiert weder adäquat auf Clomifen noch auf Letrozol. Bei diesen Frauen kommt eine Gonadotropin-Stimulation infrage, bei der follikelstimu- lierendes Hormon (FSH), luteinisierendes Hormon (LH) oder humanes Menopausengonadotropin (HMG) indivi- duell verabreicht werden können. Zur Vermeidung von Mehrlingsschwangerschaften benö- tigen die ovulationsstimulierenden Therapien eine Betreu- ung durch ein Ultraschallmonitoring. Der Zyklus sollte bei mehr als 2 ( > 14 mm) Follikeln abgebrochen werden. Als Second-line-Therapie bei Clomifenresistenz besteht in speziellen Zentren die Möglichkeit des „Ovardrillings“, bei dem die Oberfläche des Eierstocks perforiert wird mit dem Ziel, dessen Volumen zu verringern und die Freisetzung der Eizelle zu befördern. Im Falle von Versagen der Therapien zur Ovulationsinduk- tion können Maßnahmen der assistierten Reproduktion zur Realisierung des Kinderwunsches eingesetzt werden – eine In-vitro-Fertilisation (IVF) oder eine intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI). Hierbei besteht ein erhöhtes Risi- ko der Überstimulationen, worüber die Frauen aufgeklärt werden müssen. Das Mehrlingsrisiko lässt sich durch den Transfer von einem Embryo effektiv kontrollieren. Therapeutische Maßnahmen für Frauen mit PCOS ohne Kinderwunsch Bei Frauen mit PCOS ohne Kinderwunsch besteht das vor- dergründige Therapieziel in der Zyklusregulation und der Behandlung der androgen bedingten Symptome, sekun- Lotz L. Das polyzystische Ovarsyndrom. Hebamme 2025; 38: 82–87 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 85
CNE Schwerpunkt | Frauengesundheit där auch in der Optimierung der Insulinempfindlichkeit mit Metformin. Ebenso wie bei Frauen mit Kinderwunsch sind multimodale Konzepte zur Optimierung und Stabilisierung des Gewichtes essenziell. Kombinierte hormonelle Kontrazeptiva Zur Behandlung eines Hirsutismus und irregulärer Zyklen sind kombinierte hormonelle Kontrazeptiva (KOK) im Off- label-Use die erste Wahl. Es sollte möglichst niedrigen EE(Ethinylestradiol)-Dosierungen (20–30 μg) oder natür- lichen Estrogenen der Vorzug gegeben werden. Für die Überlegenheit bestimmter Estrogen-Gestagen-Kombina- tionen liegt keine Evidenz vor [9]. Eine Therapiedauer von mindestens 6 Monaten ist notwendig, um die Effektivität auf die klinische Hyperandrogenämie beurteilen zu kön- nen. Wird kein zufriedenstellender kosmetischer Effekt erreicht, ist auch der zusätzliche Einsatz von Antiandrogenen mög- lich, wobei hier aufgrund der teratogenen Wirkung auf eine sichere Kontrazeption geachtet werden sollte. Zudem ist es wichtig, dass alle KOK zu einer Steigerung des throm- boembolischen Risikos führen können. Thrombose-Risi- kofaktoren wie Hypertonie, Hyperlipidämie und Überge- wicht liegen bei vielen Patientinnen mit PCOS vor. Hoher Blutdruck ( > 160/100 mmHg), Thrombophilie und tiefe Venenthrombose in der Anamnese sind Beispiele für Kon- traindikationen. Bei Kontraindikationen können zur Endo- metrium-Protektion auch Gestagenmonopräparate ein- gesetzt werden. Metformin Metformin kann zur Verbesserung des BMI und weiterer metabolischer Parameter (Insulinresistenz, Glukose, Lipi- de) bei PCOS im Off-label-use eingesetzt werden. Im Ver- gleich zu KOK ist Metformin alleine weniger effektiv. In Kombination mit einem KOK ist Metformin möglicherweise am vorteilhaftesten für Gruppen mit hohem metabolischen Risiko, einschließlich solcher mit einem BMI > 30 kg/m2, Diabetes-Risikofaktoren, gestörter Glukosetoleranz oder in ethnischen Hochrisikogruppen. Pharmakologische und operative Maßnahmen zur Gewichtsreduktion Neuere pharmakologische Maßnahmen wie Orlistat oder GLP-1-Rezeptor-Agonisten wie Liraglutid und Semaglutid können begleitend zu einer Ernährungsumstellung und kör- perlicher Aktivität bei Erwachsenen mit Adipositas einge- setzt werden. Da Sicherheitsdaten in der Schwangerschaft fehlen, ist eine sichere Konzeption notwendig. Des Weite- ren können bariatrische Maßnahmen neben einer dauerhaf- ten Gewichtsreduktion zu einer Remission der metaboli- schen Folgeerkrankungen führen. Bei höherem BMI ( > 35 kg/m2) oder einem BMI von 30–34,9 kg/m2 und zusätzli- chen Risikofaktoren kann daher die Indikation zur bariatri- schen Operation gestellt werden. Forschung – PHOEBE-Studie PCOS beginnt bereits bei Mädchen im jugendlichen Alter und ist schon früh mit kardiovaskulären Risikofaktoren ver- bunden. Allerdings stellt das PCOS bei jungen Frauen eine diagnostische Herausforderung dar, da die Diagnosekrite- rien aus dem Erwachsenenalter sich nicht einfach auf das Jugendalter übertragen lassen. So bleiben viele Patientin- nen mehrere Jahre unbehandelt. Eine frühzeitige Diagnose des PCOS ist essenziell, um Lang- zeitkomplikationen und damit einhergehend Schwanger- schaftskomplikationen zu vermeiden bzw. zu reduzieren. Aus diesem Grund wird an der Frauenklinik Erlangen eine Biomarker-Evaluierungsstudie bei Jugendlichen und jun- gen erwachsenen Frauen durchgeführt. Sie verfolgt das Ziel, neue Blutmarker für eine zuverlässige und genaue Di- agnose des PCOS zu entwickeln, um den Anteil falsch oder nicht rechtzeitig behandelter Frauen zu reduzieren. Infor- mationen zu dieser sog. PHOEBE-Studie sind auf der Web- site der Universitätsfrauenklinik Erlangen zu finden – Link zur Polycystic ovarian syndrome in Human adolescent and yo ung adult females – Biomarker evaluation study: https://www.frauenklinik.uk-erlangen.de/forschung/ labor-fuer-reproduktionsmedizin/phoebe-studie. FAZit Das PCOS ist ein wichtiges Problem der öffentlichen Gesundheit. Es handelt sich um ein sehr heteroge- nes Erkrankungsbild mit endokrinen, reprodukti- ven, psychologischen und kardiometabolischen Merkmalen. Aufgrund der metabolischen Langzeit- folgen sollte die ärztliche Betreuung von Frauen mit PCOS, idealerweise ab der Adoleszenz, im interdis- ziplinären Team erfolgen. Das Therapiekonzept sollte neben symptomorientierten Vorgehenswei- sen in den unterschiedlichen Lebensphasen der betroffenen Frauen immer auch multimodale Ansätze zur Gewichtskontrolle beinhalten. In der Schwangerschaft bestehen erhöhte maternale Risiken, v. a. für Gestationsdiabetes und hypertensi- ve Erkrankungen sowie für das Neugeborene. Daher sollte das medizinische Fachpersonal sicherstellen, dass der PCOS-Status während der Schwangeren- vorsorge erkannt wird und eine angemessene Überwachung und Unterstützung gewährleistet ist. 86 Lotz L. Das polyzystische Ovarsyndrom. Hebamme 2025; 38: 82–87 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
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CNE Schwerpunkt | Frauengesundheit Vaginismus verstehen und Schwangere begleiten – ein Leitfaden für Hebammen Sarah Graf Vaginismus ist ein unwillkürlicher, heftiger, reflexartiger Zusammenzug des Beckenbo- dens, der Penetration schmerzhaft oder unmöglich macht. Oft bleibt er unerkannt – schätzungsweise 5–17 % der Frauen im klinischen Setting leiden unter dieser sexuellen Funktionsstörung. Scham, Tabuisierung und Unwissen erschweren eine frühe Diagnose. Dabei belastet Vaginismus Frauen und Paare im Alltag, besonders wenn ein Kinderwunsch besteht. Hebammen können durch ihre Nähe zum Paar und ihre Expertise Symptome frühzeitig erkennen und individuelle Unterstützung anbieten. Das reduziert Stress und Risiken und ermöglicht eine positive Geburtserfahrung. ▶Abb. 1 Von Vaginismus betroffene Frauen berichten, es fühle sich an, als versperre eine Wand den Vaginaleingang: Ihre Angst vor Schmerzen bei einer Penetration löst aus, dass sich das vordere Drittel der Vagina zusammenzieht und verschließt – wie ein Schutz- mechanismus des Körpers. © Patcharanan/stock.adobe.com (Symbolbild) 88 Graf S. Vaginismus verstehen und Schwangere … Hebamme 2025; 38: 88–95 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Vaginismus in der Schwangerschaft ist ein unterschätztes Thema in der Hebammenpraxis: Die sexuelle Funktions- störung beeinflusst Lebensstil, Sexualität, Fruchtbarkeit und psychische Gesundheit der Betroffenen. Trotz der weitreichenden Implikationen ist das Thema wenig er- forscht. Studien zu Vaginismus und Schwangerschaft sind rar: Seit 2022 sind lediglich wenige relevante Veröffentli- chungen erschienen [7, 8, 21, 29, 30, 37]. Es gibt mehr Bewusstsein für das Thema, doch nur etwa die Hälfte der Frauen sucht Gynäkolog*innen auf. Davon erwähnt wiederum nur die Hälfte die durch den Vaginis- mus erlebten Symptome – und meist geschieht dies erst, wenn die Fachperson das Thema proaktiv anspricht. Scham bei den Betroffenen und fehlendes Wissen der Fach- personen erschweren deshalb oftmals die Diagnose. Be- troffene Frauen fühlen sich dadurch oft nicht ausreichend verstanden und aufgehoben und meiden Terminangebote. Studien zeigen, dass Frauen mit Vaginismus vor gynäkolo- gischen Konsultationen häufig unter starken Stresssymp- tomen wie Schlafstörungen, Tachykardie oder vermehr- tem Schwitzen leiden. Nicht selten sind dann die vorge- burtlichen Konsultationen im Krankenhaus die ersten vaginalen oder transvaginalen Untersuchungen, die diese Frauen erleben [1]. Defini t ion Vaginismus Vaginismus ist eine sexuelle Schmerzstörung, die durch unwillkürliche Spasmen der Beckenboden- muskulatur den Vaginaleingang verengt und Penetration erschwert oder verhindert. Die Störung reicht von mild (Einführung eines Tampons, kleinstes Spekulum möglich) bis stark (jegliche Berührung des Geschlechts wird vermieden) [18]. Dieses Zusammenziehen und Verschließen des vorderen Drittels der Vagina reagiert wie ein Schutzmechanismus des Körpers, der durch starke Angst vor Schmerzen durch eine mögliche Penetration ausgelöst wird. Betroffene berichten, es fühle sich an, als ob eine „Wand“ den Vaginalein- gang versperre. Vaginismus und Dyspareunie sind in der DSM-5-Klassifi- zierung unter der Bezeichnung Genito-Pelvine Schmerz- Penetrationsstörung (Dyspareunie/Vaginismus, GPPD) zusammengefasst. Im ICD-11 wird Vaginismus als sexuel- le Schmerzstörung definiert. Obwohl GPPD die heute technisch korrekte Terminologie ist, bleibt Vaginismus ein gängiger, klinischer Begriff [31]. Während Vaginismus durch Angst vor Schmerzen gekennzeichnet ist, stehen bei Dyspareunie bestehende Schmerzen im Vordergrund. Da diese Schmerzsymptome bei beiden Krankheitsbildern vorkommen und diese sich oft überlappen, ist eine klare Abgrenzung schwierig, aber nötig, denn sie erfordern un- terschiedliche Therapien [22, 32]. Man unterscheidet primären Vaginismus (Symptome schon immer bestehend) und sekundären Vaginismus (nach schmerzfreier Sexualität, oft durch Traumata aus- gelöst). Bei beiden Formen lösen Ängste reflexartige Mus- kelanspannungen aus, die eine Penetration verhindern. Ganzheitlicher Therapieansatz Die Behandlung von Vaginismus erfordert einen ganzheit- lichen Ansatz, da Körper und Psyche eng verknüpft sind. Die Therapieziele sind eine Verbesserung der Kontrolle über die Beckenbodenmuskulatur, die Reflexion von Ängs- ten und Glaubenssätzen sowie die Linderung von Schmer- zen [18]. Viele Betroffene empfinden große Scham und Unsicherheiten. Ihr Leidensweg ist lang, bis sie sich trau- en, Hilfe zu suchen [2, 4, 5]. Vaginismus belastet schwer und behindert nicht selten die Entwicklung einer erfüllten Sexualität oder das Eingehen von Beziehungen. Frauen, die in einer langjährigen Partnerschaft sind und ver- ständnisvolle Partner*innen haben, finden meist kreative Wege, um eine lebendige Sexualität ohne Vaginalpenetra- tion zu führen. Viele Betroffene haben eine funktionieren- de sexuelle Reaktionsfähigkeit und Erregbarkeit und sind orgasmusfähig. Der Wunsch nach Intimität ist vorhanden, doch die Angst vor Penetration überwiegt [9, 16, 20, 24]. Die männlichen Partner leiden oft oder entwickeln mit der Zeit erektile Dysfunktionen, da sie immer wieder daran scheitern, ihre Partnerin zu penetrieren, und mit der Zeit ihre Erektion verlieren. Bei einer anfälligen Therapie sollte deshalb der Partner miteinbezogen werden. Dies stellt eine zusätzliche Motivation für die Frau dar [11, 32]. Merke Vaginismus ist behandel- und heilbar. Der Therapieprozess erfordert Zeit und Geduld. Langjährige Muster können nicht sofort gelöst werden, doch mit konsequenter Unterstützung und Begleitung ist eine erfolgreiche Behandlung möglich [17]. Nicht immer steht der Geschlechtsverkehr im Fokus der Therapie: Bei Kinderwunsch können eine natürliche Schwangerschaft oder Geburtsvorbereitung die Therapie- ziele sein. Hebammen spielen daher eine wichtige Rolle, indem sie die Bedürfnisse der Frauen und Paare klären und sie einfühlsam begleiten und motivieren. Prävalenz von Vaginismus in der Schwangerschaft Die Prävalenz bei Vaginismus ist sehr inkonsistent und stark abhängig von den herangezogenen Datensätzen. Sie Graf S. Vaginismus verstehen und Schwangere … Hebamme 2025; 38: 88–95 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 89
CNE Schwerpunkt | Frauengesundheit variiert zwischen 5–17 % im klinischen Kontext [17, 23, 35]. Beim Fachpersonal fehlt es an fundiertem Wissen, was sich in fehlenden spezialisierten Weiterbildungsangeboten wi- derspiegelt. Sowohl der Deutsche Hebammenverband als auch der Schweizerische Hebammenverband bieten noch keine Weiterbildungen oder Materialien zu Vaginismus an. Interessierte werden an gynäkologische Beratungen oder spezielle Sprechstunden in Kliniken weitergeleitet. Herausforderung Kinderwunsch Frauen mit Vaginismus stehen beim Thema Kinderwunsch vor erheblichen Herausforderungen. Viele Betroffene emp- finden ihren Körper als fremd oder eingeschränkt, was Schamgefühle und Selbstzweifel verstärkt und den Aus- tausch über eine mögliche Schwangerschaft erschwert. Zusätzlich besteht oft Unsicherheit darüber, wie eine Schwangerschaft ohne vaginale Penetration möglich ist, während für einige die Angst vor der Geburt eine weitere Barriere darstellt. Verlässliche Daten darüber, wie viele Frauen mit Vaginismus tatsächlich einen Kinderwunsch hegen und ob dieser erfüllt wird, liegen aufgrund man- gelnder Forschung nicht vor. Ätiologie und Pathogenese des Vaginismus Vaginismus entsteht oft durch eine Kombination aus psy- chischen, sozialen und kulturellen Faktoren. Unvollständi- ge Septen oder Hymenanomalien treten nur in äußerst seltenen Fällen auf [11]. Zu den häufigsten Auslösern zählt die Angst vor Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, die durch Erzählungen oder mangelnde Aufklärung verstärkt wird. Aussagen wie „Sex macht man für den Mann“ oder „Geschlechtsverkehr ist für Frauen schmerzhaft“ tragen ebenso dazu bei wie fehlendes Wissen über den eigenen Körper und die eigene Sexualität. Falsche Vorstellungen über die Vagina – etwa die Wahr- nehmung, sie sei zu klein im Vergleich zum Penis, der als überdimensioniert oder bedrohlich empfunden wird – füh- ren zu einem verzerrten Körperbild und verstärken die Angst vor Penetration. In patriarchalischen oder religiös geprägten Familien und Gesellschaften treten diese Fak- toren häufiger auf. Strenge und starre Rollenbilder, ein mangelnder Zugang zu sexueller Aufklärung und der Druck, familiären oder gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen, erschweren den Umgang mit der eigenen Sexualität und erhöhen die Prävalenz. Ein weiterer zentraler psychischer Auslöser ist die konditi- onierte Angst vor Schmerzen, welche eine Abwehr- und Rückzugsreaktion auslöst. Sie führt zu einer Phobie vor Pe- netration, die durch klassische oder operante Konditionie- rung verstärkt wird und sich langfristig verfestigt [10]. Der Pathomechanismus: Wie Vaginismus den Körper beeinflusst Der pathophysiologische Kern des Vaginismus beruht auf einem Kreislauf aus Angst und Vermeidung, der im Sinne des Angst-Vermeidungs-Modells (Fear-Avoidance Model) funktioniert und mit zunehmender Zeit verstärkt wird. Die Erwartung von Schmerzen führt zu einer reflexartigen An- spannung der Beckenbodenmuskulatur, die vom Nerven- system als Stress interpretiert wird. Dieser Stress verstärkt die Angst, wodurch der Teufelskreis sich weiter schließt und phobische Ausmaße annehmen kann [16, 18]. Physio- logisch führt die anhaltende Muskelkontraktion zu einer eingeschränkten Durchblutung und Lubrikation der Va- gina, was erklärt, warum manche Frauen trotz sexueller Erregung nicht ausreichend Gleitmittel bekommen kön- nen [12]. Die Erfahrungen aus der Praxis werden in Studien bestä- tigt. Sie zeigen, dass betroffene Frauen vor gynäkologi- schen Konsultationen oft unter Stresssymptomen wie Schlafstörungen, Tachykardie (anhaltender, schneller Herzrhythmus mit mehr als 100 Schlägen/min) oder ver- mehrtem Schwitzen leiden. Während der Untersuchung können extreme Reaktionen wie Dissoziation, Schreien, Weinen oder ein buchstäbliches Vom-Stuhl-Springen auf- treten [10]. Unwissenheit des Fachpersonals führt häufig zu Retraumatisierungen: Kommentare wie „So schlimm ist das nicht“, „Stellen Sie sich nicht so an“, „Ihr armer Ehe- mann“ oder „Trinken Sie nächstes Mal ein Glas Wein und entspannen Sie sich“ sind keine Seltenheit und verschär- fen Scham und Unsicherheit. Dies führt oft dazu, dass Frau- en sich weiter zurückziehen und medizinische Termine meiden. Häufig erfolgt die erste vaginale Untersuchung erst im Rahmen vorgeburtlicher Konsultationen [1]. Eine kürzlich veröffentlichte Studie zeigt, dass viele Betrof- fene epistemische Ungerechtigkeit erfahren, bei der ihre Wahrnehmungen und ihr Wissen nicht ernst genommen werden. Über die Hälfte der Patientinnen denkt aufgrund solcher Erfahrungen über den Abbruch der Behandlung nach. Dieser Rückzug verstärkt Unsicherheiten und erhöht das Risiko für Komplikationen, etwa bei Geburten [27]. Merke Zieht sich die betroffene Frau – etwa aufgrund negativer Erfahrungen in Zusammenhang mit der Behandlung – von der Therapie zurück, kann dies das Risiko für geburtshilfliche Komplikationen erhöhen. Vaginismus im Kontext von Kinderwunsch und Schwangerschaft Eine Studie aus dem Jahr 2022 hält fest: „Trotz ihrer Erkran- kung haben Frauen mit Vaginismus einen großen Kinder- wunsch, und trotz der Herausforderungen, mit denen sie 90 Graf S. Vaginismus verstehen und Schwangere … Hebamme 2025; 38: 88–95 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
konfrontiert sind, möchten sie schwanger werden (sei es durch assistierte Reproduktion oder spontan). Der Wunsch oder Druck, ein Kind zu bekommen, um die Ehe aufrecht- zuerhalten, sind Hauptmotive für eine Vaginismus Behand- lung, insbesondere in konservativen Gesellschaften.“ [ 7 ] Genaue Zahlen zum Kinderwunsch bleiben jedoch unklar, da Datensätze fehlen. Besondere Herausforderungen bei einer Empfängnis haben die Paare beim Wunsch, auf natürliche Weise schwanger zu werden. Durch die Vermeidung von Ge- schlechtsverkehr und glücklose Versuche sind die Erfolgs- quoten deutlich reduziert [ 26 ] . Es gibt aber gute Alterna- tiven, den Kinderwunsch zu erfüllen. Die künstliche Be- fruchtung ist eine davon. Durch den invasiven Charakter kann eine solche Wahl bei manchen Paaren erheblichen Stress auslösen und sogar dazu führen, dass Paare in Fer- tilitätskliniken fälschlicherweise als unfruchtbar diagnos- tiziert werden. Alternative Methoden der künstlichen Befruchtung wählen Heiminseminationen, die intravaginale Insemination (Sperma wird mithilfe einer Spritze oder eines anderen medizinischen Geräts in die Nähe des Gebärmutterhalses eingebracht) und die äußere oder perivaginale Insemina- tion (Sperma wird direkt beim Vaginaleingang oder in der Nähe der Vulva deponiert) stellen vielversprechende Be- fruchtungsmethoden dar. Diese Varianten sind minimal- invasiv, kosteneffi zient und für die Betroff enen weniger be- lastend. Studien belegen, dass diese Ansätze bei gesunden jungen Paaren hohe Erfolgschancen bieten [ 1 , 6 , 33 ] . Diese Alternativen zeigen, wie eine gezielte Aufklärung und ein sensibler Umgang den Paaren helfen können, ihren Kin- derwunsch zu erfüllen, ohne unnötige Belastungen zu er- leben [ 1 , 6 , 15 , 33 ] . Während der Schwangerschaft können betroff ene Frauen auf weitere Herausforderungen stoßen – insbesondere bei vaginalen Untersuchungen, die bei starkem Vaginismus extrem belastend sein können. Studien empfehlen, vagi- nale Untersuchungen und Gesten nach Möglichkeit zu ver- meiden, um Stress zu reduzieren [ 10 , 28 , 36 ] . Merke Vaginale Untersuchungen und Gesten sollten bei Frauen mit starkem Vaginismus möglichst vermieden werden. Vertrauen für Schwangerschaft und Geburt bilden Trotz dieser Schwierigkeiten bieten Schwangerschaft und Geburt auch Chancen. Ein sicherer und unterstützender Rahmen kann das Vertrauen stärken und sich positiv auf die gesamte Schwangerschaft auswirken. Eine Studie aus der Türkei zeigt, dass schwangere Paare den Vaginismus Beruflich weiterkommen! THIEME NEWSLETTER Ausgewählt u nd exklusiv : • Fortbildungsbeiträge und Studienübersichten • Neues aus der Welt der digitalen Wissens - plattformen • aktuelle Literatur- empfehlungen Kostenlos in Ihr Postfach! thieme.com/newsletter
CNE Schwerpunkt | Frauengesundheit schneller überwinden konnten und weniger Konsultatio- nen benötigten als nicht schwangere Paare [14]. Dies könnte auf die gesteigerte Motivation während der Schwangerschaft sowie auf die engmaschige Therapie zu- rückzuführen sein. Die Ergebnisse sind vielversprechend, erfordern jedoch weitere Forschung, um ihre Aussagekraft zu untermauern. Vaginismus und die Geburt: Aspekte der Geburtsbegleitung Vaginismus ist ein wichtiger Risikofaktor für Geburtsangst (FOC, Fear of Childbirth) und wiederum eng mit einer er- höhten Wahrscheinlichkeit von Geburtskomplikationen verbunden [29]. Frauen mit Vaginismus oder Vulvodynie werden daher häufig als Risikoschwangere eingestuft. Stu- dien belegen, dass betroffene Frauen ein erhöhtes Risiko für schwerwiegende Komplikationen wie Eklampsie, Cho- rioamnionitis, Kaiserschnitt oder verlängerte Kranken- hausaufenthalte haben [7]. Auch ein Zusammenhang mit schwereren Dammrissen und einer höheren Rate operati- ver Geburten wurde festgestellt [30]. Der erhöhte Becken- bodentonus, der mit Vaginismus einhergeht, kann den Ge- burtsprozess erschweren und das Risiko für Komplikatio- nen weiter steigern [37]. Eine frühzeitige Diagnose und gezielte Unterstützung sind daher entscheidend, um sowohl körperliche als auch psy- chologische Belastungen zu minimieren. Frauen werden heute verstärkt in Entscheidungen eingebunden. Und bei starker Geburtsangst empfehlen Gynäkolog*innen zuneh- mend Kaiserschnitte. Eine umfassende Aufklärung über Optionen wie minimal-invasive Untersuchungen, transab- dominale Sonografie, Kaiserschnitt oder der Einsatz von Periduralanästhesie (PDA) können dazu beitragen, Ge- burtsängste zu reduzieren und den Frauen ein Gefühl der Kontrolle zu geben. Herausforderungen für die Hebamme Die Betreuung von Frauen mit Vaginismus stellt Hebam- men und Fachpersonal vor besondere Herausforderungen. Während einige Frauen ihre Ängste offen ansprechen, zei- gen andere erst durch körperliche Stressreaktionen wie Anspannung oder Schwitzen Anzeichen ihres Unwohlseins. Diese subtilen Hinweise können im hektischen Klinikalltag leicht übersehen werden. Umso wichtiger sind eine sen- sible Gesprächsführung, Geduld und Einfühlungsvermö- gen, um Vertrauen aufzubauen und Stress zu vermeiden sowie eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Fachbereichen zu pflegen. Beispiele aus der Praxis zeigen, dass komplikationsfreie Ge- burten bei Frauen mit Vaginismus möglich sind. Die Wahl des Geburtsmodus sollte individuell auf die Bedürfnisse und Wünsche der Frau abgestimmt werden. Eine enge Be- gleitung durch Hebammen bietet dabei einen sicheren und unterstützenden Rahmen. Dies ist entscheidend, um Kom- plikationen und psychologischen Stress zu minimieren, das Vertrauen der Frauen zu stärken und das Geburtserlebnis positiv zu gestalten. Gleichzeitig sinkt die Gefahr von Not- kaiserschnitten, Dammrissen und postpartalen Traumata sowie das Risiko weiterer sexueller Dysfunktionen wie des sekundären Vaginismus [26]. Merke Die Angst vor Penetration unterscheidet sich grundlegend von den Herausforderungen des Geburtsprozesses. Während Penetration eine Bewegung von außen nach innen ist, stellt die Geburt einen natürlichen Vorgang dar, bei dem das Kind von innen nach außen durch den Geburtskanal tritt [10, 13]. Frauen mit Vaginismus haben nicht automatisch Geburtsängste, diese treten bei Betroffenen aber häufiger auf. Einzelne Berichte legen nahe, dass eine vaginale Geburt in seltenen Fällen sogar zu einer Heilung des Vaginismus führen kann. Solche Fälle bleiben jedoch die Ausnahme [3]. Durch eine frühzeitige Diagnose, einfühlsame Betreuung und individuelle Anpassung des Geburtsprozesses können Frauen mit Vaginismus optimal unterstützt werden, um sowohl ihre Ängste als auch potenzielle Risiken zu mini- mieren [10, 28]. Wochenbett und Nachsorge bei Frauen mit Vaginismus Nach der Geburt mangelt es häufig an systematischen Nachgesprächen, die essenziell für die Verarbeitung der Geburtserfahrung wären. Der häufige Wechsel des betreu- enden Fachpersonals in der Geburtshilfe erschwert die Kontinuität der Betreuung und hinterlässt oft Lücken in der Nachsorge. Viele Frauen mit Vaginismus erscheinen nicht zur Nachkontrolle [25]. Daher ist es entscheidend, diese Frauen frühzeitig abzuholen, sie über die Diagnose aufzuklären und Möglichkeiten zur Therapie aufzuzeigen. Besonders wichtig ist es, die Diagnose Vaginismus klar zu kommunizieren, sodass die betroffenen Frauen nach dem Wochenbett gezielte Unterstützung in Anspruch nehmen können. Häufig tritt mit der Geburt des Kindes der Vaginismus für die betroffenen Frauen in den Hintergrund. Doch die früh- zeitige Diagnose und Unterstützung sind entscheidend, um langfristige Verbesserungen zu erzielen. Je früher Hilfs- angebote gemacht und angenommen werden, desto nachhaltiger können sie wirken. Betreuungslücken schließen, Nachsorge verbessern Derzeit erhalten Gynäkolog*innen in der Schweiz meist nur knappe Geburtsberichte, die auf medizinische Fakten beschränkt sind. Detaillierte Informationen darüber, wie die Frau die Geburt erlebte, fehlen zumeist. Es existiert 92 Graf S. Vaginismus verstehen und Schwangere … Hebamme 2025; 38: 88–95 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
keine standardisierte Nachsorge, die Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett systematisch miteinander ver- bindet. Ein strukturierter Informationsbogen, der die ver- schiedenen Phasen dokumentiert und den Austausch zwi- schen Fachpersonen erleichtert, ist bislang nicht etabliert. In anderen Ländern gibt es Ansätze, die als Vorbild dienen könnten. In Deutschland erhalten Schwangere den Mut- terpass, der seit Jahrzehnten erfolgreich eingesetzt wird und in dem der Verlauf der Schwangerschaft festgehalten wird [19]. In Österreich existiert seit 1974 der Mutter- Kind-Pass, der 2024 in Eltern-Kind-Pass umbenannt wurde, aktuell im Sozialministerium weiterentwickelt wird und ab 2026 in überarbeiteter Form implementiert werden soll [34]. Solche Dokumente könnten helfen, Lücken in der Be- treuung zu schließen und die Nachsorge insbesondere für Frauen mit besonderen Bedürfnissen wie Vaginismus zu verbessern. Handlungsempfehlungen Die folgenden Handlungsempfehlungen fassen die zent- ralen Erkenntnisse zusammen und bieten einen praxisna- hen Leitfaden für die Betreuung von Frauen mit Vaginis- mus während Schwangerschaft und Geburt. Pränatale Untersuchungen ▪ Aufbau einer konstanten, vertrauensvollen Patient*innenbeziehung ▪ Proaktive Kommunikation zu Sexualität und Ängsten ▪ Klare Erklärung und individuelles Tempo bei vagina- len Untersuchungen ▪ Einsatz von kleinen Spekula, Spiegeln oder transab- dominalem Ultraschall ▪ Minimierung oder Verzicht auf Vaginaluntersuchun- gen Individuelle Geburtsvorbereitung ▪ Erstellung eines personalisierten Geburtsplans (Alternativen vorschlagen, Schmerzmanagement, Atemtechniken, Hypnose) ▪ Aufklärung zu Geburtsmodi und intrapartalen Abläufen ▪ Austausch mit Betroffenen zur Selbststärkung ▪ Anbieten von spezifischen Kursen für Frauen mit Vaginismus Geburtshilfe bei Vaginismus ▪ Kontinuierliche Betreuung mit klarer, empathischer Kommunikation ▪ Einbindung von interdisziplinären Fachpersonen wie Sexual- und Beckenbodentherapeut*innen ▪ Beratungsstellen und Therapieangebot für Betroffene ▪ Weiterbildungen zum Thema Vaginismus für Fachpersonal ▪ Strukturierte Nachsorge mit Angeboten wie Aku- punktur oder Selbsthilfegruppen ▪ Frühzeitige Erkennung psychischer Belastungen durch gezielte Reflexion Unsere E-Books. Gönnen Sie Ihrem E-Reader mal was Gesundes. shop.thieme.de und überall, wo’s E-Books gibt
CNE Schwerpunkt | Frauengesundheit Kon t AKt Der Verein Lichen Sclerosus leistet europaweite Aufklärung zu Vulvakrankheiten in den Medien und in medizinischen Fachkreisen. Zudem vernetzt er die Betroffenen mit der Beratung. Links mit Fachartikeln und Erfahrungsberichten sowie zum Netzwerk Vulvodynie finden Sie unter https://www. lichenscle- rosus.ch/de/vulvodynie_chronic_pelvic_pain Kontakt zu Selbsthilfegruppen für Vaginismus- Betroffene in Deutschland, Österreich und der Schweiz können Sie per E-Mail aufnehmen: ▪ DE Mailadresse: vaginismus.hilfe©gmail.com ▪ AT Mailadresse: invisible.wall@gmx.at ▪ CH Mailadressen: thevagstories.com, thevagstories@gmail.com Zusammenfassung und Ausblick Vaginismus in Schwangerschaft und Geburt erfordert Sen- sibilität und Fachkenntnisse. Hebammen spielen eine Schlüsselrolle, indem sie Vertrauen aufbauen, Ängste re- duzieren und individuelle Betreuung gewährleisten. Da viele Frauen ohne Vaginismusdiagnose ins Gesundheits- system kommen, ist es entscheidend, subtile Hinweise wie Stressreaktionen oder zögerliches Verhalten wahrzuneh- men. Empathisches Handeln, proaktive Kommunikation und ein sensibles Vorgehen ermöglichen es, Unsicherheiten früh- zeitig aufzufangen und gezielte Unterstützung anzubieten. Eine klare Kommunikation, personalisierte Geburtsvorbe- reitung und interdisziplinäre Zusammenarbeit, etwa mit Sexualtherapeut*innen oder Beckenbodenexpert*innen, sind unerlässlich, um eine hochwertige, patientenzentrierte Versorgung zu gewährleisten. Standardisierte Leitlinien und größere Studien sind notwen- dig, um die Bedürfnisse von Frauen mit Vaginismus zu ad- ressieren. Sensibilisierung, Fortbildung und interdisziplinä- re Netzwerke können eine nachhaltige Betreuung fördern. Parallel dazu ist die Enttabuisierung des Themas durch ge- sellschaftliche Aufklärung und Informationsmaterialien in medizinischen Einrichtungen notwendig, um Vaginismus bekannter zu machen. Individuelle Betreuungspläne, die auf die Bedürfnisse der Patientinnen eingehen und Alter- nativen wie Atemtechniken, Akupunktur oder Sophrolo- gie einschließen, fördern die Selbstbestimmung der Be- troffenen und tragen zu einer würdevollen Geburt bei. Durch gezielte Maßnahmen wie die Vernetzung von Betrof- fenen, den Ausbau von Ressourcen und eine kontinuierliche Begleitung durch konstante Fachpersonen kann die Versor- gung von Frauen mit Vaginismus optimiert werden. Eine in- terdisziplinäre, patientenzentrierte Betreuung ist der Schlüssel, um Lebensqualität und Geburtserfahrungen nachhaltig zu verbessern. Autorin Sarah Graf MA Sexologie, ist Sexualberaterin und -therapeutin in selbstständiger Praxis in Zürich (Schweiz). Sie begleitet Menschen in allen Lebensphasen zu Themen rund um Sexualität, sexuelle Gesundheit und Beziehungsdynamik. Neben ihrer therapeutischen Tätigkeit ist sie als Freelancerin in Schulen und Institutionen aktiv und engagiert sich im Verein GummiLove für die Förderung sexueller Gesundheit und Rechte. Ende 2024 hat sie das Core Skill Training in Emotion Focused Therapy (EFT) für Paartherapie am Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie Zürich (ISP) erfolgreich abgeschlossen und vertieft derzeit ihre Kenntnisse in Klinischer Sexologie am Zürcher Institut für klinische Sexologie und Sexualtherapie (ZISS). Korrespondenzadresse Sarah Graf ISP Zürich Grossmünsterplatz 6 8001 Zürich Schweiz mail@sarah-graf.ch Literatur [1] Achour R, Koch M, Zgueb Y et al. Vaginismus and pregnancy: epidemiological profile and management difficulties. Psychol Res Behav Manag 2019; 12: 137–143. DOI: 10.2147/PRBM. S186950 [2] Amherd C. 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Schwangerschaft Tokophobie und Selbst wirksam keit – welchen Einfluss hat die Geburtsvorbe reitung durch Hebammen? Elisa Döring Jede Schwangerschaft ist einzigartig, und jede Geburt ist ein prägendes Ereignis. Beides ist meist mit positiven Gefühlen verbunden. Der individuelle Verlauf jedoch macht viele Aspekte unvorhersehbar, was Unsicherheiten und Ängste hervorrufen kann. Nicht selten entwickelt sich daraus der pathologische Angstzustand der Tokophobie [1]. Mittlerweile ist Tokophobie in Deutschland die häufigste Ursache für eine primäre Sectio caesarea ohne gynäkologische Indikation [2]. Tokophobie/Geburtsängste Defini t ion tokophobie – auch Maieusiophobie oder Parturi- phobie genannt – ist eine intensive, unbegründete Angst im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt [1]. Die Prävalenz liegt in westlichen Ländern zwischen 6,3 % und 14,8 %, die globale Prävalenz bei durchschnittlich 14 % [2]. Es werden 2 Formen der Tokophobie unterschieden: Die primäre tokophobie betrifft Personen, die noch nie schwanger waren oder erstmalig schwanger sind. Die sekundäre tokophobie tritt bei Personen auf, die bereits traumatische Geburtserfahrungen erlebt haben [3]. Die sekundäre Tokophobie ist unbedingt von einer posttraumatischen Belastungsstörung (Pt BS) abzugrenzen. Während Betroffene mit sekundärer Tokophobie Angst vor einer erneuten Schwanger- schaft und Geburt empfinden, beziehen sich die Ängste von Personen mit PTBS auf die zurücklie- gende Geburt [4]. Ätiologie Die Entwicklung einer Tokophobie ist komplex und multi- kausal. Wichtige Prädispositionen umfassen: ▪ Präexistente psychische Erkrankungen wie Ängste oder Depressionen [1] ▪ Auffällige geburtshilfliche Anamnesen, z. B. ungewoll- te Schwangerschaften, Aborte [5], stille Geburten oder traumatische Geburtserfahrungen [1] ▪ Erfahrungen aus der Kindheit oder Adoleszenz, z. B. häusliche Gewalt oder sexueller Missbrauch [6] ▪ Soziokulturelle Einflüsse durch Erzählungen traumati- scher Geburtserlebnisse von Familienangehörigen oder Freund*innen sowie eine unzureichende familiäre Unterstützung [1] ▪ Soziale Medien und andere unreflektierte Informati- onsquellen, die falsche oder dramatisierte Informati- onen verbreiten [6] Tokophobische Personen leiden unter typischen Stress- symptomen wie Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Albträumen, Kopf- und Magenschmerzen [5] sowie Panikattacken. Prä- konzeptionell neigen sie dazu, mehrere Kontrazeptiva zu missbrauchen oder sie beenden eine intakte Schwanger- schaft. Während der Schwangerschaft empfinden sie häu- fig Scham- und Schuldgefühle, zudem sind sie vermehrt von Aborten, Frühgeburten und negativen Geburtserfah- rungen betroffen [7]. Peripartal kommt es häufiger zu pro- trahierten Geburtsverläufen, stärkerem Wehenempfinden und medizinischen Interventionen [5]. Postpartal leiden tokophobische Personen vermehrt unter einer reduzierten psychischen Gesundheit wie bei PTBS oder Depressionen [8]. Ihre Kinder sind häufiger von phy- sischen und kognitiven Entwicklungsstörungen betroffen. Tokophobische Personen haben nachweislich ein niedri- 96 Döring E. Tokophobie und Selbstwirksamkeit –. Hebamme 2025; 38: 96–100 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
ges Selbstbewusstsein und Vertrauen in ihre Fähigkeit, eine Schwangerschaft oder Geburt zu bewältigen [9]. Selbstwirksamkeit Das Konzept der Selbstwirksamkeit, 1977 von Albert Ban- dura entwickelt [10] und 1993 von Nancy K. Lowe im Kon- text der Geburtshilfe angewendet [11], beschreibt den Glauben an die eigene Fähigkeit, bestimmte Ziele zu errei- chen und so das eigene Leben zu beeinflussen [10]. Selbst- wirksamkeit und Geburtsängste entwickeln sich konträr zueinander: Personen mit hoher Selbstwirksamkeit ver- trauen in ihre Fähigkeit zur natürlichen Geburt und haben weniger Geburtsängste. Umgekehrt steigert ein niedrige- res Selbstwirksamkeitsgefühl die Ängste und Schmerzen bei der Geburt und erhöht das Risiko für geburtshilfliche Interventionen [11]. Tokophobie – als Krankheit nicht klassifiziert Das Problem: Derzeit ist das Krankheitsbild der Tokopho- bie weder im ICD-11 noch im DSM-5 separat definiert [4]. Seit 2015 zählt die Tokophobie im ICD-10 als „Phobische Angststörung, unspezifisch“ [6], wobei eine Abgrenzung zu generalisierten Angststörungen dringend erforderlich ist. Studien zeigen, dass prä- und postpartale Ängste un- terschiedliche Krankheitsbilder sind [12]. Auch die S3-Leit- linie zur vaginalen Geburt behandelt Tokophobie nur mar- ginal und verweist auf psychoedukative Therapien ohne klare Empfehlungen zur Diagnostik und Behandlung [13]. Die Folge: Tokophobie wird häufig zu spät erkannt. Gegen- wärtig findet ein Großteil der Schwangerenvorsorgen in Deutschland bei Gynäkolog*innen statt. Die Termine bie- ten jedoch häufig keinen zeitlichen und inhaltlichen Rah- men für vulnerable Themen [2]. Infolgedessen werden To- kophobien zu spät diagnostiziert und unzureichend be- handelt. Die Rolle der Hebamme in der Schwangerenvorsorge Laut Ethikkodex des Deutschen Hebammenverbands von 2018 gehört es zu den Kernaufgaben von Hebammen, die physiologischen Aspekte der Schwangerschaft zu vermit- teln und das Vertrauen in die eigene Gebärfähigkeit zu stärken [14]. Studien zeigen, dass Gespräche mit Hebam- men angstlindernd wirken und die Selbstwirksamkeit för- dern können [2]. Infolgedessen könnte eine frühzeitige Di- agnostik und gezielte Betreuung – auch durch interdiszi- plinäre Zusammenarbeit – ein positives Geburtserlebnis für tokophobische Personen ermöglichen. Diagnostische Instrumente sind verfügbar, werden jedoch hauptsächlich in der Forschung eingesetzt [4]. Gespräche mit Hebammen lindern die Angst vor der Geburt und fördern das Vertrauen in die eigene Gebärfähig- keit. Hebammen können Frauen mit Tokophobie in der Schwangerenvor- sorge frühzeitig erkennen, gezielt betreuen und ihnen ein positives Geburtserlebnis ermöglichen. Messinstrumente für Geburtsängste Die Abgrenzung der physiologischen Schwangerschafts- und Geburtsangst zur Tokophobie gestaltet sich grund- sätzlich als anspruchsvoll. Für die Diagnostik stehen ver- schiedene Instrumente zur Verfügung: Der Wijma Delivery expectancy/experience Question- naire (W-DeQ) findet derzeit am häufigsten in der For- schung und Praxis Anwendung. Durch insgesamt 66 Items des Fragebogens werden sowohl präpartale (W-DEQ A) als auch postpartale Geburtsängste (W-DEQ B) eingeschätzt. Der Cronbachs-Alpha-Koeffizient beträgt für alle Paritäten 0,93, was für eine sehr hohe Zuverlässigkeit des W-DEQ zur Ermittlung von Geburtsängsten spricht [15]. Der Pregnancy-Related Anxiety Questionnaire-Revised 2 (PRAQ-R2) beleuchtet 3 Angstdimensionen im Kontext von Schwangerschaft und Geburt: die Angst vor der Ge- burt, die Angst um die Gesundheit des Kindes und die Angst vor körperlichen Veränderungen. Trotz seiner Kom- paktheit scheint er mit einem Cronbachs-Alpha-Koeffizi- enten von 0,85 ein valides Diagnostikinstrument für Toko- phobien darzustellen [12]. Die im Jahr 2023 durch Weigl et al. erweiterte Pregnancy- Related Anxiety Scale (PrAS) umfasst 8 Dimensionen. Sie gilt als zuverlässig (Cronbachs Alpha: 0,90) und scheint ge- eigneter zu sein, da sie Tokophobien noch differenzierter abbildet [16]. Messinstrumente für die Selbstwirksamkeit Das Childbirth Self-Efficacy Inventory (CBSEI), 1993 von Nancy K. Lowe entwickelt, misst das Selbstwirksamkeits- empfinden schwangerer Personen bezüglich ihrer Geburt. Der Fragebogen umfasst 62 Items, die die Ergebnis- und Selbstwirksamkeitserwartung während der Eröffnungs- und Austrittsphase erfassen. Höhere Werte zeigen ein stärkeres Selbstwirksamkeitsempfinden an. Das Instru- ment bietet eine hohe Zuverlässigkeit (Cronbachs Alpha zwischen 0,88 und 0,94) [11]. Döring E. Tokophobie und Selbstwirksamkeit –. Hebamme 2025; 38: 96–100 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 97
Schwangerschaft Womit Hebammen ein positives Schwangerschafts- und Geburtserlebnis ermöglichen Die Autorin beschäftigte sich in ihrer Bachelorarbeit mit der Frage, welche Maßnahmen der Hebammenarbeit im Rahmen der Schwangerenvorsorge nachweislich zu einem positiven Schwangerschafts- und Geburtserlebnis führen. Dabei lag der Fokus darauf, welche Auswirkungen geziel- te Maßnahmen auf die Geburtsangst (primäres For- schungsziel) und auf die Selbstwirksamkeit (sekundäres Ziel) haben. Trotz des zunehmenden empirischen und praktischen In- teresses in den vergangenen 30 Jahren bleibt Tokophobie ein unterschätztes und wenig priorisiertes Gesundheits- problem. Einige Studien bestätigen den positiven Effekt präpartaler Interventionen wie von Geburtsvorbereitungs- kursen, psychoedukativen Schulungen sowie kognitiv-be- havioralen Therapien auf Geburtsängste und das Selbst- wirksamkeitsgefühl [9]. Allerdings fehlen evidenzbasierte Handlungsempfehlungen. Bisherige Studien konzentrie- ren sich überwiegend auf die Reduktion der Sectiorate an- stelle der eigentlichen Reduktion von Geburtsängsten [7]. Zudem wurde in vielen Studien nicht durch Hebammen, sondern durch andere Fachkräfte wie Gynäkolog*innen, Psycholog*innen oder Anästhesist*innen interveniert. Met Ho DiK Das gewählte Studiendesign eines integrativen Reviews ermöglichte einen umfassenden Überblick über das Gesundheitsproblem und den aktuellen Forschungsstand zur Thematik Tokophobie. Nach einer Literaturrecherche zwischen März und Mai 2024 wurden Primärstudien mit qualitativen und quantitativen Ansätzen ausgewählt, die eine Stichprobengröße von mindestens 50 Proband*innen aufwiesen und in denen Tokopho- bie mittels W-DEQ diagnostiziert wurde. Es wurden nur Studien berücksichtigt, in denen ausschließlich Hebammen intervenierten, um eine bessere Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Die Qualitätsbe- wertung der Studien erfolgte mithilfe des Mixed Methods Appraisal Tools (MMAT) [17]. Ergebnisse In das Review wurden 11 englischsprachige Primärstudien zwischen 2014 und 2021 aufgenommen, darunter 8 rando- misierte kontrollierte Studien (RCT) und 3 quasi-experimen- telle Studien. Insgesamt nahmen 1546 Proband*innen teil, von denen 1184 (76,58 %) die Studien vollständig beende- ten. 8 Studien beinhalteten ausschließlich Nulliparae, wäh- rend in 3 Studien auch Pluri- und Multiparae einbezogen wurden. 7 Studien untersuchten die Wirkung von Geburtsvorbe- reitungskursen, die entweder klassisch [8, 18, 19, 20] oder in Kombination mit Meditationsübungen [21], Kunstthe- rapie [22] oder realitätsnahen Simulationstrainings [23] durchgeführt wurden. Diese Kurse fanden zwischen 4- und 9-mal statt, mit einer Dauer von 70 bis 240 Minuten pro Sitzung und sie wurden 1- bis 2-mal wöchentlich im Grup- penformat angeboten. 1 Studie ließ den Probanden die Wahl zwischen Einzel- oder Gruppensitzungen [22]. 6 Studien bestätigten einen positiven Effekt der Geburts- vorbereitungskurse auf die Reduktion der Schwanger- schafts- und Geburtsangst. Die Kombination von Geburts- vorbereitung und Kunsttherapie zeigte jedoch keine sig- nifikante Angstreduktion. 4 Studien dokumentierten zusätzlich eine Steigerung der Selbstwirksamkeit nach der Teilnahme [8, 19, 20, 23]. 3 Studien untersuchten das BELIEF-Protokoll (kurz für: Birth Emotions: Looking to Improve Expectant Fear), eine psychoedukative Intervention speziell zur Reduktion von Tokophobie. Dabei erhalten schwangere Personen die Möglichkeit, ihre Ängste und Gedanken zur Schwanger- schaft und Geburt in einem strukturierten Gesprächsrah- men zu äußern [3, 24, 25]. Die Gespräche fanden persön- lich oder telefonisch statt, mit 2 bis 8 Einzelberatungen zwischen der 24. und 36. SSW. Alle 3 Studien zeigten eine signifikante Angstreduktion, und 2 Studien dokumentier- ten zusätzlich eine erhöhte Selbstwirksamkeit durch den Einsatz des BELIEF-Protokolls [24, 25]. Abschließend untersuchte 1 Studie die Wirksamkeit lö- sungsorientierter Beratungen [5], in denen Schwangere in 5 wöchentlichen Einzelberatungen (jeweils 60 Minuten) dazu ermutigt wurden, proaktive Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Auch diese Intervention führte zu deutlich niedrigeren Angstwerten nach der Beratung. Ausblick für die Praxis Tokophobie sollte als eigenständiges Krankheitsbild im ICD-11 oder DSM-5 kodiert werden. Eine daraus resultie- rende einheitliche Definition würde die Diagnostik und Er- mittlung von Prävalenzen erleichtern sowie standardisier- te Behandlungsansätze ermöglichen, auch wenn dies durch die multifaktorielle Ätiologie erschwert ist [16]. Hebammen sollten unverzüglich in der standardisierten Nutzung und Auswertung entsprechender Messinstru- mente sowie in tokophobiespezifischen Behandlungen ausgebildet werden. Dadurch können die Sensibilität für Betroffene gesteigert und eine Enttabuisierung des Krank- heitsbildes der Tokophobie erreicht werden. Regelmäßige präpartale Maßnahmen wie Geburtsvorberei- tungskurse in Kombination mit Meditationen oder Simula- tionstrainings, psychoedukative und lösungsorientierte Be- 98 Döring E. Tokophobie und Selbstwirksamkeit –. Hebamme 2025; 38: 96–100 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
ratungen können ein großes Maß an Vertrauen schaffen, die Selbstwirksamkeit stärken und Ängste abbauen. Betroffene sollten entsprechend des Shared Decision Ma- king aktiv in die Wahl der Behandlungsoptionen einbezo- gen werden. Eine Kombination aus Einzel- und Gruppentref- fen [2] sowie eine differenzierte Betreuung je nach Parität bietet sich an, da sich die Bedürfnisse von Betroffenen mit primärer oder sekundärer Tokophobie unterscheiden [9]. Deutschland wurden die kulturellen Bedürfnisse tokopho- bischer Personen bisher wenig erforscht. Diese sollten zu- nehmend wissenschaftlich beleuchtet werden. Die zukünf- tige Forschung sollte auch Tokophobien von Angehörigen – insbesondere Partnerpersonen – untersuchen und passende Diagnostikinstrumente entwickeln, um einen holistischen Ansatz für die familiäre psychische Gesund- heit zu fördern [16]. Hebammen sollten in der standardi- sierten Messung und Behandlung der Tokophobie ausgebildet werden. Sie sollten die Gebärende aktiv in die Wahl der Behandlung einbeziehen und diese an den Bedürfnissen der Betroffenen orientieren. Autorin elisa Döring schloss ihre Ausbildung zur Hebamme am Städtischen Klinikum Dresden Neustadt 2015 ab. Seitdem arbeitet sie am St. Joseph Krankenhaus in Berlin Tempelhof, seit 2025 als stellvertretende Leiterin des Hebammen Kreißsaals. 2019 erwarb sie die Qualifikation zur Praxisanleiterin und 2024 den Bachelor of Science Midwifery an der Evangelischen Hochschule Berlin (Quelle: Manuel Tennert) Ausblick für die Forschung Es gibt derzeit nur wenige vergleichbare qualitativ hoch- wertige Studien zur Tokophobie, da die Wahl an Behand- lungsmöglichkeiten und Messinstrumenten zu stark vari- iert. Zukünftige Studien sollten homogener sein und grö- ßere, heterogenere Stichprobengrößen umfassen. In Korrespondenzadresse Elisa Döring elisa.doering@sjk.de AUF DER ÜBERHOLSPUR INS FACHTHEMA Diese und weitere Themen entdecken: shop.thieme.de/extra-wissen je NUR 19,99 € Direkt online Verfügbar
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Wochenbett Neugeborenensepsis im häuslichen Wochenbett und die Rolle der Hebamme Christine Wehrstedt Neugeborenensepsis ist eine seltene, jedoch lebensgefährliche Komplika tion im häuslichen Wochenbett. Fehleinschätzungen der Diagnose stellen einen erhebli- chen Risikofaktor für kindliche Morbidität und Mortalität dar. Dies unterstreicht die Bedeutung der Kenntnis über Risikofaktoren, Sym ptome, Handlungsbedarf und Therapie. Hebammen müssen je nach Verdachtsgrad des jeweiligen Falls die korrekte Handlungskaskade einleiten. Die relevanten AWMF-Leitlinien hierzu sind aktuell in Überarbeitung, und eine Aktualisierung liegt noch nicht vor [1]. Da in diesem Artikel der Schwerpunkt auf dem häuslichen Wochenbett liegt, richtet sich der Fokus auf Symptome und die sich daraus ergebende Handlungs- imperative anstelle von Laborparametern und Therapie in der Klinik. Einleitung Es gibt keine international klar konsentierte Definition für die Neugeborenensepsis [2]. Zudem ist die Diagnose nicht über einen Einzelparameter möglich, da es sich um eine generalisierte Entzündungsreaktion des Körpers bzw. um das Systemic Inflammatory Response Syndrome (systemi- sches inflammatorisches Antwortsyndrom, SIRS) handelt [3]. Dessen Symptome in Kombination mit gesichertem oder starkem Verdacht auf Infektion reichen aus, um ent- sprechende Therapieformen einzuleiten [4]. Als Erreger kommen vornehmlich Bakterien, aber auch Viren und Pilze sowie deren Toxine infrage. Ursachen im Vorfeld zu eruieren und prophylaktisch zu eli- minieren, gelingt noch nicht so zuverlässig wie gewünscht. Das aktuell in Deutschland empfohlene Schema zur Strep- tokokken-Diagnostik in der Schwangerschaft und nachfol- gender Antibiotikaprophylaxe unter der Geburt resultiert in unbefriedigend hohen Raten an Übertherapien mit frag- lichem Nutzen [1, 5]. Kuld et al. [6] fordern deshalb: „Die Wertigkeit des mütterlichen Abstriches zur Identifikation neonataler Sepsiserreger muss kritisch hinterfragt wer- den. Wahrscheinlich ist es sinnvoller, die Diagnostik beim Neonaten zu beginnen und sich auf diese Untersuchungs- ergebnisse zu konzentrieren“. Das zeigt, wie wichtig die Beobachtung der Vitalität Neugeborener ist, um gefähr- dete Kinder rechtzeitig herauszufiltern. Temperaturen kleiner 36 ° C oder größer 38 ° C ohne ander- weitige Erklärung zählen zu den klinischen Risikofaktoren und Symptomen des Kindes für eine Neugeborenensepsis. Frühe versus späte Neugeborenensepsis Die Eingruppierung der Neugeborenensepsisformen er- folgt nach dem Zeitpunkt ihres Auftretens. Die Early-onset Sepsis (frühe Sepsis, EOS) tritt in den ersten 72 Stunden – meist innerhalb von 24 Stunden –nach der Geburt auf. Im Zusammenhang mit B-Streptokokken wird jedoch teilwei- se ein Auftreten innerhalb der ersten 7 Tage nach der Geburt als früh definiert [4]. Die EOS betrifft 60 % aller Wehrstedt C. Neugeborenensepsis im häuslichen Wochenbett … Hebamme 2025; 38: 101–107 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 101
Wochenbett Neugeborenensepsisfälle. Vor Einführung der Streptokok- ken-Prophylaxe traten 80 % der Erkrankungen in diesem Zeitraum auf. Als Late-onset Sepsis (späte Sepsis, LOS) ist ein Auftreten später als 72 Stunden postpartal definiert. Unabhängig von der zeitlichen Definition ist die Systemer- krankung stets lebensbedrohlich. Inzwischen ist die die Late-onset-Gruppe von 20 % auf 40 % der Fälle angestiegen. Dies verdeutlicht eine Verschiebung der Anteile weg von der frühen hin zur späten Sepsis und erhöht die Relevanz für das häusliche Wochenbett. Ein be- sonderes Augenmerk liegt auf frühen Entlassungen bei anamnestisch und klinisch unauffälligen Kindern. Bei au- ßerklinischer Geburtshilfe ist ohnehin die gesamte Zeit- spanne abzudecken. In Ländern mit hohem medizinischen Standard betrifft eine Neugeborenensepsis je nach Statistik 1–8 Kinder auf 1000 Lebendgeburten. In der Gruppe der Frühgeborenen mit einem Gewicht unter 1500 g sind es 1,5 %. Dennoch han- delt es sich bei insgesamt 80 % der septischen Kinder um Reifgeborene, da deren Gesamtkollektiv viel höher ist [4]. In absoluten Zahlen stellen sie deshalb das Gros der Patient*innen, insbesondere im häuslichen Umfeld [4]. Durch ihren raschen Verlauf weist die Neugeborenensep- sis weiterhin eine hohe Komplikationsrate mit insgesamt etwa 34 % Langzeitschäden und 4 % Sterblichkeit auf. Die neurologischen Schäden sind vor allem nach einer durch B-Streptokokken verursachten Meningitis (GBS-Meningi- tis) mit 25 % leichter bis mittlerer und 19 % schwerer Ausprä- gung oft irreversibel und können bei Überleben die Lebens- qualität für Kind und Familie erheblich schädigen. Insgesamt ist die Neugeborenensepsis für 10 % der perinatalen Sterb- lichkeit verantwortlich [5]. Infektionswege und prophylaktische Maßnahmen Eine späte Sepsis wird bei nicht primär stationär auf einer Intensivstation aufgenommenen Kindern in der Regel durch eine Keimübertragung aus dem Umfeld ausgelöst. Im Erre- gerspektrum sind am häufigsten Escherichia coli, B-Strepto- kokken und Staphylokokken die verursachenden Keime [4]. Übertragungswege gibt es sowohl im pränatalen Bereich als auch nach der Geburt. Die frühesten Symptome werden dabei durch eine intrauterine Übertragung provoziert. Damit kommen als Übertragungswege der mütterliche Kör- per, jegliche Kontaktinfektion durch familieneigene und -fremde Mitmenschen sowie die nosokomiale Infektion in der Klinik infrage. Sepsis durch eine Übertragung nach der Geburt kann dabei nicht nur in der Neugeborenenphase auf- treten, sondern auch nach den ersten 4 Wochen bis hin zu Monaten. Das verdeutlicht die Bedeutung von Hygienemaß- nahmen. Insgesamt sind auch hier Frühgeborene überre- präsentiert und umso häufiger betroffen, je früher sie ge- boren wurden und je weniger sie wogen [7]. Die einfachste Sepsisprophylaxe besteht in der Beachtung von Hygienemaßnahmen, insbesondere rund um den Nabel. Bei Anwesenden mit Halsschmerzen ist an eine mögliche Streptokokken-Infektion zu denken, und ent- sprechende Kontakte daher zu vermeiden. Eine große Be- deutung kommt normaler Handhygiene zu. Dennoch las- sen sich die Übertragungswege nicht immer aufklären, und es bestehen weitere offene Fragen in der Pathogene- se: welche Kinder warum im Individualfall teilweise trotz intrapartaler Prophylaxe schwer erkranken und andere bei derselben Exposition nicht. Muttermilchernährung ist eine weitere wichtige Säule: ins- besondere am Anfang ausschließliches Stillen und Kolos- trum für den Erstkontakt des Darms mit Nahrungsmitteln. Neben schlechter Hygiene findet sich nämlich unter den Hauptursachen Formulaernährung – auch bei Teilstillen – insbesondere, wenn das Neugeborene vor dem ersten Stil- len andere Nahrung als Muttermilch erhält. Einordnung von Symptomen und Handlungskonsequenzen Das wichtigste Kriterium zum rechtzeitigen Erkennen und adäquaten Therapiebeginn bleibt bislang ein sicherer Um- gang mit korrekter Symptominterpretation. Der NICE Qua- lity Standard QS75 „Neonatal infection“ beinhaltet eine Liste als Diagnosehilfe, ob es sich bei einem Komplex aus Symptomen und anamnestischen Risikofaktoren mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Sepsis oder gegebenen- falls eine andere Erkrankung handelt [7]. Die beiden Kate- gorien werden wiederum in Red Flags und Non Red Flags unterteilt. Die Non Red Flags sind hierbei nicht im Sinne von harmlosen Hinweisen zu verstehen, sprechen jedoch weniger eindeutig für das Vorliegen einer Sepsis. Sie be- deuten vielmehr, dass gegebenenfalls andere Ursachen hinter den jeweiligen Symptomen stehen könnten. In ▶Tab. 1 sind belegte anamnestische Risikofaktoren für die frühe Neugeborenensepsis aufgeführt. Ein Teil davon trifft auch auf die späte Variante zu. Hinweise mit Red Flags betreffen Faktoren, die mit einer bereits um den Geburts- zeitpunkt bestehenden Abwehrreaktion des Körpers zusam- menhängen. Systemische Infektionszeichen unter der Ge- burt werden als Red Flags eingestuft. Bedeutender sind die klinischen Symptome und Risikofak- toren des Kindes selbst (▶Tab. 2 –4). Für eine übersichtli- che Darstellung einer Neugeborenensepsis des NICE Quality Standards QS75 sind die Übersichten hier in Kategorien und Organsystemen tabellarisch sortiert. Eine auffällige frühzeitige Veränderung des Allgemeinzu- stands betrifft insbesondere allgemeine Schlappheit. Neben Fieber kann ebenso Untertemperatur auftreten, aber auch Normaltemperatur bestehen bleiben. Es ist wichtig, die Eltern hierüber aufzuklären, da sie in aller 102 Wehrstedt C. Neugeborenensepsis im häuslichen Wochenbett … Hebamme 2025; 38: 101–107 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
▶Tab. 1 Anamnestische Risikofaktoren für Neugeborenensepsis. Risikofaktoren Red Flag (RF) B-Streptokokken-Infektion bei einem vorhergehenden Kind Mütterliche B-Streptokokken-Kolonisierung; Bakterurie oder Infektion in vorhergehender oder aktueller Schwangerschaft Klinische Anzeichen einer Chorioamniositis Frühgeburt nach spontanem Wehenbeginn ( < 37. Woche) Blasensprung > 18 Stunden bei Frühgeburt; Blasensprung > 24 Stunden vor Wehenbeginn bei reifem Kind Intrapartales Fieber > 38 ° C bei – auch Verdacht auf – bakterieller Infektion Therapeutische (nicht: prophylaktische) Antibiotikagabe aufgrund invasiver Infektionen während, 24 Stunden vor oder nach Geburt; Chorioamniositis Verifizierte oder vermutete Infektion eines Geschwisterkindes bei Mehrlingen – – – – – – RF RF ▶Tab. 2 Klinische Risikofaktoren und Symptome für Neugeborenensepsis (1). Risikofaktoren/Symptome Red Flag (RF) Allgemeinzustand Verhalten oder Reaktionsfähigkeit verändert/reduziert; Lethargie Allgemeinzustand Allgemeinzustand Atmung Atmung Atmung Atmung Atmung Atmung Atmung/Herz-Kreis- lauf-System Muskeltonus verändert: Schlappheit Temperatur: < 36 ° C oder > 38 ° C ohne anderweitige Erklärung Atemnotanzeichen; Tachypnoe > 50/Minute; Nasenflügeln; Einziehen; Stöhnen Atemnot mehr als 4 Stunden nach der Geburt; Apnoe Hypoxie: Zentralisierung, Blässe/Zyanose oder O2-Sättigungsmangel Verlängerte Capillary Refill Time (CRT) > 3 Sekunden; nach 5 Sekunden Kompression; ab Tag 7 CRT > 2 Sekunden pathologisch Beatmungspflichtiges frühgeborenes Kind Beatmungspflichtiges reif geborenes Kind Reanimationspflichtiges Kind nach Geburt/cerebroplazentare Ratio (CPR) – – – – RF – – RF RF RF ▶Tab. 3 Anamnestische Risikofaktoren und Symptome für Neugeborenensepsis (2). Risikofaktoren/Symptome Red Flag (RF) Gerinnung Harnstrakt Harntrakt Haut Haut Herz-Kreislauf-System Herz-Kreislauf-System Herz-Kreislauf-System Herz-Kreislauf-System// Allgemeinzustand Starke Blutung; Thrombozytopenie; Koagulationsstörungen Oligurie > 24 Stunden postpartal Harnwegsinfektion bei Late-onset Sepsis Hautblässe; Marmorierung; Petechien; Hautdefekte; Rötungen an Punktionsstellen; kalte Haut Nabelinfektion Bradykardie; Tachykardie Persistierende fetale Zirkulation (PFC; pulmonal-arterielle Hypertonie) Hypotonie; Hypertonie Schockanzeichen – – – – – – – – RF Wehrstedt C. Neugeborenensepsis im häuslichen Wochenbett … Hebamme 2025; 38: 101–107 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 103
Wochenbett ▶Tab. 4 Anamnestische Risikofaktoren und Symptome für Neugeborenensepsis (3). Risikofaktoren/Symptome Red Flag (RF) Ikterus Hyperbilirubinämie innerhalb 24 Stunden postpartal Magen-Darm-Trakt Magen-Darm-Trakt Stoffwechsel Stoffwechsel ZNS ZNS Trinkschwäche; Nahrungsverweigerung Nahrungsintoleranz: Erbrechen, Magenaspirate, abdominale Spannung Hypoglykämie ( < 35 mg/dl) oder Hyperglykämie ( > 150 mg/dl) ohne andere erkennbare Ursache Metabolische Azidose/Übersäuerung (mind. 10 mmol/l) Enzephalopathiezeichen Krämpfe/Zittern – – – – – – RF ▶Tab. 5 Zusammenfassung Red Flags. Risikofaktoren/klinische Hinweise mit Red Flags Therapeutische (nicht: prophylaktische) Antibiotikagabe aufgrund invasiver Infektionen während, 24 Stunden vor oder nach Geburt; Chorioamniositis Verifizierte oder vermutete Infektion eines Geschwisterkindes bei Mehrlingen Atemnot mehr als 4 Stunden nach der Geburt; Apnoe Beatmungspflichtiges reif geborenes Kind Reanimationspflichtiges Kind nach Geburt/cerebroplazentare Ratio (CPR) Schockanzeichen Krämpfe/Zittern Schwer krankes Erscheinungsbild ohne erkennbare Ursache Fehlende Urinausscheidung ebenso wie auffällige Haut- veränderungen einschließlich Nabelinfektionen lassen sich auch im häuslichen Umfeld ohne Hilfsmittel gut wahrneh- men, wohingegen Pulsveränderungen das Abhören des Kindes notwendig machen. Als generell stark auffällig gel- ten Schockanzeichen. Des Weiteren sind Symptome wie schwerer und früh auf- tretender Ikterus sowie ausgeprägte Trinkschwäche oder Erbrechen gut erkennbar. Eine Abwehrspannung des Bau- ches erfordert die Gesamtbetrachtung des Kindes und kann an einem Tag, an dem das Kind nicht gewogen und eventuell nicht ganz ausgezogen wird, leicht übersehen werden. Zittern und Krämpfe dagegen lassen sich schwer- lich übersehen. ▶Tab. 6 inflammatorischen Antwortsyndroms (SIRS). Leitsymptome der Neugeborenensepsis/des Systemischen ▶Tab. 5 fasst die Red Flags und damit die wichtigsten Hin- weise auf eine Neugeborenensepsis zusammen. Unspezifisch analog zu SIRS, ggf. zunächst schwach ausgeprägt Zusätzlich/alternativ Hypo-/Hyperthermie Apnoen mit Sättigungsabfall; Einziehen Tachypnoe (zu schnelle Atmung > 50/Minute bei reifen Neugeborenen Tachykardie (Puls > 170) Bradykardie (Puls < 90) Trink- und Saugunlust Verminderte Spontanaktivität Hypotonie Ikterus Erbrechen; Durchfall Abdominelle Abwehrspannung Blässe; graue Haut; Petechien Schlaffheit; Lethargie Zittern Regel Fieber mit gefährlichen Infekten verbinden und kein oder geringes Bewusstsein für die Gefahren der Untertem- peratur haben. Auch die Eltern können Atemauffälligkei- ten registrieren. Für den häuslichen Bereich sind hier vor allem Einziehen, Tachypnoe über 50 Atemzüge pro Minu- te sowie Stöhnen und Blässe zu betonen, wenn weitere di- agnostische Hilfsmittel nicht zur Verfügung stehen. Auf der Webseite von Global Health Media gibt es einen kostenfreien Film, der die Symptome der Neugeborenen- sepsis besonders in den Filmminuten 1–3 eindrücklich dar- stellt: www.globalhealthmedia.org/videos/sepsis [8]. Eine späte Sepsis manifestiert sich häufig als Meningitis oder Pneumonie, wobei vor allem die Meningitis eine hohe Rate an schweren neurologischen Langzeitschäden auf- weist [9, 10]. Nach dem Schema der Neonatal Sepsis Management Gui- delines [10] ist ein Kind bei Auftreten von 1 Red Flag oder mindestens 2 Non Red Flags behandlungsbedürftig. Dabei ist irrelevant, aus welchen Kategorien sich diese zusam- mensetzen: anamnestisch, klinisch oder eine Kombina tion aus beiden. Frühsymptome beider Sepsisformen können zunächst un- spezifisch und schwach ausgeprägt sein, wobei es bei frü- her Sepsis eher zu einem raschen Verlauf kommt (▶Tab. 6). Alle diese Symptome können einzeln harmlos und vorü- bergehend sein, in Kombination gilt jedoch: je mehr davon, desto verdächtiger. Insbesondere bei der Kombi- 104 Wehrstedt C. Neugeborenensepsis im häuslichen Wochenbett … Hebamme 2025; 38: 101–107 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
nation von Tachypnoe und Tachykardie darf nicht über Nacht unbeobachtet abgewartet oder ähnlich zögerlich vorgegangen werden. Ein einfaches diagnostisches Mittel ist zudem die kapilläre Auffüllzeit, die CRT: Dabei wird beim Neugeborenen am Sternum 5 Sekunden die Haut komprimiert und die Zeit gemessen, bis die Haut wieder rosig ist. Vor dem 7. LT sind bis zu 3 Sekunden tolerierbar, nach der ersten Woche gel- ten 2 Sekunden als normal. Eine verlängerte CRT ist mit einer vierfachen Morbidität assoziiert. Allerdings lässt im Umkehrschluss eine normale CRT nicht auf einen gesun- den Zustand schließen. Dieses aussagekräftige Symptom kann ohne technische Hilfsmittel erfasst werden und ist damit im häuslichen Setting von großer Bedeutung. Eine Fehleinschätzung der Situation kann eine erhebliche Prognoseverschlechterung nach sich ziehen und ein scheinbar gesundes Kind mit leichter Symptomatik über wenige Stunden todkrank werden. Verlegung von Kindern mit Sepsis Trifft die Hebamme im häuslichen Umfeld ein Kind mit Red Flags oder sonstiger schwerer Symptomatik an, sind diese in der Regel nicht zu übersehen und erfordern ein soforti- ges Handeln. In einem bereits kritischen Zustand ist ein Eigentransport durch die Eltern nur in Ausnahmefällen an- zuraten, wenn kein Rettungstransport in adäquater Zeit zur Verfügung steht. Bei hoch kritischem Zustand sollte die Hebamme über aktuelle Reanimationskenntnisse ver- fügen. Entsprechende Fortbildungserfordernisse sind nicht auf das klinische Setting beschränkt. Es ist wichtig, den Eltern gegenüber organisiert aufzutreten und Ruhe zu bewahren. Auch bei ausgeprägten Non-Red- Flag-Symptomen ist eine Verlegung ohne Zeitverlust not- wendig, zumal ab 2 derartigen Symptomen eine kindliche Behandlung und Intensivüberwachung empfohlen wird. Für die Verlegung spielt die Kommunikation eine bedeu- tende Rolle, da 80 % aller Behandlungsfehler in der Medi- zin durch Kommunikationsfehler entstehen [11]. Eine Übergabe mit den wichtigsten Aspekten führt zu weniger Fehleinweisungen in Kliniken ohne die erforderlichen Res- sourcen. Die korrekte Wahl der aufnehmenden Klinik ist essenziell für die Verlaufsprognose. Hebammen können stets ein Blanko-Übergabeformular mitführen, das min- destens folgende Eintragsparameter umfassen sollte: ▪ Name der Mutter: möglichst als Datenaufkleber ▪ Geburtsdatum und -modus des Kindes ▪ Anamnestische Risiken, z. B. mütterlicher B-Strepto- kokkenstatus (GBS), Blasensprung sup partu > 18 Stunden, Krankheiten bei Kontaktpersonen, Scharlach bei Geschwistern ▪ Ernährungsform des Kindes ▪ Verlaufsparameter: Symptome: Welche? Seit wann? ▪ Verdachtsdiagnose/ Fragestellung schriftlich festhalten Nicht immer ist die Situation frühzeitig klar. Zudem sind zu viele Fehleinweisungen zu vermeiden. Wie so oft handelt es sich auch in diesem Bereich um die Gratwanderung der Ab- wägung zwischen „zu viel und zu früh“ versus „zu spät und zu wenig“. Ein hohes Maß an Entscheidungskompetenz er- fordert umfassendes Wissen und professionelle Erfahrungs- expertise. Gegebenenfalls steht am Anfang das Bauchgefühl bzw. die Intuition: Gefällt der Hebamme der Zustand des Kindes nicht, sollte sie dieses Gefühl anschließend mit ob- jektivierbareren Kriterien und durch Analyse von Anamnese und aktuellem Zustand – insbesondere Veränderungen – unterfüttern. Lässt sich damit keine Eindeutigkeit erzielen, hat sie stets das Recht, wenn sie es nicht verantworten kann oder möchte, alleine zu entscheiden, ob der kindliche Zu- stand im Normbereich ist, die Eltern weiterzuschicken bzw. eine Empfehlung zur Abklärung zu geben. Diesen Rat sollte sie sich zur eigenen Absicherung zudem bestenfalls unter- schreiben lassen. Die Hebamme muss im häuslichen Bereich im Zweifel keine Überwachungsdichte gewährleisten, die nur stationär realisierbar wäre, aber sie sollte entsprechend klar im Gegenzug überweisen, wenn sie den Eindruck hat, das Kind nicht alleine lassen zu können. Therapieschemata In der AWMF-Leitlinie findet sich ein Handlungsalgorith- mus unter „Empfehlungen zum Vorgehen beim Neugebo- renen“ für die Klinikeinweisung und Behandlung je nach Fallunterscheidungen differenziert nach Akkumulation von Risikofaktoren und Symptomatik [5]. Deren Kenntnis stellt eine sinnvolle Ergänzung dar – auch für die stationäre The- rapie des Kindes. Antibiotikagaben ohne Ergebnis der Blutkultur sind auf- grund des Schadenspotenzials falsch zugewiesener Anti- biotikatherapien umstritten. Sie sind jedoch üblich, da ein Abwarten zu weiteren Todesfällen durch fulminante Ver- läufe führen kann. Die American Academy of Paediatrics empfiehlt zum zielgerichteteren Einsatz den Kaiser Perma- nente Neonatal Sepsis Calculator [12], bei dessen Verwen- dung es zu einer geringeren Rate an Anitibiotikagaben bei vergleichbarem Outcome kommt. Der Calculator ist kos- tenfrei nutzbar unter: https://neonatalsepsiscalculator. kaiserpermanente.org [13]. Die NICE-Guideline mit den oben dargestellten ausführli- chen Auflistungen von Risikofaktoren und Symptomen ist hingegen in der Identifikation noch asymptomatischer oder leicht symptomatischer Neugeborenen bei sehr frü- hem Sepsisbeginn überlegen [10]. Beide Leitlinien sind sich jedoch einig, was die übergeordnete Bedeutung von Betreuung und Beobachtung sowie besonders für den häuslichen Bereich eine gute Aufklärung und Einbeziehung der Eltern betrifft. Wehrstedt C. Neugeborenensepsis im häuslichen Wochenbett … Hebamme 2025; 38: 101–107 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 105
Wochenbett Schulung und Aufklärung der Eltern Eltern sollten darin geschult werden, wie sich ein norma- ler Allgemeinzustand darstellt und wann sie sich Hilfe holen müssen. Hier schließen sich folgende Fragen an: Welches Kind muss wie und warum überwacht werden? Wann müssen wir als Eltern reagieren und wie? Wen müssen wir informieren? Was machen wir, wenn die Hebamme und/oder die/der Kinderärzt*in nicht verfügbar bzw. er- reichbar sind? Diese Fragen können bei einem auffälligen anamnestischen Hintergrund sachlich und ohne Angst zu schüren, besprochen werden. Zudem schadet es ohnehin nicht, wenn Eltern lernen, was die Bandbreite kindlicher Vitalität ausmacht, um weder zu ängstlich zu sein noch be- deutende Probleme zu übersehen. Hierfür kann ihnen ein Beobachtungsbogen ausgehändigt werden, auf dem sie die Parameter zu Muskeltonus, allge- meiner Vitalität, Atmungs- und Trinkverhalten, Hautfarbe sowie rektal gemessener Temperatur eintragen. Liegt die- ser Beobachtungsbogen neben dem Wickelort, fallen den Eltern anhand des Protokolls eher auftretende Verände- rungen auf. Bei entsprechenden Auffälligkeiten sollten sie sich rasch an eine Fachperson wenden. Bei vorliegenden Risiken sollten Eltern wissen, dass sich eine Sepsis rasch entwickeln kann und bei jedem Wickeln die Vitalität ihres Kindes beurteilen. Beim Wunsch nach außerklinischer oder ambulanter Ge- burt in Kombination mit einem positiven vaginalen Strep- tokokken-Abstrich besteht ein bislang ungelöstes Problem darin, dass die AWMF-Leitlinie eine Klinikgeburt mit min- destens 24 Stunden postpartalem Aufenthalt voraussetzt und damit keine Lösung für die außerklinische und ambu- lante Geburtshilfe bietet [5]. FAZIT Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass 3 Säulen für das häusliche Umfeld zu beachten sind: (1) proaktiv sein, (2) aufmerksam sein bei Auffällig- keiten, (3) handeln im Verdachtsfall. (1) Proaktiv das Stillen fördern, Hygiene beachten, die Anamnese und Umgebung im Blick halten. Die Eltern sollten in der Schwangerschaft bei Vorliegen anamnestischer Risiken, bei Entlassung oder zu Hause sachlich und ohne Panik geschult werden, wenn Risikofaktoren vorliegen. (2) Aufmerksamkeit bei Symptomen, insbesondere einem kombinierten Auftreten von Tachypnoe und Tachykardie; Veränderungen im Allgemeinzustand. (3) Handeln im Verdachtsfall: Die Möglichkeit des rasch progredienten Verlaufs im Auge behalten; nicht über Nacht abwarten, sondern bei begründe- tem Verdacht für eine ärztliche Abklärung sorgen. Bei dem schweren Notfallgeschehen einer Sepsis sind rechtzeitiges Erkennen und Therapie essenziell für die Verlaufsprognose. Da die professionelle Einschätzung der Situation auch ohne oder mit geringen Hilfsmitteln und adäquate Handlungsab- läufe einen erheblichen Einfluss auf die Prognose haben, kann die praktische Erfahrung und Aufmerk- samkeit nicht genug betont werden. Über diesen Artikel Die Autorin referiert zum Thema dieses Artikels auf dem Forum Hebammenarbeit vom 21. bis 22. November 2025 in Mainz: „Neugeborenensepsis im häuslichen Wochenbett und die Rolle der Hebamme“ – darum geht es am Samstag, 21.11., von 9 bis 10 Uhr. Autorin Dr. Christine Wehrstedt ist Hebamme und Hebammenwissen- schaftlerin. Sie forschte zu berufsbiografi- schen Entscheidungsprozessen und ist neben praktischer Hebammentätigkeit in Fort- und Weiterbildung für Hebammen an und außerhalb von Hochschulen tätig. Ihre Schwerpunkte liegen in den Bereichen Förderung der natürlichen Geburt im Umfeld mit hohen Kaiserschnittraten, kritische Beleuchtung genereller Screenings für Schwangere, Bindungsförderung versus Vorschriftenmedizin und Gesundheitsförderung versus Krankheitsbekämpfung im salutogenetischen Ansatz. Korrespondenzadresse Dr. Christine Wehrstedt E-Mail: hebamme@hebamme-muenchen.de Literatur [1] Berufsverband der Frauenärzte e.V. (BVF), Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e.V. (BVDfK), Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), Deutsche Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie (DGHM), Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI), Deutsche Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM) und Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin (GNPI). S2k-Leitlinie 024-020 „Prophylaxe der Neugeborenensepsis – frühe Form –druch Streptokokken der Gruppe B. Stand: 03/2016. Im Internet: https://register.awmf.org/assets/guidelines/024-020l_S2k_ Prophylaxe_Neugeborenensepsis_Streptokokken_2016-04- abgelaufen.pdf; Stand: 24.01.2025 [2] Shane AL, Sánchez PJ, Stoll BJ. Neonatal sepsis. Lancet 2017; 390: 1770–1780. DOI: 10.1016/S0140-6736(17)31002-4 [3] Briegel J. Systemic Inflammatory Response Syndrome (SIRS), Sepsis und Multiorganversagen. In: Rossaint R, Werner C, Zwißler B, Hrsg. Die Anästhesiologie. Allgemeine und spezielle Anästhesiologie, Schmerztherapie und Intensivmedizin Berlin. Springer; 2012 106 Wehrstedt C. Neugeborenensepsis im häuslichen Wochenbett … Hebamme 2025; 38: 101–107 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
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Beruf Preceptorship: das praktische Jahr nach dem Hebammen studium – ein Blick über den Tellerrand nach England Anna Hultsch Das Preceptorship-Programm bietet die Chance, Hebammen am Anfang ihres Berufs- weges ebenso zu integrieren wie solche, die eingewandert sind oder wieder in den Beruf einsteigen wollen. Seit Jahren wird es in Großbritannien erfolgreich umgesetzt. Die Auto- rin war aktiv involviert und vermittelt, welche Vorteile es Teilnehmenden bietet, wie es abläuft und inwieweit es auf Deutschland übertragbar ist. Mit der Akademisierung des Hebammenberufes stellt sich in Deutschland die Frage, wie Hebammen am Karrierestart ihre neuen Fähigkeiten im Berufsalltag optimal anwenden und ausbauen können, um den Übergang von studieren- der zu erfahrener Hebamme zu bewältigen. Das Precep- torship beschreibt eine Fortführung des Lernens in der Pra- xis im Anschluss an die Hebammenqualifizierung. Dabei werden Berufsanfänger*innen in einer besonders vulne- rablen Phase ihrer Karriere von erfahrenen Hebammen un- terstützt. Wichtige Elemente des Preceptorships sind: ▪ die Orientierung in der neuen Rolle ▪ die Integration ins interdisziplinäre Team ▪ die Festigung des erlernten Basiswissens ▪ die angeleitete Selbstreflexion der eigenen Arbeits- weise Neue Fähigkeiten wie eigenverantwortliches Arbeiten in hebammengeleiteten Modellen und erste Elemente von Leadership können in dieser Zeit hinzugewonnen werden. Am Beispiel aus England seien nachfolgend die praktische Umsetzung und der Nutzen von Preceptorship-Program- men im Klinikalltag erläutert. Was versteht man unter Preceptorship? Das Preceptorship beschreibt einen Zeitraum der Weiter- bildung eines Schülers/einer Schülerin (Preceptee) durch einen Tutor/eine Tutorin oder einen Lehrer/eine Lehrerin (Preceptor) oder im medizinischen (bzw. Hebammen-) Kontext eine Berufsanfänger*in, der durch erfahrene Kolleg*innen praktisches klinisches Wissen weitergege- ben wird [11]. Im Gegensatz zum Mentorenverhältnis für He bammenstudierende geht es nicht um das grundsätz- liche Erlernen des Hebammenberufes, sondern um die praktische Unterstützung von Hebammen, die zum ersten Mal eigenverantwortlich arbeiten, Entscheidungen treffen und klinische Erfahrungen sammeln. Die Preceptorship-Zeit ist ein struk- turierter Abschnitt der praktischen Berufsentwicklung für kürzlich examinierte Hebammen. Dabei werden die notwendigen Rahmenbedingungen ge- schaffen, unter denen mithilfe erfahrener Begleitung die eigenen Fähigkeiten gefestigt werden. Damit kann der Übergang von studierender zu erfahrener Hebamme best- möglich erfolgen. Hintergrund Der „State of the World’s Midwifery Report“ schätzt, dass gut ausgebildete Hebammen unter den passenden Vor- aussetzungen und mit intensiver interdisziplinärer Zusam- menarbeit weltweit bis zu 90 % aller essenziellen Leistun- gen rund um den reproduktiven Lebenszyklus einer Frau einschließlich der Geburtshilfe abdecken könnten [14]. Das Investieren in Hebammen führt zu positiven Geburts- erlebnissen und besseren mütterlichen sowie kindlichen Outcomes. Allerdings fehlen für eine ideale Umsetzung weltweit etwa 900 000 Hebammen, disproportional vor allem in Ländern des globalen Südens [14]. Der Report mahnt den dringenden Handlungsbedarf für eine grundle- gende Stärkung des Hebammenberufs auch in Industriena- tionen an, z. B. durch die Optimierung der Rolle entsprechend 108 Hultsch A. Preceptorship: das praktische Jahr … Hebamme 2025; 38: 108–112 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
ihrer beruflichen Autonomie, die Umsetzung hebammenge- leiteter Modelle, Hebammen in Führungspositionen und eine qualitative Aus- und Weiterbildung [14]. Deutschland hat dahingehend nach europäischer Verord- nung die Akademisierung des Berufes eingeführt und damit eine wichtige Angleichung für Hebammen im euro- päischen Vergleich geschaffen [2]. Damit verbunden stellt sich die Frage, wie Hebammen ihre neuen hebammenwis- senschaftlichen Kompetenzen nach dem Studium im kli- nischen Alltag festigen und ausbauen, um den Prozess der kontinuierlichen Berufsentwicklung zu beginnen und Er- fahrungen mit eigenverantwortlichem Arbeiten zu sam- meln. Die Wichtigkeit dafür spiegelt sich in den derzeiti- gen Anforderungen mit komplexeren Fällen sowie höherer Arbeitsbelastung wider. Es ist daher nicht verwunderlich, dass immer mehr Hebammen von Burnout betroffen sind oder gar vorzeitig aus dem Beruf aussteigen wollen [5]. Auch in Deutschland gibt es in Anbetracht von Personal- mangel und gesteigertem Arbeitspensum mehr Hebam- men, die darüber nachdenken, den Beruf zu verlassen. Dies rückt das Thema Nachhaltigkeit des Hebammenberufes ins Licht [4]. In einer britischen Untersuchung unter Heb- ammen gaben 67 % der Befragten an, von berufsbeding- tem Burnout betroffen zu sein. In diesem Zusammenhang dachten zwei Drittel darüber nach, den Beruf dauerhaft zu verlassen. Die Gruppe der Kolleg*innen am Berufsanfang hatte dabei signifikant höhere Belastungen angegeben und sich damit als besonders vulnerabel herauskristalli- siert [5]. Einen Grund dafür sehen Hunter et al. (2019) darin, dass neu qualifizierte Hebammen ein Missverhältnis zwischen ihren Idealvorstellungen einer frauenorientier- ten hebammengeleiteten Berufspraxis und dem tatsäch- lichen medizinisch-dominierten und an institutionelle Be- lange angepassten Klinikalltag vorfinden, sobald sie eigen- ständig Verantwortung übernehmen [5]. Empfehlungen gehen damit einher, dass ein gezielter Schwerpunkt in der Unterstützung von Berufsanfänger* innen gesetzt werden muss, um sie durch Resilienz länger- fristig im Beruf zu halten, statt nur die Zahl der Studienplätze kontinuierlich zu erhöhen, um den Hebammenmangel aus- zugleichen [5]. Studien zeigen, dass bei Berufsanfänger* innen ein positiver Zusammenhang zwischen strukturier- tem Karrierestart und mentaler Gesundheit besteht, der mit langfristiger sowie zufriedenstellender Berufsaus- übung einhergeht [3]. Prinzipien des Preceptorships In einigen Nationen, z. B. England oder Australien, ist eine Preceptorship-Zeit für Krankenpfleger*innen und Hebam- men eine etablierte und gängige Praxis [7, 13]. In England sind Rahmenbedingungen und Prinzipien des Preceptor- ship-Programms für Hebammen auf nationaler Ebene ge- regelt [7]. Das Royal College of Midwives (RCM) als wich- ▶Abb. 1 Stufenmodell nach Benner (2004) [1]: Novice – Advanced Begin- ner – Competent – Proficient – Expert. tigste Berufsgenossenschaft für Hebammen betont ge- nauso wie das Nursing & Midwifery Council (NMC) als regulierende Behörde des Hebammenberufs die Wichtig- keit der Preceptorship-Zeit für die Entwicklung jeder Heb- amme [8, 12]. Das RCM (2022) positioniert sich wie folgt: „Während wir anerkennen, dass neu qualifizierte Hebammen über Kom- petenz im gesamten Berufsausübungsbereich der Hebam- menpraxis verfügen, müssen sie alle Fähigkeiten in allen Versorgungsbereichen und Betreuungsmodellen (ein- schließlich hebammengeleiteter Einrichtungen) entwi- ckeln und festigen.“ [12] Ziel ist es also, Kompetenzen zu erlangen, Erfahrungen zu sammeln und dadurch das Selbstvertrauen zu steigern. Benner (2004) stellt in einem Modell die Phasen der Entwicklung von „Novize“ zu „Ex- perte“ dar, wobei die Stufe „Fortgeschrittener Anfänger“ als die erste Zeit nach der Berufsqualifikation dargestellt werden kann [1] (▶Abb. 1). Die nächsten Entwicklungs- stufen zu erreichen, beschreibt das Prinzip eines Precep- torships trefflich. Pr Ec EPt or sh iP-El EmEn t E ▪ Dauer: 12 Monate (in Vollzeit) ▪ strukturierter Karrierestart ▪ Einarbeitungszeit ▪ Basiswissen festigen ▪ neue Kompetenzen erlernen ▪ Berufserfahrung in verschiedenen Abteilungen sammeln ▪ Selbstreflexion ▪ psychosoziale Unterstützung ▪ Begleitung durch berufserfahrene Preceptoren ▪ Förderung von: Selbstsicherheit, eigenverant- wortlichem Arbeiten, Entscheidungsfähigkeit, Leadership, Arbeiten in hebammengeleiteten Modellen Hultsch A. Preceptorship: das praktische Jahr … Hebamme 2025; 38: 108–112 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 109
Beruf Im Wesentlichen konzentrieren sich die Inhalte der Pre- ceptorship-Richtlinien in England auf die Verinnerlichung und die kompetente, praktische Umsetzung der Berufs- ethik, des sog. code of conduct, ausgegeben vom NMC [7, 10]. Dieser beinhaltet Standards sowie Verhaltensre- geln und setzt sich aus 4 Säulen zusammen: ▪ Menschen priorisieren ▪ effizient arbeiten ▪ Sicherheit bewahren ▪ Professionalität und Vertrauen fördern In England geht der Abschluss der Preceptorship-Zeit au- ßerdem mit einer Beförderung in die nächste Berufsgrup- pierung einher. Damit verbunden sind eine höhere Ge- haltsklasse, mehr Verantwortlichkeiten und erweiterte Karrieremöglichkeiten. Es ist von zentraler Bedeutung, dass ein Preceptorship-Programm keinesfalls dazu dient, verpasste Lerninhalte aus dem Studium nachzuholen, die zur Berufsqualifikation gehören, und dass es weder einen Ersatz für die reguläre Einarbeitung und Weiterbildungen darstellt noch Personalgespräche ersetzt [7]. Struktur des Preceptorships Das Hauptaugenmerk bei der Organisation und Durchfüh- rung von Preceptorship-Programmen liegt auf neu quali- fizierten Hebammen, die direkt nach ihrem Abschluss in den Beruf starten. Allerdings können die Grundprinzipien in zugeschnittener Form auch für internationale Hebam- men, die ins Land einwandern, oder für Hebammen, die wieder in den Beruf einsteigen, angewendet werden [7]. Die Preceptorship-Zeit dauert in Vollzeit im Allgemeinen 12 Monate, kann aber in Ausnahmefällen nach 9 Monaten beendet werden oder bei Bedarf auf 18 Monate verlängert werden. Hinzu kommt eine initiale Einarbeitungsphase als zusätzliche Hebamme pro Schicht [7]. Diese Orientie- rungszeit liegt zwischen 1 und 3 Wochen für jede neue Ab- teilung [7, 12]. Während des Preceptorship-Zeitraumes gibt es keine Richtlinien zur prozentualen Aufteilung von Schichten in den jeweiligen Abteilungen. Es hat sich in der praktischen Umsetzung aber bewährt, rund die Hälfte der Zeit intra- partum und die andere Hälfte jeweils 3 Monate im präpar- talen sowie postpartalen Bereich zu arbeiten, um die Er- fahrungen so breitgefächert wie möglich zu gestalten. Wenn am Einsatzort Modelle der Kontinuität oder einer hebammengeleiteten Geburtsbegleitung praktiziert wer- den, sollten diese Bereiche mit einbezogen werden. Modelle der Umsetzung Die Umsetzung des Preceptorship-Programms kann durch verschiedene Herangehensweisen erreicht werden [7]. Bei einer geringeren Anzahl von Teilnehmer*innen bietet es sich die Methode an, Preceptee und Preceptor direkt zu vernet- zen und regelmäßige Treffen zwischen beiden zu ermögli- chen, um den Fortschritt des Preceptees zu evaluieren. In größeren Kliniken mit zeitgleich vielen Berufseinsteiger* innen eignet sich ein Modell, das von einer leitenden Pre- ceptorship-Hebamme koordiniert wird. Diese fungiert zu- gleich als hauptverantwortlicher Preceptor in der klini- schen Supervision und Weiterbildung. Aus Erfahrung mit diesem Modell ergibt sich der Vorteil einer fairen Umset- zung der Richtlinien für alle Preceptees. Es begünstigt zudem die Optimierung, Etablierung und Evaluierung des Programmes. Auf jeder Station muss dabei ein ausgewo- gener Anteil an erfahrenen und unerfahrenen Hebammen arbeiten, um Sicherheit zu schaffen. Die Preceptorship- Koordinatorin behält hier den Überblick. Sie regelt, wie die Preceptees den Abteilungen zugeteilt werden und trägt damit zur Qualitätssicherung bei. Zudem ist sie bei zusätz- lichen Lernbedürfnissen involviert und unterstützt erfah- rene Hebammen in ihrer Preceptorenrolle, in der diese für die Berufsanfänger*innen unverzichtbar sind. Als Leitfaden ihres Preceptorships dient den Preceptees die Preceptorship-Mappe mit wichtigen Informationen, u. a. zu Einarbeitung, Zeitraum der jeweiligen Einsatzorte, Dokumentation der Preceptee-Preceptor-Treffen, Selbst- reflexion und Kompetenzen. Potenziell erwerbbare Befähigungen Die zu erwerbenden weiterführenden Befähigungen sind in England je nach Klinikrichtlinien individuell. Allgemein be- trachtet müssen alle Berufsanfänger*innen u. a. die adäqua- te Versorgung von Geburtsverletzungen ebenso erlernen wie die intravenöse Verabreichung von Medikamenten, da sie diese von Rechts wegen als Student*in noch nicht aus- führen dürfen. Hierfür sieht das Preceptorship-Programm zusätzliche Weiterbildungstage vor. Diesen folgt eine Phase einer supervisierten Ausübung und letztendlich das formel- le Bestätigen der Kompetenz durch eine leitende Hebamme. Andere Fähigkeiten, die nicht fallzahlenmäßig erfasst wer- den können, sind Gegenstand von Gesprächen zwischen Preceptor und Preceptee. Dies betrifft z. B. die Selbstsi- cherheit im eigenverantwortlichen Arbeiten, eine hebam- mengeleitete Geburtsbegleitung oder die eigene Entschei- dungsfähigkeit. EXKUr s midwifery Exemptions & r evalidation In Großbritannien gibt es eine allgemeingültige Richtlinie, nach der Hebammen ab dem Tag ihrer Qualifikation bestimmte Medikamente für einen komplikationslosen Geburtsverlauf unter bestimmten Voraussetzungen eigenverantwortlich anordnen dürfen (Midwifery Exemptions). Dies umfasst eine breite Palette von Paracetamol bis Morphin. Für hebammengeleitete Modelle sind zudem Notfallmedi- kamente, z. B. Misoprostol bei Atonie, eingeschlossen. 110 Hultsch A. Preceptorship: das praktische Jahr … Hebamme 2025; 38: 108–112 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Im Vereinigten Königreich ist eine Erneuerung der Hebammenzulassung, sog. Revalidation, alle 3 Jahre verpflichtend [9]. Das Thema Selbstreflexion spielt dabei eine zentrale Rolle. Alle Hebammen werden verpflichtet, ihr eigenes Handeln kritisch zu analysieren und Erkenntnisse für die zukünftige evidenzbasierte Arbeitsweise schriftlich darzulegen. Preceptees sollen während ihrer Preceptorship-Zeit unter Anleitung an das Thema herangeführt werden. Selbstreflexion und evidenzbasiertes Arbeiten In regelmäßigen Treffen zwischen Preceptee und Precep- tor, die laut Richtlinie mindestens 6-mal stattfinden sol- len, werden konkrete Fallbeispiele sowie die allgemeine Arbeit in einer Abteilung erörtert. Dabei steht die Precep- tor-Person anleitend zur Seite und kann in einer beraten- den Funktion ihre klinische Erfahrung weitergeben. Fragen zur Entscheidungsfindung bei komplexen Fällen, zur sicheren Dokumentation oder Kommunikation im in- terdisziplinären Team stehen erfahrungsgemäß ganz oben auf der Liste. Hier zeigt sich oft die Wichtigkeit der erwei- terten Fürsorgerolle eines Preceptors über klinische Sach- verhalte hinaus. Dieser kann z. B. zur Selbstfürsorge ermu- tigen oder eine Vermittlerrolle bei Gesprächen mit der Ab- teilungsleitung einnehmen. Integration ins Team und Perspektiven Zudem steht die Integration der neuen Kollegin in das Team im Vordergrund. Im Anschluss an ein Treffen wird ein individueller Weiterentwicklungsplan erstellt. Hierzu eig- net sich das SMART-Format (engl. Abk. für: spezifisch, messbar, erreichbar, relevant und zeitgerecht), um reali- sierbare Ziele festzuhalten und einen Ausblick auf den nächsten Abschnitt zu geben. So ein Ziel kann z. B. die Teil- nahme an einer relevanten Weiterbildung oder die Über- nahme eines komplexen Falls unter indirekter Supervision sein, um individuelle klinische Kompetenzen zu erlangen. Wie aus erfahrenen Hebammen gute Preceptoren werden Ein Preceptor ist als erfahrene Kolleg*in dafür verantwort- lich, eine Willkommenskultur zu schaffen, Orientierungs- hilfe zu ermöglichen und das Programm ihres Preceptees zu begleiten oder im Falle einer leitenden Preceptorship- Hebamme die Koordination aller Preceptees zu überneh- men [7]. Dabei ist es nicht bindend, dass Preceptee und Preceptor dauerhaft eng klinisch zusammenarbeiten wie in einem Mentorenverhältnis zwischen Studierende*r und Hebamme. Vielmehr sollte ein Preceptor Ansprechperson sein und in regelmäßigen Abständen Treffen mit dem Pre- ceptee abhalten. Dabei wird die Selbstreflexion angeleitet, die Berufsentwicklung evaluiert und psychosoziale Unter- stützung angeboten. Erforderliche klinische Supervi sion oder praktische Hilfestellung zur Entscheidungsfindung im Dienst kann von jeder erfahrenen Kolleg*in übernom- men werden. Allerdings sollte ein Preceptor ihre Precep- tee auch in der Praxis begleiten können, wann immer es möglich ist. Um der Aufgabe eines Preceptors gerecht zu werden, soll- ten Hebammen mindestens 12 Monate Berufserfahrung haben, klinisch praktizieren und sich regelmäßig zum Thema Preceptorship und klinische Anleitung weiterbil- den [7]. Hierfür kann ein Austausch mit Preceptoren an- derer Einrichtungen hilfreich sein. Außerdem ist unerläss- lich, selbst ein Vorbild in der eigenen klinischen Rolle zu sein und eine positive Einstellung im Bereich Berufsent- wicklung mitzubringen. Was einen guten Anleiter ausmacht, fassen LaFleur und White (2010) wie folgt zusammen: Persönliche Attribute wie Empathie, Enthusiasmus, Beständigkeit, Freundlich- keit und Flexibilität sind genauso wichtig wie fachliche Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit, z. B. durch ak- tives Zuhören und konstruktives Feedback. Die Rolle eines Mentors oder Preceptors zu übernehmen, steigert die per- sönliche Zufriedenheit sowie den beruflichen Erfolg und leistet einen wichtigen Beitrag für die Hebammenprofes- sion [6]. FAz it Eine Zeit des Übergangs von studierender zu erfahrener Hebamme ist in Bezug auf die wachsende Komplexität und Eigenverantwortlichkeit des Hebammenberufes unabdingbar. Während einer einjährigen Preceptorship-Zeit werden die im Studium erworbenen Kompetenzen gefestigt und erweitert. Zusätzlich können mit erfahrener Begleitung neue Fähigkeiten unter Anleitung erworben und klinische Erfahrungen in strukturier- ter Weise gesammelt werden. Dies dient v. a. der Resilienz in einer kritischen Phase der Karriere und kann die mentale Gesundheit und die langfristige Ausübung des Berufs positiv beeinflussen. Vor dem Hintergrund, dass in Deutschland die Nachhaltigkeit des Hebammenberufes zunehmend thematisiert wird und die Akademisierung gerade etabliert wurde, sollte es Überlegungen geben, wie man kürzlich examinierten Hebammen einen auf psychosoziale Bedürfnisse orientierten und strukturierten Karrierestart ermöglicht. Das Sammeln von Berufserfahrung im geschützten Rahmen trägt zusätzlich zur Qualitätssicherung bei. Hultsch A. Preceptorship: das praktische Jahr … Hebamme 2025; 38: 108–112 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 111
Beruf Autorin Anna hultsch hat ihre Hebammenausbildung in Leipzig abgeschlossen und arbeitet seit 15 Jahren in London. Sie hat u. a. Erfahrung im hebammen- geleitetem Birth Centre und als leitende Preceptorship-Hebamme gesammelt. Zurzeit ist sie als Midwifery Clinical Educator für den NHS Versorgungsbereich Nordwest London mit der Leitung der Vorbereitungsprogramme für internationale Hebammen beauftragt. Sie schließt gegenwärtig den Master in Global Maternal Health ab. Korrespondenzadresse Anna Hultsch Anna.Hultsch@city.ac.uk Literatur [1] Benner P. Using the Dreyfus Model of Skill Acquisition to Describe and Interpret Skill Acquisition and Clinical Judgment in Nursing Practice and Education. Bulletin of science, technology & society 2004; 24: 188–199. DOI: 10.1177/0270467604265061 [2] Bundesamt für Justiz. Gesetz über das Studium und den Beruf von Hebammen (Hebammengesetz – (HebG). Bundesamt fuer Justiz 2019; BGBl. I:1759. Im Internet: https://www.gesetze-im-internet.de/hebg_2020/ BJNR175910019.html [3] Capper TS, Haynes K, Williamson M. How do new midwives’ early workforce experiences influence their career plans? An integrative review of the literature. Nurse Education in Practice 2023; 70: 103689. DOI: 10.1016/j.nepr.2023.103689 [4] Frey N. Nachhaltigkeit – ein Wegweiser der zukunftsorientierten Hebammenarbeit. Hebamme 2022; 35: 46–52. . DOI: 10.1055/a-1824-1471 [5] Hunter B, Fenwick J, Sidebotham M et al. Midwives in the United Kingdom: Levels of burnout, depression, anxiety and stress and associated predictors. Midwifery 2019; 79: 102526–102526. DOI: 10.1016/j.midw.2019.08.008 [6] LaFleur AK, White BJ. Appreciating mentorship: the benefits of being a mentor. Professional case management 2010; 15: 305–311. DOI: 10.1097/NCM.0b013e3181eae464 [7] NHS England. National preceptorship framework for midwifery. 2023. Im Internet: https://www.england.nhs.uk/ long-read/national-preceptorship-framework-for- midwifery/#:~:text = Preceptorship %20should %20be %20 a %20structured,the %20NMC %20Code %20on %20a [8] Nursing & Midwifery Council (NMC). Principles of Preceptorship. 2024. Im Internet: https://www.nmc.org.uk/ standards/guidance/preceptorship/ [9] Nursing & Midwifery Council (NMC). Revalidation. 2024. Im Internet: https://www.nmc.org.uk/revalidation/ [10] Nursing & Midwifery Council (NMC). The Code. 2024. Im Internet: https://www.nmc.org.uk/standards/code/ [11] Oxford University Press. Oxford English Dictionary. 2024. Im Internet: https://www.oed.com/?tl = true [12] Royal College of Midwives (RCM). Position Statement for newly qualified midwives. 2017: 1-7. Im Internet: https:// rcm.org.uk/position-statements/ [13] State of Victoria. Nursing and midwifery graduates. 2021. Im Internet: https://www.health.vic.gov.au/nursing-and- midwifery/nursing-and-midwifery-graduates [14] United Nations Population Found (UNPF), International Confederation of Midwives (ICM) & World Health Organization (WHO). The State of the World’s Midwifery report. New York: United Nations Publications Found 2021. Im Internet: https://www.unfpa.org/sowmy Bibliografie Hebamme 2025; 38: 108–112 DOI 10.1055/a-2564-7914 ISSN 0932-8122 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany 112 Hultsch A. Preceptorship: das praktische Jahr … Hebamme 2025; 38: 108–112 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Geburt Geburtshilfliche Notfälle (2): Allgemeine Handlungs - richtlinien Sven Hildebrandt, Esther Göbel Wer Geburten fachlich begleitet, sollte beim Auftreten einer geburtshilflichen Komplikation ein inneres Handlungsprotokoll parat haben, das ritualhaft ablaufen kann. Und dies unab- hängig von der Natur des Notfalles. Der hier vorgestellte Algorithmus ist einleuchtend und logisch, die Prinzipien mögen banal erscheinen. Doch inmitten einer geburtshilflichen Krise zeigt sich die Bedeutung eines solchen Handlungsprotokolls. ▶Abb. 1 Dieser Artikel mit allgemeinen Handlungsrichtlinien für das Auftreten geburtshilflicher Notfälle ist der zweite Teil unserer Artikelserie „Geburtshilfliche Notfälle“. Er enthält Auszüge aus der Neuauflage des gleichnamigen Buches der Autor*innen [1]. © globalmoments/stock.adobe.com – posed by a model Warum ein Handlungsprotokoll von Bedeutung ist Ein Beispiel: In der Situation einer atonischen Nachblutung kommt es darauf an, diese Blutung sofort zum Stehen zu bringen – sonst wird die Frau sterben. Was aber, wenn wir uns der Dringlichkeit zwar bewusst sind, jedoch erstmal in Panik und Angst erstarren, uns für Zehntelsekunden wie gelähmt fühlen? Selbst in der schlimmsten Verwirrung fällt uns das Stichwort „venöser Zugang“ hoffentlich möglichst rasch ein. Aber womöglich fragt sich weiter: „Wo waren in diesem Kreißsaal noch gleich die lnfusionsnadeln, wo die Hildebrandt S, Göbel E. Geburtshilfliche Notfälle (2): Allgemeine. Hebamme 2025; 38: 113–121 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 113
Geburt Schachtel mit dem Cytotec und den Infusionslösungen?“ Ein Blick auf die Frau potenziert die Panik – sie ist blass, apathisch und blutet unverändert. Handelt es sich beim vorliegenden Notfall nicht um eine Atonie, sondern um einen Zervixriss, verstreichen kostbare, vielleicht lebens- rettende Minuten, bis dieser fatale Irrtum einem bewusst wird. Die geschilderte Situation ist überhöht. Jeder, der den All- tag im Kreißsaal erlebt hat, weiß jedoch: So ähnlich kann es zugehen. Die nachfolgenden Handlungsprinzipien er- geben aus diesem Blickwinkel einen Sinn, denn die stren- ge Einhaltung des Protokolls hätte in unserem Beispiel die Zeit bis zur operativen Versorgung der Blutungsquelle dra- matisch verkürzt. Grundlagen eines professionellen Notfallmanagements Professionelle Geburtshilfe bedeutet, sich nicht vom Wis- sen um die denkbaren Gefahren der Geburt erschüttern zu lassen, sondern mit großer Nüchternheit und Sorgfalt Vorkehrungen für den Komplikationsfall zu treffen. Um- sichtige Vorbereitungen für einen möglichen Notfall sind in zweifacher Hinsicht von größter Bedeutung für unsere Berufsausübung: ▪ Sie verbessern beim Auftreten einer Pathologie deutlich die Chance, die Situation optimal zu meistern und Schaden von Mutter und Kind abzuwenden. ▪ Sie sind im Schadensfall ein wesentliches gutachterli- ches Kriterium für die Bewertung der geburtshilfli- chen Qualität. Logistische Grundlagen Alarmsystem Die Suche nach Telefonnummern darf keinerlei Zeit und Kapazitäten blockieren. Alle wichtigen Partner müssen im Telefon möglichst mit Sofortzugriffsmöglichkeit gespei- chert sein (Kurzwahltaste oder im Kontakte-Ordner ganz oben unter „AARettungsleitstelle“, „AAKindernotdienst“ usw. positionieren). Absprachen Alle wichtigen Partner müssen einander kennen. Beispiels- weise sollte die persönliche Vorstellung der freiberuflichen Hebamme in der potenziellen Verlegungsklinik selbstver- ständlich sein. Jeder Partner muss die ihm wichtigen Dinge dem anderen erklären: der Rettungsdienst die Verfahrens- weise mit Chipkarte und Transportschein, die Klinik die Modalitäten bezüglich Patientenanmeldung, Labor etc. den Augen“ Zufahrt, Parkplatz und Transportweg zu betrachten, Hindernisse aus dem Weg zu räumen und Ausschilderungen vorzunehmen. Schwerer haben es die Hausgeburtshebammen, die immer neue örtliche Gege- benheiten vorfinden. Hier ist es obligat, vor der Hausge- burt ein potenzielles Verlegungsszenario zu durchdenken, Transportwege optimal freizumachen und dem Rettungs- dienst im Verlegungsfall präzise und übersichtlich Anfahrtsbeschreibungen mitzuteilen. Rufregime Es muss für jeden zu jedem Zeitpunkt eindeutig klar sein, wer im Notfall wie und durch wen alarmiert wird. Je grö- ßer die Einrichtung, desto komplexer die Anforderungen an ein Rufregime. Die Kunst der Verantwortlichen besteht in einer möglichst klaren und einheitlichen Absprache aller Beteiligten, die in einem für jeden verständlichen Plan an prominenter Stelle veröffentlicht wird. Jede Einrichtung sollte einen „Logistik-Chef“ bestimmen, der sich um diese Fragen kümmert und alles auf dem aktuellen Stand hält. Notfallmappe Einrichtungsinterne Leitlinien und Handlungsanweisun- gen können in eine übersichtliche Kurzform gebracht, in einer Klarsichtfolien-Mappe alphabetisch geordnet wer- den und durch Reiter markiert in jedem Geburtsraum griff- bereit ausliegen. Für die inhaltliche Orientierung und die grafische Gestaltung dieser Mappe schlagen wir die Erstel- lung von Notfallkarten vor (▶Abb. 2). Notfallkästchen Für einige Notfälle bietet sich an, alle notwendigen Uten- silien in schuhkartonartige Metallkästen zu legen und griff- bereit zu lagern. Der deutlich lesbar mit „ATONIE“ beschrif- tete Container enthält z. B. 4 Tabletten Cytotec, 1 Ampul- le Oxytozin 10 IE, 2 lnfusionsbestecke, je 2 mittlere und großlumige Infusionsnadeln, 2 Flaschen Ringerlösung, Stauschlauch, Alkoholtupfer. Und im Deckel klebt eine Kopie der Handlungsrichtlinie aus der Notfallmappe. Mit einem Griff ist fürs Komplikationsmanagement alles am Platz. Kein wirres Herumkramen und -suchen. Verlegungsbrief-Mappe In der außerklinischen Geburtshilfe bietet sich an, alle im Verlegungsfall benötigten Formulare in einer Mappe griff- bereit in Klarsichtfolien zu bündeln. Jede Klarsichtfolie ent- hält ein Formular für einen Verlegungs-Kurzbrief und je nach Absprache mit der Klinik andere notwendige Form- blätter (z. B. Anamnesebögen für die Narkose u.Ä.). Ausstattung für Notfälle Transportweg Auch ein Neuling auf dem Rettungstransportwagen muss den Weg zum Geburtshaus und bis in den Geburtsraum sofort finden. Das Gleiche gilt in den Kliniken für die Wege zum Kreißsaal oder zum OP. Es lohnt sich, mal mit „frem- Auch die Notfallausstattung hängt von der Art der ge- burtshilflichen Einrichtung ab. Natürlich kann die Hausge- burtshebamme nicht mit dem Arsenal des Klinikkreißsaa- les anreisen. Dennoch sollte auch sie einen Mindeststan- dard einhalten (▶ Checkliste). 114 Hildebrandt S, Göbel E. Geburtshilfliche Notfälle (2): Allgemeine. Hebamme 2025; 38: 113–121 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Allgemeine Handlungsrichtlinien beim Auftreten eines geburtshilflichen Notfalls NOTFALLKARTE Ruhe, Besonnenheit und Souveränität bewahren ● Atmen Sie tief durch und bemühen Sie sich dann um eine ruhige Atmung. ● Versuchen Sie, emotional kurz aus der Situation herauszugehen, um sich zu sammeln. ● Praktizieren Sie ein Ritual Ihres Selbstvertrauens. Ruhe ausstrahlen ● Sorgen Sie für eine „kollektive Beruhigung" bei allen Anwesenden. ● Zeigen Sie möglichst wenig von der Dramatik der Situation. ● Vermeiden Sie unbedingt jedes hektische Herumrennen, Herumkramen, Herumrufen. ● Erledigen Sie ruhig und besonnen die notwendigen Handgriffe. ● Beruhigen Sie die Gebärende und sorgen Sie dafür, dass sie ruhig und tief atmet. ● Sorgen Sie für eine gute Verbindung zwischen Mutter und Kind. ● Behalten Sie den Mann im Auge: Beziehen Sie ihn ein und beschäftigen Sie ihn – aber möglichst im Raum! Klare Diagnose stellen ● Was ist eigentlich passiert? ● Liegt das Bild einer typischen Komplikation vor („innere Checkliste")? Differenzialdiagnose ● Kann ich mich irren? ● Gibt es evtl. eine andere Ursache für den Notfall? ● Was ist das Leitsymptom, von dem die meiste Information und/oder die größte Gefahr ausgeht? ● Denken Sie an „Läuse und Flöhe". Venöser Zugang Hilfe holen ● Prüfen Sie, ob Sie die Komplikation alleine bewältigen können oder dürfen. ● Sorgen Sie für eine professionelle Kommunikation unter allen beteiligten Helfern. Eindeutige Handlungsprotokolle ● Prägen Sie sich die wichtigsten Handlungsschritte gebetsmühlenartig ein. ● Sorgfältig dokumentieren ▶Abb. 2 Notfallkarten helfen, besonnen und kompetent zu handeln, wenn geburtshilfliche Komplikationen auftreten. Quelle: Hilde- brandt S, Göbel E, Hrsg. Geburtshilfliche Notfälle. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2023. CHECKLISTE Notfallausstattung ▪ je 3 Infusionsnadeln mit mittlerem und großem Lumen, 2 lnfusionsbestecke ▪ 1 Ringerlösung oder NaCI 0,9 % (Viaflex-Beutel 500 ml) Magnesium-5-Sulfat-10 %-Ampullen ▪ NaCI 0,9 %-Ampullen ▪ Oxytozin-Ampullen, 3 IE und 10 IE Partusisten- Intrapartal-Ampullen, Atropin-Sulfat-0,5-mg- Ampullen ▪ Adrenalin 1:1000 Ampullen ▪ Misoprostol: Cytotec oder Misodel 200 μg oder 400 μg Tabl. ▪ Beatmungsbeutel mit Masken Größe 0 und 1 ▪ Sauerstoffflasche mit Ventil und Schlauchsystem ▪ Neugeborenen-Stethoskop ▪ elektrische Absaugung* ▪ Mundabsauger ▪ mechanisches Blutdruckmessgerät ▪ große Spekula, Fensterklemmen und Kornzange zur Zervixeinstellung ▪ Nahtbesteck: Nadelhalter, Kocherklemme, Kornzange, Schere, Tupfer, chirurgische Pinzette, Faden/Nadel rund, 3 Größen; Faden/Nadel scharf, eine Größe ▪ in der außerklinischen Geburtshilfe zusätzlich: Berotec N 100 μg (Spray) ▪ Nifedipin-Tropfen ▪ auch wenn nachfolgend genannte Medikamente inzwischen als obsolet gelten, können für den Verzweiflungsfall in der außerklinischen Geburtshilfe bereitgehalten werden: Hildebrandt S, Göbel E. Geburtshilfliche Notfälle (2): Allgemeine. Hebamme 2025; 38: 113–121 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 115
Geburt ▪ 1 Plasmaexpander (z. B. HAES 6 % oder Gelafusal 500 ml) ▪ Diazepam (Valium/Faustan) 10-mg-Ampulle oder Midazolam-Ampulle ▪ Methylergobrevin/Methergin-Ampulle *nicht in der Hausgeburtshilfe erforderlich Einrichtung der Geburtsräume Die Geburtsräume sollten in einer Balance zwischen Zweckmäßigkeit und Gemütlichkeit eingerichtet sein. Alle im Notfall erforderlichen Geräte, Hilfsmittel und Medika- mente müssen griffbereit platziert sein. Ideal ist z. B. ein rollbarer Notfallcontainer, der alles enthält – von der Sauer- stoffflasche bis zum lntubationsbesteck. Die Hausgeburtshebamme muss den Geburtsraum i.d.R. hinnehmen, wie er ist. Auch sie sollte vor der Geburt ein potenzielles Notfallszenario durchdenken und sich sozu- sagen ihre private Ecke im fremden Schlafzimmer gestal- ten. Hier lagert sie alle für ein mögliches Notfallmanage- ment notwendigen Utensilien und schafft sich eine Rück- zugsmöglichkeit. Eine banal erscheinende Frage kann während einer Hausgeburt größte Dringlichkeit bekom- men: Welche Toilette benutze ich, wenn die Gebärende stundenlang in der Wanne sitzen sollte? Innere Ruhe als wichtigstes Handlungsprinzip im Notfall r Eg EL 1 r uhe, Besonnenheit und Souveränität bewahren ▪ Atmen Sie tief durch und bemühen Sie sich dann um eine ruhige Atmung. ▪ Versuchen Sie, emotional kurz aus der Situation herauszugehen, um sich zu sammeln. ▪ Aktivieren Sie Ihr Selbstvertrauen. Ruhe bewahren: Diese einfach klingende Forderung ist bei einer geburtshilflichen Komplikation die wichtigste. Meist kann sie am schwersten realisiert werden. Innere Panik stellt ggf. die größte Gefahr dar. Ruhiges, besonnenes Handeln ist der Schlüssel, um den Notfall kompetent zu meistern. Beispiel Beruhigungsprotokoll Als Beleg für diese These sei die primäre (geburtsmecha- nisch bedingte) Schulterdystokie genannt. Nüchtern be- trachtet befindet sich das Kind in diesem Moment in kei- ner unmittelbaren Lebensgefahr: Die plazentare Sauer- stoffversorgung ist intakt, es gibt keinen Grund dafür, dass nach der erfolgreichen Passage des größten und härtesten Kindsteiles die Geburt der relativ flexiblen Schulter nicht gelingen sollte. Ein planvolles, gelassenes Management dürfte das geburtsmechanische Problem lösen: Verände- rung der Gebärposition, Bewegung des Beckens und not- falls die innere Führung der Schulter. Die Analyse der Schulterdystokie mit fatalem Ausgang zeigt leider fast ausnahmslos ein anderes Bild: Panisch und unüberlegt wird am Köpfchen des Kindes gezogen oder gar noch von oben kristellert. Diese Handlungsweisen sind traurige Realität und wurzeln in der mit dieser Komplika- tion verbundenen panischen Angst. Deshalb hat es höchs- te Priorität, selbst in größter Katastrophe ruhig zu bleiben. Schritt 1 dazu ist es, Paniksituationen zu definieren und zu identifizieren. Dieser ist erfolgreich absolviert, wenn wir in diesem Moment unsere Angst und Panik bewusst wahrnehmen und sagen: „Das jetzt eben war eine Panikreak- tion.“ Schritt 2 ist, ein Beruhigungsprotokoll zu erarbeiten. Mit dem Begriff werden hier theoretisch fixierte Handlungs- oder Reaktionsabläufe bezeichnet: Im vorliegenden Fall muss ein Protokoll geschaffen werden, das sich in Panik- situationen abrufen lässt und das dann ablaufen kann. Die Beruhigung stellt sich ein – als hätten Sie den Notknopf der Rolltreppe betätigt, um diese zu stoppen. Schritt 3 ist es, solche Notfallsituationen zu üben. An- fangs werden wir erst im Nachhinein merken, dass dies eine Paniksituation war, auf die wir mit Selbstberuhigung hätten reagieren müssen. Aber mit jeder Lektion werden wir stabiler und ruhiger. Ruhe und Besonnenheit auch in kritischen Situationen zu bewahren – das muss erlernt und immer wieder trainiert werden. Sich selbst beruhigen Der wichtigste Punkt ist die Atmung. Mit einer ruhigen, gleichmäßigen Atmung lässt sich auf die vegetative Balan- ce einwirken. Als nächstes sollten wir versuchen, kurz aus der Situation herauszugehen und uns zu sammeln. Falls es die Situation erlaubt, können tiefes Durchatmen am offe- nen Fenster oder ein kalter Wasserstrahl äußerst beruhi- gend sein. Andernfalls kann ein psychotherapeutisches Werkzeug dies ersetzen: Jeder sollte einen „Wohlfühlort“ haben, an den sich in kritischen Momenten für einen Au- genblick gedanklich entfliehen lässt. Der dritte Punkt des Beruhigungsprotokolls könnte ein Ritual des Selbstver- trauens sein, das die emotionale Stabilität festigt. Dafür genügt es, eine einfache Formel für solche Situationen mantraartig zu verinnerlichen: „Ich schaffe das! Ich bin der Aufgabe gewachsen!“ Wer sich dabei mutmachend leicht auf die Brust klopft, wird die Wirkung körperlich spüren. 116 Hildebrandt S, Göbel E. Geburtshilfliche Notfälle (2): Allgemeine. Hebamme 2025; 38: 113–121 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
r Eg EL 2 r uhe ausstrahlen ▪ Sorgen Sie für eine „kollektive“ Beruhigung bei allen Anwesenden. ▪ Zeigen Sie möglichst wenig von der Dramatik der Situation. ▪ Vermeiden Sie unbedingt jedes hektische Herumrennen, Herumkramen, Herumrufen. ▪ Erledigen Sie ruhig und besonnen die notwendi- gen Handgriffe. ▪ Beruhigen Sie die Gebärende und sorgen Sie dafür, dass sie ruhig und tief atmet. ▪ Sorgen Sie für eine gute Verbindung zwischen Mutter und Kind. ▪ Behalten Sie alle beteiligten Personen (Partner!) im Auge: Beziehen Sie sie ein und beschäftigen Sie sie, aber stets im Raum! Beruhigung aller im Team Ebenso wichtig wie die eigene Besonnenheit ist die Beruhigung aller im Raum Anwesenden, von deren Panik die gleiche Gefahr ausgeht. Dies betrifft die anderen Ärzt*innen und Hebammen, die wir stets im Blick haben sollten. Unsere Ruhe und Gelassenheit strahlen auf sie aus. Und doch brauchen sie manchmal Zuspruch, um sich emo- tional zu stabilisieren. Eine kleine Geste, ein herzlicher Blick, das Auflegen der Hand, ein Wort des Mutmachens – das kann Ruhe auf unsere Kolleg*innen übertragen. Die Fähigkeit zur kollektiven Selbstberuhigung muss vom ge- samten geburtshilflichen Team erarbeitet und geübt wer- den. Dabei geht es nur in zweiter Linie um konkrete Hand- lungsabläufe in simulierten Notfallsituationen. Wichtiger sind Absprachen zur Vermeidung einer unkontrollierten Panik im Geburtsraum, besonders zwischen den „Dienst- graden“. Ein Notfalltraining sollte mindestens vierteljährlich unter Beteiligung aller potenziell bei Komplikationen anwe- senden Mitarbeitenden stattfinden. Beruhigung der Frau und ihres Kindes Im Mittelpunkt steht die Beruhigung der Frau und ihres Kindes. In der Gebärenden verdichten sich die Grundspan- nung der laufenden Geburt, die Sorge vor einem fatalen Ausgang, die panische Reflexion der bei den Hebammen und Ärzt*innen zu beobachtenden Anspannung und die klinische Symptomatik des Notfalls selbst zu einem dest- ruktiven emotionalen Cocktail, der die Krise potenzieren kann. Wir müssen zuerst die Übertragung unserer eigenen Angst auf die Gebärende unterbinden. Wir sollten mög- lichst wenig von der Dramatik der Situation zeigen, mit größter Achtsamkeit unsere Worte wählen und mit jedem unserer Handlungsschritte Ruhe und Besonnenheit aus- strahlen. Hektisches Herumrennen und -kramen müssen vermieden werden. Es ist ein Trugschluss, dass wir mit Tempo Zeit gewinnen – das Gegenteil ist der Fall: Bedacht- samkeit und Gelassenheit – ohne zu trödeln – führen zu einem unglaublichen Zeitgewinn! Ebenso wichtig ist die aktive Einwirkung auf die Gebären- de. Auch hier steht die ruhige, tiefe Atmung im Mittel- punkt, zu der wir die Frau immer wieder auffordern soll- ten. Es ist oft hilfreich, mit ihr gemeinsam zu atmen, sie sozusagen in die ruhige Atmung mitzunehmen. Diese Auf- gabe kann auch der Mann erledigen, was für dessen An- spannung heilsam sein dürfte. Von elementarer Bedeutung ist die Auf- rechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Verbindung der Frau zum Kind. Die biologische Einheit Mutter-Kind bezieht sich keines- wegs nur auf organische Aspekte wie Stoffaustausch und Regulation. Auch in emotionaler Hinsicht sind beide Orga- nismen direkt gekoppelt und beeinflussen sich wechsel- seitig. Es verdichten sich die Hinweise, dass der Kontaktab- bruch zwischen Mutter und Kind dramatischen Einfluss auf den Verlauf und Ausgang geburtshilflicher Komplikationen ausübt. Deshalb müssen wir die Gebärende immer wieder animieren, zu ihrem Kind zu gehen und bei ihm zu bleiben. Dieser Teil des Notfallmanagements sollte im Rahmen der Geburtsvorbereitung dargelegt und von der Schwangeren verinnerlicht werden: „Mutter und Kind sind während der Geburt ein Team, das miteinander den manchmal mühsa- men, belastenden und möglicherweise auch gefährlichen Weg durchsteht, sich im Schmerz und in der Wehe gegen- seitig tröstet und beruhigt und immer fest zusammen- hält.“ Diese Sichtweise dürfte in der Gebärenden alle müt- terlichen Reflexe wecken: Das Kind ist ein fühlendes Wesen, das ähnliche Angst und Schmerzen verspürt wie ich. Es braucht jetzt meinen ganzen Zuspruch, alle meine Liebe und Nähe. Wir beobachten immer wieder, dass die Wiederherstellung der Verbindung zwischen Mutter und Kind unglaubliche Auswirkungen auf Geburtsdynamik, kindliche Einstellung und Herztonmuster hat. Beruhigung des Partners Das dritte Element der kollektiven Beruhigung ist der Part- ner. Ihn müssen wir in der Krise unbedingt genauso im Blick haben wie die Gebärende und unsere Kolleg*innen, ihn beruhigen, ihm Mut machen und Zuversicht geben. Es erweist sich als hilfreich, den Partner irgendwie zu beschäf- tigen. Generell gilt: Der Mann sollte möglichst im Raum und in der Nähe seiner Frau bleiben, sofern er nicht von sich aus gehen will. Er könnte den Rücken seiner Frau strei- cheln, mit ihr tief und ruhig atmen, ihre Stirn kühlen, seine Hildebrandt S, Göbel E. Geburtshilfliche Notfälle (2): Allgemeine. Hebamme 2025; 38: 113–121 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 117
Geburt Hand auf ihren Bauch legen und damit sein Kind beruhi- gen und trösten. Kleine Hilfsdienste, wie das Licht anzu- schalten oder das Fenster zu öffnen, übernehmen die Män- ner dankbar und bereitwillig. Das befreit sie aus der passi- ven Beobachterrolle und macht sie sozusagen zum Teil des therapeutischen Systems, was sich i.d.R. als stabilisierend erweist. Es ist günstig, in der Geburtsvorbereitung denkbare Sze- narien mit dem Partner abzusprechen. Die Hebamme braucht dann im Notfall nur noch die vereinbarte Formel auszusprechen, nimmt ihm die Panik und findet einen be- flissenen Helfer, der sie wirklich unterstützt. Diagnose und Differenzialdiagnose r Eg EL 3 Eine klare Diagnose stellen ▪ Was ist passiert? ▪ Liegt das Bild einer typischen Komplikation vor (innere Checkliste)? Das Benennen einer klaren Diagnose ist von größter Be- deutung für ein professionelles, geordnetes Komplika- tionsmanagement. Hier geht es erst in zweiter Linie um eine eindeutige Kommunikation mit den Kolleg*innen. Zu- erst dient dieser Schritt der Herstellung einer eigenen in- neren Ordnung. Es ist ein Unterschied, ob wir zu uns sagen: „Es blutet gewaltig“ oder: „Das also ist eine atonische Nachblutung!“ Während wir im ersten Fall diffus bleiben („Tupfen?“), aktivieren wir mit der klaren Diagnosestellung ein vorbereitetes Handlungsprotokoll. Wir müssen ge- danklich die App „Atonie“ öffnen und den dort gespeicher- ten Algorithmus ablaufen lassen. Dabei ist der Katalog geburtshilflicher Notfälle überschaubar (▶ Checkliste). Wenn Sie diese Liste verinnerlichen und beim Auftreten einer Komplikation gedanklich durchgehen, trifft mit al- lergrößter Wahrscheinlichkeit eine der Diagnosen in der vorliegenden Situation zu. CHECKLISTE Innere Checkliste beim Auftreten einer geburts- hilflichen Komplikation Hauptsymptom: Schmerz ▪ Leitsymptom: beängstigende Zunahme des Wehenschmerzes + Wehenanomalie → drohende Uterusruptur ▪ Leitsymptom: Schmerz und/oder Blutung + CTG-Anomalie → vorzeitige Plazentalösung Hauptsymptom: Wehenanomalie ▪ Leitsymptom: beängstigende Zunahme des Wehenschmerzes + Wehenanomalie → drohende Uterusruptur ▪ Leitsymptom: „6-mal und/oder“: Wehenanoma- lie/Fieber/Tachykardie Mutter/Kind/fötides Fruchtwasser/lang zurückliegender Blasen- sprung → Amnioninfektion Hauptsymptom: schlechter Allgemeinzustand der gebärenden ▪ Leitsymptom: plötzlicher Verfall der Gebärenden ohne fassbare geburtshilfliche Ursache → Fruchtwasserembolie ▪ Leitsymptom: auffallend kranke Gebärende und/ oder Oberbauchschmerz → HELLP-Syndrom Hauptsymptom: Krampfanfall ▪ Leitsymptom: tonisch-klonischer Krampf mit Anurie und ggf. hypertoner Krise → Eklampsie ▪ Leitsymptom: zeitlich begrenzter Krampfanfall mit Urinabgang → Epilepsie Hauptsymptom: CTg-Anomalie ▪ Leitsymptom: Schmerz und/oder Blutung + CTG-Anomalie → vorzeitige Plazentalösung ▪ Leitsymptom: akute CTG-Anomalie im Zusam- menhang mit dem Blasensprung → Nabel- schnurvorfall, vorzeitige Plazentalösung ▪ Leitsymptom: CTG-Anomalie + Destruktivitäts- zeichen (grünes Fruchtwasser, Geburtsge- schwulst) → intrauteriner Notzustand Hauptsymptom: prolongierte Dezeleration nach Blasensprung ▪ Leitsymptom: Tastbefund Nabelschnur → Nabelschnurvorfall ▪ Leitsymptom: anhaltende Bradykardie auch nach Entlastung → vorzeitige Plazentalösung Hauptsymptom: Blutung ▪ Leitsymptom: CTG-Veränderung und/oder Schmerz → vorzeitige Plazentalösung ▪ Leitsymptom: postpartale Blutung bei atoni- schem Uterus → Atonie ▪ Leitsymptom: postpartale Blutung bei kontra- hiertem Uterus → Zervixriss ▪ Leitsymptom: Schock/Ohnmacht vor Blutung → Fruchtwasserembolie Nachdem wir uns zu einer Diagnose durchgerungen haben, müssen wir diese sofort wieder infrage stellen. Es wäre fatal, wenn wir uns bei der Auswahl unserer gedanklichen App irrten und das falsche Programm ablaufen ließen. Ein denkbares Szenario für einen solchen Irrtum wurde am Anfang dieses Artikels geschildert. Deshalb haben das kritische Hinterfragen der gefundenen Diagnose und das Benennen möglicher Differenzialdiagnosen größte Bedeutung. 118 Hildebrandt S, Göbel E. Geburtshilfliche Notfälle (2): Allgemeine. Hebamme 2025; 38: 113–121 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
r Eg EL 4 Differenzialdiagnose abwägen ▪ Kann ich mich irren? ▪ Gibt es eventuell eine andere Ursache für den Notfall? ▪ Was ist das Leitsymptom, von dem die meiste Information und/oder die größte Gefahr ausgeht? ▪ Liegen evtl. 2 Krankheitsbilder gleichzeitig vor? Denken Sie an „Läuse und Flöhe“. Wir sollten uns Komplikationsbilder mit ähnlicher Sym- ptomatik vor Augen führen und mit der vorliegenden Situation vergleichen. Dabei müssen wir die markantesten oder auch die gefährlichsten Befunde herauslösen und ab- wägend in unser Diagnoseraster einordnen. Beim Finden der ursprünglichen Verdachtsdiagnose darf unser Bauch- gefühl eine Rolle spielen. Intuitives Handeln hält zuneh- mend wissenschaftlichen Kriterien stand [2, 3]. Bei der Dif- ferenzialdiagnostik müssen dagegen größte Nüchternheit, Sachlichkeit und Sorgfalt im Vordergrund stehen. Wir schlagen den in ▶Abb. 3 dargestellten gedanklichen Al- gorithmus vor. Am Ende dieses Abwägungsprozesses, der nur Sekunden dauern darf, gibt es 2 Möglichkeiten: ▪ Entweder es spricht weiterhin alles für die ursprüng- lich gefundene Diagnose. Dann werden wir das zugehörige Handlungsprogramm nun starten. ▪ Oder wir finden für unsere Differenzialdiagnose eine größere Übereinstimmung der Befunde, dann löschen wir gedanklich unsere alte App und starten beherzt und konsequent das neue Handlungspro- gramm. Diesen Schritt sollten wir so sicher gehen, dass wir später nicht mehr daran zweifeln müssen. Wir müssen bei unseren differenzialdiagnostischen Abwä- gungen bedenken, dass 2 Krankheitsbilder zufällig gleich- zeitig vorkommen können. „Man kann auch Läuse und Flöhe haben.“ Wenn beispielsweise bei einem Zervixriss die Uteruskontraktion nachlässt oder sich bei einer Frucht- wasserembolie die Plazenta vorzeitig und stark blutend löst, dann besteht die Gefahr, dass das eine Bild vom an- deren überdeckt und dadurch übersehen wird. Deshalb spielt der Gedanke an „Läuse und Flöhe“ am Ende des dif- ferenzialdiagnostischen Schrittes eine wichtige Rolle. Nichts ist schlimmer als Wankelmütigkeit in Notsituationen! Die Differenzialdiag- nostik ist eine der bedeutsamsten Aufga- ben medizinischer Handlungsweisen. Klare Handlungsprotokolle Nach Festlegen der Diagnose muss ein gedanklich eindeu- tig fixiertes und hoffentlich regelmäßig trainiertes Hand- lungsprotokoll bereitstehen, das nun nahezu automatisiert ablaufen kann. Die meisten der o.g. Notfälle gehen mit dem Symptom des Schocks einher. Der Schock ist eine komplexe vegetative Reaktion unseres Organismus auf eine lebensbedrohliche Störung seiner Homöostase. Der Körper schaltet auf eine sympathikotone Reaktionslage seines vegetativen Nervensystems um, der eine Art „Not- fallplan“ zur Selbstrettung darstellt. Die durch den Sym- pathikus getriggerten Reaktionen haben zwei Ziele: ▪ Kreislaufzentralisation zur Sicherung der Perfusion überlebenswichtiger Organe (Koronargefäße, Gehirn, Niere, Leber, Lunge) ▪ Kreislaufstabilisierung durch Verstärkung der Herzleistung (Symptom: Tachykardie), Vergrößerung des peripheren Widerstandes (Symptom: blasse, kalte Haut) und Verstärkung des venösen Rückstroms (Symptom: Anurie) r Eg EL 5 Venösen Zugang legen Mit diesen Maßnahmen kann der Körper eine gewisse Zeit die wichtigsten Körperfunktionen aufrechterhalten. Wir sprechen vom kompensierten Schock. Unsere Aufgabe ist es, den kompensierten Schock als wichtigen Selbstret- tungsmechanismus unseres Körpers zu begreifen und ef- fizient zu unterstützen. Das Leitsymptom des Schocks ist die Tachykardie. Der Blutdruckabfall zeigt die Dekompen- sation der Schockmechanismen an und bedeutet das Ver- sagen des Selbstrettungssystems. Die Frau ist in absoluter Lebensgefahr! Die Dekompensation des Schocks hat eine andere, sehr problematische Auswirkung: Durch den Zusammenbruch des Kreislaufs kollabieren die Venen. Es wird uns nun kaum noch gelingen, einen venösen Zugang zu legen und damit die unter Umständen lebensrettende Zufuhr von Medika- menten und Volumen sicherzustellen. Aus diesem Grunde muss die Forderung nach dem Legen eines venösen Zu- gangs so stark hervorgehoben und an die erste Stelle der medizinischen Maßnahmen gesetzt werden. Natürlich ist diese Priorität nur bei Komplikationen angezeigt, die mit einem Schock einhergehen. Hier aber ist sie von größter Bedeutung. Venöser Zugang meint einen Venenverweilkatheter (Brau- nüle, Flexüle). Sogenannte Butterfly-Systeme sind z. B. beim Transport nicht stabil genug und das Lumen ist mög- licherweise zu klein. Hildebrandt S, Göbel E. Geburtshilfliche Notfälle (2): Allgemeine. Hebamme 2025; 38: 113–121 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 119
Geburt Symptom: akut zunehmende, wehensynchrone Schmerzhaftigkeit im unteren Uterinsegment Verdachtsdiagnose: drohende Uterusruptur Differenzialdiagnose: vorzeitige Plazentalösung Zusatzkriterien WEITEr E r Eg ELN r egel 6: Hilfe holen ▪ Prüfen Sie, ob Sie die Komplikation allein bewältigen können oder dürfen! ▪ Sorgen Sie für eine professionelle Kommunika- tion unter allen beteiligten Helfenden! r egel 7: Kompetent handeln ▪ Prägen Sie sich die wichtigsten Handlungsschrit- pathologisches CTG, Blutung te gebetsmühlenartig ein. r egel 8 ▪ Sorgfältig dokumentieren Präeklampsie Über diesen Artikel seit 3 Stunden protrahierte Geburt, heftige Wehen, kaum Geburtsfortschritt, Geburtsgeschwulst Z. n. Sectio caesarea, Geburtsgewicht ca. 4500 g, Priming 41 + 3 SSW alles spricht für drohende Uterusruptur drohende Uterusruptur Tokolyse und Notsectio Anamnese Abwägung Diagnose Handlungsschema alles spricht für vorzeitige Plazentalösung vorzeitige Plazentalösung Notsectio, keine Tokolyse ▶Abb. 3 Differenzialdiagnostik – die Verdachtsdiagnose wird bestä- tigt oder abgeändert. Quelle: Hildebrandt S, Göbel E, Hrsg. Geburts- hilfliche Notfälle. 3. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2023. Das zuverlässige Legen eines stabilen venösen Zugangs sollte zum obligatorischen Repertoire jeder Hebamme ge- hören. Erlernen und üben kann sie diese Technik an gedul- digen Schwangeren bei der Blutentnahme im Rahmen der Schwangerenbetreuung. Immer wieder werden berufs- rechtliche Bedenken hinsichtlich des Handlungskorridors der Hebamme vorgetragen, die jedoch vollständig unzu- treffend sind. Die Kompetenzgrenze der Hebamme wird erst bei der Applikation verschreibungspflichtiger Arznei- mittel, also etwa bei einer Akut-Tokolyse, überschritten. Und selbst dann darf und muss die Hebamme so lange sämtliche notwendigen Maßnahmen ergreifen, bis kom- petente ärztliche Hilfe zur Verfügung steht. Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung des Kapitels „Allgemeine Handlungsrichtlinien beim Auftreten geburts- hilflicher Notfälle“ aus dem Praxisbuch der Autor*innen: „Geburtshilfliche Notfälle“. Das Buch von Sven Hildebrandt und Esther Göbel wurde für die 3. Auflage zum Teil grundlegend überarbeitet, dem aktuellen Wissensstand angepasst und um einige Thesen erweitert. Es enthält weitere wichtige Regeln und vertieft die Ausführungen anhand anschaulicher Beispiele aus der geburtshilflichen Praxis. Die Fortsetzung der Artikelreihe „Geburtshilfliche Notfälle“ in dieser Zeitschrift finden Sie in Hebamme 3/2025 zum Thema: Mütterlicher Notfall: Fruchtwasserembolie – ein seltenes, aber hoch akutes und schicksalhaftes Beispiel. Autor*innen Sven Hildebrandt studierte an der Berliner Charité Medizin und absolvierte bis 1995 seine Facharztausbildung zum Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Diakonissenkrankenhaus Dresden. 1996 gründete er mit den Hebam- men Esther Göbel und Ines Junge das Geburtshaus, Frauenarzt- und Hebammenpraxis Bühlau in Dresden, wo er als niedergelassener Frauenarzt arbeitet. Er ist Gründungspräsident der Dresdner Akademie für individuelle Geburtsbegleitung (DAfiGb). Von 2010–2016 war er Präsident der Internationalen Gesellschaft für prä- und perinatale Psychologie und Medizin (ISPPM). Seit 2015 ist er Professor für Frauenheilkunde und Geburtshilfe an der Hochschule Fulda/University of Applied Sciences. 120 Hildebrandt S, Göbel E. Geburtshilfliche Notfälle (2): Allgemeine. Hebamme 2025; 38: 113–121 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Esther göbel arbeitete nach einer Ausbildung zur Hebamme von 1984–1995 im Kreissaal des Diakonissen- krankenhauses Dresden. Seit 1991 ist sie nebenberuflich freiberuflich in der Nachsorge tätig. Im Dezember 1995 gründete sie zusammen mit Sven Hildebrandt und Ines Junge das Geburtshaus, Frauenarzt- und Hebammenpraxis Bühlau, wo sie bis heute in allen Bereichen der Freiberuflich- keit tätig ist. Sie hat verschiedene zusätzliche Ausbildungen, u. a. in Homöopathie, Akupunktur und Kraniosakraltherapie, absolviert. Korrespondenzadresse Prof. Dr. Sven Hildebrandt info@prof-hildebrandt.de Literatur [1] Hildebrandt S, Göbel E. Hrsg. Geburtshilfliche Notfälle. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2023 [2] McCraty R, Atkinson M, Bradley RT. Electrophysiological evidence of intuition: Part 1. The surprising role of the heart J Altern Complement Med 2004; 10: 133–143. DOI: 10.1089/107555304322849057 [3] McCraty R, Atkinson M, Bradley RT. Electrophysiological evidence of intuition: Part 2. A system-wide process? J Altern Complement Med 2004; 10: 325–336. DOI: 10.1089/107555304323062310 Bibliografie Hebamme 2025; 38: 113–121 DOI 10.1055/a-2473-3088 ISSN 0932-8122 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany Hildebrandt S, Göbel E. Geburtshilfliche Notfälle (2): Allgemeine. Hebamme 2025; 38: 113–121 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 121
FRAUENZENTRIERT UND INTERVENTIONSARM Hebammenwissen zur Unterstützung der physiologischen Geburt Dieses Praxisbuch zeigt die vielfältigen Möglichkeiten, wie Sie als Hebamme eine natürliche Geburt fördern und unterstützen können. Dabei wurden sowohl die vorhandenen Studienergebnisse als auch das immense Erfahrungswissen von vielen Hebammen in der klinischen und der außerklinischen Geburtshilfe aufgenommen. Der Schwerpunkt liegt auf konkreten Hilfestellungen, Therapieempfehlungen und Praxistipps für die typischen Problemsituationen in den einzelnen Phasen der Geburt. Dazu gehört auch die kritische Auseinandersetzung mit umstrittenen Interventionen in der Geburtshilfe. Auch als E-Book ISBN 978 3 13 244688 5 . 9 9 4 3 A R H , t r a g t t u t S r e t s i g e r s l e d n a H d n u - z t i S , G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . t e n h c e r e b r e t i e w n e t s o k d n a s r e V shop.thieme.de n e d n e l l i a f n a e d n e d r e w ] D l [ b a h r e ß u a n e g n u r e f e i L i e B . n e t l a h e b r o v r e m ü t r r I d n u n e g n u r e d n ä s i e r P
Service | Rezensionen „Hormon Intelligenz“ als Konzept Sanftes Naturheilverfahren Psychische Erkrankungen Die Hormone im Einklang Praxisbuch Dampfsitzbad Ratgeber bei Depressionen und Ängsten Dr. med. Aviva Romm ist Hebamme, Ärztin und Mutter. Die Grundlage für ihre Arbeit bildet ein ganzheitlicher Ansatz, bei dem vor allem die Hormone eine entscheidende Rolle spielen. Bei „Hormon Intelligenz“ han- delt es sich nicht nur um den Titel, sondern dahinter steht ein Konzept. Die Autorin er- klärt, welchen Einfluss diverse Faktoren wie die soziale Umwelt oder das Frauenbild in der Gesellschaft auf unsere Hormone aus- üben und welche Auswirkungen ein mögli- ches Ungleichgewicht haben kann. Darüber hinaus stellt sie das von ihr entwickelte 6-Wochen-Programm vor, das einen Ein- klang herstellen soll, um Symptome und Beschwerden zu lindern. Das Konzept ist sehr interessant zu lesen, gibt Ansätze zum Verständnis möglicher Zusammenhänge, die in einer Beratung z. B. bei unerfülltem Kinderwunsch zu berücksichtigen sind. Ins- gesamt fehlen Quellenangaben, wobei ei- nige ohne Verknüpfung zum Text am Ende aufgelistet sind. Als Leser*in sollte man im Hinterkopf behalten, dass die Autorin das Konzept auf Basis von Erfahrung und medi- zinischem Wissen entwickelt hat, das je- doch kein schulmedizinisches wissen- schaftlich getestetes Verfahren darstellt. Marlene Koch Titel: Hormon Intelligenz Autorin: Dr. med. Aviva Romm Kategorie: Ratgeber Verlag: Gräfe und Unzer Jahr: 2023 Preis: 29,99 Euro Das Buch über Yoni Steaming – auch bekannt als Dampfsitzbad – beleuchtet eine alte tradi- tionelle und in den letzten Jahren wieder auf- gelebte Praxis. Die Methode wird als sanftes Naturheilverfahren vorgestellt, das die Ge- sundheit der weiblichen Geschlechtsorgane fördern kann. Dabei werden die Wirkungen des Dampfbads umfassend interpretiert: För- derung der Durchblutung, Entspannung der Muskeln und Anregung des Stoffwechsels. Das Buch bietet vielfältige Anwendungsbereiche von Prämenstruellem Syndrom (PMS) über un- erfüllten Kinderwunsch bis hin zur Verarbei- tung nach einer Fehlgeburt. Besonders inter- essant ist der Abschnitt zu Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Hier könnten Heb- ammen Impulse finden, um Frauen in diesen besonderen Lebensphasen Möglichkeiten zur Selbstwirksamkeit an die Hand zu geben. Al- lerdings legt das Buch wenig Wert auf Wissen- schaftlichkeit. Zwar werden vereinzelt For- schungen erwähnt, es fehlen jedoch gesicher- te Quellenangaben. Für Hebammen oder interessierte Frauen, die nach sanften Metho- den zur Unterstützung ihres Körpers suchen, kann es Inspiration bieten. Schlussendlich ge- lingt es dem Buch, ein altes Hausmittel in einem umfassenderen Kontext zu präsentie- ren – eine spannende Idee, die je nach Pers- pektive durchaus wertvoll sein kann. Maureen Kuhn Titel: Yoni Steaming Autorinnen: Teresa Keck, Natalie Stadel- mann Kategorie: Sachbuch Verlag: Stadelmann Verlag Jahr: 2023 Preis: 18,90 Euro Wenn Frauen im Zusammenhang mit Schwan- gerschaft oder Geburt psychische Erkrankun- gen entwickeln, ist das für sie selbst und ihr Umfeld eine herausfordernde Situation. Der Ratgeber der beiden Autorinnen soll eine mög- licherweise notwendige Behandlung oder Therapie nicht ersetzen, sondern eine weitere Hilfestellung für Patient*innen darstellen. Die Lesenden erhalten Einblicke in verschiedene Symptome oder Gedankenspiralen von Patient*innen und die entsprechende Einord- nung. Darüber hinaus stellt das Buch Möglich- keiten zur Selbsthilfe, wie z. B. Meditationen, aber auch verschiedene Behandlungsmöglich- keiten wie eine Lichttherapie oder eine Medi- kation mit Psychopharmaka vor. Ein ganzes Ka- pitel thematisiert häufig gestellte Fragen rund um die Erkrankungen. Interessierte können sich auch vertieft über die Einordnung der Krankheitsbilder in den ICD10-Katalog oder Diagnosen, wie z. B. Angststörungen informie- ren. Der Ratgeber gibt einen guten Überblick für Patient*innen sowie ihre Bezugspersonen und bietet erste Hilfestellungen. Zur besseren Lesbarkeit sind die Quellenangaben im An- hang aufgeführt und daher den Aussagen nicht direkt zuzuordnen. Insbesondere für Fachpersonal wäre dies aber für eine evidenz- basierte Beratung hilfreich gewesen. Maureen Kuhn und Marlene Koch Titel: Rund um die Geburt. Depressionen, Ängste und mehr. Hilfe und Selbsthilfe bei peripartalen psychischen Problemen Autor*innen: Anke Rohde, Almut Dorn Kategorie: Ratgeber Verlag: Kohlhammer Jahr: 2023 Preis: 32 Euro Hebamme 2025; 38: 123 1900; 38: 123–123 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 123
Geburten sicher und souverän leiten Erfahrene Geburtshelfer geben Ihnen Tipps und Tricks für Ihre Arbeit im Kreißsaal. Das ist normal, hier wird es gefährlich: Lernen Sie, jede Situation schnell und vorausschauend zu beurteilen. Klare Handlungshinweise und systematische Anleitungen für alle Phasen der Geburt geben Ihnen Sicherheit. Auch für spezielle Situationen und gefährliche Notfälle erhalten Sie konkrete Vorgehensweisen. Alle Fakten sind kurz und übersichtlich dargestellt. Freuen Sie sich zudem über wertvolles Online-Zusatzmaterial wie Filme und Animationen zur Spontangeburt, Beckenendlage und Schulterdystokie. Buch + Online-Version in der eRef ISBN 978 3 13 245134 6 www.thieme.de/shop i . e m e h T y b d e t i d E . l e d o m a y b d e s o P . o t o h p k c o t S – m o c . e b o d a . k c o t s – ff o k n e d o r o G © o t o F
Service | Projekt Frauenrechte: „Viel ist erreicht – viel mehr bleibt zu tun“ häusliche Gewalt von 2011 (https://www. bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/ verhuetung-und-bekaempfung-von- gewalt-gegen-frauen-und-haeuslicher- gewalt-122282). Motivbanner von Terre des Femmes anlässlich des Tags „Nein zu Gewalt an Frauen“ am 25. November 2023. Quelle: https://frauenrechte.de – TERRE DES FEMMES Menschenrechte für die Frau e.V. Bei Terre des Femmes handelt es sich um eine gemeinnützige und spenden- basierte Menschenrechtsorganisation, die auf mehr als 40 Jahre Vereinsge- schichte zurückblickt. Das übergeord- nete Ziel von Terre des Femmes ist der weltweite Kampf gegen Menschen- rechtsverletzungen an Frauen und Mäd- chen aufgrund ihres Geschlechts. Die Organisation betont, dass in ihrem Ver- ständnis von Feminismus alle Ge- schlechter gleichgestellt sind. Die Vision Als ihre Vision beschreibt Terre des Femmes eine Welt, in der Mädchen und Frauen über- all gleichberechtigt, selbstbestimmt und frei leben können. Dies umfasst eine Gleich- stellung vor dem Gesetz und die gleichen Bildungs- und Karrierechancen. Die Orga- nisation fordert, dass Mädchen und Frauen in ihrer Sexualität und ihren Lebensent- scheidungen selbstbestimmt und frei von Rollenzwängen handeln und am öffentli- chen Leben teilnehmen können. Dafür sol- len die patriarchalen Strukturen überwun- den werden. Grundlage für die Arbeit von Terre des Femmes bildet unter anderem die Allge- meine Erklärung der Menschenrechte von 1948 (https://www.ohchr.org/en/human- rights/universal-declaration/translations/ german-deutsch?LangID = ger) sowie die Europaratskonvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Terre des Femmes bezeichnet sich selbst als politisch unabhängig und setzt sich in ihrer Arbeit für eine internationale Vernetzung ein. Darüber hinaus sind die umfassende Öffentlichkeitsarbeit durch gezielte Aktio- nen und Kampagnen ebenso wie die Ver- mittlung von Informationen zum Thema Frauenrechte Teil des Engagements. Kernbereiche der Arbeit Die Arbeit von Terre des Femmes gliedert sich in mehrere wichtige Themenfelder, die verschiedene Aktionen beinhalten. Zu jedem Bereich werden Informationsquellen zur Verfügung gestellt sowie Hilfsangebote und Anlaufstellen aufgeführt. ▪ Stärkung der sexuellen und repro- duktiven Rechte: Terre des Femmes setzt sich für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ein und formuliert klare Forderungen in Positionspapieren, wie z. B. die Streichung des § 218 und § 219 aus dem Strafgesetzbuch. ▪ Bekämpfung weiblicher Genitalver- stümmelung: In Projekten wie „Join our CHAIN“ entwickelt die Organisati- on mit anderen Partnerorganisationen Handlungsempfehlungen zum Umgang mit und präventive Maßnah- men gegen Genitalverstümmelungen sowie Früh- und Zwangsheirat. ▪ Verhinderung häuslicher und sexualisierter Gewalt: Kampagnen wie „#jedeVierte“ oder „#UNHATEWOMEN“ sollen die Gesellschaft für die Thematik sensibilisieren. Darüber hinaus wird unter anderem der Ausbau von Frauenhausplätzen und Zufluchtswoh- nungen für von Gewalt betroffene Frauen und Kinder gefordert. ▪ Sensibilisierung für Zwangsheirat und Gewalt im Namen der Ehre: Präventionsarbeit an Schulen soll Zwangs- und Frühheiraten verhindern. Orientiert an der „Forced Marriage INFO In Deutschland konnte Terre des Femmes durch ihre Arbeit bereits einige Gesetzesänderungen errei- chen, unter anderem die Anerken- nung von Vergewaltigung in der Ehe als Straftat (1997), weibliche Genitalverstümmelung als Straftatbe- stand und das Gesetz zur Bekämp- fung von Kinderehen durch Festset- zung des Mindestheiratsalters auf 18 Jahre ohne Ausnahme (2017). Unit“ (FMU) in Großbritannien werden zentrale Anlauf- und Meldestellen gefordert. ▪ Gegen Frauenhandel und Prostituti- on: Aufklärung über das „System Prostitution“ und Forderung nach Mindeststandards für Arbeitsbedin- gungen von Prostituierten. ▪ Förderung Integration von Migran- tinnen: Terre des Femmes bietet Schulungen für Hilfskräfte und arbeitet in verschiedenen Projekten an Verbesserungen der nachhaltigen Aufnahmestrukturen geflüchteter Frauen und Mädchen. „Alle Blicke auf Frauenrechte“ Mit verschiedenen Aktionen will die spenden- basierte Organisation Terre des Femmes auf Missstände und Frauenrechtsverletzungen aufmerksam machen. Hierzu erstellt sie Pe- titionen, organisiert Kundgebungen und Kampagnen und veranstaltet Demonstra- tionen. Um auf Frauenfeindlichkeit im Alltag in der Werbung aufmerksam zu machen, wählt eine Jury jährlich den Negativ-Preis „Zorni- ger Kaktus“ für die sexistischste Werbung. Im Kalender für Frauenrechte informiert die Organisation über wichtige Tage für die Rechte von Mädchen und Frauen, wie z. B. der Internationale Tag gegen Menschen- handel am 30. Juli oder der Weltmädchen- tag am 11. Oktober. Seit mehr als 20 Jahren dient der 25. November als internationaler Hebamme 2025; 38: 125–126 1900; 38: 125–126 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 125
Thieme ist für Sie da Service | Projekt Tag „NEIN zu Gewalt an Frauen“ dazu, Be- troffenen eine Stimme zu geben und mit konkreten Forderungen an Politiker*innen heranzutreten. Hierzu fand 2024 eine Fah- nenaktion „#WennDieGewaltNichtAufhört – Partnerschaftsgewalt endlich wirksam beenden“ statt. Alle wörtlichen Zitate und Inhalte des Pro- jektberichts sind der Website entnommen: https://frauenrechte.de. Maureen Kuhn und Marlene Koch Bibliografie Hebamme 2025; 38: 125–126 DOI 10.1055/a-2473-2953 ISSN 0932-8122 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse- Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany Einfach zu Hause. www.thieme.com Als Startseite empfohlen. KONTAKT Terre des Femmes – Menschenrechte für die Frau e.V. Brunnenstraße 128, 13355 Berlin info@frauenrechte.de https://frauenrechte.de Das ganze Programm. shop.thieme.de Und ab ins Körbchen. cme.thieme.de Punkten und verwalten. Anmelden und nichts mehr verpassen. www.thieme.de/newsletter Für alle Fälle. kundenservice.thieme.de 126 Hebamme 2025; 38: 125–126 1900; 38: 125–126 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Forum der Industrie Regenerative Therapieansätze Zukunftsgerichtete Stammzelltherapien aus Nabelschnurblut und -gewebe Nabelschnurblut und -gewebe während der Geburt zu gewinnen, ist für Mutter und Kind schmerzfrei und die enthalte- nen Zellen haben großes Potenzial bei regenerativen Therapieansätzen. Prof. Holger Stepan, Leipzig, und Univ.-Prof. Ursula Felderhoff-Müser, Essen, nahmen zusammen mit Vita 34, der führenden Stammzellenbank Europas, den Welt- Nabelschnurblut-Tag am 15. November zum Anlass, um über die Gewinnung von Nabelschnurblut und Nabelschnurgewe- be und deren therapeutisches Potenzial aufzuklären. Um Nabelschnurblut und Nabelschnurgewe- be für eine evtl. spätere Therapie zur Verfü- gung zu haben, muss man es während der Geburt gewinnen. Dies ist für Mutter und Kind schmerzfrei. In den allermeisten Fällen werden aber die Gewebe und das darin ent- haltene kindliche Blut nach der Geburt ver- worfen. Das liege an mangelnder Aufklärung und Information der werdenden Eltern: „Die Information über die Möglichkeit der Einla- gerung von Nabelschnurblut sollte mög- lichst früh in der Schwangerschaft erfolgen. Das ist eine wichtige Aufgabe für die nieder- gelassenen Gynäkologen, aber auch vor allem für die Hebammen“, so Prof. Stepan. Viele Schwangere und werdende Eltern wür- den sich über soziale Netzwerke informieren und dort auch ein breites Angebot finden. Die fachkundige direkte Informa tion durch Gynäkologen und Hebammen in der Ge- burtsvorbereitung sei aber ein essenzieller Baustein, um auf die Möglichkeit der Einla- gerung hinzuweisen und über die Chancen aufzuklären. Seiner Auffassung nach gehört die Informa tion und Aufklärung auch in die S3-Leitlinie der Geburtsbetreuung. Die Ge- winnung selbst ist für Mutter und Kind schmerz- und risikofrei. Blut und Gewebe aus der Nabelschnur lassen sich sowohl beim vorzeitigen Abnabeln nach Kaiserschnitt als auch beim von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG) und der Weltgesundheitsorganisa- ▶Abb. 1 Aus Nabelschnurblut lassen sich Stammzellen gewinnen, die in rund 80 verschiedenen Indikationen therapeuti- schen Nutzen haben. Aus dem Gewebe der Nabelschnur gewinnt man auch sog. mesenchymale Stammzellen mit Potenzial für weitere Therapieansätze. (Quelle: Vita 34, Leipzig) tion empfohlenen verzögerten Abnabeln nach wenigen Minuten gewinnen. Ein verzö- gertes Abnabeln nach der Geburt und Na- belblutspende schließen sich nicht gegen- seitig aus [1]. „In den nächsten Jahren sollte die Gewinnung von Nabelschnurblut noch mehr in die Breite gehen und mehr oder weniger selbstverständlich bzw. normal wer- den. Bei der gegenwärtigen Datenlage und v. a. aufgrund des dynamischen medizini- schen Fortschritts auf diesem Gebiet werden sich noch weitere zukunftsreiche Perspekti- ven eröffnen“, so Prof. Stepan weiter. Breiter klinischer Einsatz und neue Indikationsfelder Eingelagerte Nabelschnurblute werden in mehr als 80 unterschiedlichen Indikations- gebieten eingesetzt [2, 3]. Im Bereich des Knochenmark- und Immunsystemaufbaus kamen Blute v. a. bei Leukämie und anderen Bluterkrankungen zum Einsatz, aber auch nach der Behandlung von Immundefekten, von soliden Tumoren oder von Stoffwechsel- erkrankungen [2, 3]. Neben den Stammzel- len aus Nabelschnurblut sind auch sog. me- senchymale Stammzellen aus Nabelschnur- gewebe von großem Interesse. Diese Zellen sind in Nabelschnurgewebe reichlich vor- handen und können leicht daraus gewonnen werden (▶Abb. 1). Prof. Felderhoff-Müser stellte Forschungsergebnisse zum Einsatz bei neonatalem Schlaganfall und Asphyxie vor. Im Tiermodell zeigten sich bereits posi- tive Effekte auf die geschädigten Hirnregio- nen und auf die kognitiven Funktionen [4–7]. Erste vielversprechende klinische Phase-I- Studien zum kombinierten Einsatz dieser Zellen bei Neugeborenen mit hypoxisch- ischämischer Enzephalopathie nach Asphy- xie fanden bereits statt [8–10]. Um diese Studien allerdings in die reguläre Behand- lung zu übertragen, seien noch einige Her- ausforderungen zu bewältigen und weitere Forschung nötig, so Felderhoff-Müser. Nach einer Pressemeldung der VITA 34 | FamiCord AG, Leipzig Literatur [1] Deutsches Ärzteblatt. Nabelschnurblutspenden in Deutschland rückläufig, Relevanz könnte zunehmen. 5. Januar 2024. Im Internet: https://www. aerzteblatt.de/nachrichten/147624/ Nabelschnurblutspenden-in-Deutschland- ruecklaeufig-Relevanz-koennte- zunehmen?utm_source = dlvr.it&utm_ medium = twitter; Stand 28.01.2025 [2] Mayani H et al. Bone Marrow Transplant 2020; 55: 48–61 [3] Dessels C et al. Stem Cells Transl Med 2018; 7: 643–650 [4] Reinboth BS et al. Exp Neurol 2016; 283: 264–275 [5] Herz J et al. Brain Behav Immun 2018; 70: 118–130 [6] Kaminski N et al. Front Cell Neurosci 2020; 14: 601176 [7] Labusek N et al. J Neuroinflamm 2023; 20: 280 [8] Cotten CM et al. J Pediatr 2014; 164: 973–979.e1 [9] Tsuji M et al. Sci Rep 2020; 10: 4603 [10] Cotten CM et al. Stem Cells Transl Med 2023; 12: 355–364 Zukunftsgerichtete Stammzelltherapien aus Nabelschnurblut … Hebamme 2025; 38: 127 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 127
Vorschau | Impressum Impressum Im nächsten Heft CNE Schwerpunkt: Ernährungsberatung Geplante Themen sind u. a.: ▪ Vegane und vegetarische Beikost ▪ Ernährungsberatung von Schwangeren und Eltern ▪ Grundlagen der Ernährung in der Schwangerschaft Die nächste Ausgabe erscheint im Juni 2025 HEBAMME 3/2025 hat das Schwerpunktthema: Ernährungsberatung (Quelle: © M. Bürger / Thieme) HEBAMME Fortbildungszeitschrift für Hebammen Heft 2 | April 2025 | 38. Jahrgang Eigentümer und Copyright Wenn nicht anders angegeben: © 2025. Thieme. All rights reserved. Die Zeitschrift Hebamme ist Eigentum von Thieme. Georg Thieme Verlag KG Oswald-Hesse-Str. 50, 70469 Stuttgart, Germany ISSN 0932-8122 Herausgeberinnen Anna Brodersen, freiberufliche Hebamme, B.Sc., Eichenau Johanna Hünig, Hebamme, M.Sc., wissenschaftliche Mitarbeiterin ZHAW Gesundheit, Institut für Hebammenwissenschaft und reproduktive Gesundheit, Winterthur, Schweiz Katharina Kerlen-Petri, freiberufliche Hebamme, freie Autorin, Berlin Anne-Katrin Klotzsch, Hebamme in Berlin, B.Sc. Interna- tional Midwifery Studies Dr. rer. medic. Astrid Krahl, Dipl. Pflegewirtin (FH), Hebamme, Studiengangleitung M.Sc. Hebamme, ZHAW Gesundheit, Institut für Hebammen, Win- terthur, Schweiz Prof. Dr. rer. medic. Ute Lange, Hebamme, Professorin für Hebammenwissenschaft, Hochschule für Gesund- heit Bochum Die Herausgeber*innen sind nicht verantwortlich für in der Zeitschrift enthaltene Anzeigen und Beilagen. Projektmanagement Manuela Linder (V.i.S.d.P.), Sophia Laquai Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart E-Mail: hebamme@thieme.de Redaktion Frank Aschoff, Margit Gehrig, Anja Stamm Mitarbeiterinnen dieser Ausgabe Marlene Koch, Maureen Kuhn Umsatzsteuer-ID DE147638607 Handelsregister Sitz und Handelsregister Stuttgart, Amtsgericht Stuttgart HRA 3499, Verkehrsnummer 16427 Produktion Franziska Billmann Anzeigenleitung Petra Beutler Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 37 gültig ab 1. Oktober 2024 Preise und allgemeine Informationen Persönlicher Jahresbezugspreis 110,00 €, Preise für Studierende/Schüler*innen (Nachweis) 66,00 €, Insti- tutioneller Jahresbezugspreis*: 213,00 €. (Der institu- tionelle Jahresbezugspreis inkludiert den Online-Zugriff für 1 Standort. Weitere Informationen finden Sie unter https://lp.thieme.de/fachzeitschriften/ijbp/). Jährliche Bezugspreise in €, unverbindlich empfohlene Preise inkl. der gesetzl. MwSt und inkl. der Versand- und Handlingkosten. Preisänderungen vorbehalten. Preis für ein Einzelheft 31,00 €. Nach einer Mindestlaufzeit von 12 Monaten verlängert sich das persönliche Abon- nement unbefristet und kann jederzeit mit Wirksam- keit zum Monatsende des folgenden Monats gekündi- gt werden. Für institutionelle Abonnements gilt eine Kündigungsfrist von 3 Monaten zum Kalenderjahres- ende. Im Ausland verstehen sich die Preise und Ver- sandkosten exkl. der gesetzlichen MwSt. Die HEBAMME erscheint mit 6 Ausgaben pro Jahr. Für Abonnenten ist der Zugang zum Online-Archiv in den Thieme EJournals im Preis enthalten: www.thieme connect.de/ products → Zeitschriften → HEBAMME Für unverlangt eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redak- tion wieder. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind für die Dauer des Urheberrechts geschützt. Jede Verwertung außer- halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset- zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Für Preisangaben sowie Angaben über Diagnose und Therapie, insbesondere über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Ge- währ übernommen werden. Dosierungen, Indikatio- nen, Applikationsformen und mögliche Kontraindika- tionen von Pharmaka sollten in jedem Fall mit Hilfe des Beipackzettels der verwendeten Präparate und gegebenenfalls Konsultation von Spezialist*innen überprüft werden, um Abweichungen gegenüber der Angabe in dieser Zeitschrift festzustellen. Eine solche Prüfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Präparaten oder solchen, die neu auf dem Markt sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr. Bitte teilen Sie der Redaktion etwaig aufge- fallene Ungenauigkeiten mit. Datenschutz Wo datenschutzrechtlich erforderlich, wurden die Na- men und weitere Daten von Personen redaktionell ver- ändert (Tarnnamen). Dies ist grundsätzlich der Fall bei Patient*innen, ihren Angehörigen und Freund*innen, z. T. auch bei weiteren Personen, die z.B. in die Behand- lung von Patient*innen eingebunden sind. 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Souverän jede Notfallsituation meistern Geburtshilfliche Notfälle treten oft überraschend und unvorhergesehen ein. Sie erfordern rasches Handeln und klare Entscheidungen. Dieses Kompendium hilft Hebammen und Geburtshelfern, in geburtshilflichen Notfällen besonnen und kompetent zu handeln. • Grundlagenwissen für richtiges, souveränes Handeln • konkrete Handlungsanweisungen • alle wichtigen mütterlichen und kindlichen Notfälle • mehrere Kurzvideos zeigen wichtige Handgriffe bei Handlungsabläufen • die wichtigsten Fakten auf übersichtlichen Notfallkarten zum Download • umfassende Behandlung des Geburtsstillstandes mit innovativen Ideen Auch als E-Book ISBN 978 3 13 244692 2 . 9 9 4 3 A R H , t r a g t t u t S r e t s i g e r s l e d n a H d n u - z t i S , G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . t e n h c e r e b r e t i e w n e t s o k d n a s r e V shop.thieme.de n e d n e l l i a f n a e d n e d r e w ] D l [ b a h r e ß u a n e g n u r e f e i L i e B . n e t l a h e b r o v r e m ü t r r I d n u n e g n u r e d n ä s i e r P
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