Praxis | Interview Thieme sonst dazwischen die Gelenke Welche anderen Prinzipien finden sich sonst noch rasse- und speziesüber- greifend? Fuß und Femur arbeiten immer parallel. Und sind „steif“, könnten die Knochen nicht parallel verlaufen. Auch Unterarm und Skapula arbeiten parallel. Wenn die Skapula senkrecht ist auch der Unterarm senkrecht. Das ist ein Kon- struktionsprinzip Säugetieren. Außer beim Menschen. Deswegen darf man nie vom Menschen auf Säugetiere schließen! Wir haben sogar Faultiere untersucht, weil ich mir gedacht habe, wenn man hängt, müsste es anders sein. Aber es ist genau gleich! Wenn man den Film umdreht, sieht es aus wie bei der Katze. von ist, Was war neben dem Faultier das exo- tischste Tier, das Sie untersucht haben? Wir haben von Mäusen bis hin zu Elefan- ten fast alles untersucht. Die Elefanten natürlich nicht son- dern mit äußeren Markern. Schlicht alles: Pfeifhasen, Beuteltiere, Listaffen, Kapuzineraffen, Lemuren, alles mögliche. Und es ist überall das gleiche Prinzip. röntgentechnisch, Und wie sind Sie dann letztlich „auf den Hund gekommen“? 2004 wurde ich eingeladen, um bei der Zuchtverantwortlichentagung des VDH über die Fortbewegung beim Hund zu sprechen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ja schon seit fast 20 Jahren Säuge- tiere untersucht und dachte über den Hund sei das Wesentliche bekannt und erforscht, sah in die tiermedizinische Literatur und fand wenig bis nichts. Ich konnte bei diesem Vortrag daher auf viele Fragen keine Antworten geben. Also hat mein Nicht-Wissen bei diesem Vortrag zu einer der ersten Studien zum Hund geführt. „Wir wollten verstehen, wie ein Hund sich bewegt.“ Einer Ihrer meist zitierten Sätze ist: „Wo das Wissen endet, beginnen die Meinungen.“ Richtig. Und unsere Aufgabe als Wissen- schaftler ist es, die Meinungen zurückzu- drängen – durch immer mehr Wissen. Je mehr wir wissen, umso besser kriegen wir die Meinungen in den Griff. Das ist heute umso wichtiger, da jeder meint, z. B. im Internet, seine Meinung als Wissen kund- tun zu können. Ich bin Wissenschaftler. Ich habe nur eine Aufgabe, und die ist es, Wissen zu schaffen. Was raten Sie Hundehaltern, die Sie z. B. nach dem richtigen Geschirr für ihren Hund fragen? Beim Geschirr gebe ich keinen Rat, da für mich noch keine wissenschaftlich tiefgründige Studie vorliegt. Aber das Thema kann man zumindest wissen- schaftlich fragend angehen. Ich zeige gerne einen Röntgenfilm, bei dem man sieht, dass die Skapularotation und -translation nach vorne bis in den Bereich des 4. und 5. Halswirbels reicht. Das Ganze findet also im unteren Hals- bereich statt. Und die Skapula dreht zurück bis zum 6. Brustwirbel. Das heißt: Wir wissen, in welchem Bereich die Skapula rotiert – sie rotiert nicht auf dem Thorax, sondern auf dem vor- deren Thorax und unteren Hals. Also weiß ich, dass ich kein Geschirr nehmen darf, welches die zervikale Exkursion der Skapula einschränkt. Das ist Wissen und keine Meinung. Und mit diesem Wissen kann jeder selbst entscheiden, welches Geschirr er anlegt. Und was sagen Sie zum immer beliebter werdenden Agility? Für welche Hunde ist es geeignet? Momentan schreibt Frau Söhnel ihre Doktorarbeit zum Thema Agility bei mir. Diese ist noch nicht abgeschlossen. Was man jedoch bereits sagen kann ist, dass die Belastung, die bei der Landung auf- tritt, für einen Hund relativ ungefährlich ist. Je schwerer allerdings ein Hund ist, desto weniger solche Sachen wie Agility eingesetzt werden. Das ist einfache Physik. je großvolumiger und massiger ein Hund wird, desto relativ schwächer wird er, denn die Kraft ist proportional zur phy- siologischen Querschnittsfläche des Mus- kels, der 2. Potenz, aber das Volumen in der 3. Potenz. Ein Kaliber von Hund ist also relativ schwach. Wohingegen ein Chihu- ahua – auf sich selbst bezogen – vor Je größer, entwickelt sollte also sich er für in Kraft strotzt, mit seinem geringen Volu- men, der geringen Masse und der relativ großen Muskelfläche. Nicht anzuraten ist auch, mit einem untrainierten Hund, der bisher nur auf der Straße unterwegs war, auf den Hundesportplatz zu gehen. Die größte Gefahr sind untrainierter Hund und unerfahrener Halter. Man sollte sich langsam hochtrainieren. Sie haben selbst einen Hund. Wie halten Sie ihn in Bewegung? Meine Hündin ist eine absolute Freiläufe- rin. Sie ist schnell, kräftig und gut im Gelände. Das ist das Natürlichste und Schönste. Ich liebe es, wenn Sie in der Luft fliegt, Rücken durchgedrückt, kurzer Bodenkontakt. Mein Hund braucht kein Agility. Im Freilauf und im Spiel mit ande- ren Hunden hat sie die Vielfalt an Bewe- gungen, die für die Gelenkgesundheit so wichtig sind. Schlimm ist es, wenn ein Hund immer nur an der Leine geht – das Gleiche gilt übrigens auch für das Fahrrad. Dem Hund ist es egal, ob er langsam läuft oder im schnelleren Trab. Solange er dabei immer nur gleichförmige Bewegungen ausführt und dies immer auf dem gleichen geraden Untergrund, ist das nicht ausrei- chend. Ein Hund muss ins Unebene, er muss vielfältige Bewegungen ausführen können. Wichtig ist dabei nicht unbedingt die Intensität, sondern die Häufigkeit von Bewegungen. Was möchten Sie der Zeitschrift und den Leserinnen und Lesern der „Hands on“ gerne mit auf den Weg geben? Mit Doris Börner und Andreas Zohmann haben Sie eine sehr gute Wahl der Heraus- geber getroffen. Ich kenne sie persönlich, habe schon mit ihnen zusammengearbei- tet und halte sehr viel von beiden. Die Leser der Zeitschrift, also alle, die Tiere physiotherapeutisch, chiropraktisch und osteopathisch behandeln, haben vielfach sicherlich mein Buch gelesen, und wissen, dass die Wissenschaft der ist. Anschauung, Praxis und Wissenschaft müssen sich ergänzen. Ein guter Thera- peut braucht die richtige Landkarte, um sich zurechtzufinden. zum Verständnis Schlüssel Die Fragen stellte Dr. Sandra Schmidt. 8 Wie läuft der … Hands on 2019; 1: 6–8