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Geriatrie up2date 1 Januar 2021 Seite 1–76 3. Jahrgang CME-Fortbildung ▪ Der alte Patient mit akutem Koronarsyndrom ▪ Dekubitus: eine Herausforderung ▪ Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in Deutschland: Umsetzung und Entwicklungsbedarfe CNE Fortbildung ▪ Der schwerhörige ältere Patient – (k)eine Dauerbaustelle im Pflegealltag?! SOP / Arbeitsablauf ▪ Somatische Diagnostik bei Delir
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Geriatrie up2date 1 · 2021 Januar 2021 · 3. Jahrgang · Seite 1–76 2 Studienreferate 7 SOP Somatische Diagnostik bei Delir 12 Impressum 2 Herz und Kreislauf 15 Der alte Patient mit akutem Koronarsyndrom. Konservative oder interventionelle Therapie? Luise Gaede, Helge Möllmann 9 Dermatologie, Augenheilkunde, HNO 27 Dekubitus: eine Herausforderung Adam Stepniewski, Wolfgang Lehmann, Dominik Saul, Gunther Felmerer 10 Varia 11 CNE 47 Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in Deutschland Norbert Lübke 63 Der schwerhörige ältere Patient – (k)eine Dauerbaustelle im Pflegealltag?! Mechthild Decker-Maruska Covergestaltung: © Thieme Bildnachweis Cover: © Thieme / Michal Rössler Die Übersicht über alle Rubriken Ihrer up2date erhalten Sie unter: https://eref.thieme.de/87JI5
Studienreferate Statine: kein Demenzrisiko und effektiv auch bei Älteren Orkaby AR et al. Association of Statin Use With All-Cause and Cardiovascular Mortality in US Vet- erans 75 Years and Older. JAMA 2020; 324: 68–78 Zhou Z et al. Association of Statin Use With Disability Free Survival and Cardiovascular Disease Among Healthy Older Adults. J Am Coll Cardiol 2020; 76: 17–27 Statine sind unbestritten ein Meilen- stein der kardiovaskulären Präventiv- medizin. Vor dem Hintergrund altern- der Bevölkerungen in den westlichen Industriestaaten und einer zunehmen- den Prävalenz atherosklerotischer Ge- fäßkrankheiten stellt sich die Frage, in- wieweit die Präparate auch bei Per- sonen ohne manifeste Gefäßerkran- kung eingesetzt werden könnten. Zwei retrospektive Studien deuten auf positive Effekte bei älteren Personen hin. Die Datenlage zu Effekten von Statinen bei älteren Menschen ist spärlich, da bisher keine Ergebnisse randomisierter Unter- suchungen vorliegen, die auf diese Ziel- gruppe zugeschnitten sind, und in vielen randomisierten Studien zu Statinen ältere Personen ausgeschlossen wurden. Post- hoc- und Subgruppenanalysen deuten auf positive Effekte der Substanzen mit einer Prognoseverbesserung hin. Allerdings gibt es auch Bedenken: Ältere Personen könn- ten empfindlicher für Nebenwirkungen der Statine sein und der Benefit der Sub- stanzen könnte aufgrund der geringeren verbleibenden Lebensspanne hinter den unerwünschten Wirkungen zurückbleiben. Mortalitätsvorteil bei ≥ 75-jährigen Orkaby et al. analysierten retrospektiv Ge- sundheitsdaten von mehr als 300 000 Vete- ranen ≥ 75 Jahren des US-amerikanischen Militärdienstes aus den Jahren 2002– 2016. Diese wurden über Datenbanken der Veterans Health Administration abge- rufen und mit Daten der US-amerikani- schen Medicare- und Medicaid-Services er- gänzt. Eingeschlossen wurden Veteranen, HO O O C H5C2 H3C CH3 O O CH3 F H3C Simvastatin HO COOH OH CH3 N CH3 HO H3C COOH O S CoA HMG-CoA Fluvastatin Bei älteren Patienten scheinen Statine eine positive Wirkung zu haben. Ergebnisse aus laufen- den Studien zu dem Thema werden noch erwartet. Quelle: Graefe K. Hemmstoffe der Choles- terolsynthese (Statine). In: Graefe K, Lutz W, Bönisch H, Hrsg. Duale Reihe Pharmakologie und Toxikologie. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2016: 424–426. doi:10.1055/b-003-129299 die zunächst kein Statin einnahmen und bei denen keine atherosklerotische kardio- vaskuläre Erkrankung bekannt war. 17,5 % der Studienkohorte erhielten innerhalb des Beobachtungszeitraums die Erstver- ordnung eines Statins. Das mittlere Alter lag in der Kohorte bei 81 Jahren und 97 % waren Männer. In der Mehrzahl der Fälle wurde Simvastatin rezeptiert (85%), ge- folgt von Lovastatin (11%), Pravastatin (2,5%) und Fluvastatin (1,2%). Todesfällen kardiovaskulären Innerhalb der mittleren Beobachtungszeit von knapp 7 Jahren kam es bei Personen mit bzw. ohne Statineinnahme zu 23 bzw. 26 pro 1000 Personenjahre, und die Gesamtmor- talität lag bei 79 bzw. 98 Todesfällen pro 1000 Personenjahre. In adjustierten Ver- gleichen der beiden Studiengruppen mit- tels Propensity Score Overlap Weighting ergab sich ein signifikant niedrigeres Ster- berisiko aus kardiovaskulärer bzw. all- gemeiner Ursache (HR 0,8 bzw. HR 0,75) bei Personen mit Statineinnahme. Die po- sitiven Effekte der Statineinnahme waren bereits nach 2 Jahren erkennbar. Die Er- gebnisse waren außerdem konsistent für Personen ≥ 90 Jahre und auch für Personen mit Demenz. Weiterhin wurde bei Per- sonen mit Statineinnahme eine niedrigere kardiovaskuläre Ereignisrate verzeichnet (HR 0,9). Der engere Zusammenhang der Statineinnahme mit der verringerten Ge- samtmortalität als mit der verringerten kardiovaskulären Ereignisrate könnte aus pleiotropen Effekten der Statine resultie- ren, so die Autoren. Weniger körperliche Behinderungen unter Statinen waren insgesamt Die Post-hoc-Analyse von Zhou et al. ba- siert auf Daten der prospektiven, randomi- sierten ASPREE-Studie (ASPREE: Aspirin in Reducing Events in the Elderly), in der sich für ältere Personen ein erhöhtes Sterbe- risiko unter der primärprophylaktischen Einnahme von ASS ergeben hatte. Einge- schlossen knapp 20 000 Personen aus der Normalbevölke- rung Australiens und der USA. Im Median lag das Alter in der Studienkohorte bei 74 Jahren, und 56% der Studienteilnehmer waren Frauen. In die aktuellen Analysen gingen nur Teilnehmerinnen und Teilneh- mer ≥ 70 Jahren ein (n = 18 096). 31% der Studienteilnehmer nahmen zu Beginn des Beobachtungszeitraums ein Statin ein. Präspezifizierter primärer Endpunkt war das Überleben frei von Behinderungen, sich ergebend aus der Mortalitätsrate so- wie der Prävalenz von Demenz und dauer- haften körperlichen Einschränkungen. Innerhalb der medianen Beobachtungszeit von 4,7 Jahren war die Einnahme von Stati- nen nicht mit einer Verbesserung des be- hinderungsfreien Überlebens assoziiert. Bei Personen mit bzw. ohne Einnahme von Statinen wurden 21 bzw. 22 primäre Endpunktereignisse pro 1000 Personen- jahre verzeichnet, und die adjustierten Analysen ergaben keinen signifikanten Un- terschied zwischen den beiden Studien- gruppen. Das Risiko für körperliche Behin- 2 Geriatrie up2date 2021; 3 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Studienreferate derungen war hingegen deutlich reduziert (HR 0,75) und es kam außerdem seltener zu kardiovaskulären Ereignissen (HR für MACE 0,68; HR für kardiovaskuläre Todes- fälle 0,71; HR für Myokardinfarkte 0,56; HR für Schlaganfälle 0,75). Keine Assozia- tionen ergaben sich zwischen einer Statin- einnahme und dem Demenzrisiko. FAZIT Statine scheinen generell auch bei älteren Personen positive Effekte zu haben. Aus den beiden vorgestellten Analysen sollten jedoch noch keine klinischen Konsequenzen abgeleitet werden. Die Ergebnisse der aktuell laufenden prospektiven STAREE- und der PREVENTABLE-Studie, die beide auf den Einsatz von Statinen in älte- ren Bevölkerungsgruppen fokussie- ren, werden mit Spannung erwartet, so die Autoren. Dr. Katharina Franke, Darmstadt Therapie der überaktiven Blase bei Männern im Vergleich Burgio KL et al. Effectiveness of Combined Behavioral and Drug Therapy for Overactive Bladder Symptoms in Men: A Randomized Clinical Trial. JAMA Intern Med 2020. doi:10.1001/jamainternmed.2019.6398 Verhaltenstherapie wie auch Medika- mente sind bei Symptomen einer über- aktiven Blase bei Männern wirksam, wenn auch nicht kurativ. Eine drei- armige Studie verglich jetzt die Thera- pieoptionen allein und in Kombination, um die günstigste Strategie der Thera- pie zu identifizieren. Die randomisierte klinische Studie von Ka- thryn L. Burgio von der Abteilung für Ge- rontologie, Geriatrie und Palliativmedizin der Universität von Alabama in Birming- ham (USA) und Kollegen wurde zwischen 2010 und 2015 an 3 Ambulanzen durch- geführt. Die Teilnehmer waren Männer in einem Alter von 40 Jahren und älter mit imperativem Harndrang und 9 oder mehr Miktionen in 24 Stunden. Sie wurden ran- domisiert in eine Gruppe mit Verhaltens- therapie (Miktionstraining mit Erlernen von Strategien zum Unterdrücken von Harndrang und Miktion und Beckenbo- dentraining), eine Gruppe mit medika- mentöser Therapie mit retardiertem Tolte- rodin (4 mg) und Tamsulosin (0,4 mg) oder einer kombinierten Therapie mit bei- den Behandlungsformen. Nach 6 Wochen erhielten die Patienten aller Studiengrup- pen für weitere 6 Wochen die Kombina- tionstherapie. Die 204 Patienten im mittleren Alter von 64,1 Jahren führten zu Beginn und nach je- der 6-wöchigen Periode über 7 Tage ein Miktionstagebuch, anhand dessen die Miktionshäufigkeit (primärer Endpunkt) und andere Symptome wie Harndrang, Harninkontinenz und Nykturie beurteilt wurden. 183 Männer schlossen die Studie plangemäß ab. Ergebnisse nach 6 Wochen Die randomisierte klinische Studie von Ka- thryn L. Burgio von der Abteilung für Ge- rontologie, Geriatrie und Palliativmedizin der Universität von Alabama in Birming- ham (USA) und Kollegen wurde zwischen 2010 und 2015 an 3 Ambulanzen durch- geführt. Die Teilnehmer waren Männer in einem Alter von 40 Jahren und älter mit imperativem Harndrang und 9 oder mehr Miktionen in 24 Stunden. Sie wurden ran- domisiert in eine Gruppe mit Verhaltens- therapie (Miktionstraining mit Erlernen von Strategien zum Unterdrücken von Harndrang und Miktion und Beckenbo- dentraining), eine Gruppe mit medika- mentöser Therapie mit retardiertem Tolte- rodin (4 mg) und Tamsulosin (0,4 mg) oder einer kombinierten Therapie mit bei- den Behandlungsformen. Nach 6 Wochen erhielten die Patienten aller Studiengrup- pen für weitere 6 Wochen die Kombina- tionstherapie. Die 204 Patienten im mittleren Alter von 64,1 Jahren führten zu Beginn und nach je- der 6-wöchigen Periode über 7 Tage ein Miktionstagebuch, anhand dessen die Miktionshäufigkeit (primärer Endpunkt) und andere Symptome wie Harndrang, Harninkontinenz und Nykturie beurteilt wurden. 183 Männer schlossen die Studie plangemäß ab. Ergebnisse nach 12 Wochen Zum 12-Wochen-Zeitpunkt war die Ver- besserung der Miktionszahl pro 24 Stun- den im Vergleich zum Ausgangsbefund weiter in der Kombinationsgruppe am höchsten (von im Mittel 11,8 auf 8,0 Mik- tionen, − 31,6 %), aber nicht signifikant un- terschiedlich zu den anderen beiden Grup- pen. Bei Verhaltenstraining und nachfol- gender Kombinationstherapie sank die mittlere Zahl der Blasenentleerungen von 11,7 auf 8,0 (− 31,6%; p < 0,001), bei me- dikamentöser Therapie und anschließen- der Kombinationstherapie von 11,8 auf 8,6 (− 27,1%; p < 0,001). Die Inkontinenz- episoden reduzierten sich in allen 3 Grup- pen vergleichbar deutlich um über 80%. FAZIT Die Ergebnisse rechtfertigen laut den Autoren den Beginn der Therapie mit einem Verhaltenstraining, da dieses schnell wirkt, keine Nebenwirkungen hat und in anderen Studien auch schon eine hohe Adhärenz gezeigt hat. Bei nicht zufriedenstellendem Ergebnis bietet sich dann die Kombi- nation mit Medikamenten an. Die kombinierte Pharmakotherapie gleich von Beginn an war dem Ver- haltenstraining nicht überlegen, ging aber bei einem Drittel der Patienten mit Nebenwirkungen einher. Friederike Klein, München Vorteile von Dapagliflozin bestehen auch bei älteren Patienten Cahn A et al. Efficacy and Safety of Dapagliflozin in the Elderly: Analysis From the DECLARE-TIMI 58 Study. Diabetes Care 2020; 43: 468–475. doi:10.2337/dc19-1476 Der SGLT2-Inhibitor Dapagliflozin re- duziert bei Patienten mit einem Typ-2- Diabetes schwere Herzinsuffizienzen und kardiorenale Komplikationen. Der metabolische Nutzen, das minimal er- höhte Hypoglykämierisiko und die ein- fache, orale Applikation sind Argu- mente für die Verordnung auch bei Geriatrie up2date 2021; 3 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 3
Studienreferate älteren Betroffenen. Wegen der be- grenzten therapeutischen Erfahrun- gen bei > 75-Jährigen empfehlen nicht alle Fachleute die Substanz für diese fragile Gruppe, so die Autoren. Die metabolische Situation verbesserte sich ebenfalls in allen Altersgruppen. Trotz der geringeren Ausgangswerte sank das HbA1c auch bei den Senioren und das Kör- pergewicht nahm anhaltend ab. Rocuronium bei älteren Patienten: längere Anschlagszeit und längere Wirkdauer Begleiterkrankungen, Funktionsverlust, Gebrechlichkeit, kognitive Beeinträchti- gungen und Polypharmazie erschweren die therapeutischen Möglichkeiten bei äl- teren und hochbetagten Patienten mit Typ-2-Diabetes. In der Subanalyse der DE- CLARE-TIMI-Studie ging es nun um die Ef- fektivität und Sicherheit von Dapagliflozin bei Erkrankten < 65 Jahre (n = 9253), ≥ 65– 75 (n = 6811) und ≥ 75 Jahre (n = 1096). Endpunkte waren die Kombinationen aus kardiovaskulärem Tod (CVD) oder hospita- lisationspflichtiger Herzinsuffizienz (HHF) und schweren kardiovaskulären Ereignis- sen (MACE) sowie aus der Abnahme der glomerulären Filtrationsrate um ≥ 40%, einer neuen endgradigen Niereninsuffizi- enz oder renal/kardiovaskulär bedingtem Tod. In allen Altersgruppen wirkte sich Dapa- gliflozin im Vergleich mit Placebo positiv auf die Ereignisraten aus. Dies galt auch für ältere Menschen. Stratifiziert nach den Altersgruppen < 65, ≥ 65 bis > 75 und ≥ 75 Jahre ergaben sich reduzierte Wahr- scheinlichkeiten: ▪ CVD/HHF HR 0,88/HR 0,77/HR 0,94; ▪ MACE HR 0,93/HR 0,97/HR 0,84; ▪ HHF HR 0,88/HR 0,60/HR 0,81; ▪ renale Verschlechterung/renaler, kar- diovaskulärer Tod HR 0,72/HR 0,80/HR 0,82. Andere schwere unerwünschte Ereignisse kamen insgesamt bei den alten und sehr alten Patienten häufiger vor als bei < 65- Jährigen. Verglichen mit Placebo senkte Dapagliflozin die Häufigkeit aber in allen Altersgruppen. Dies galt für Hypoglykä- mien und akute Nierenprobleme. Bei Frak- turen, Amputationen, Harnwegsinfekten, Volumendepletion und malignen Prozes- sen bestanden keine Gruppenunterschie- de. Schwere Genitalinfektionen und dia- betische Ketoazidosen waren selten, aber traten mit Dapagliflozin häufiger auf. FAZIT Die Studie mit Daten aus DECLARE- TIMI‑58 bestätige die Effektivität und Sicherheit von Dapagliflozin in allen Altersgruppen, so die Autoren. Die Diabetestherapie habe einen Para- digmen-Shift von einem glukose- fokussierten Ansatz hin zu einer Re- duktion der Morbidität und Mortalität erfahren. Dies gelte für ältere Patien- ten besonders. Der kardiovaskuläre und renale Nutzen sowie das Sicher- heitsprofil machten Dapagliflozin zu einer wertvollen, altersunabhängigen Therapieoption. Dr. med. Susanne Krome, Melle Bjerring C et al. Onset time and duration of action of rocuronium 0,6 mg/kg in patients above 80 years of age: A comparison with young adults. Act Anaesth Scand 2020; 64: 1082–1088. doi:10.1111/aas.13645 Durch Komorbiditäten älterer Patien- ten werden Organfunktionen von z. B. Herz, Leber und Nieren beeinträchtigt, was Auswirkungen auf die Pharmako- dynamik und Pharmakokinetik von Medikamenten hat. Diese Studie un- tersucht die Anschlagszeit und Wirk- dauer von Rocuronium bei Patienten über 80 Jahre im Vergleich zu jüngeren Patienten zwischen 18 und 40 Jahren. Anschlagszeit und Wirkdauer von Rocuro- nium sind bei Patienten über 80 Jahren sig- nifikant länger als bei jungen Patienten. Zu diesem Ergebnis kommen C. Bjerring und Kollegen vom Department of Anaesthesia des Rigshospitals der Universität Kopenha- gen, Dänemark. Die Anästhesisten unter- suchten prospektiv Patienten des ASA-Sta- tus I–III, die sich einer elektiven, mehr als einstündigen Operation in Intubationsnar- kose unterziehen mussten. Sie teilten die Patienten je nach Alter in zwei Gruppen ein: Patienten über 80 Jahre und Patienten zwi- schen 18 und 40 Jahren. Als neuromuskulä- res Monitorverfahren wählten die Forscher den TOF-Watch – nach Stimulation des N. ulnaris erfolgte die Akzelerationsmes- sung am Daumen der Patienten. Die Narko- 4 Geriatrie up2date 2021; 3 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Studienreferate seeinleitung war standardisiert – nach Prä- oxygenierung erhielten alle Patienten 1,5– 3 µg/kg Fentanyl i. v., sowie 1–2 mg/kg Propofol. Nach erloschenem Lidreflex lös- ten die Forscher zwei TOF-Stimulationen und einen tetanischen Reiz von 50 Hz für 5 s aus. Dann erfolgte die Kalibrierung des Systems, bis stabile Signale mit < 5% Ab- weichung voneinander erzielt wurden. An- schließend erhielten die Patienten 0,6 mg/ kg Rocuronium – adaptiert an das ideale Körpergewicht in kg (Frauen Größe in cm − 105, Männer Größe in cm − 100). Als pri- märer Endpunkt der Studie galt die An- schlagszeit von Rocuronium, definiert als die Zeit vom Spritzen des Medikaments bis zum Erreichen eines TOF = 0. Sekundäre Endpunkte der Studie waren die Wirkdauer von Rocuronium, definiert als die Zeit vom Spritzen des Medikaments bis zum Wieder- erlangen eines TOF von 0,9, sowie die Intu- bationsbedingungen nach vom jeweiligen Anästhesisten subjektiv bestimmten Intu- bationszeitpunkt. Die Studie schließt 16 Patienten pro Stu- diengruppe ein. Die älteren Patienten hat- ten mehr Komorbiditäten und eine höhere ASA-Klassifikation, die Operationsdauer war aber in beiden Gruppen gleich lang. Die Anschlagszeit von Rocuronium war bei den älteren Patienten signifikant län- ger als bei den jüngeren (135 vs. 90 s, p < 0,001), damit war auch die Zeit bis zur Intubation der älteren Patienten signifi- kant (195 vs. 150 s). Die nar- koseführenden Anästhesisten gaben in beiden Gruppen gleiche Intubationsbedin- gungen an. Auch die Wirkdauer von Rocu- ronium war bei den älteren Patienten sig- nifikant verlängert (Median 81 vs. 53 min). länger FAZIT Anschlagszeit und Wirkdauer von Rocuronium sind bei älteren Patien- ten signifikant länger als bei jüngeren Patienten. Als ursächlich für die ver- längerte Anschlagszeit vermuten die Autoren das im Alter erniedrigte Herzzeitvolumen, die verlängerte Wirkdauer sei möglicherweise der im Alter eingeschränkten Leber- und Nierenfunktion geschuldet. Dr. med. Ulrike Brünjes, Aurich Deszensuschirurgie im hohen Alter Chapman GC et al. Perioperative Safety of Surgery for Pelvic Organ Prolapse in Elderly and Frail Patients. Obstet Gynecol 2020; 135: 599–608. doi:10.1097/AOG.0000000000003682 Infolge des demografischen Wandels steigt weltweit der Anteil der Senioren in der Bevölkerung. Angesichts dessen werden sich in den nächsten Jahrzehn- ten immer mehr ältere Frauen einer Deszensusoperation unterziehen. In- wiefern das Alter und die Gebrechlich- keit die Sicherheit der Eingriffe beein- flussen, ist allerdings kaum unter- sucht. US-Wissenschaftler beschäftig- ten sich mit dieser Fragestellung im Rahmen einer retrospektiven Kohor- tenstudie. Mithilfe einer nationalen Operationsdaten- bank identifizierten sie Frauen im Alter von ≥ 45 Jahren, die sich zwischen 2010 und 2017 aufgrund eines Prolapses der Be- ckenorgane einem operativen Eingriff un- terzogen hatten. Patientinnen mit einem gynäkologischen Malignom gingen nicht in die Analyse ein. Das Kontrollkollektiv bil- deten 27 403 Frauen im Alter zwischen 45 und 64 Jahren. Das Kollektiv der „älteren“ Patientinnen umfasste 20 567 Frauen im Alter zwischen 65 und 79 Jahren und das Kollektiv der „sehr alten“ Patientinnen um- fasste 3088 Frauen im Alter ≥ 80 Jahre. Die Forscher verglichen diese 3 Studiengrup- pen im Hinblick auf demografische Para- meter, Komorbiditäten, die Gebrechlich- keit, die Eingriffsdetails sowie periopera- tive Komplikationen innerhalb von 30 Ta- gen. Den Grad der Gebrechlichkeit objek- tivierten sie dabei mithilfe des „National Surgical Quality Improvement Program Modified Frailty Index 5“. Den primären Studienendpunkt bildete die Kombination aus der Rate schwerer Komplikationen so- wie der Mortalität. Die sekundären Out- Fixation des Netzes am Promontorium Sigma Netz an der Zervix fixiert Zu den durchgeführten Deszensuseingriffen an älteren Patientinnen gehört u. a. auch die Kol- posakropexie. Im Bild: Darstellung des Eingriffs, bei dem das Netz am Promontorium fixiert wird. Quelle: Muctar S. Laparoskopische Kolposakropexie. In: Muctar S, Hrsg. Atlas der uro- gynäkologischen und proktologischen Operationstechniken. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2017: 186–187. doi:10.1055/b-005-143310 Geriatrie up2date 2021; 3 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 5
Studienreferate come-Parameter umfassten die Komplika- tionsraten bei gebrechlichen Patientinnen sowie die Häufigkeit der einzelnen Kompli- kationen. Ergebnisse Die durchgeführten Eingriffe umfassten Kolporrhaphien, Kolposakropexien, die apikale Suspension, die Kolpokleisis, die Hysterektomie sowie die Anlage einer mitturethralen Schlinge. Gemäß Punkt- wert des modifizierten Frailty Index 5 gal- ten insgesamt 10,7% der Studienpatien- tinnen als gebrechlich: 7,2% der Kontroll- patientinnen, 14,5% der älteren und 16,8% der sehr alten Frauen waren hiervon betroffen. Die kombinierte Rate schwerer Komplikationen betrug in diesen 3 Kollek- tiven 4,5%, 4,7 % (Odds Ratio 1,0; 95%-KI 0,9–1,1) bzw. 9,0% (Odds Ratio 2,1; 95%- KI 1,8–2,4). Im Vergleich zum Kontrollkol- lektiv erlitten die sehr alten Frauen insbe- sondere kardiale Komplikationen (Odds Ratio 11,9; 95%-KI 6,2–23,0) und Schlag- anfälle (Odds Ratio 26,6; 95%-KI 5,4– 131,8), wurden signifikant häufiger nicht nach Hause, sondern in eine andere Ein- richtung entlassen (Odds Ratio 10,3; 95%- KI 7,4–14,2) und wiesen eine signifikant höhere Mortalität auf (Odds Ratio 39,9; 95%-KI 8,6–184,7). Die multivariate Ana- lyse ergab: Die Zugehörigkeit zur Gruppe „sehr hohes Alter“ stellte einen unabhän- gigen Risikofaktor für schwere Komplika- tionen dar (adjustierte Odds Ratio 2,01; 95%-KI 1,8–2,3). Für die Gruppe der älte- ren Patientinnen galt dies jedoch nicht. Der modifizierte Frailty-Index-5-Score er- wies sich bezüglich der kombinierten Komplikationsrate als prädiktiv (adjustier- te Odds Ratio 1,4; 95%-KI 1,1–1,9). Ab- schließend prüften die Wissenschaftler die prädiktive Leistungsfähigkeit der Ge- brechlichkeit bezüglich der Komplikatio- nen in den verschiedenen Altersgruppen. Ihren Berechnungen zufolge besteht eine Interaktion zwischen dem modifizierten Frailty-Index-5-Score und der Gruppe der älteren Frauen (adjustierte Odds Ratio 2,5; 95%-KI 1,3–4,6), nicht jedoch der Gruppe der sehr alten Frauen (adjustierte Odds Ra- tio 2,5; 95%-KI 0,9–7,1). Dies deutet da- rauf hin, dass die Vorhersagefähigkeit des Indexes bezüglich schwerer Komplikatio- nen vom Alter der Frauen abhängt. FAZIT Frauen im Alter über 80 Jahre, die sich einem Deszensuseingriff unter- ziehen, haben unabhängig vom Grad der Gebrechlichkeit sowie medizini- schen und chirurgischen Risikofak- toren ein deutlich erhöhtes Risiko für perioperative Komplikationen, schlussfolgern die Wissenschaftler. Diese Beobachtung sowie die indivi- duellen Komplikationen sollten bei der präoperativen Beratung sowie der Eingriffsplanung berücksichtigt werden. Dr. med. Judith Lorenz, Künzell Coronavirus: Was Sie jetzt wissen müssen Neueste Fallbeispiele und Übersichtsarbeiten ein „Symptom-Checker“ und vieles mehr. Um Sie bestmöglich zu unterstützen, haben wir ein Wissenspaket aus Thieme Inhalten geschnürt, das wir laufend für Sie aktualisieren und ergänzen. Alle Infos jederzeit kostenfrei abrufen: www.thieme.de/corona Geriatrie up2date 2021; 3 | © 2021. Thieme. All rights reserved. H 9 A P 0 6
SOP / Arbeitsablauf SOP Somatische Diagnostik bei Delir Charles-Arnold Timäus, Thorsten Folsche, Dirk Wedekind Das Delir stellt als unspezifisches, hirnorganisches Krankheitsbild einen akuten interdisziplinären Notfall dar. Für die Prognose sind das frühzeitige Erkennen und die Behandlung von potenziell behandelbaren Risikofaktoren und Ursachen entscheidend. Einleitung Das Delir ist ein medizinischer Notfall, aber grundsätzlich reversibel. Ursächlich ist eine akute Störung der zerebra- len Funktionen. Leitsymptome sind Störungen des Be- wusstseins und der Aufmerksamkeit. Weiterhin sind Ori- entierungs-, Wahrnehmungs- und Denkstörungen, Stö- rungen der Psychomotorik und des Schlaf-Wach-Rhyth- mus sowie des Gedächtnisses typisch. Der fluktuierende Verlauf verzögert nicht selten die Diagnosestellung. Dem Delir liegen immer eine oder gleichzeitig mehrere organi- sche Ursache(n) zugrunde. Es gilt daher, insbesondere lebensbedrohliche Zustände zügig festzustellen, da das Delir mit einer erhöhten Mortalität verbunden ist [1]. Merke Patienten mit einer akuten Störung des Bewusst- seins, der Aufmerksamkeit und der Orientierung sind immer hinsichtlich eines Delirs abzuklären! Es muss bis zum Beweis des Gegenteils von einer lebensbedrohlichen Ursache ausgegangen werden! Diagnosekriterien (s. ▶ Tab. 1) und Differenzialdiagnosen (s. ▶ Tab. 2) In der Infobox sind eine Auswahl von Testverfahren auf- geführt. Zu beachten ist, dass die Screeningverfahren im jeweils dafür vorgesehenen Versorgungsbereich (IMC, In- tensivstation, Normalstation) validiert wurden: INFOBOX ▪ CAM (Confusion Assessment Method) [3] ▪ 3D‑CAM [4] ▪ CAM‑S (mit Bestimmung des Schweregrades) [5] ▪ CAM‑ICU (Confusion Assessment Method for the Intensive Care Unit) [6] ▪ ICDSC (Intensive Care Delirium Screening Checklist) [7] ▪ NU-DESC (Nursing Delirium Screening Scale) [8] Die Abgrenzung des Delirs von anderen neuropsychiatri- schen Krankheitsbildern (s. ▶ Tab. 2) gestaltet sich häufig schwierig. Das akute Auftreten (innerhalb von Stunden bis Tage) oder schnelle Veränderungen von Störungen der Aufmerksamkeit, des Bewusstseinsgrades und der kognitiven Funktionen (oft mit einer Verschlechterung in der Nacht) lassen allerdings in erster Linie an ein Delir denken [9]. Die Diagnose erfolgt stets nach klinischen Kriterien. Als Goldstandard werden die ICD-10- oder DSM-5-Kriterien herangezogen. Im ICD-10 wird das Delir im Rahmen suchtstoffgebundener Entzugssyndrome gesondert co- diert (F1x.4: Entzugssyndrom mit Delir). Merke Um die Diagnose eines Delirs nicht zu verzögern, sind bei Risikopatienten neben einer Basisuntersuchung auch regelmäßige Verlaufsuntersuchungen mit stan- dardisierten Testverfahren dringend zu empfehlen! Das klinische Bild umfasst hauptsächlich 3 Formen, wobei die hypoaktive (72%) und Mischform (15%) häufiger als die hyperaktive Form sind [2]. Die zwei erstgenannten Formen werden regelmäßig verkannt und verspätet be- handelt, weshalb sich verschiedene Screeningtests etab- liert haben, die zu einer frühen Diagnosestellung beitra- gen. Vorschlag zum diagnostischen Vorgehen bei Delirverdacht In diesem Abschnitt stellen wir einen möglichen Algorith- mus zur Diagnostik bei Delirverdacht vor (▶ Abb. 1). Die mit Ziffern gekennzeichneten Arbeitsschritte werden im Text näher erläutert. Timäus CA et al. SOP Somatische Diagnostik … Geriatrie up2date 2021; 3: 7–11 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 7
SOP / Arbeitsablauf ▶ Tab. 1 ICD-10 Ein ätiologisch unspezifisches hirnorganisches Syndrom, das charakterisiert ist durch gleichzeitig bestehende Störungen des Bewusstseins einerseits und mindestens zwei der nachfolgend genannten Störungen andererseits: Störungen der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, des Den- kens, des Gedächtnisses, der Psychomotorik, der Emotionalität oder des Schlaf-Wach-Rhythmus. Die Dauer ist sehr unterschiedlich und der Schweregrad reicht von leicht bis zu sehr schwer. F05.0 Delir, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt, ohne Demenz F05.1 Delir, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt, bei Demenz F05.8 Delir mit gemischter Ätiologie F05.9 Delir, nicht näher bezeichnet DMS-5 (deutsche Ausgabe 2015, Hogrefe) Eine Störung der Aufmerksamkeit (d. h. Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf einzelne Stimuli zu richten, zu fokussieren, aufrechtzuhalten und gezielt zu wechseln) und des Bewusstseins (verminderte Orientierung in der Umgebung). Das Störungsbild entwickelt sich innerhalb eines kurzen Zeitraumes (gewöhnlich innerhalb weniger Stunden oder Tage), stellt eine Veränderung des ursprünglichen Aufmerksamkeits- und Bewusstseinszustandes dar und Schweregrad fluktuiert meist im Tagesverlauf. Eine zusätzliche Beeinträchtigung kognitiver Funktionen (z. B. Beeinträchtigung des Gedächtnisses, Desorientiertheit, Störung des Sprachgebrauches, der visuell- räumlichen Fähigkeiten oder der Wahrnehmung). Die Störungsbilder aus den Kriterien A und C können nicht besser durch eine ande- re, vorbestehende, gesicherte oder sich entwickelnde NCD erklärt werden, und sie treten nicht im Kontext einer stark reduzierten bzw. fehlenden Wachheit, wie dem Koma, auf. Es gibt Hinweise aus der Vorgeschichte, körperlichen Untersuchung oder Labor- untersuchungen darauf, dass das Störungsbild die direkte körperliche Folge eines medizinischen Krankheitsfaktors, einer Substanzintoxikation oder eines Substanz- entzuges ist (z. B. durch Substanzen mit Missbrauchspotenzial oder durch die Ein- nahme eines Medikaments) oder Folge der Exposition gegenüber einem Toxin oder durch multiple Ätiologien versursacht ist. ▶ Tab. 2 Wichtige Differenzialdiagnosen des Delirs, zusammengestellt nach Oh et al. [9]. Delir Demenz Depression Psychose akuter Beginn Aufmerksamkeitsstörung Bewusstseinsstörung desorganisiertes Denken Störung der Psychomotorik Orientierungsstörung Halluzinationen + + + + + + ± (optisch) – ± – ± ± + ± ± kennzeichnet, dass das Merkmal vorhanden sein kann. – ± – – + – – ± ± – + + – ± (akustisch) 1. Die Anamnese und insbesondere die Fremdanamnese (z. B. bei intensiv- und beatmungspflichtigen Patien- ten, fehlende Kommunikationsmöglichkeiten) dient der Identifizierung möglicher Ursachen- und Risiko- konstellationen. a) Risikofaktoren sind u. a. [9, 10] • Polypharmazie [11] (v. a. anticholinerge Sub- stanzen, Benzodiazepine, Opioid-Analgetika). In der Priscus-Liste sind ungünstige, ggf. delirogen wirkende Medikamente aufgeführt [12] • höheres Lebensalter (> 70 J.), Komorbidität und Multimorbidität (z. B. zerebraler Insult, kardio- vaskuläre Erkrankung, Diabetes u. a.) sowie hö- herer Schweregrad der Erkrankungen, Schlaf- störungen/-entzug, Dehydratation, Mangel- ernährung, vorbestehendes kognitives Defizit, Immobilität, chronische Schmerzen (Harn- und Stuhlverhalt), Seh- und Hörstörungen und schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von Alkohol. • Postoperative (Kardiotomie, Hüft-TEP), intensiv- pflichtige und (invasiv) beatmete Patienten (z. B. Patienten mit schweren Verbrennungen) 8 Timäus CA et al. SOP Somatische Diagnostik … Geriatrie up2date 2021; 3: 7–11 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Verdacht auf akutes Delir 1 Eigen- und Fremd- anamnese, Risikofaktoren (u.a. Medikamente!) Kriterien erfüllt? z.B. CAM-Screening ja interdisziplinäre (v.a. 2 internistische/neurologische) Untersuchungen Eigen- oder Fremdgefährdung psychiatrisches Konsil nein andere Ursachen erwägen fachspezifische Diagnostik und Therapie Demenz Depression Psychose Manie Basisdiagnostik Labor klinische Untersuchung Vitalparameter (RR und Puls) Sauerstoffsättigung (Hypoxie) EKG Blutzucker Blutbild Gerinnungsparameter Natrium, Kalium, Kalzium Bilirubin, GPT, GOT, GGT, AP, LDH Kreatinin, Harnstoff CRP, Blutkulturen, Procalcitonin Troponin T, CK, CKMB TSH Urinstatus Ammoniak toxikologische Untersuchung Ethanol im Blut, ETG (Ethyl- glucuronid) im Blut/Urin Screening auf Drogen qualitativ/quantitativ im Blut/Urin Medikamente: trizyklische Antidepressiva Sedativa (Benzodiazepine) (Gaschromatografie) CCT (ggf. cMRT) Lumbalpunktion zusätzliche Diagnostik obligat bei: obligat bei: Verdacht auf Meningo- enzephalitis bei Kopf- schmerzen mit Fieber und Meningitiszeichen Befunde: Zellzahl Gesamtprotein Laktat Erreger-Direktdiagnostik (PCR) Bewusstseinsstörungen neurologischen Defiziten Anfällen postiktaler Verwirrtheit positiver Sturzanamnese Befunde: Ischämie ICB Tumor Abszess Meningoenzephalitis Zeichen einer Wernicke- Enzephalopathie Röntgenthorax EEG antineuronale AK, paraneoplastische AK (Serum, Liquor) antithyreoidale AK Vitamine: B1 B12 Folsäure ▶ Abb. 1 Flussdiagramm zur somatischen Diagnostik bei Delir. i T m ä u s C A e t a l . S O P S o m a t i s c h e D a g n o s t i i k … G e r i a t r i e u p 2 d a t e 2 0 2 1 ; 3 : 7 – 1 1 | © 2 0 2 1 . i T h e m e . A l l r i g h t s r e s e r v e d . 9
SOP / Arbeitsablauf 2. Die multifaktorielle Genese des Delirs macht eine in- terdisziplinäre Herangehensweise erforderlich (ange- passt nach [9, 10, 13]): a) In der Basisuntersuchung sollte auf Zeichen der Mangelernährung, einer Exsikkose sowie insbeson- dere auf Spätfolgen einer Störung durch übermäßi- gen Alkohokonsum (Foetor alcoholicus, Leberver- größerung, Gerinnungsstörung, Ikterus, häufig Polyneuropathie und zerebelläre Ataxie geachtet werden. Sturz- und Stoßverletzungen. b) Es finden sich oft Laborveränderungen bei alkohol- bezogenen Störungen: MCV-Erhöhung, Leberwert- erhöhungen, erhöhtes Bilirubin, Gerinnungsstörun- gen, Anämie, Thrombozytopenie und ggf. erhöhtes Ammoniak bei hepatischer Enzephalopathie. c) Bei Verdacht auf Intoxikationen oder Entzugssyn- drome im Zusammenhang mit Substanzen oder Suchtstoffen sollten entsprechende toxikologische Untersuchungen durchgeführt werden. Die Ver- breitung von „Designer-Drogen“ machen den niedrigschwelligen Einsatz von gaschromatogra- fischen Analysen sinnvoll. Merke Urintoxikologische Untersuchungen sind bei sach- gemäßer Asservierung der Probe im Verlauf möglich! d) Weitere Ursachen: Elektrolytstörungen, hypoglykä- mische Zustände, hepatische o. urämische Enze- phalopathien, Infektionen/Sepsis, Hypoxie (z. B. Pneumonie), Myokardinfarktfrühzeichen, hyper- tensive Enzephalopathie bzw. ein posteriores rever- sibles Enzephalopathie-Syndrom (PRES), endokri- nologische Ursachen (Hypo- oder Hyperthyreose). e) Bei Hinweisen auf potenziell behandelbaren ZNS- Prozess (Bewusstseinsstörung, Anfälle, neurologi- sche Defizite, Sturzanamnese) sollte eine zerebrale Bildgebung und ggf. eine Lumbalpunktion bei in- fektiösen oder entzündlichen Erkrankungen erfol- gen. f) Ein EEG dient bei entsprechendem Verdacht zum Ausschluss eines nonkonvulsiven Status. Allge- meinveränderungen sind beim Delir sehr häufig zu finden. g) Die mit Vitamin-B1-Mangel assoziierte Wernicke- Enzephalopathie ist ein schweres aber durch schnelle Substitution gut behandelbares akutes neurologisches Krankheitsbild. Bei entsprechenden Risikofaktoren (Alkoholanamnese) sollte daran ge- dacht werden. h) Weiterführende Bestimmung von Autoantikörper (antineuronale, paraneoplastische Antikörper), z. B. NMDA-Antikörper-vermittelte limbische Enzephali- tis bei akuten bis subakuten neuropsychiatrischen Symptomen Bewusstseins- und Wahrnehmungsstörungen, neurologische De- fizite, epileptische Anfälle). Antithyreoidale Anti- körper bei V. a. Hashimoto-Enzephalopathie. (Kognitionsdefizite, Interessenkonflikt Dirk Wedekind war Berater für die Firma Servier und Referent für die Firma Pfizer. Autorinnen/Autoren Charles-Arnold Timäus Dr. med., 2002–2008 Studium der Humanme- dizin in Göttingen. 2008–2016 Facharztweiter- bildung in der Klinik für klinische Neurophysio- logie (Universitätsmedizin Göttingen), Facharzt für Neurologie 2016, Promotion 2012. Seit 2016 Arzt in der Klinik für Psychiatrie und Psy- chotherapie der Universitätsmedizin Göttingen (Neurostimu- lation/Gerontopsychiatrie). Thorsten Folsche Assistenzarzt der Klinik für Psychiatrie und Psy- chotherapie der UMG. Studium der Humanme- dizin in Göttingen (Examen 2012) und Affektive Neurowissenschaften in Maastricht (Abschluss 2020). Aktuell Stationsarzt der Sucht-Tageskli- nik. Dirk Wedekind Prof. Dr. med., Oberarzt der Klinik für Psychia- trie und Psychotherapie der UMG. Studium der Humanmedizin in Göttingen und Affektive Neurowissenschaften in Maastricht. Promotion 2000, Habilitation 2011 zur Neuroendokrinen Stressachse bei der Panikstörung. Leitung des Bereichs Suchtmedizin und Angsterkrankungen der Klinik. Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Dirk Wedekind, M. Sc. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen Von-Siebold-Straße 5 37075 Göttingen dirk.wedekind@med.uni-goettingen.de 10 Timäus CA et al. SOP Somatische Diagnostik … Geriatrie up2date 2021; 3: 7–11 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Zitierweise für diesen Artikel PSYCH up2date 2019; 13 (06): 454–458. doi:10.1055/a-0884-5896 Literatur [1] McCusker J, Cole M, Abrahamowicz M et al. Delirium predicts 12-month mortality. Arch Intern Med 2002; 162: 457–463 [2] Chaiwat O, Chanidnuan M, Pancharoen W et al. Postoperative delirium in critically ill surgical patients: incidence, risk factors, and predictive scores. BMC Anesthesiol 2019; 19: 39. doi:10.1186/s12871-019-0694-x [3] Wei L, Fearing M, Sternberg E et al. The Confusion Assessment Method: a systematic review of current usage. J Am Geriatr Soc 2008; 55: 823–830. doi:10.1111/j.1532-5415.2008. 01674.x [4] Marcantonio ER, Ngo LH, OʼConnor M et al. 3D-CAM: Deriva- tion and validation of a 3-minute diagnostic interview for CAM-defined delirium: a cross-sectional diagnostic test study. Ann Intern Med 2014; 161: 554–561. doi:10.7326/M14-0865 [5] Khan BA, Perkins AJ, Gao S et al. The confusion assessment method for the ICU‑7 delirium severity scale: a novel delirium severity instrument for use in the ICU. Crit Care Med 2017; 45: 851–857. doi:10.1097/CCM.0000000000002368 [6] Ely EW, Inouye SK, Bernard GR et al. Delirium in mechanically ventilated patients: validity and reliability of the confusion as- sessment method for the intensive care unit (CAM-ICU). JAMA 2001; 286: 2703–2710 [7] Radtke FM, Franck M, Oppermann S et al. [The Intensive Care Delirium Screening Checklist (ICDSC)–translation and val- idation of intensive care delirium checklist in accordance with guidelines]. Anasthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2009; 44: 80–86. doi:10.1055/s-0029-1202647 [8] Gaudreau JD, Gagnon P, Harel F et al. Fast, systematic, and continuous delirium assessment in hospitalized patients: the Nursing Delirium Screening Scale. J Pain Symptom Manage 2005; 29: 368–375 [9] Oh ES, Fong TG, Hshieh TT et al. Delirium in Older Persons: Ad- vances in Diagnosis and Treatment. JAMA 2017; 318: 1161– 1174. doi:10.1001/jama.2017.12067 [10] Aldecoa C, Bettelli G, Bilotta F et al. European Society of Anaesthesiology evidence-based and consensus-based guide- line on postoperative delirium. Eur J Anaesthesiol 2017; 34: 192–214. doi:10.1097/EJA.0000000000000594 [11] Hein C, Forgues A, Piau A et al. Impact of polypharmacy on occurrence of delirium in elderly emergency patients. J Am Med Dir Assoc 2014; 15: 850.e11–850.e15. doi:10.1016/j. jamda.2014.08.012 [12] Holt S, Schmiedl S, Thürmann PA. Potentially inappropriate medication in the elderly – PRISCUS list. Dtsch Arztebl Int 2010; 107: 543–551. doi:10.3238/arztebl.2010.0543 [13] Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Alkoholdelir und Verwirrtheitszustände. Im Internet https://www.dgn.org/ leitlinien/3056-ll-85-ll-alkoholdelir-und-verwirrtheitszustaen- de; Stand: 21.06.2019 Bibliografie Geriatrie up2date 2021; 3: 7–11 DOI 10.1055/a-1297-8248 ISSN 2627-0889 © 2021. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Service für unsere Leser up2date immer dabei! Wissens portal eRef plus App. CME-Beitrag SOP/Arbeitsablauf Schritt-für-Schritt ... ... ... ... Jetzt downloaden: up2date – Fortbildung mit dem roten Faden Timäus CA et al. SOP Somatische Diagnostik … Geriatrie up2date 2021; 3: 7–11 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 11
Impressum Geriatrie up2date 3. Jahrgang Die Geriatrie up2date erscheint 4-mal jährlich. ISSN (Print): 2627-0889 eISSN: 2627-0897 Copyright & Ownership Wenn nicht anders angegeben: © 2021. Thieme. All rights reserved. Die Zeitschrift Geriatrie up2date ist Eigentum von Thieme. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Verlag Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 301 120, 70451 Stuttgart Tel.: + 49 711 8931-0, Fax: + 49 711 8931-298 www.thieme.de, www.thieme.de/geri-u2d www.thieme-connect.de/products Web-App: www.thieme.de/eref-app Redaktion Sie erreichen die Redaktion unter: geri-u2d.impressum@thieme.de V. i. S. d. 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Geriatrie up2date 1 · 2021 Herz und Kreislauf 2 Der alte Patient mit akutem Koronarsyndrom. Konservative oder interventionelle Therapie? Luise Gaede Helge Möllmann VNR: 2760512021160213066 DOI: 10.1055/a-1310-5871 Geriatrie up2date 2021; 3 (1): 15–24 ISSN 2627-0889 © 2021 Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
CME-Fortbildung Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen: Alterskardiologie. Was in der Kardiologie tätige Ärztinnen und Ärzte über die Behandlung älterer Menschen wissen sollten M. W. Ferrari Heft 2/2019 ALLES ONLINE LESEN IHR ONLINE-SAMMELORDNER JETZT FREISCHALTEN Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: online wie offline, am PC und mobil, alle bereits erschienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! https://eref.thieme.de/geri-u2d Sie möchten jederzeit und überall auf Ihr up2date-Archiv zu- greifen? Kein Problem! Ihren immer aktuellen Online- Sammelordner finden Sie unter: https://eref.thieme.de/WT87L Sie haben Ihre Zeit- schrift noch nicht freigeschaltet? Ein Klick genügt: www.thieme.de/eref-registrierung
CME-Fortbildung Der alte Patient mit akutem Koronarsyndrom. Konservative oder interventionelle Therapie? Luise Gaede, Helge Möllmann Der alte Patient mit einem akuten Koronarsyndrom (ACS) wird häufig aufgrund des Alters, von Vorerkrankungen und auch erhöhtem Blutungsrisiko nicht evidenzbasiert therapiert. Dies gilt sowohl für die medikamentöse als auch die interventionelle Therapie. Valide Daten zeigen jedoch deutlich, dass gerade auch alte Patienten von einer leitlinienkonformen Therapie – vor allem auch der interventionellen Therapie und der Revaskularisation – profitieren. Einleitung Kasuistik 1: STEMI Aufgrund der steigenden Lebenserwartung hat sich die Altersverteilung von Patienten, die sich mit einem akuten Koronarsyndrom (ACS) präsentieren, in den letzten Jah- ren verändert. Bereits jetzt sind ca. 40% der Patienten mit einem ACS älter als 75 Jahre [1]. Eine weitere Zunah- me des „alten“ Patienten mit einem ACS ist in den nächs- ten Jahren aufgrund des demografischen Wandels zu er- warten. Der alte Patient mit einem ACS stellt den Arzt vor mehre- re Herausforderungen. Zunächst präsentieren sich gera- de ältere Patienten häufig mit atypischen Symptomen, wie z. B. Dyspnoe, was eine rasche Diagnose verzögert [2, 3]. Das Alter selbst sowie häufig damit verbundene Komorbiditäten, wie z. B. eine Niereninsuffizienz, und auch Mobilitätsprobleme erschweren die Entscheidung zu einer interventionellen Therapie [4, 5]. Zudem treten im Vergleich zu jüngeren Patienten bei der interventio- nellen Therapie häufiger Komplikationen wie Blutungen, mechanische Komplikationen oder eine Verschlechte- rung der Nierenfunktion auf [6 – 8]. Zu guter Letzt sind die entsprechenden Daten der großen randomisierten Studien sowohl für die interventionelle als auch für die konservative/medikamentöse Therapie primär an jün- geren Patienten erhoben, was eine gewisse Verunsiche- rung nach sich zieht. Ältere Patienten werden unter anderem aus diesen Grün- den deutlich seltener leitliniengerecht therapiert als jün- gere Patienten [4, 5, 9 – 11]. Dennoch gibt es inzwischen valide Daten aus Registern oder Subgruppenanalysen, deren Ergebnisse zu klaren Empfehlungen in den Leitlini- en geführt haben. Anhand der folgenden Fallbeispiele soll daher auf die Besonderheiten des alten Patienten mit ACS eingegangen werden und die vorliegenden Daten für die- se Bevölkerungsgruppe dargestellt werden. 88-jähriger Patient mit seit 30 Minuten bestehenden Brustschmerzen und deutlichen ST-Hebungen im EKG (▶ Abb. 1). Kardiale Risikofaktoren: arterielle Hypertonie. Vorerkrankungen: Z. n. Prostatakarzinom 2001, Z. n. Hüft-TEP beidseits 2002/2005, Z. n. Magenulkus 2010. Therapie des STEMI beim alten Patienten Zwei kleine randomisierte Studien zeigten eine Über- legenheit der interventionellen Therapie mittels Revasku- larisation und Stentimplantation (PCI) gegenüber der Lysetherapie auch bei alten Patienten mit einem ST-He- bungsinfarkt (STEMI). Eingeschlossen wurden hier Patien- ten > 75 Jahre [12, 13]. Die größere der beiden Studien wurde zwar vorzeitig gestoppt, zeigte jedoch einen Vor- teil in Bezug auf erneute, klinisch relevante myokardiale Ischämien. Aufgrund des vorzeitigen Studienabbruchs konnte hinsichtlich des Endpunkts Tod nach 30 Tagen kein statistisch signifikanter Unterschied (Lysetherapie 17,2%, PCI 13,6%; p = 0,43) gezeigt werden [13]. In einer Metaanalyse der vorliegenden 3 randomisierten Studien zu diesem Thema (▶ Abb. 2) zeigt sich jedoch ein Vorteil der PCI [13]. Entsprechend legen sich die europäischen Leitlinien aus dem Jahr 2017 klar fest, dass es kein Alters- limit für die interventionelle Therapie beim STEMI gibt [6]. Ein STEMI sollte altersunabhängig – wenn innerhalb von 2 Stunden nach dem ersten Arztkontakt möglich – primär interventionell behandelt werden und der Patient ent- sprechend einer sofortigen Herzkatheteruntersuchung ohne vorherige Labordiagnostik zugeführt werden [6]. Bei der invasiven Untersuchung sollte jedoch gerade beim alten Patienten auf einige Dinge besonderes Au- genmerk gelegt werden. Erhöhte Komplikationsraten, wie z. B. erhöhte Blutungsraten, sind beim älteren Patien- ten bekannt [7]. Zudem wurde gezeigt, dass besonders alte Patienten häufig eine überdosierte antithromboti- Gaede L, Möllmann H. Der alte Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 15–24 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 15
CME-Fortbildung a d b c e f ▶ Abb. 1 88-jähriger Patient mit ST-Hebungsinfarkt (STEMI) der Hinterwand. a Extremitätenableitungen im EKG; b Brustwand- ableitungen im EKG; c, d thrombotischer Verschluss der medialen rechten Herzkranzarterie (RCA); e Ballondilatation nach erfolg- reicher Drahtpassage der Verschlussstelle; f eröffnete RCA mit gutem Ergebnis nach Stentimplantation. ▶ Abb. 2 Metaanalyse von 3 randomisierten Studien zur PCI vs. Lyse beim alten Patienten [13]. [rerif] 16 Gaede L, Möllmann H. Der alte Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 15–24 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
sche Therapie erhalten [14]. Empfohlen ist deshalb die Gabe von lediglich 60–70 IE/kgKG unfraktioniertem He- parin. Die maximale Dosierung sollte initial 5000 IE nicht überschreiten [6]. Während der interventionellen Thera- pie bietet die Bestimmung der „activated clotting time“ (ACT) die Möglichkeit, die Dosierung des Heparins kurz- fristig zu steuern, um so Blutungskomplikationen zu ver- meiden. Aufgrund der häufigeren Inzidenz einer einge- schränkten Nierenfunktion bei Patienten im höheren Al- ter sollte außerdem der Kontrastmittelverbrauch wäh- rend der Untersuchung äußerst restriktiv gehalten wer- den [8]. Neben entsprechender prä-, peri- und postpro- zeduraler Gabe von physiologischer Kochsalzinfusion empfiehlt sich hier anschließend eine häufigere Kontrolle der Retentionswerte – auch im ambulanten Bereich. Thrombozytenaggregationshemmung beim alten Patienten ohne Indikation zur oralen Antikoagulation Hinsichtlich der antithrombozytären Therapie bei Patien- ten ohne Indikation zur oralen Antikoagulation gilt wie beim jungen Patienten eine Empfehlung zur dualen Plätt- chenhemmung (DAPT) mit Acetylsalicylsäure (75– 100 mg/d) und einem P2Y12-Inhibitor für 12 Monate – wichtig ist hierbei, dass Prasugrel ab einem Alter von 75 Jahren generell nicht mehr empfohlen ist und somit das Mittel der Wahl nach ACS bei alten Patienten Ticagre- lor sein sollte. Bei Unverträglichkeiten von anderen P2Y12-Inhibitoren kann Prasugrel in einer verminderten Dosierung von 5 mg/d rezeptiert werden [15]. Aufgrund der erhöhten Gefahr von gastrointestinalen Blutungen bei alten Patienten sollte für die Zeit der DAPT immer die Gabe eines Protonenpumpeninhibitors erfolgen [6, 16]. Bei sehr erhöhtem Blutungsrisiko kann die Dauer der DAPT gegebenenfalls verkürzt werden. Dieses Risiko kann anhand des PRECISE-DAPT-Scores abgeschätzt wer- den (www.precisedaptscore.com). Ab einem Score > 25 kann eine Verkürzung der DAPT in Erwägung gezogen werden [15]. Diese Daten unterstützt auch die kürzlich erschienene TWILIGHT-Studie. Hier wurde bei Patienten mit einem erhöhten ischämischen Risiko, also Patienten mit akutem Koronarsyndrom, älteren Patienten, Diabeti- kern, aber auch Patienten mit komplexen Interventionen, untersucht, ob die DAPT nach 3 Monaten auf eine Tica- grelor-Monotherapie umgestellt werden kann. In der Gruppe mit der Monotherapie zeigten sich weniger Blu- tungen und keine erhöhte Rate an ischämischen Ereignis- sen [17]. Erfolgte Therapie: Der Patient zeigte einen thromboti- schen Verschluss der RCA, welcher rekanalisiert und mit einem medikamentenbeschichteten (DE-)Stent versorgt wurde (▶ Abb. 1). Entlassmedikation: ASS 100 mg 1–0– 0, Ticagrelor 90 mg 1–0–1 (für 12 Monate), Pantoprazol 40 mg 0–0–1 (für zunächst 12 Monate), Atorvastatin 40 mg 0–0–1, Ramipril 5 mg 1–0–1. Kasuistik 2: NSTEMI mit atypischer Klinik 86-jähriger Patient mit Synkope. EKG unauffällig. Labor- chemisch in der Notaufnahme zunächst hochsensitives Troponin T (hs-TnT) mit 10 pg/ml (Normwert < 14 pg/ml), nach 3 Stunden Anstieg auf 150 pg/ml. Kardiale Risiko- faktoren: Nikotinabusus, Hyperlipoproteinämie, arterielle Hypertonie, Z. n. Transkatheter-Aortenklappenersatz (TAVI) vor 2 Jahren. Diagnose NSTEMI Entsprechend der typischen Altersverteilung der unter- schiedlichen Entitäten des ACS [5] zeigt sich durch den demografischen Wandel eine abnehmende Anzahl der Patienten mit einem STEMI, jedoch ein deutlicher Anstieg der Patienten mit einem Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTE- MI) [4, 6, 18]. Erschwerend kommt hinzu, dass sich ca. 8% der Patienten mit einem ACS nicht mit Brustschmerzen, sondern anderen Symptomen vorstellen [2]. So ist der Myokardinfarkt die vierthäufigste Diagnose (5,3%) bei Patienten mit dem Kardinalsymptom Luftnot [19]. Aber auch Verwirrtheit sowie Synkope können ein Zeichen für ein ACS sein [3]. Besonders häufig zeigt sich eine atypi- sche Symptomatik bei älteren Patienten, insbesondere bei Frauen. So schildern nur 40% der Patienten > 85 Jahre das Leitsymptom Brustschmerz [3]. Andersherum ist der Brustschmerz auch nicht immer ein Zeichen für ein ACS [19]. Das fehlende Leitsymptom führt häufig zur Fehldiagnose oder zur verzögerten Therapie und somit zu einer erhöh- ten Mortalität [2]. So ist das Risiko für einen Patienten, der sich mit einer Synkope/Präsynkope vorstellt, doppelt so hoch (Odds Ratio (OR) 2,0) im Vergleich zu einem Pa- tienten mit typischen Symptomen. Ebenfalls gilt ein er- höhtes Risiko für die Leitsymptome Erbrechen/Übelkeit (OR 1,6) und Dyspnoe (OR 1,4) [2]. Entsprechend wichtig ist es, insbesondere beim alten Patienten auch bei atypi- schen Symptomen an ein ACS als Ursache zu denken, um dies möglichst schnell zu diagnostizieren und adäquat zu therapieren. Koronarangiografie beim alten Patienten mit NSTEMI Hinsichtlich der Datenlage waren ältere Patienten in den großen randomisierten Studien zwar deutlich unterreprä- sentiert (ca. 13–15%), es liegen jedoch valide Daten zu äl- teren Patienten mit ACS aus großen Registern wie dem Euroheart ACS Survey, dem GRACE-Register oder auch dem deutschen Herzinfarktregister (ACOS) vor [5, 10, 11]. Im Euroheart ACS Survey sowie im Kollektiv des GRACE-Registers zeigte sich vor allem, dass ältere Patien- ten eine erhöhte Mortalität im Rahmen eines ACS aufwei- sen. Jedoch wurden ältere Patienten auch deutlich selte- ner einer invasiven Diagnostik unterzogen und somit sel- Gaede L, Möllmann H. 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CME-Fortbildung tener auch interventionell behandelt [5, 10]. Das ACOS- Register wies bei Patienten mit einem NSTEMI > 75 Jahre (n = 1936) in einer Subgruppenanalyse mittels Propensity Score Matching eine signifikant geringere Mortalität bei den Patienten auf, die eine Koronarangiografie und ent- sprechend – falls notwendig – eine Revaskularisation mit- tels Stentimplantation (PCI) erhielten (6,0 vs. 12,5%; p < 0,001). Diese Daten bestätigen die Ergebnisse der Subgruppenanalyse der randomisierten TACTICS-TIMI- Studie, welche ebenfalls Patienten > 75 Jahre mit NSTEMI ohne größere Komorbiditäten einschloss: Durch die Durchführung einer Koronarangiografie und Revaskulari- sation innerhalb der ersten 48 Stunden konnte die Morta- lität im Rahmen einer 6-monatigen Nachverfolgungszeit halbiert werden [20]. Erfolgte Therapie: Der hier vorgestellte Patient hatte aufgrund der Synkope eine atypische Klinik, dennoch zeigte sich laborchemisch ein signifikanter Troponin-An- stieg. Aufgrund dieses Anstiegs wurde die Diagnose NSTEMI gestellt und der Patient war nach den neuen Leit- linien der europäischen Gesellschaft für Kardiologe als ein Patient mit einem hohen Risiko zu klassifizieren. Daher sollte innerhalb von 24 Stunden eine invasive Unter- suchung erfolgen [15, 18, 21]. Es erfolgte eine Herz- katheteruntersuchung, welche eine Stenose im Bereich der RCA zeigte (▶ Abb. 3). Diese wurde mit einem medi- kamentenbeschichteten Stent behandelt (▶ Abb. 3). Entlassmedikation: ASS 100 mg 1–0–0, Ticagrelor 90 mg 1–0–1 (für 12 Monate), Pantoprazol 40 mg 0–0–1 (für 12 Monate), Atorvastatin 40 mg 0–0–1, Ramipril 5 mg 1–0–0, Bisoprolol 2,5 mg 1–0–0. Kasuistik 3: NSTEMI! – konservativ? 93-jähriger Patient mit Dyspnoe NYHA III–IV und Unter- schenkelödemen bei stationärer Aufnahme. Zudem in der Vorgeschichte typische Angina pectoris bei schwerer Belastung (CCS II) bereits seit ca. 2 Jahren. In der Notauf- nahme hs-TnT mit zunächst 20 pg/ml, nach 3 Stunden 60 pg/ml. a c b d e ▶ Abb. 3 86-jähriger Patient mit Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI) und Z. n. Implantation einer CoreValve-Transkatheter-Aorten- klappe vor 2 Jahren. a Extremitätenableitungen im EKG; b Brustwandableitungen im EKG; c subtotale Stenose der proximalen rechten Herzkranzarterie (RCA); d Stentimplantation nach erfolgreicher Drahtpassage der Stenose; e gutes Ergebnis nach Stent- implantation. 18 Gaede L, Möllmann H. Der alte Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 15–24 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Vorerkrankung: Niereninsuffizienz (Kreatinin 1,7 mg/dl), Vorhofflimmern (Medikation mit Apixaban 2,5 mg 2- mal/d (neues orales Antikoagulans [NOAK] niedrigere Dosierung wegen Alter und bekannter Niereninsuffi- zienz), Z. n. Rektumkarzinom mit Darmteilresektion, Hy- pertonie. Koronarangiografie auch bei > 90-Jährigen? Je älter der Patient desto seltener wird der Einsatz der evi- denzbasierten Therapie. In einer Subgruppenanalyse des großen CRUSADE-Registers, welches Patienten mit NSTEMI > 75 Jahre untersuchte, stellten sich bei sehr al- ten Patienten (> 90 Jahre; n = 5557) zunehmende Kontra- indikationen gegen die empfohlene Medikation wie Aspi- rin (10,0%), Clopidogrel (23,3%), ACE-Hemmer (20,6%), Betablocker (14,0%), Statine (10,9%) oder Glykoprotein- II b/III a-Inhibitoren (40,7%) dar [9]. Jedoch wurden auch die Patienten ohne Kontraindikationen seltener leitlini- enkonform therapiert. So erhielten z. B. nur 30,4% (vs. 45,7% der 75–89-Jährigen [n = 46 270]) ein Statin. Es zeigt sich jedoch auch beim alten Menschen eine gerin- gere Mortalität, wenn die durch die Leitlinien empfohlene Therapie eingehalten wird (▶ Abb. 4). Aufgrund der all- gemein erhöhten Blutungsgefahr von älteren Patienten [7] werden auch seltener Heparin und Glykoprotein-IIb/ IIIa-Inhibitoren angewendet [9]. In der Analyse des CRUSADE-Registers erhielten nur 10,8% der > 90-Jährigen (vs. 36,3% der 75–89-Jährigen) eine Herzkatheteruntersuchung innerhalb der ersten 48 Stunden. Formal zeigten 60% eine Kontraindikation für die Herzkatheteruntersuchung, welche jedoch wie- derum bei 40% der Patienten allein durch das Alter be- gründet wurde. Bei den Patienten, die leitlinienkonform und somit auch interventionell therapiert wurden, bestä- tigte sich zwar eine erhöhte Blutungsneigung, aber es zeigte sich vor allem eine deutlich geringere Gesamtmor- talität – dies auch im Alter > 90 Jahre [9]. Die neuen Leitlinien der ESC zum NSTEMI weisen sogar explizit darauf hin, dass Alter alleine kein Grund für eine konservative Therapie ist – im Gegenteil wird hier klar ein invasives Vorgehen empfohlen [18]. Zu berücksichti- gende Faktoren sind die geschätzte Lebenserwartung, die Lebensqualität und weitere Komorbiditäten sowie der Patientenwunsch [15, 18, 21, 22]. Auch die soge- nannte „Frailty“ – die Gebrechlichkeit – des Patienten ist zu beachten, da diese einen erheblichen Einfluss auf die Lebenserwartung des alten Patienten mit ACS hat [23]. Zudem sollte dem behandelnden Arzt die der Interven- tion folgende notwendige medikamentöse Therapie be- wusst sein. Standardisierte Medikamentendosierungen vor allem im Hinblick auf bestehende – häufig subkli- nische – Nierenfunktionseinschränkungen bergen das Ri- siko von Überdosierungen. Bevor eine endgültige Ent- scheidung und Beurteilung getroffen werden kann, sollte – wenn möglich – mit den Angehörigen gesprochen wer- Age ≥ 90 Age 75–89 P-value for trend < 0,001 P-value for age-treatment interaction = NS 25 20 18,9 % 14,7 % 11,0 % 8,3 % 10,2 % 11,1 % 6,7 % 6,2 % ) % ( y t i l a t r o M l a t i p s o H - n I 15 10 5 0 0–25 26–50 51–75 76–100 Percent Adherence Score (%) ▶ Abb. 4 Abhängigkeit der In-Hospital-Mortalität mit steigender Medika- mentenadhärenz hinsichtlich leitliniengerechter Therapie [9]. den, um so zwischen einer dauerhaften oder lediglich akuten Einschränkung des Allgemeinzustands unter- scheiden zu können. Triple-Therapie? Medikamentöse Therapie des alten Patienten mit Indikation zur oralen Antikoagulation Mit zunehmender Prävalenz von Erkrankungen, die eine orale Antikoagulation fordern, wie z. B. Vorhofflimmern [24] bei ohnehin durch das Alter bedingt erhöhtem Blu- tungsrisiko [7], ist die antithrombozytäre Folgetherapie nach einem akuten Koronarsyndrom ein wichtiges und auch anspruchsvolles Thema. Daher muss zunächst be- reits vor der interventionellen Therapie die Möglichkeit zur antithrombozytären Therapie geklärt werden. Nur falls diese gegeben ist, sollte eine Intervention in die Wege geleitet werden. Die Notwendigkeit der Triple-Therapie wurde in letzter Zeit durch Daten aus randomisierten Studien wie WOEST, PIONEER‑AF, REDUAL‑PCI, ENTRUST‑AF‑PCI und AUGUS- TUS an sehr großen Patientenkollektiven, die auch Pa- tienten mit einem akuten Koronarsyndrom einschlossen, untersucht [25 – 29]. In allen Studien trat durch die Triple- Therapie eine erhöhte Anzahl von relevanten Blutungen ohne eine Verminderung von ischämischen Ereignissen auf [25 – 29]. Die Triple-Therapie sollte daher möglichst spätestens eine Woche nach PCI beendet werden. Aus- nahmen bilden Patienten mit einem besonders hohen ischämischen Risiko, z. B. mit einem erhöhten Risiko für eine Stentthrombose [30]. Für die Thrombozytenaggre- gationshemmung in der Kombination mit oraler Antiko- agulation stellt Clopidogrel das Mittel der Wahl dar. Pra- sugrel und Ticagrelor sind kontraindiziert [16]. In all den o. g. Studien war die Rate der Blutungsereignisse unter Gaede L, Möllmann H. Der alte Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 15–24 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 19
CME-Fortbildung der Medikation mit einem NOAK verglichen mit Marcu- mar niedriger. Die Triple-Therapie sollte – wenn notwen- dig – vorzugsweise mit einem NOAK durchgeführt wer- den. einem sehr Die Reduktion der Dosierung des NOAK sollte unter dua- ler Therapie nur erfolgen, wenn sich aufgrund von Ko- morbiditäten, hohen HASBLED-Score (▶ Tab. 1) oder z. B. geringem Gewicht oder hohem Alter die Indikation hierzu unabhängig von der zusätzlichen Thrombozytenaggregationshemmung ergibt [30]. Hie- rauf sollte besonders bei älteren Frauen mit einem ACS geachtet werden, da diese ein besonders hohes Blu- tungsrisiko aufweisen [31]. Während der Triple-Therapie sollte zur Prävention von Blutungskomplikationen gleich- zeitig ein Protonenpumpeninhibitor (PPI) verschrieben werden [16, 30]. Nach einer dualen Therapie mit Clopidogrel und NOAK über 12 Monate ist bei Patienten mit einem akuten Koro- narsyndrom und Indikation zur oralen Antikoagulation eine Monotherapie mit dem Antikoagulans generell aus- reichend [15, 16, 21]. Dies bestätigte kürzlich die AFIRE- Studie. Hier zeigten sich erhöhte Blutungs- und sogar Mortalitätsraten unter dualer Therapie mit einem Throm- bozytenaggregationshemmer und einem Antikoagulans mehr als 1 Jahr nach PCI oder Bypassoperation [32]. ▶ Tab. 1 HASBLED-Score. H A S B L E D Kondition Hypertonie abnormale Nieren-/Leberfunktion Schlaganfall Z. n. Blutung labile INR-Einstellung Alter > 65 Jahre Medikamente, Alkohol Punkte 1 je 1 1 1 1 1 je 1 ▶ Tab. 2 Differenzialdiagnose Troponin-Erhöhung. kardial Myokardinfarkt Tachyarrhythmia absoluta Herzinsuffizienz Myokarditis nicht kardial Aortendissektion Lungenembolie Apoplex zerebrale Blutungen Tako-Tsubo-Kardiomyopathie Niereninsuffizienz strukturelle Herzerkrankungen Critical Illness (Sepsis, Schock) hypertensive Entgleisung Rhabdomyolyse Hypo-/Hyperparathyreoidismus Erfolgte Therapie: Der Patient wurde koronarangiogra- fiert. Es zeigte sich eine Stenose im Bereich der LAD, wel- che mit einem DE-Stent behandelt wurde. Es erfolgte die Weiterführung der Antikoagulation mit einem NOAK in der niedrigsten als effektiv getesteten Dosierung und die Empfehlung zur antithrombozytären Therapie mit Clopi- dogrel für 12 Monate bei einem HASBLED-Score von 3. Aufgrund einer Magenblutung nach 7 Monaten wurde die Therapie mit Clopidogrel vorzeitig beendet. Entlassmedikation: Apixaban 2,5 mg 1–0–1; Clopido- grel 75 mg 1–0–0 (für 12 Monate), Pantozol 40 mg 0–0– 1 (für 12 Monate), Bisoprolol 5 mg 1–0–1, Ramipril 2,5 mg 1–0–0 (im Verlauf abhängig von der Nierenfunk- tion ggf. steigern). Kasuistik 4: NSTEMI? – konservativ! 92-jähriger Patient mit unklaren Brustschmerzen. In der Notaufnahme hs-TnT mit zunächst 30 pg/ml, in der Kon- trolle nach 3 Stunden 33 pg/ml. Weitere Parameter: Leu- kozyten 12 000/µl, CRP 60 mg/ml, GFR 20 ml/min/ 1,73 m2. Vorerkrankungen: Z. n. mehreren Stürzen mit Verletzungsfolgen, Z. n. Schlaganfall 2010 ohne fokale Residuen. Interpretation Troponin-Erhöhung Die wichtigste Säule in der Diagnostik des NSTEMI neben der klinischen Symptomatik, die Troponin-Erhöhung, ist – auch im Alter – sehr sensitiv. Allerdings besteht eine deutlich geringere Spezifität als bei jungen Patienten. Abhängig vom Assay hat über die Hälfte der Patienten > 75 Jahre eine Erhöhung – auch ohne dass ein klinisch manifestes ACS vorliegt [33]. Troponin ist außerdem bei anderen kardialen, aber auch nicht kardialen Erkrankun- gen erhöht (▶ Tab. 2) [21]. Entsprechend ist zunächst eine klinische Einschätzung essenziell zur Interpretation des Troponin-Werts. Weitere Unterstützung bietet zu- dem die zeitliche Dynamik des Troponins. Eine akut ver- laufende myokardiale Ischämie sollte in einem signifikan- ten Anstieg oder einem Abfall des Troponins resultieren [21, 34, 35]. Ein nahezu stabiles Troponin spricht dagegen gegen ein Akutgeschehen und somit gegen ein akutes Koronarsyndrom. Erfolgte Therapie: In diesem Falle ist ein konservatives Prozedere hinsichtlich der Koronarien sinnvoll. Die Diag- nose NSTEMI sollte aufgrund der fehlenden Dynamik der Troponin-Erhöhung und der entsprechenden Komorbidi- täten, welche ebenfalls eine Erhöhung des Troponins her- vorrufen, in diesem Fall nicht gestellt werden. Im daher zur weiteren Diagnostik durchgeführten Röntgenthorax zeigte sich ein Infiltrat. Es erfolgte eine antibiotische The- rapie bei Pneumonie. 20 Gaede L, Möllmann H. Der alte Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 15–24 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Schlussfolgerung Das ACS ist ein häufiges Krankheitsbild der stets weiter al- ternden Bevölkerung. Trotz vieler Komorbiditäten stellt aktuell das Alter selbst den höchsten Risikofaktor für das Versterben im Rahmen eines akuten Koronarsyndroms dar. Entgegen dem aktuell häufig praktizierten konser- vativen Prozedere befürworten die dargestellten Daten und entsprechend auch die aktuellen Leitlinien die invasi- ve Diagnostik und Therapie – gerade auch beim alten und sogar sehr alten Patienten. Hierdurch können die Letalität und – vielleicht noch wichtiger in dieser Patientengruppe – die Morbidität deutlich gesenkt werden. Dennoch soll- te eine Therapieentscheidung stets – bei alten wie bei jungen Patienten – im Kontext der klinischen Gesamtein- schätzung und nicht aufgrund des Alters allein getroffen werden, um nicht nur die Datenlage, sondern auch ethi- sche Aspekte zu berücksichtigen. Interessenkonflikt Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: ja, von einem/den Sponsor(en) dieser Fortbildungseinheit; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Sponsor der Veranstaltung): nein; Patent/ Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht-Sponsor der Veranstaltung): nein. Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht. Autorinnen/Autoren Luise Gaede Dr. med., ist Oberärztin und Leiterin des Kathe- terlabors am Universitätsklinikum Erlangen, Abteilung Medizin 2. Sie ist Mitglied der Ar- beitsgruppe Interventionelle Kardiologie (AGIK) der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e. V. Helge Möllmann Prof. Dr. med., ist Chefarzt der Klinik für Innere Medizin I (Kardiologie, Nephrologie, Intensiv- medizin, Rhythmologie) am St.‑Johannes- Hospital Dortmund und ist stellvertretender Sprecher der Arbeitsgruppe Interventionelle Kardiologie (AGIK) der Deutschen Gesellschaft Korrespondenzadresse Dr. med. Luise Gaede Medizinische Klinik 2 Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) Ulmenweg 18 91054 Erlangen Deutschland luisegaede@googlemail.com Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungs- bestimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Luise Gaede, Erlangen. Zitierweise für diesen Artikel Dtsch Med Wochenschr 2021; 146 (01): 48–57. doi:10.1055/a-1212-9393 Literatur [1] Dai X, Busby-Whitehead J, Alexander KP. Acute coronary syn- drome in the older adults. J Geriatr Cardiol 2016; 13: 101–108 [2] [3] [4] Brieger D, Eagle K, Goodman S et al. Acute coronary syn- dromes without chest pain, an underdiagnosed and under- treated high-risk group: Insights from the Global Registry of Acute Coronary Events. Chest 2004; 126: 461–469 Bayer AJ, Chadha JS, Farag RR et al. Changing Presentation of Myocardial Infarction with increasing old age. J Am Geriatr Soc 1986; 34: 263–266 Freisinger E, Fuerstenberg T, Malyar NM et al. German nation- wide data on current trends and management of acute myo- cardial infarction: Discrepancies between trials and real-life. Eur Heart J 2014; 35: 979–988 [5] Rosengren A, Wallentin L, Simoons M et al. Age, clinical pre- sentation, and outcome of acute coronary syndromes in the Euroheart acute coronary syndrome survey. Eur Heart J 2006; 27: 789–795 [6] Ibanez B, James S, Agewall S et al. 2017 ESC Guidelines for the management of acute myocardial infarction in patients pre- senting with ST-segment elevation The Task Force for the management of acute myocardial infarction. Eur Heart J 2018; 39: 119–177 [7] Moscucci M, Fox KAA, Cannon CP et al. Predictors of major bleeding in acute coronary syndromes: The Global Registry of Acute Coronary Events (GRACE). Eur Heart J 2003; 24: 1815– 1823 [8] Gallagher S, Knight C. Contrast-induced nephropathy in pri- mary percutaneous coronary intervention. Heart 2011; 97: 1723–1725 für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e. V. [9] Skolnick AH, Alexander KP, Chen AY et al. Characteristics, Man- agement, and Outcomes of 5,557 Patients Age ≥ 90 Years With Acute Coronary Syndromes. Results From the CRUSADE Initiative. J Am Coll Cardiol 2007; 49: 1790–1797 [10] Devlin G, Gore JM, Elliott J et al. Management and 6-month outcomes in elderly and very elderly patients with high-risk non-ST-elevation acute coronary syndromes: The Global Registry of Acute Coronary Events. Eur Heart J 2008; 29: 1275–1282 Gaede L, Möllmann H. Der alte Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 15–24 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 21
CME-Fortbildung [11] Bauer T, Koeth O, Jünger C et al. Effect of an invasive strategy on in-hospital outcome in elderly patients with non-ST-eleva- tion myocardial infarction. Eur Heart J 2007; 28: 2873–2878 [12] De Boer MJ, Ottervanger JP, VanʼT Hof AWJ et al. Reperfusion therapy in elderly patients with acute myocardial infarction: A randomized comparison of primary angioplasty and thrombo- lytic therapy. J Am Coll Cardiol 2002; 39: 1723–1728 [13] Bueno H, Betriu A, Heras M et al. Primary angioplasty vs. fibri- nolysis in very old patients with acute myocardial infarction: TRIANA (TRatamiento del Infarto Agudo de miocardio en An- cianos) randomized trial and pooled analysis with previous studies. Eur Heart J 2011; 32: 51–60 [14] Alexander KP, Chen AY, Roe MT et al. Investigators C. Excess dosing of antiplatelet and antithrombin agents in the treat- ment of non-ST-segment elevation acute coronary syn- dromes. 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Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Den genauen Einsendeschluss finden Sie unter https://cme.thieme.de. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführliche Anleitung. Wir wünschen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! Unter https://eref.thieme.de/CXG3HAW oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests. VNR 2760512021160213066 Frage 1 Frage 5 Wie hoch ist der Anteil der alten Patienten (über 75 Jahre) an vom akuten Koronarsyndrom Betroffenen? A 10% B ca. 20% C ca. 30% D ca. 40% E ca. 50% Frage 2 Die leitlinienkonforme Therapie geriatrischer ACS-Patienten mit NSTEMI … A ist in zahlreichen Staaten Europas, darunter auch Deutsch- land, fest etabliert. Wodurch ist der HASBLED-Score gekennzeichnet? A Ab einem Patientenalter von 75 Jahren wird 1 Punkt ver- geben. B Alkohol- und Nikotinabusus sind mit je 1 Punkt zu bewerten. C Eine Leberfunktionsstörung wird mit 1 Punkt bewertet. D Hyper- sowie Hypotonie fließen gleichsam in die Bewertung ein. E Ein Z. n. Schlaganfall wird mit 2 Punkten bewertet. Frage 6 Eine der folgenden Aussagen zum älteren ACS-Patienten trifft nicht zu. Welche? A Ältere Patienten erhalten seltener eine evidenzbasierte The- B sollte kritisch hinterfragt und nur in Ausnahmefällen durch- rapie als jüngere Patienten. geführt werden. C hat sich in Studien als nachteilig erwiesen. D schließt eine Medikation mit Statinen aus. E zeigt eine geringere Mortalität als nicht evidenzbasierte The- rapieregime. Frage 3 Zu den atypischen Symptomen des akuten Koronarsyndroms gehört z. B. … A Doppelbildersehen. B Diarrhö. C Brustenge. D Pruritus. E Synkope/Präsynkope. Frage 4 Bei der Therapieentscheidung bei sehr alten Patienten mit NSTEMI sind viele Faktoren zu berücksichtigen. Welcher der ge- nannten Punkte ist am wenigsten bedeutsam? A Lebensqualität B chronologisches Patientenalter C geschätzte Lebenserwartung D Patientenwunsch E weitere Komorbiditäten B Die Daten der großen randomisierten Studien sowohl für die interventionelle als auch für die konservative/medikamen- töse Therapie wurden primär an jüngeren Patienten erhoben. C Die Folgemorbidität ist ein wichtiger Aspekt in der Therapie dieser Patientengruppe. D Insgesamt konnte eine abnehmende Anzahl der Patienten mit einem STEMI, jedoch ein deutlicher Anstieg der Patienten mit einem Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI) gezeigt wer- den. E Stentimplantationen sind nur in Ausnahmefällen beim älte- ren ACS-Patienten indiziert. Frage 7 Neben der kurzfristigen Therapie mit Acetylsalicylsäure stellt welche Substanz das Mittel der Wahl zur Thrombozytenaggrega- tionshemmung bei Patienten mit Myokardinfarkt und Indikation zur oralen Antikoagulation dar? A Abciximab B Bivalirudin C Clopidogrel D Prasugrel E Ticagrelor ▶ Weitere Fragen auf der folgenden Seite … Gaede L, Möllmann H. Der alte Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 15–24 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 23
CME-Fortbildung Punkte sammeln auf CME.thieme.de Fortsetzung… Frage 8 Frage 10 Eine der folgenden Aussagen zur Interpretation des Troponin- Werts ist falsch. Welche? A Die wichtigste Säule in der Diagnostik des NSTEMI ist die Er- höhung des Troponin-Werts. B Die Spezifität einer Erhöhung des Troponin-Werts ist unab- hängig vom Patientenalter. C Eine Myokarditis, eine Tachyarrhythmia absoluta oder eine hypertensive Entgleisung können ebenfalls eine Erhöhung des Troponin-Werts bewirken. D Rhabdomyolyse, zerebrale Blutungen oder eine Lungen- embolie sind mögliche nicht kardiale Ursachen für eine Erhö- hung des Troponin-Werts. E Ein nahezu stabiler Troponin-Wert spricht dagegen gegen ein Akutgeschehen resp. ein akutes Koronarsyndrom. Welches Alter legen die europäischen Leitlinien für die interven- tionelle Therapie beim ST-Hebungsinfarkt (STEMI) als Limit fest? A 70 Jahre B 75 Jahre C 80 Jahre D 85 Jahre E kein Limit Frage 9 Bei der invasiven Untersuchung und interventionellen Therapie bei ST-Hebungsinfarkt sollten bei alten Patienten einige Punkte besondere Berücksichtigung finden. Welcher gehört nicht pri- mär dazu? A Cave erhöhte Blutungsraten. B Kontrastmittel restriktiv einsetzen bei eingeschränkter Nie- renfunktion. C Physiologische NaCl-Infusion mit Monitoring der Retentions- werte empfohlen. D Häufig ist die antithrombotische Therapie bei diesen Patien- ten unterdosiert. E Die Überlegenheit der interventionellen Therapie mittels Re- vaskularisation und Stentimplantation gegenüber der Lyse- therapie konnte gezeigt werden. Service für unsere Leser Schön aufgeräumt? Der Sammelordner bringt Struktur in Ihre up2date. Kostenlosen Ordner bestellen: www.thieme.de/mein-up2date-ordner up2date – Fortbildung mit dem roten Faden 24 Gaede L, Möllmann H. Der alte Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 15–24 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Geriatrie up2date 1 · 2021 Dermatologie, Augenheilkunde, HNO 9 Dekubitus: eine Herausforderung Adam Stepniewski Wolfgang Lehmann Dominik Saul Gunther Felmerer VNR: 2760512021160210815 DOI: 10.1055/a-1297-8822 Geriatrie up2date 2021; 3 (1): 27–41 ISSN 2627-0889 © 2021 Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
CME-Fortbildung Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen: Varikosis – Diagnostik und konservative Therapie I. Flessenkämper, V. Wienert Heft 3/2020 Das geschwollene Bein in der gefäßmedizinischen Praxis F. Präve, K. Hoffmann Heft 2/2020 ALLES ONLINE LESEN IHR ONLINE-SAMMELORDNER JETZT FREISCHALTEN Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: online wie offline, am PC und mobil, alle bereits erschienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! https://eref.thieme.de/geri-u2d Sie möchten jederzeit und überall auf Ihr up2date-Archiv zu- greifen? Kein Problem! Ihren immer aktuellen Online- Sammelordner finden Sie unter: https://eref.thieme.de/WT87L Sie haben Ihre Zeit- schrift noch nicht freigeschaltet? Ein Klick genügt: www.thieme.de/eref-registrierung
CME-Fortbildung Dekubitus: eine Herausforderung Adam Stepniewski, Wolfgang Lehmann, Dominik Saul, Gunther Felmerer Trotz eines erheblichen Fortschritts in der medizinischen Versorgung bleibt der Dekubitus eine der häufigsten Komplikationen vor allem bei Patienten, die lange bettlägerig bleiben, Bewegungsstörungen oder Querschnittslähmungen aufweisen. Die Ätiologie eines Druckulkus ist zumeist multifaktoriell. Seine Therapie stellt nach wie vor eine große Herausforderung dar und generiert eine beträchtliche finanzielle Belastung des Gesundheitssystems. ABKÜR ZUNGEN ALT-Lappen CRP PICA VAC-Therapie Vacuum-Assisted-Closure-Therapie anterolateraler Oberschenkellappen C-reaktives Protein A. inferior posterior cerebelli Einleitung DEFINITION Dekubitus Ein Dekubitus ist definiert als ein begrenzter Ge- webeschaden, der im Regelfall über knöchernen Prominenzen lokalisiert ist. Er betrifft isoliert die Haut oder zusätzlich die darunterliegenden Gewebeschichten und Strukturen. Die entstehende Läsion ist die Folge von Druck- oder der Kombination aus Druck- und Scherkräften. Als weitere ätiologische Faktoren werden die zugrunde liegende Grunderkrankung der betroffenen Patienten, Immobili- tät, Feuchtigkeit, eine Infektion durch Epithelläsionen, eine feste Unterlage und wiederholte Traumata ver- mutet. Deren Bedeutung in der Genese des Druckulkus ist jedoch unzureichend geklärt. Pathophysiologisch ist für die Entstehung eines Dekubitus eine Ischämie des subkutanen Fettgewebes, der Muskulatur oder der Haut selbst verantwortlich [1, 2]. Epidemiologie Das Durchschnittsalter von Dekubituspatienten ohne Querschnittsläsion liegt bei ca. 70 Jahren. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Querschnitts- gelähmte Dekubituspatienten sind durchschnittlich 20 Jahre jünger. In dieser Gruppe dominieren die männ- lichen Patienten im Verhältnis von 3 : 1 [2]. Jedoch kön- nen auch bei kindlichen Patienten Druckulzera auftreten, wobei es sich zumeist um intensivmedizinisch therapier- te Kinder handelt [3]. Bei Patienten ohne Querschnittslähmung sind die Ulzera vornehmlich über Sakrum (82%), über Trochanteres (28%) und dem Ischium (10%) lokalisiert. Bei 20% der Be- troffenen findet sich mehr als eine Druckstelle. Meistens handelt es sich dabei um eine Kombination aus sakralem und trochantärem Ulkus. Unter querschnittsgelähmten Patienten dominiert ein Ulkus über Ischium (75%), Sa- krum (bis zu 50%) und der Trochanterregion (16%). Bei fast einem Drittel dieser Betroffenen findet sich mehr als ein Ulkus, wobei hier die Kombination aus ischialer und sakraler Lokalisation (50%) führt. Seltener ist eine gleich- zeitige Lokalisation ischial und trochantär (25%) [2]. Merke Das Vorliegen eines Druckulkus ist mit einer Ein- schränkung der Lebensqualität und der Selbststän- digkeit sowie mit erheblichen Schmerzen verbunden. Der Dekubitus kann zu weiteren Komplikationen füh- ren und korreliert mit einer erhöhten Mortalität [4]. Die ulkusassoziierte Mortalität im Krankenhaus ist in Deutschland insgesamt ansteigend: 2000 wurden 910, 2017 1417 Todesfälle bundesweit registriert, die dem Vorliegen des Dekubitalulkus zugeschrieben werden. Die kumulative Inzidenz im Krankenhaus des Dekubitus nimmt ebenso kontinuierlich zu. Im Jahre 2000 wurden Stepniewski A et al. Dekubitus: eine Herausforderung Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 27
CME-Fortbildung 8612 Dekubitusfälle und 2017 15 003 Fälle unter statio- nären Krankenhauspatienten dokumentiert [4, 5]. In der stationären Altenpflege liegen die Zahlen noch hö- her. Je nach Quelle werden von 15 000 bis sogar 45 000 Pflegeheimbewohner mit Dekubitus genannt. Insgesamt, für Krankenhäuser und Pflegeheime gemeinsam, errei- chen die Prävalenzen und Inzidenzen die Werte von 5,21% bzw. 0,40%. Die Unterschiede in den Angaben re- sultieren aus der heterogenen und teilweise widersprüch- lichen Datenlage. Verantwortlich hierfür sind die nicht einheitlichen kommen Schwierigkeiten in der korrekten Diagnosestellung und Klassifikation der Ulzera [6]. Erhebungsmethoden. Dazu Merke Prävalenz und Inzidenz von Dekubitus sind ge- bräuchliche Indikatoren für Versorgungsqualität. Die hohen Werte von insbesondere der Inzidenz weisen auf erhebliche Mängel in der Gesundheits- versorgung hin [6]. Die genannten Daten berücksichtigen keine ambulanten Patienten. Laut vorsichtigen Schätzungen des Statisti- schen Bundesamtes entwickeln in der Bundesrepublik Deutschland jährlich insgesamt bis zu 400 000 Personen einen Dekubitus [4]. Ökonomische Aspekte Die Behandlung von Druckulzera stellt eine erhebliche fi- nanzielle Belastung des Gesundheitssystems dar. Die Höhe der anfallenden Kosten ist in Deutschland nicht endgültig geklärt. Schätzungen zufolge fallen allein durch die Verlängerung der Verweildauer in den Kranken- häusern jährlich zusätzliche Kosten in Höhe von bis zu 2,2 Milliarden Euro an. Manche Studien gehen von noch höheren Zahlen aus und geben Kosten von jährlich bis zu 2,4 Milliarden Euro allein für die Behandlung von Ulzera der Grade III und IV an. Durch konsequente Prophylaxe könnten jährlich mindestens 350 Millionen Euro einge- spart werden [7, 8]. Merke Daraus wird ersichtlich, dass neben Diagnostik und Therapie der Prävention eine große Rolle zugeschrie- ben wird [9 – 11]. Alle drei Bestandteile des Gesamt- konzepts sind miteinander eng verknüpft und zeitlich nicht zu trennen. Die Durchführung einiger diagnostischer Maßnahmen ist nur während chirurgischer Interventionen möglich, z. B. Gewinnung des Probenmaterials aus tiefer liegenden Wundarealen oder Knochenbiopsien zum Ausschluss einer Osteomyelitis. Mehrere therapeutische Maßnah- men wirken gleichzeitig prophylaktisch gegen Ulkusrezi- dive oder Neumanifestationen. ZUSATZINFO Eigene Statistik 2018 sind in der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Plastische Chirurgie der Universitätsmedizin Göttingen 52 Patienten (w : m = 26 : 26) mit insgesamt 57 Dekubitus stationär behandelt worden. Das Durchschnittsalter betrug 70,84 Jahre (26–97 Jahre). 6 der Patienten waren aufgrund vorbestehender neurologischer Defizite oder aufgrund eines Frailty- Syndroms rollstuhlpflichtig und 3 bettlägerig. 48 Per- sonen waren multimorbid, bei 7 Patienten bestanden Malignome im fortgeschrittenen Stadium. Nur in einem Fall war das Ulkus eine Haupt- bzw. Einwei- sungsdiagnose. Bei den restlichen Patienten handelte es sich um Nebendiagnosen. Die Recherche ergab folgende Arten der Ulzera: ▪ 19 Fersenulzera, ▪ 19 Kreuzbeinulzera, ▪ 13 Sitzbeinulzera, ▪ je 2 Becken- und BWS-Ulzera, ▪ je 1 Trochanter- und okzipitales Kopfulkus. 9 Ulzera konnten der Kategorie I, 36 der Kategorie II, 8 der Kategorie III und 4 der Kategorie IV zugeordnet werden. 37 Dekubitus waren am Aufnahmetag vorbestehend, 10 entwickelten sich während des stationären Auf- enthaltes: ▪ 2 erstgradige im Bereich der Ferse, 2 erstgradige und 1 zweitgradiger über dem Kreuzbein, ▪ 3 erstgradige über dem Sitzbein, ▪ 1 zweitgradiger über dem Beckenkamm und ▪ 1 viertgradiger okzipital. 2 Ulzera der Kategorie III und 4 Ulzera der Kategorie IV wurden operativ behandelt, die Therapie der übrigen wurde konservativ durchgeführt. Die Tendenz in den Jahren 2014–2018 zeigt eine an- steigende Häufigkeit: Im Jahr 2014 sind 10 Dekubitus stationär behandelt worden, während es im Jahr 2015 bereits 31 waren. Im Jahr 2016 wurden 38 Dekubitus stationär behandelt, 2017 waren es bereits 50. Diagnostisches Vorgehen Um einem Patienten eine adäquate, ganzheitliche, multi- disziplinäre Therapie anbieten zu können, muss eine Er- hebung der Anamnese inklusive des Patientenrisikopro- fils sowie der lokalen und systemischen Befunde stattfin- den. Letzteres beinhaltet klinische, laborchemische, ap- parative (konventionelle Röntgendiagnostik, Schnittbild- diagnostik, radiologische Gefäßdarstellung) und intra- operative Untersuchungen [2]. 28 Stepniewski A et al. Dekubitus: eine Herausforderung Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
TIPP Relevant ist eine detaillierte Fotodokumentation der Befunde [12]. Der strukturierte Ansatz zur Risikobewertung soll eine Beurteilung der Aktivität und Mobilität des Patienten er- möglichen. Eine Reihe von Faktoren kann das Risikoprofil beeinflussen (s. Infobox) [1]. ÜBERSICHT Risikofaktoren für einen Dekubitus ▪ gestörte Durchblutung (periphere Verschluss- krankheit, Leriche-Syndrom) und Sauerstoff- sättigung ▪ schlechter Ernährungszustand ▪ erhöhte Hautfeuchtigkeit ▪ erhöhte Körpertemperatur ▪ fortgeschrittenes Alter ▪ gestörte Sinneswahrnehmung ▪ psychiatrische Erkrankungen ▪ Blutbildveränderungen ▪ ein reduzierter Allgemeinzustand (nach [1]) Der Dekubitus soll korrekt klinisch diagnostiziert werden. Hierzu gehören Angaben zur Lokalisation, Größe, Tiefen- ausdehnung, Wundbeschaffenheit und Ätiologie. Die Lokalisation des Schadens und dessen Flächenaus- dehnung lassen vermuten, mit welcher Gewebeart in der Tiefe zu rechnen ist. Da sich die meisten Druckulzera über den knöchernen Vorsprüngen entwickeln und dort Mus- kulatur anatomisch nicht vorkommt, sind einige der älte- ren Klassifikationen überholt [2]. Klassifikation Das gebräuchlichste Klassifikationsschema bietet das Na- tional Pressure Ulcer Advisory Panel [1]. Es berücksichtigt 4 Kategorien bzw. Stadien. Zwei weitere Gruppen be- schreiben Defekte, deren Tiefe unbekannt ist und die des- wegen keiner der Kategorien zuzuordnen sind, sowie De- fekte mit vermuteter tiefer Gewebeschädigung. Das Stadium I ist durch ein nicht wegdrückbares, gut be- grenztes Erythem, gewöhnlich über einem knöchernen Vorsprung, charakterisiert. Ein solches Areal kann schmerzhaft sein. Darüber hinaus kann es sich in Konsis- tenz, Festigkeit und Temperatur vom umliegenden Ge- webe unterscheiden. In die Kategorie II werden Defekte aufgenommen, bei de- nen ein Teilverlust der Haut vorliegt. Der Defekt reicht bis in die Dermis und imponiert als flaches, offenes Ulkus mit rotem oder rosafarbenem Wundgrund. Eine livide Verfär- bung des Wundbettes weist auf einen tiefer reichenden Gewebeschaden hin. Dies kann in Form einer intakten oder rupturierten Bulla imponieren, die sich feucht oder bereits trocken zeigt. Beläge finden sich gewöhnlich nicht. Bei dieser Kategorie ist darauf hinzuweisen, Gewe- bezerreißungen, verbands- oder pflasterbedingte Haut- schäden, perineale Dermatitis, Mazerationen oder Exko- riationen nicht als Dekubitus der Kategorie II zu beschrei- ben. Die Kategorie III bedeutet einen vollständigen Hautverlust. Das subkutane Fett kann freiliegen. Die tieferliegenden Gewebeschichten sind nicht sichtbar. Die auftretenden Beläge verdecken nicht die Tiefe des Defektes. Taschen oder Unterminierungen können vorhanden sein. Die ab- solute Tiefe des Ulkus kann je nach Körperregion und so- mit Dicke des subkutanen Fettgewebes variieren. In Area- len mit dünner Fettgewebsschicht können sie flach er- scheinen. Sehr adipöse Personen können wiederum be- sonders tiefe Ulzera entwickeln, in denen außer subkuta- nem Fett keine weiteren Strukturen exponiert oder tast- bar sind. Die Kategorie IV bedeutet einen vollständigen Gewebever- lust mit freiliegenden Sehnen, Muskeln oder Knochen. Schorf oder Beläge können den Wundgrund teilweise be- decken. Ähnlich wie in der Kategorie III kann die Tiefe des Defektes je nach anatomischer Lage variieren. In Arealen mit wenig subkutanem Fettgewebe können sie flach er- scheinen, während deren absolute Tiefe in Arealen mit reichlich subkutanem Fett beträchtlich sein kann. Die Ul- zera können sich entlang anatomischer Strukturen wie Sehnen, Faszien, Gelenkkapseln oder Kompartimenten ausbreiten und eine Osteomyelitis verursachen. Eine ganze Gruppe von Ulzera kann keiner dieser Katego- rien zugeordnet werden. Ursächlich ist eine vollständige Bedeckung des Wundbettes durch Beläge oder Schorf. Erst die Abtragung dieser ermöglicht die Tiefenbestim- mung und konsekutiv eine kategorische Einteilung. Bei der letzten Defektgruppe kann die Schadenstiefe le- diglich vermutet werden. Sie ist charakterisiert durch ei- nen lividen oder rotbraunen, lokalisierten Bereich intak- ter Haut oder durch blutgefüllte Blasen. Beides wird durch den darunter liegenden Weichteilschaden infolge von Druck- oder Scherkräften verursacht. Die Gewebe- konsistenz und ‑temperatur können im Vergleich zum umliegenden Gewebe verändert sein [1]. Die Kategorien des Dekubitus fasst ▶ Tab. 1 zusammen. Stepniewski A et al. Dekubitus: eine Herausforderung Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 29
CME-Fortbildung Therapeutisches Vorgehen In der Mehrzahl der Fälle befinden sich die Ulzera in den Stadien I und II (▶ Tab. 1). Solche Defekte werden vor- nehmlich konservativ behandelt. In vereinzelten Fällen können auch solche im Stadium III konservativ therapiert werden. Die Stadien III und IV sind jedoch in der Regel Domäne der operativen Therapie [1, 2]. ▶ Tab. 1 Sechs Kategorien/Stadien/Grade des Dekubitus. Kategorien/Stadien/Grad Kennzeichen I II III IV keinem Stadium zuordenbar vermuteter Gewebeschaden nicht wegdrückbares Erythem Teilverlust der Haut vollständiger Hautverlust freiliegendes subkutanes Fett vollständiger Gewebeverlust freiliegende tiefe Gewebeschichten (Faszien, Muskeln, Knochen) Tiefe unbekannt Tiefe unbekannt Bei Patienten, deren Allgemeinzustand eine Operation nicht zulässt, darf unabhängig vom zugrunde liegenden Stadium abgewartet werden. Nach entsprechender Diag- nostik und Vorbereitung können die Ulzera zunächst be- obachtet und konservativ behandelt werden. Wenn wäh- rend dieser Zeit eine signifikante Befundverbesserung zu verzeichnen ist, erscheint die weitere konservative Thera- pie indiziert und gerechtfertigt [13]. Patientenvorbereitung Die Behandlung eines Druckulkus bedeutet mehr als nur die Therapie der Wunde selbst. Eine komplexe, meistens interdisziplinäre Patientenvorbereitung bildet die thera- peutische Strategie. Zum Gesamtkonzept gehört eine Be- urteilung und ggf. Verbesserung des Ernährungszustands des Patienten. Relevant sind ebenso lokale und systemi- sche Infektkontrolle, druckentlastende Maßnahmen so- wie eine Behandlung von Spastik oder Gelenkkontraktu- ren. Darüber hinaus sollten Einschränkungen weiterer Or- gansysteme, vor allem kardiopulmonale, renale, hepati- sche und neurologisch-psychiatrische, mitbehandelt wer- den. Hierzu gehört die Prävention von Rezidiven und Se- kundärschäden. Interdisziplinarität Hinzugezogen werden Spezialisten aus den folgenden Fachgebieten [2, 12, 14]: ▪ Plastische Chirurgie, ▪ Innere Medizin, ▪ Endokrinologie, ▪ Allgemeinchirurgie, ▪ Orthopädie, ▪ Neurologie, ▪ Urologie, ▪ Ernährungsmedizin, ▪ Psychiatrie, ▪ Physiotherapie, ▪ Ergotherapie, ▪ Wundmanagement, ▪ Orthopädietechnik und ▪ Krankenpflege. Ernährung/Malnutrition Eine Malnutrition und Proteinzufuhr von weniger als 1,5 g pro Kilogramm Körpergewicht (kgKG) pro Tag führt zu einer im Labor nachweisbaren Hypoalbuminämie. Merke Ein Serum-Albuminspiegel von mindestens 2,0 g/dl ist notwendig, um eine suffiziente Wundheilung zu ermöglichen. Notwendig ist eine zusätzliche Kalorienzufuhr aus Nicht- proteinen in der Menge von 25–35 Kalorien pro kg pro Tag. Relevant sind ebenso Spiegelkontrollen und eventu- elle Substitution von Mineralien und Spurenelementen. Eine besondere Rolle wird hier dem Zink zugeschrieben, dessen Mangel die Epithelialisierung und Fibroblasten- proliferation stört. Ferner sind Kalzium und Kupfer für en- zymatische Prozesse sowie die Kollagensynthese unab- dingbar. Mängel an den letztgenannten Ionen führen zu Anämien mit den damit vergesellschafteten Komplikatio- nen. Nicht in jedem Fall ist eine Supplementation einfach. In vielen Fällen sind alternative Ernährungsmethoden, wie z. B. eine Ernährung über eine Magensonde, notwendig [13]. Infektion Druckulzera weisen oft lokale Infektionen auf. In solchen Fällen erfolgt ein lokales Débridement – entweder auf der Station oder im Operationssaal. Das nekrotische, avitale Gewebe wird reseziert. Aufgrund der Tatsache, dass die meisten Druckulzeratio- nen auf ihrer Oberfläche mit einer bakteriellen Flora kon- taminiert sind, erscheinen oberflächliche Abstriche nicht sinnvoll. Sie können falsche Ergebnisse liefern. Es werden besser Gewebeproben aus dem angrenzenden, vitalen Bereich entnommen und zur mikrobiologischen Unter- suchung eingeschickt. Auf diese Art und Weise werden adäquate Antibiogramme angefertigt, und eine passen- de, systematische antimikrobielle Therapie kann begon- nen werden. 30 Stepniewski A et al. Dekubitus: eine Herausforderung Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Merke Die am häufigsten vorkommenden Infektionskeime sind ▪ Staphylokokken, ▪ Streptokokken, ▪ Korynebakterien, ▪ Proteus, ▪ Escherichia coli, ▪ Pseudomonas [13]. Eine Knochenbiopsie aus dem Ulkusareal hilft, eine be- gleitende Osteomyelitis zu diagnostizieren und zu behan- deln [12]. ÜBERSICHT Verdacht auf lokale Infektion eines Druckulkus Es besteht V. a. eine lokale Infektion bei folgenden Befunden: ▪ fehlende Anzeichen einer Heilung für zwei Wochen ▪ brüchiges Granulationsgewebe ▪ schlechter Geruch ▪ verstärkter Schmerz im Ulkus ▪ erhöhte Temperatur im Gewebe rund um das Ulkus ▪ vermehrt Exsudat aus der Wunde ▪ Neuauftreten einer blutigen Drainage oder eines eitrigen Exsudats ▪ vermehrtes nekrotisches Gewebe im Wundbett ▪ Taschenbildung oder Brückenbildung im Wund- bett nach [1] Zum therapeutischen Gesamtkonzept gehört auch eine Sanierung der Infekte des Urogenitaltraktes sowie der Atemwege. Eine unbehandelte Infektion der Harnwege kann zu einer konstanten Quelle einer Bakteriämie wer- den. Dauerkatheter, Einmalkatheter und eine Selbst- katheterisierung führen bei 30% der Patienten mit Quer- schnittslähmung zu einer Urosepsis. Besonders Patienten mit einer hohen Querschnittsläh- mung und einer Zwerchfellparese, bettlägerige oder intu- bierte Personen sind von einer Pneumonie bedroht. So- wohl präoperativ als auch postoperativ ist eine entspre- chende Pflege des Respirationstraktes unabdingbar. Sie beruht auf ▪ Lagerungsmaßnahmen, ▪ dem Training der Atemmuskulatur durch Atemübun- gen, ▪ dem Abhusten, ▪ Physiotherapie und ▪ der medikamentösen Bronchodilatation [13]. Ein weiterer wichtiger Schritt zur Infektkontrolle ist die Reduktion der lokalen Kontaminierung durch die Darm- flora, insbesondere bei stuhlinkontinenten Patienten. Sie kann durch die Anlage eines doppelläufigen oder end- ständigen Anus praeter erreicht werden [14]. Der nächste notwendige Schritt ist die Identifikation von Druckquellen und die Reduktion von lokaler Druckeinwir- kung bei bettlägerigen oder rollstuhlpflichtigen Per- sonen. Eine wichtige Rolle spielen dabei regelmäßige kli- nische Inspektionen des Integuments und die rechtzei- tige Identifikation kritischer Körperareale. Zudem steht die Beseitigung des lokalen Drucks im Vordergrund, wel- cher durch die Anwendung medizinischer Ausrüstung entsteht (z. B. durch apparative Diagnostik bei Intensiv- patienten). Solche Maßnahmen betreffen gleichermaßen kindliche Patienten, bei denen die Inzidenz der Druckulzera wäh- rend der Therapie auf Intensivstationen bis zu 57,1% errei- chen kann. Sowohl Kinder als auch Erwachsene sind von einem Dekubitus durch Anwendung medizinischer Hilfs- mittel bedroht (Manschetten, Sonden, Katheter usw.) [1]. Merke Eine Druckentlastung kritischer Körperstellen für 5 Minuten im zweistündigen Rhythmus trägt signifikant zur Verbesserung des Lokalzustands bei. Auf dem Markt existiert eine breite Auswahl diverser Mat- ratzen, Gelkissen und Auflagen für bettlägerige und roll- stuhlmobile Patienten. Deren Zweck beruht auf einer gleichmäßigen Druckdistribution und damit besseren Perfusion des Gewebes [2, 3, 13]. TAKE HOME MESSAGE Alle bisher genannten druckentlastenden Maßnah- men können zu einer Verbesserung des Befundes beitragen. Im Falle der Druckulzera in den Stadien I und II kann dadurch eine vollständige Restitution erreicht werden [2]. Spastik Patienten mit einer Spastik haben meistens eine fixierte Veränderung ihrer Körperhaltung. Dadurch kommt es zu einer Einschränkung oder kompletten Aufhebung ihrer Mobilität. In solchen Fällen ist eine selbstständige Entlas- tung von druckexponierten Stellen oft nicht möglich. Das resultiert in der Entstehung von Druckulzera. Eine Spastik ist typisch bei Patienten mit Verletzungen des Rücken- marks. Je kranialer die Läsion liegt, desto höher das Risiko einer Spastikentwicklung. Bei zervikalen Rückenmarkver- letzungen liegt die Inzidenz einer Spastik bei nahezu 100%. Bei thorakal und thorakolumbal gelegenen Läsio- nen liegt sie entsprechend bei 75 % und 50%. Stepniewski A et al. Dekubitus: eine Herausforderung Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 31
CME-Fortbildung Die Behandlung der Spastik beinhaltet konservative und chirurgische Maßnahmen: ▪ detonisierende, physiotherapeutische Anwendungen, ▪ Injektionstechniken inklusive Botox-Injektionen, ▪ Anlagen von Kathetern zur peripheren Blockade oder zentralnervösen Stimulation, ▪ Tenotomien, Arthrotomien, Ersatzoperationen, Seh- nentransfers und Umstellungsosteotomien. Die gleichen Maßnahmen kommen zur Behandlung von Kontrakturen zum Einsatz [13]. Nach der dem Einzelfall individuell angepassten Vorberei- tung kann die eigentliche operative Therapie erfolgen. Operationsindikation und ‑kontraindikation Die Indikation für eine Operation kann vital, akut oder re- lativ sein (s. a. Übersicht). ÜBERSICHT Operationsindikation Vitale OP-Indikation bei ▪ akuter arterieller oder venöser Arrosionsblutung ▪ schwerer Sepsis ▪ einem Karzinom im Ulkusbereich Absolute OP-Indikation bei ▪ tiefer Osteomyelitis am Dekubitusgrund ▪ Gelenkbeteiligung ▪ multiplen Ulzera Eine relative Indikation liegt vor, wenn durch die Opera- tion ▪ ein schnellerer Wundverschluss und eine bessere Weichteildeckung erreicht werden, ▪ die Sanierung eines lokalen Infektes erfolgt, ▪ eine Schmerzreduktion oder Pflegeoptimierung er- reicht werden soll, ▪ ein unangenehmer Geruch aus der Wunde bekämpft werden soll. Eine operative Sanierung beschleunigt oder ermöglicht eine Verlegung in eine Rehabilitationsklinik, ins häusliche Umfeld oder ein Pflegeheim [14]. Cave Die operative Therapie ist bei Patienten mit absehbar infauster Prognose und einer Tumorkachexie kontra- indiziert. Eine relative Kontraindikation besteht bei ▪ Orientierungsverlust, ▪ mangelnder Kooperationsfähigkeit, ▪ fehlender Mobilisationsfähigkeit. Eine kardiale Dekompensation und ein dekompensierter Diabetes mellitus sollten zuerst stationär behandelt wer- den [2]. Grundsätzliches zum chirurgischen Vorgehen Débridement Die eigentliche chirurgische Therapie der Druckulzera be- ginnt mit Débridements. Das nekrotische Material wird zunächst vollständig reseziert. Dabei werden Proben für die mikrobiologischen Untersuchungen aus dem vitalen, angrenzenden Bereich entnommen. Die Débridements werden in vielen Fällen mehrmals in mehrtägigen Abstän- den wiederholt, bis ein infektfreies Milieu erreicht wird [13]. Dabei kommt den Verbandstechniken eine beson- dere Rolle zu. Verschiedenste passive und aktive Tech- niken kommen hierbei zur Anwendung, z. B. solche mit antimikrobieller oder gewebezersetzender Wirkungswei- se. Eine besondere Rolle wird der Vacuum-Assisted-Closure- Therapie (VAC-Therapie) zugeschrieben. Die Verbände, die auf der Applikation vom Unterdruck basieren, bieten mehrere Vorteile. Sie ermöglichen die kontinuierliche Drainage und Entfernung von Flüssigkeiten und Sekreten aus dem Interstitium mit gleichzeitiger Verbesserung der Vaskularisierung. Dadurch erfolgt eine im Vergleich zu konventionellen Verbänden schnellere Reduktion der De- fektgröße, schnellere Bildung vom Granulationsgewebe und Reduktion der Keimbesiedlung. Dank VAC-Verbän- den reduziert sich die Komplikationsrate, der stationäre Aufenthalt verkürzt sich, und die Anzahl der offenen Wunden nach 3 Monaten ist reduziert im Vergleich zu Pa- tienten, die mit konventionellen Verbandstechniken be- handelt werden. Nicht zu vernachlässigen ist der ökonomische Aspekt: Durch die Verkürzung der stationären Verweildauer wird eine signifikante Reduktion der Behandlungskosten [15, 16] erreicht. In vereinzelten Fällen können auf diese Art und Weise auch tiefere Ulzera im Stadium III zur Ausheilung ge- bracht werden. Cave Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Wundver- schluss durch die Narbenbildung erfolgt. Eine Narbe ist in solchen Fällen mit epithelialisiertem Granula- tionsgewebe gleichzusetzen. Somit ist die Belast- barkeit solcher Stellen nur eingeschränkt und das Rezidivrisiko erhöht [14]. 32 Stepniewski A et al. Dekubitus: eine Herausforderung Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
FALLBEISPIEL 1 In der chirurgischen Notaufnahme wurde ein 70-jähriger, verwahrloster Patient aufgenommen. Er wurde zu Hause vorgefunden, nachdem er bereits mehrere Tage auf dem Fußboden lag. Als Vorerkrankung war ein maligner, polytop me- tastasierter Tumor im fortgeschrittenen Stadium bekannt. Die klinische Untersuchung zeigte einen nicht orientierten Patienten, der dorsalseitig einen großflächigen Dekubitus in mehreren Stadien aufwies. Sakral fand sich ein Ulkus im Stadium IV (▶ Abb. 1). Lokal konnten keine Infektzeichen festgestellt werden. Die Laboruntersuchung ergab eine tumorbedingte Erhöhung der Entzündungs- parameter, eine Elektrolytentgleisung, starke Hypoalbuminämie und Anämie. Aufgrund der hochpalliativen Situation wurde auf die operative Versorgung des sakralen Ulkus verzichtet. Wenige Tage später verstarb der Patient auf einer Palliativstation in Folge seines terminalen Tumor- leidens. ▶ Abb. 1 Großflächiges Ulkus mit einem großen, roten Areal der Kategorie I und einem Defekt Stadium IV über dem Sakrum (Quelle: Universitätsmedizin Göttingen). Knochenresektion Im Rahmen der Débridements können auch die knöcher- nen Prominenzen reseziert werden. Dadurch erfolgt eine Umverteilung der Druckverhältnisse mit Entlastung kriti- scher Areale. Auf diese Weise sinkt das Rezidivrisiko. Die zu radikale Resektion sollte jedoch vermieden werden. Bei zu großzügiger Ostektomie werden schlecht be- herrschbare Blutungen provoziert. Darüber hinaus kön- nen an anderen Stellen neue Ulzera entstehen, die aus den neuen, ungünstigen Druckverhältnissen resultieren. Als Beispiel kann ein kontralaterales Druckulkus über dem Tuber ischiadicum genannt werden, welches sich nach zu radikaler Resektion des Tubers auf der primär er- krankten Seite entwickeln kann. Daraus wird ersichtlich, dass das Ausmaß der Knochenresektion immer individu- ell entschieden werden muss [13]. Defektverschluss Für den geplanten Defektverschluss sollten die Lokalisati- on, Flächenausdehnung, Tiefe und vorangegangene so- wie potenziell zukünftige Operationen berücksichtigt werden. Der Verlauf alter Narben kann die Art des Gewe- betransfers beeinflussen. Eine Primärnaht sollte aufgrund des Gewebemangels ver- mieden werden. Die bei der Primärnaht entstehende Ge- webespannung führt zur Entstehung von schwachem Narbengewebe, das über den knöchernen Prominenzen keinen ausreichenden Schutz zu bieten vermag. Oft tre- ten Wunddehiszenzen auf. Ein Hauttransplantat zur Dekubitusdeckung stellt nicht die Methode der 1. Wahl dar. In 30% der Fälle führt eine Hauttransplantation zu instabilen Weichteilverhältnissen. Merke Die sicherste Methode der Defektdeckung stellen Lappenplastiken dar. Myokutane Lappen bieten viel Volumen, gute Durchblu- tung und eignen sich dadurch zur Behandlung infizierter Ulzera. Sie besitzen aber einige Nachteile, so kontrahie- ren sie bei gehfähigen Patienten, falls sie nicht zuvor de- nerviert wurden. Außerdem sind diese Muskeln bei quer- schnittsgelähmten Personen häufig atroph. Oft bieten fasziokutane Lappen eine überlegene Alternati- ve. Mithilfe solcher Lappen können die Defekte über knö- chernen Prominenzen im Hautniveau gedeckt werden. Sie bieten jedoch wenig Volumen, was bei der Behand- lung tiefer Ulzera und Ulzera mit freiliegenden Knochen von Nachteil ist [13, 17]. Stepniewski A et al. Dekubitus: eine Herausforderung Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 33
CME-Fortbildung FALLBEISPIEL 2 In der Ambulanz stellte sich ein 29-jähriger Patient vor. Er war aufgrund einer traumatisch bedingten Querschnitts- lähmung in Höhe der Brustwirbelsäule rollstuhlpflichtig. In den Jahren zuvor wurden bei ihm mehrere Ulzera an diversen Lokalisationen sowohl konservativ als auch operativ therapiert. Diesmal ergab die klinische Untersuchung ein viertgradi- ges Rezidivulkus über dem linken Sitzbein. Weder klinisch noch laborchemisch waren Infektzeichen detektierbar. Nutritive Defizite wurden ausgeschlossen. Es fiel eine defekte Sitzpolsterung in seinem Rollstuhl auf: Somit war diese die wahr- scheinlichste Ursache für die Entstehung des Dekubitus. Im Rahmen des nachfolgenden stationären Aufenthaltes wurde ein Débridement mit einzeitiger plastischer Defekt- deckung in Form eines gefäßgestielten, fasziokutanen, dorsalen Oberschenkel-V–Y-Advancement-Lappens vor- genommen. Der Dekubitus wurde erfolgreich therapiert (▶ Abb. 2). ▶ Abb. 2 Rezidiv-Druckulkus über dem linken Sitzbein (Quelle: Universitätsmedizin Göttingen). a Präoperativ. b Zustand 3 Jahre nach Deckung mit einem gefäßfestielten V–Y-Vorschublappen. Chirurgische Behandlung von Dekubitalulzera an den häufigsten Lokalisationen Sitzbeinulkus Zur Behandlung von Ulzera über dem Sitzbein bei roll- stuhlpflichtigen Personen eignen sich beide Lappenarten, sowohl die myokutanen als auch die fasziokutanen. Hier existiert eine breite Palette der verfügbaren Techniken: ▪ M.-gracilis-Lappen, ▪ Tensor-fasciae-latae-Lappen, ▪ M.-biceps-V–Y-Lappen, ▪ Hamstring-Lappen, ▪ medial gestielter Posterior-Thigh-Lappen, ▪ Posterior-Thigh-Insellappen, ▪ myokutaner Gluteus-maximus-Lappen, ▪ Gluteus-maximus-Muskellappen. Die Ulzera über dem Sitzbein neigen unabhängig von der Behandlungsmethode zu Rezidiven. Es sind Rezidivraten von bis zu 77 % berichtet worden. Merke Aus diesem Grund soll die Planung einer Lappen- plastik die eventuellen künftigen Lappenplastiken berücksichtigen [13, 14]. Kreuzbeinulkus Die gleiche Strategie betrifft die Behandlung sakraler De- kubitalulzera, die meistens bei bettlägerigen Patienten auftreten. Hier sind die Rezidivraten deutlich niedriger und liegen bei 16% [13]. Die Techniken basieren auf der Anwendung von M.-gluteus-Lappen in geschwenkter oder rotierter Form, als reine Muskellappen, myokutane oder fasziokutane Lappen. Sie können einseitig oder beidseitig, als gegenläufige Transfers oder Turnover-Lap- pen benutzt werden. Weitere Techniken, die bei sakralen Defekten in Frage kommen sind: ein- oder beidseitiger V– Y-Advancement-Lappen oder vertikaler lumbaler Ver- schiebelappen. Die letztgenannten sind jedoch aufgrund ihres dünnen Aufbaus zur Deckung tiefer Ulzera nicht ge- 34 Stepniewski A et al. Dekubitus: eine Herausforderung Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
FALLBEISPIEL 3 Eine 57-jährige Patientin wurde von einem auswärtigen Krankenhaus verlegt, nachdem sie dort wegen eines Polytraumas therapiert worden war. Während des Aufenthaltes auf der dortigen Intensivstation entwickelte sich bei der Patientin ein viertgradiges Ulkus in der Sakralregion. Die operative Therapie beruht auf einem einzeitigen Prozedere bestehend aus einem Débridement und einem beidseiti- gen, perforatorbasierten, fasziokutanen V–Y-Vorschublappen. Der Dekubitus konnte erfolgreich verschlossen werden (▶ Abb. 3). ▶ Abb. 3 Druckulkus über dem Sakrum (Quelle: Universitätsmedizin Göttingen). a Präoperativ. b Zustand 2 Wochen nach Lappendeckung mit beidseitigem V–Y-Vorschublappen. eignet [13, 14]. Seltener kommen freie Lappen zur An- wendung [2]. Trochanterulkus Patienten mit Gelenkkontrakturen, insbesondere Hüftge- lenkkontrakturen, neigen zu einer Seitenlagerung. Diese Tatsache prädisponiert sie zur Entwicklung von Dekubi- talulzera über den Trochantern. Zur deren Behandlung eignet sich vor allem der Tensor-fasciae-latae-Lappen. Eine gute Lösung bieten auch der Gluteal-Thigh-Lappen und der posterior oder anterior gestielte Random-Pat- tern-Oberschenkellappen [14]. Fersenulkus Alternativ kommen diverse Lappentechniken in Frage. Als lokaler Lappen eignet sich vor allem ein Fersenrotations- lappen, gehoben als fasziokutane oder adipokutane Vari- ante. Ein supramalleollärer adipofaszialer Lappen mit ein- zeitiger Spalthaudeckung, ein Instep-Flap, ein A.-malleol- laris-lateralis-Insellappen und ein Propellerlappen stellen weitere Möglichkeiten der Versorgung dar. Des Weiteren können unterschiedliche Fernlappen angewendet wer- den. Hier sind der A.-dorsalis-pedis-Lappen, retrograde Suralis-Insellappen, Abductor-digiti-minimi-Muskel-Lap- pen oder Peroneus-brevis-Muskel-Lappen zu nennen. Die beiden letztgenannten Techniken müssen durch eine einzeitige Spalthauttransplantation ergänzt werden [17]. Bei Fersenulzera darf, sofern keine infizierte Nekrose vor- liegt, zunächst abgewartet werden. Bei ausbleibender spontaner Heilung der Fersenulzera können diese Läsio- nen mithilfe zahlreicher Techniken therapiert werden. Eine direkte Naht ist meistens nicht möglich. Eine Spalt- haut- oder Vollhautdeckung ist nur dorsal, außerhalb der Belastungszone, sinnvoll. Freie fasziokutane und myokutane Lappen stellen weitere Therapieoptionen dar. Das mit dem Lappen transplantier- te subkutane Fettgewebe kann die Stabilität der Belas- tungszone gegenüber Scherkräften vermindern. Für die tiefen, infizierten Defekte mit freiliegendem Knochen sind freie Muskellappen mit einzeitiger Spalthauttrans- plantation die Methode der Wahl. Ihre Muskelmasse lässt Stepniewski A et al. Dekubitus: eine Herausforderung Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 35
CME-Fortbildung FALLBEISPIEL 4 Eine 64-jährige Patientin wurde wegen eines viertgradigen Druckulkus im Bereich des linken Trochanter major stationär aufgenommen. Folgende Vorerkrankungen waren bekannt: ein posttraumatisches Querschnittssyndrom ab Th6 mit Pa- raplegie nach Sturz aus großer Höhe, eine chronisch respiratorische Insuffizienz bei restriktiver Ventilationsstörung bei Zwerchfellparese rechts, Epilepsie mit komplex fokalen Anfällen, arterielle Hypertonie, Hypothyreose, Diabetes mellitus Typ 2, Osteoporose, Depression und Zustand nach PICA-Infarkt rechts. Lokal fanden sich Zeichen einer Infektion, die La- borwerte zeigten ein CRP von 201 mg/l und eine Leukozytose von 15 600/µl. Eine Knochenaffektion wurde ausgeschlos- sen. Nach zweimaligem Débridement mit VAC-Anlage konnte im Rahmen der dritten Operation eine definitive plastische De- ckung der Wunde mit einem Tensor-fasciae-latae-Lappen durchgeführt werden (▶ Abb. 4). ▶ Abb. 4 Dekubitus über dem Trochanter major (Quelle: Universitätsmedizin Göttingen). a Während eines der Débridements (Patient in Rückenlage auf dem Operationstisch). b Zustand nach definitiver Lappendeckung mit Tensor-fasciae-latae-Lappen (Patient in Bauchlage auf dem Operations- tisch). die voluminösen, dreidiminsionalen Defekte adäquat ausfüllen. Die empfohlenen Lappen sind: ▪ Abductor-hallucis-brevis-Lappen, ▪ Gracilis-Lappen, ▪ Rectus-abdominis-Lappen und ▪ Latissimus-dorsi-Lappen. Bei flachen Defekten ohne Exposition der knöchernen Strukturen sind die freien fasziokutanen Lappen eine gute Alternative [14, 17]: ▪ ein ALT-Lappen, ▪ lateraler Oberarmlappen, ▪ Leistenlappen, ▪ Skapulalappen oder ▪ Paraskapularlappen. FALLBEISPIEL 5 In der chirurgischen Poliklinik wurde eine 62-jährige Patientin mit einem viertgradigen Druckulkus im Bereich der rechten Ferse vorgestellt. Der Kalkaneus lag frei, eine floride Osteomyelitis konnte jedoch aus- geschlossen werden. Der Lokalbefund war infiziert, was mit einer mäßigen Erhöhung von Infektpara- metern (CRP 44,9 mg/l) und einer Leukozytose (12 200/µl) korrelierte. Als Vorerkrankungen waren bekannt: Fortsetzung nächste Seite 36 Stepniewski A et al. Dekubitus: eine Herausforderung Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
FALLBEISPIEL 5 (FORTSET ZU NG) ▪ arterielle Verschlusskrankheit vom Oberschenkeltyp im Stadium IV und Zustand nach Rekanalisierung der A. femoralis superficialis sowie einer Stentimplantation in die A. poplitea links 2 Jahre zuvor, ▪ 90%ige Stenose der A. carotis interna links, ▪ Fazialisparese rechts, ▪ Polyneuropathie der Unterschenkel beidseitig, ▪ arterielle Hypertonie sowie ▪ Adipositas permagna. Im Verlauf wurden drei Débridements der Wunde durchgeführt. Im Rahmen der vierten Operation erfolgte der Defekt- verschluss mittels eines retrograden, gefäßgestielten fasziokutanen Suralislappens (▶ Abb. 5). Die genannten Prinzipien sind universell und können auch an anderen betroffenen Körperregionen bei Dekubituspatien- ten angewendet werden. Sie unterscheiden sich lediglich in den Lappentechniken, die zur Defektdeckung in Abhängigkeit von der anatomischen Lokalisation benutzt werden (▶ Abb. 6). ▶ Abb. 5 Fersenulkus (Quelle: Universitätsmedizin Göttingen). a Präoperativ. b Zustand 2 Wochen nach einer Deckung mit einem gefäßgestielten, retrograden, fasziokutanen Suralislappen. ▶ Abb. 6 Ellenbogenulkus (Quelle: Universitätsmedizin Göttingen). a Präoperativ. b Zustand nach einer Deckung mit einem Limberg-Lappen. Stepniewski A et al. Dekubitus: eine Herausforderung Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 37
CME-Fortbildung Postoperative Nachbehandlung Die postoperative Nachbehandlung verfolgt zwei Haupt- ziele: Sie sichert den Erfolg der Operation und beugt Re- zidiven vor. Die postoperative Nachbehandlung ist somit gleichzeitig ein Bestandteil der Prophylaxe. Sie beinhaltet die einzelnen Maßnahmen, die im Abschnitt über die Pa- tientenvorbereitung beschrieben worden sind, oder de- ren Kombination. Schlussfolgerungen In der Dekubitusbehandlung wird der Diagnostik, der Therapie sowie vor allem der Prävention gleichermaßen eine große Rolle zugeschrieben. Alle drei Bestandteile des Gesamtkonzepts sind eng miteinander verknüpft und zeitlich nicht strikt voneinander zu trennen. Sie sind an allen Körperregionen der betroffenen Patienten uni- versell anwendbar. KERNAUSSAGEN ▪ Ein Dekubitus ist ein begrenzter Gewebeschaden, der meistens über den knöchernen Prominenzen lokalisiert ist. Die Schädigung betrifft isoliert die Haut oder zusätzlich die darunter liegenden Ge- webeschichten und Strukturen. ▪ Ein Dekubitus entsteht durch Druck oder der Kom- bination aus Druck- und Scherkräften. ▪ Eine umfangreiche Diagnostik und korrekte Eintei- lung ist wichtig für die weitere Patientenbehand- lung. ▪ Ein Dekubitus kann abhängig vom Stadium und Patientenzustand konservativ oder operativ thera- piert werden. ▪ Die Prophylaxe von Rezidiven und Folgeschäden ist essenzieller Bestandteil des Gesamtkonzeptes. Interessenkonflikt Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an im Bereich der Medizin aktiven Firma: nein; Patent/ Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an zu Sponsoren dieser Fortbildung bzw. durch die Fortbil- dung in ihren Geschäftsinteressen berührten Firma: nein. Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht. Autorinnen/Autoren Adam Stepniewski Dr. med. 1995–2002 Medizinstudium an der Georg-August-Universität Göttingen, 2014 Facharzt für Unfallchirurgie und Orthopädie, 2018 Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie. Seit 2018 Stellvertretender Leiter Schwerpunkt Plastische Chirurgie der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Plastische Chirurgie, Universitätsmedizin Göttingen. Schwerpunkte: Chirurgie des Lymphödems, Mikrochirurgie, rekonstruktive Chirurgie, ästhetische Chirurgie. Wolfgang Lehmann Prof. Dr. med. 1992–1998 Studium der Hu- manmedizin, Martin-Luther-Universität Halle/ Saale und Medizinische Hochschule Hannover, 2004 Facharzt für Chirurgie, 2007 Facharzt für Unfallchirurgie, 2010 Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, 2005 Diplom Gesundheits- ökonom, 2006 Venia Legendi für das Fach Chirurgie, 2012 Er- nennung zum außerplanmäßigen Professor. Seit 2016 Direk- tor der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Plastische Chirurgie, Universitätsmedizin Göttingen (W3-Professur). Schwerpunkte: Becken- und Hüftchirurgie, Wirbelsäulen- chirurgie. Dominik Saul PD Dr. med., Jahrgang 1988. 2007–2013 Stu- dium der Humanmedizin an der Universität Göttingen, 2014–2020 Facharztausbildung, 2019 Venia Legendi für Unfallchirurgie und Orthopädie. Schwerpunkte: Wirbelsäulen- chirurgie, experimentelle Chirurgie. Gunther Felmerer PD Dr. med. 1989–1996 Medizinstudium an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, 2002 Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirur- gie, 2016 Venia Legendi für Plastische und Äs- thetische Chirurgie. Seit 2010 Leitender Arzt Schwerpunkt Plastische Chirurgie der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Plastische Chirurgie, Universitätsmedizin Göttingen. Schwerpunkte: Chirurgie des Lymphödems, Brustchirurgie, Mikrochirurgie, Hautstraffun- gen nach Gewichtsabnahme, periphere Nervenchirurgie, TMR-Chirurgie, ästhetische Chirurgie. Korrespondenzadresse Dr. med. Adam Stepniewski Schwerpunkt Plastische und Ästhetische Chirurgie Klinik Für Unfallchirurgie, Orthopädie und Plastische Chirurgie Universitätsmedizin Göttingen Robert-Koch-Str. 40 37075 Göttingen Deutschland adam.stepniewski@med.uni-goettingen.de 38 Stepniewski A et al. Dekubitus: eine Herausforderung Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungs- bestimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Adam Stepniewski, Göttingen. Zitierweise für diesen Artikel Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41. doi:10.1055/a-1297-8822 Dieser Beitrag ist eine aktualisierte Version des Artikels: Stepniewski A, Lehmann W, Saul D, Felmerer G. Dekubitus: eine Herausforderung. Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 2020; 15(05): 487–501. doi:10.1055/a-1089-3148 Literatur [1] National Pressure Ulcer Advisory Panel. Prevention and Treat- ment of Pressure Ulcers: quick Reference Guide, 2nd edn. In: Haesler E, ed. Osborne Park: Cambridge Media; 2014 [2] [3] [4] [5] [6] [7] Bruck J, Hierner R. Dekubitalulzera im Beckenbereich. In: Ber- ger A, Hierner R, Hrsg. Plastische Chirurgie Band III: Mamma – Stamm – Genitale. Berlin Heidelberg: Springer; 2007: 461– 485 Simsic JM, Dolan K, Howitz S et al. Prevention of pressure ul- cers in a pediatric cardiac intensive care unit. Pediatr Qual Saf 2019; 4: e162. doi:10.1097/pq9.0000000000000162 Leffmann C, Anders J, Heinemann A et al. Gesundheitsbericht- serstattung des Bundes, Themenheft 12-Dekubitus. Berlin: Robert Koch-Institut in Zusammenarbeit mit dem Statisti- schen Bundesamt; 2002 Statistisches Bundesamt. Diagnosedaten der Krankenhäuser ab 2000 (Eckdaten der vollstationären Patienten und Patien- tinnen). Gliederungsmerkmale: Jahre, Behandlungs-/Wohn- ort, ICD10. In: Statistisches Bundesamt, Hrsg. Gesundheits- berichtserstattung des Bundes-gemeinsam getragen von RKI und DESTATIS. Bonn: Das Statistische Bundesamt, Zweigstelle Bonn; 2019 Tomova-Simitchieva T, Akdeniz M, Blume-Peytavi U et al. Die Epidemiologie des Dekubitus in Deutschland: eine systemati- sche Übersicht. Gesundheitswesen 2019; 81: 505–512. doi:10.1055/s-0043–122069 Eibel G. Kostenfaktor Dekubitus Eine Analyse von Dekubitalul- zera auf medizinisch geriatrischen Stationen [Masterarbeit]. Graz: Medizinische Universität Graz; 2012 [8] Cerny M, Hellmich S, Schwarz-Boeger U et al. DRG Erlöse und Kosten multimorbider Patienten im deutschen DRG-System – Analyse der operativen Behandlung chronischer Wunden an einer Universitätsklinik am Beispiel des Dekubitus. Handchir Mikrochir Plast Chir 2018; 50: 284–290. doi:10.1055/a- 0621–9324 [9] Fulbrook P, Mbuzi V, Miles S. Effectiveness of prophylactic sa- cral protective dressings to prevent pressure injury: A system- atic review and meta-analysis. Int J Nurs Stud 2019; 100: 103400. doi:10.1016/j.ijnurstu.2019.103400 [10] Hahnel E, El Genedy M, Tomova-Simitchieva T et al. The effec- tiveness of two silicone dressings for sacral and heel pressure ulcer prevention in high risk intensive care unit patients com- pared to no dressings: a randomized controlled parallel-group trial. Br J Dermatol 2019. doi:10.1111/bjd.18621. Im Internet: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/doi:10.1111/ bjd.18621; Stand: 13.03.2020 [11] Nixon J, Brown S, Smith IL et al. Comparing alternating pres- sure mattresses and high-specification foam mattresses to prevent pressure ulcers in high-risk patients: the PRESSURE 2 RCT. Health Technol Assess 2019; 23: 1–176. doi:10.3310/ hta23520 [12] Meier C, Boes S, Gemperli A et al. Treatment and cost of pres- sure injury stage III or IV in four patients with spinal cord in- jury: the Basel Decubitus Concept. Spinal Cord Ser Cases 2019; 5: 30. doi:10.1038/s41394-019-0173-0 [13] Bauer J, Mancoll J, Linda P. Pressure Sores. In: Thorne C, Beasley R, Aston S, Bartlett SP, Gurtner GC, Spear SL, eds. Grabb & Smithʼs plastic surgery, 6th edn. Philadelphia: Wolters Kluver Health, Lippincott Williams & Wilkins; 2006: 720–729 [14] Vogt P, Lahoda L-U. Lappenplastik Leiste und Becken. In: Vogt P, Hrsg. Praxis der Plastischen Chirurgie. Berlin, Heidelberg: Springer; 2011: 183–195 [15] Ploumis A, Mpourazanis G, Martzivanou C et al. The role of vacuum assisted closure in patients with pressure ulcer and spinal cord injury: a systematic review. World J Plast Surg 2019; 8: 279–284. doi:10.29252/wjps.8.3.279 [16] Felmerer G, Allert S, Hierner R et al. Vacuum assisted wound closure before plastic-surgery procedures. J Wound Healing ZfW 2000; 13: 62–63 [17] Lin C-H, Lin C-H. Reconstruction of the weight-bearing Heel. In: Pu LLQ, Levine JP, Wei F‑C, eds. Reconstructive Surgery of the lower Extremity. St. Louis: Quality Medical Publishing; 2013: 1251–1267 Bibliografie Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 DOI 10.1055/a-1297-8822 ISSN 2627-0889 © 2021. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Stepniewski A et al. Dekubitus: eine Herausforderung Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 39
CME-Fortbildung Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Den genauen Einsendeschluss finden Sie unter https://cme.thieme.de. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführliche Anleitung. Wir wünschen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! Unter https://eref.thieme.de/CXGZ9E6 oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests. VNR 2760512021160210815 Frage 1 Frage 4 Nur eine der folgenden Aussagen zur Einteilung der Dekubital- ulzera ist korrekt. Welche? A Die übliche Einteilung umfasst 5 Stadien. B Eine ganze Gruppe von Ulzera kann keiner Kategorie zuge- ordnet werden, bei denen das Wundbett durch Beläge oder Schorf vollständig bedeckt ist. C Gerade beim höchsten Schweregrad kann die Schadenstiefe exakt bestimmt werden. D In der Mehrzahl der Fälle liegen Ulzera in den Stadien II und III vor. E Stadium II ist durch einen vollständigen Hautverlust gekenn- zeichnet. Frage 2 Wann spricht man von einer vitalen Indikation zur operativen Therapie eines Dekubitus? A bei einer Gelenkbeteiligung B bei multiplen Ulzerationen C bei einer Sepsis ausgehend vom infizierten Ulkus oder einer Bei vollständigem Gewebeverlust, freiliegenden tiefen Gewe- beschichten, also Faszien, Muskeln und Knochen, handelt es sich um einen … A Dekubitus Grad I. B Dekubitus Grad II. C Dekubitus Grad III. D Dekubitus Grad IV. E nicht klassifizierbaren Dekubitus. Frage 5 Was ist zu beachten, um eine suffiziente Wundheilung zu er- möglichen? A Ein Serum-Albuminspiegel soll mindestens 2,0 g/dl betragen. B Eine tägliche Kalorienzufuhr aus Nichtproteinen sollte min- destens 55 Kalorien pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag betragen. C Die Serumspiegelkontrollen von Spuren- und Mikroelemen- ten sind obsolet. D Die tägliche Proteinzufuhr soll mindestens 5,5 g pro Kilo- akuten Arrosionsblutung aus dem Ulkus gramm Körpergewicht betragen. D Wenn die Operation einer Sanierung des lokalen Infektes die- E Erhöhte Temperatur im Gewebe rund um das Ulkus ist ein nen sollte. E bei tiefer Osteomyelitis am Ulkusgrund Frage 3 Wann besteht ein Verdacht auf einen lokalen Infekt in einem Druckulkus? A bei fehlenden Zeichen einer Heilung für 2 Wochen und er- höhter Temperatur im Gewebe um das Ulkus B beim Vorliegen von Fieber C bei rascher Gewichtsabnahme D bei schneller Bildung vom Granulationsgewebe E Sistieren der Sekretion aus dem Dekubitus Zeichen für eine rasch fortschreitende Wundheilung. Frage 6 Einer der im Folgenden genannten Erreger gehört nicht zu den häufigen beim Dekubitalulkus vorkommenden Infektionskei- men. Welcher? A Staphylokokken B Streptokokken C Korynebakterien D Hefepilze E Escherichia coli ▶ Weitere Fragen auf der folgenden Seite … 40 Stepniewski A et al. Dekubitus: eine Herausforderung Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Punkte sammeln auf CME.thieme.de Fortsetzung … Frage 7 Frage 9 Nur eine der folgenden allgemeinen Aussagen zum Dekubitus trifft zu. Welche? A Es handelt sich um eine Komplikation vor allem bei älteren, bettlägerigen Personen und bei Querschnittsgelähmten. B Das Problem Dekubitus ist bei jungen Patienten unbekannt. C Dekubitus betrifft vor allem Intensivpatienten. D Das Ulkus entsteht nie iatrogen. E Die mit Dekubitalulzera assoziierte Mortalität im Kranken- Welche Aussage trifft zu? A Ein Dekubitus korreliert nicht mit erhöhter Mortalität. B Die Anzahl der Dekubitusfälle nimmt in Deutschland ab. C Der Dekubitus ist eine Erkrankung ausschließlich von Erwach- senen, Kinder sind nie betroffen. D Querschnittsgelähmte Dekubituspatienten sind im Schnitt 20 Jahre älter als Patienten ohne Querschnittslähmung. E Die Prävalenz und Inzidenz des Ulkus sind die Indikatoren für haus nimmt in Deutschland kontinuierlich ab. die Qualität der Versorgung. Frage 8 Frage 10 In welcher Situation ist die operative Versorgung von Dekubital- ulzera absolut kontraindiziert? A bei mangelnder Kooperationsfähigkeit B bei multiplen Ulzera C bei nicht gegebener Mobilisationsfähigkeit D bei absehbar infauster Prognose E bei Orientierungsverlust Welches ist die am häufigsten von Dekubitus betroffene Lokali- sation beim nicht querschnittsgelähmten Patienten? A Hinterkopf B Ischium C Ohren D Sakrum E Trochanterregion Service für unsere Leser Sammelordner voll? Neuen Ordner bestellen: www.thieme.de/mein-up2date-ordner up2date – Fortbildung mit dem roten Faden Stepniewski A et al. Dekubitus: eine Herausforderung Geriatrie up2date 2021; 3: 27–41 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 41
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Geriatrie up2date 1 · 2021 Varia 10 Geriatrisch-rehabilitative Versor- gung in Deutschland. Umsetzung und Entwicklungsbedarfe Norbert Lübke VNR: 2760512019156640755 DOI: 10.1055/a-1275-1933 Geriatrie up2date 2021; 3 (1): 47–60 ISSN 2627-0889 © 2021 Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
CME-Fortbildung Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen: Arzneimittelinteraktionen, die man kennen muss! N. Voigt, K. Ort, S. Sossalla Heft 2/2019 ALLES ONLINE LESEN IHR ONLINE-SAMMELORDNER JETZT FREISCHALTEN Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: online wie offline, am PC und mobil, alle bereits erschienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! https://eref.thieme.de/geri-u2d Sie möchten jederzeit und überall auf Ihr up2date-Archiv zu- greifen? Kein Problem! Ihren immer aktuellen Online- Sammelordner finden Sie unter: https://eref.thieme.de/WT87L Sie haben Ihre Zeit- schrift noch nicht freigeschaltet? Ein Klick genügt: www.thieme.de/eref-registrierung
CME-Fortbildung Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in Deutschland Umsetzung und Entwicklungsbedarfe Norbert Lübke Geriatrisch-rehabilitative Versorgung dient dem Erhalt selbstbestimmter Teilhabe alter Menschen. Sie trägt zur Minderung von Pflegebedürftigkeit bei – eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte. Der Beitrag stellt Zielgruppe, Strukturen, konzeptionelle Besonderheiten sowie Potenziale und Grenzen der derzeitigen geriatrisch-rehabilitativen Versorgung dar. Hieraus ergeben sich Perspektiven für die Weiterentwicklung. ABKÜR ZUNGEN AR DRG FR G‑BA GFK Anschlussrehabilitation Diagnosis Related Groups Frührehabilitation Gemeinsamer Bundesausschuss geriatrische frührehabilitative Komplex- behandlung Gesetzliche Krankenversicherung International Classification of Functioning, Disability and Health Intensivpflege- und Rehabilitations- stärkungsgesetz Medizinischer Dienst der Kranken- versicherung GKV ICF IPReG MDK INFOBOX Geriatrischer Patient Ein geriatrischer Patient trägt ein hohes Risiko, bereits bei ▪ relativ geringfügigen Erkrankungen oder ▪ Veränderungen seiner Lebensumstände (Kontextfaktoren) dauerhafte Beeinträchtigungen seiner bisherigen Aktivitäten und Teilhabe (ggf. bis hin zu Pflegebedürftigkeit) zu entwickeln oder zu verstärken. Ursache hierfür sind eingeschränkte Reserven durch ▪ altersphysiologische Veränderungen des Körpers und seiner Organsysteme und gegebenenfalls ▪ bereits bestehende Schädigungen und Beeinträchtigungen durch Vorerkrankungen. MoGeRe mobile geriatrische Rehabilitation OPS SGB V Operationen- und Prozedurenschlüssel Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch Zielgruppe Geriatrische Patienten als Risikopatienten Indikationsspezifische Rehabilitation hat Patienten mit bestimmten Krankheitsschwerpunkten im Fokus. In der Geriatrie geht es hingegen generell um Patienten mit er- höhter Anfälligkeit – Vulnerabilität – für scheinbar über- raschende Verluste ihrer Selbstständigkeit: den 85-Jähri- gen, der noch jedes Jahr in den Urlaub nach Mallorca ge- reist ist und plötzlich nach einer Pneumonie trotz erfolg- reicher Antibiotikatherapie „nicht mehr richtig auf die Beine kommt“. Ursache hierfür sind reduzierte Reserven älterer Menschen, sodass Störungen ihrer Homöostase nicht mehr kompensiert werden können. unabhängigen Risikofaktor dar [1]. Ferner schränkt zu- nehmende Multimorbidität meist die Widerstandskraft gegenüber weiteren Gesundheitsstörungen ein. Merke Geriatrische Patienten haben oft mehrere Erkran- kungen und Beeinträchtigungen, aber weniger Reserven als nicht geriatrische jüngere Patienten. GKV-Definition geriatrischer Patient Wegen des hohen Anteils an Frührehabilitation und des Alters geriatrischer Patienten ist die Gesetzliche Kranken- versicherung (GKV) nahezu einziger Träger geriatrisch-re- habilitativer Leistungen. Sie legt in der Begutachtungs- anleitung Vorsorge und Rehabilitation [2] als Kriterien für geriatrische Patienten fest: ▪ Alter von i. d. R. ≥ 70 Jahren (mindestens jedoch Für die reduzierten Reserven resp. die sich daraus erge- bende höhere Vulnerabilität stellt das Alter für sich einen 60 Jahren) und ▪ geriatrietypische Multimorbidität. Lübke N. Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in … Geriatrie up2date 2021; 3: 47–60 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 47
CME-Fortbildung Multimorbidität umfasst dabei das Vorliegen von mindes- tens 2 chronischen Erkrankungen mit alltagsrelevanten Beeinträchtigungen. Als geriatrietypisch gilt diese insbe- sondere im Zusammenhang mit ▪ kognitiven Defiziten, ▪ Depression oder Angststörungen, ▪ Sturzneigung oder Schwindel, ▪ chronischen Schmerzen oder Sensibilitätsstörungen, ▪ Inkontinenz, ▪ starker Sehbehinderung oder Schwerhörigkeit, ▪ Dekubitalulzera, ▪ Fehl- und Mangelernährung, ▪ Störungen im Flüssigkeits- oder Elektrolythaushalt, ▪ Polymedikation ▪ oder generell Gebrechlichkeit/herabgesetzter Belast- barkeit. Ab einem Alter von ≥ 80 Jahren ist auch ohne geriatrie- typische Multimorbidität von einem geriatrischen Patien- ten auszugehen. Oft wird auch dieser Patient von einer geriatrischen Rehabilitation mehr profitieren als von einer indikationsspezifischen. Dies gilt bspw. bei vorbestehen- der Zuerkennung eines Pflegegrades, kognitiven Beein- trächtigungen, Komplikationen bei vorangegangenen Krankenhausaufenthalten oder hohem pflegerischem Unterstützungsbedarf. GKV-Definition geriatrischer Rehabilitand Erfüllt ein geriatrischer Patient die GKV-Kriterien für eine medizinische Rehabilitation, gilt er als geriatrischer Reha- bilitand: INFOBOX Rehabilitationsindikationskriterien der GKV 1. Rehabilitationsbedürftigkeit nicht nur vorübergehende alltagsrelevante Aktivi- täts- oder Teilhabebeeinträchtigungen und keine vorrangige kurative Behandlungsbedürftigkeit oder Ausreichen anderer vorrangiger Maßnahmen (z. B. aktivierend-pflegerische Behandlung, Verordnung von Heil- und Hilfsmitteln, Einzelfallberatung/Pflege- kurse) 2. Rehabilitationsfähigkeit notwendige somatische und psychische Belastbarkeit für die Maßnahme 3. Rehabilitationsziel individuell, alltagsrelevant und realistisch 4. Positive Rehabilitationsprognose medizinisch begründete Wahrscheinlichkeit für das Erreichen des Rehabilitationsziels Hierbei liegen die Kriterien für eine „geriatrische“ Rehabi- litationsfähigkeit niederschwelliger als für eine indika- tionsspezifische. Es genügen die Stabilität der Vital- parameter und die Fähigkeit zu mehrmals täglicher akti- ver Teilnahme an rehabilitativen Maßnahmen [2]. Inso- fern schließt auch das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit in höherem Ausmaß das Vorliegen einer geriatrischen Re- habilitationsindikation keineswegs aus. Krankheits- und Beeinträchtigungsspektrum Frakturen insbesondere des Femurs, der Lendenwirbel- säule und des Beckens, Gangstörungen, Kox- und Gon- arthrosen sowie Hirninfarkte stellen die häufigsten reha- bilitationsbegründenden Diagnosen in der Geriatrie dar [3]. Grundsätzlich ist aber sowohl das Spektrum zugrun- de liegender Krankheiten als auch hiermit verbundener Beeinträchtigungen von Aktivitäten und Teilhabe breit und indikationsübergreifend. Häufig sind begleitende ko- gnitive oder antriebs- und stimmungsbezogene Beein- trächtigungen vorhanden sowie kontextliche Probleme bspw. der Haushaltsführung, der pflegerischen Versor- gung oder sozialer Isolation. PR A XISTIPP Geriatrische vs. indikationsspezifische Rehabilitation Ein Patient kommt umso eher für eine geriatrische Rehabilitation in Betracht ▪ je älter er ist (in der Regel über 70 Jahre, mindestens aber 60 Jahre) ▪ je höher der aktuelle Pflege-/Unterstützungs- bedarf ist ▪ wenn bereits vorbestehend ein Pflegegrad oder persönlicher Hilfebedarf besteht ▪ je multimorbider er ist, d. h. vor allem aus je mehr medizinischen Fachbereichen Erkrankungen vorliegen ▪ je vielfältiger die resultierenden Beeinträchtigun- gen und je weniger sie einer einzigen Diagnose/ Krankheitsentität zuzuordnen sind ▪ wenn Hinweise auf begleitende kognitive Beein- trächtigungen bestehen 48 Lübke N. Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in … Geriatrie up2date 2021; 3: 47–60 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Geriatrisch-rehabilitative Versorgungsstrukturen Übersicht Merke Geriatrisch-rehabilitative Leistungen werden als Frührehabilitation im Krankenhaus und als medizini- sche Rehabilitation von Rehabilitationseinrichtungen erbracht. In Deutschland sind 2 wesentliche geriatrisch-rehabilita- tive Versorgungsleistungen zu unterscheiden: ▪ die mit gut 83% quantitativ weit überwiegende „ger- iatrische Frührehabilitation“ und ▪ die als Leistung zur medizinischen Rehabilitation er- brachte eigentliche „geriatrische Rehabilitation“ mit knapp 17% des jährlichen Fallaufkommens. ▶ Tab. 1 stellt die wesentlichen Unterschiede dieser bei- den Versorgungsleistungen gegenüber. resultiert Stationäre rehabilitative Versorgung Stationäre geriatrische Frührehabilitation Frührehabilitationsbedürftigkeit im Unter- schied zu anderen Indikationsgebieten in der Geriatrie häufig nicht aus der Schwere des Akutereignisses. Sie be- gründet sich vielmehr aus dem Risiko geriatrischer Pa- tienten, bereits durch scheinbar geringfügige Akut- erkrankungen nachhaltige Einbußen ihrer bisherigen Selbstständigkeit zu erleiden. Sie findet daher i. d. R. auch nicht unter intensivmedizinischer Überwachung statt, sondern braucht den frühzeitigen Einsatz des geriatri- schen Teams, um solche Einbrüche zu vermeiden oder möglichst gering zu halten. Sie hat daher in der Geriatrie einen hohen Stellenwert und übertrifft mit rund 363 000 Fällen (im Jahr 2018) die neurologisch-neurochirurgische (ca. 35 000) wie die fachübergreifende Frührehabilitation (ca. 8700) bei Weitem [4]. Im Gegensatz zur medizinischen Rehabilitation setzt die Frührehabilitation (FR) noch keine aktive Teilnahme und absehbar positive Prognose der Patienten voraus [3]. Da FR Teil der Krankenhausbehandlung ist, endet sie leis- tungsrechtlich mit der Notwendigkeit akutstationärer Krankenhausbehandlung. Besteht darüber hinaus Rehabi- litationsbedarf nach den o. g. Indikationskriterien, ist eine Anschlussrehabilitation (AR) einzuleiten. Merke Leistungsrechtlich schließt Frührehabilitation eine Anschlussrehabilitation nicht aus, bisweilen stellt sie die Rehabilitationsfähigkeit für eine solche erst her. Zudem sind die nach dem DRG-System höheren Ver- gütungen durch Erbringung einer stationären geriatri- schen Frührehabilitation pauschaliert: Sie fallen i. d. R. an, wenn die geriatrische frührehabilitative Komplexbe- handlung (GFK) mit einer Dauer von mindestens 14 Ta- gen und 20 Therapieeinheiten erbracht wurde. Längere frührehabilitative Behandlungszeiten oder mehr Thera- pieeinheiten können zwar erbracht werden, werden dem Krankenhaus aber nicht mehr zusätzlich vergütet. Auch wenn der akutstationär notwendige Krankenhaus- aufenthalt länger erforderlich ist und eine frührehabilita- tive Behandlung weiter sinnvoll wäre, orientiert sich der geriatrisch-frührehabilitative Leistungsumfang daher seit Einführung des DRG-Systems zunehmend an diesen bei- den unteren Mindestvoraussetzungen [5, 6]. Cave Die pauschalierte Vergütung stationärer geriatri- scher Frührehabilitation gewährleistet keinen indivi- duell bedarfsgerechten Erbringungsumfang dieser Leistungen. Die hohe Relevanz dieser Zusammenhänge für die ger- iatrisch-rehabilitative Versorgung in Deutschland liegt darin, dass die frührehabilitative Leistungserbringung im Krankenhaus 75 %, unter Einschluss der teilstationären Frührehabilitation sogar über 83% der rehabilitativen Ver- sorgung geriatrischer Patienten ausmacht. Nur sie ist in allen Bundesländern verfügbar. Ein Teil der Bundesländer hat (immer noch) keine oder nahezu keine geriatrischen Rehabilitationseinrichtungen. Dort wird von einer – zu- mindest was die stationäre und teilstationäre Rehabilita- tion angeht – „fallabschließenden“ Behandlung im Kran- kenhaus gesprochen. Diese erspart den geriatrischen Pa- tienten zwar einen nochmaligen Wechsel in eine andere Einrichtung mit wiederum neuen Bezugspersonen und hat i. d. R. den Vorteil der Wohnortnähe. Die volle Aus- schöpfung vorhandener Rehabilitationspotenziale ist un- ter der pauschalierten Vergütung geriatrischer Frühreha- bilitation im Krankenhaus aber nicht zu gewährleisten und dort auch leistungsrechtlich nicht vorgesehen. Merke Nicht in allen Bundesländern gibt es geriatrische Rehabilitationseinrichtungen für medizinische Reha- bilitation. Der Zugang zu geriatrisch-rehabilitativen Leistungen ist dort ausschließlich über eine Früh- rehabilitation im Krankenhaus möglich. Teilweise kompensiert die geriatrische Tagesklinik die in diesen Bundesländern fehlenden Rehabilitationseinrich- tungen. Sie wird nach Tages-DRGs vergütet und kann bei Tolerierung durch die Kostenträger daher für die Klini- ken auch länger kostendeckend erbracht werden. Dies setzt aber i. d. R. voraus, dass der Rehabilitand transport- fähig und außerhalb der Therapiezeiten zu Hause ausrei- chend pflegerisch und medizinisch versorgt ist. Alterna- tive Optionen zeigt das Fallbeispiel. Lübke N. Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in … Geriatrie up2date 2021; 3: 47–60 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 49
CME-Fortbildung ▶ Tab. 1 Vergleich der 2 geriatrisch-rehabilitativen Kernleistungen. geriatrische Frührehabilitation Leistungsrechtliche Grundlage Teil der Krankenhausleistung nach § 39 SGB V Zielsetzung medizinisch-geriatrische Rehabilitation Leistung zur medizinischen Rehabilitation nach § 40 (1) (ambulant oder ambulant-mobil) oder § 40 (2) SGB V (stationär) Abwendung, Beseitigung oder Verminderung (zusätzlicher) dauerhafter Beeinträchtigungen von Aktivitäten oder Teilhabe bei mit geriatrischem Risiko behafteten Patienten bereits parallel zu einer notwendigen kura- tiven Krankenhausbehandlung Abwendung, Beseitigung, Verminderung oder Verzögerung von Teil- habebeeinträchtigungen bei Vorliegen alltagsrelevanter Aktivitäts- beeinträchtigungen und Erfüllung der Rehabilitationsindikationskriterien der GKV für eine geriatrische Rehabilitation Leistungserbringer Krankenhäuser mit einem Versorgungsvertrag nach § 109 SGB V Erbringungsformen und Leistungsort Rehabilitationseinrichtungen mit einem Versorgungsvertrag nach § 111 (stationär) oder § 111c SGB V (ambulant oder ambulant-mobil) stationär meist in geriatrischen Krankenhausabteilungen, z. T. in geriatrischen Schwerpunkten anderer Fachabteilungen, selten in geriatrischen Fachkliniken (bundesweit ca. 716 Krankenhäuser**) stationär zumeist in geriatrischen Rehabilitationskliniken oder geria- trischen Fachabteilungen von Rehabilitationskliniken (bundesweit ca. 161 Einrichtungen*) teilstationär in geriatrischen Tageskliniken an Krankenhäusern (bundesweit ca. 167 Tageskliniken*) ambulant zumeist in ambulanten Rehabilitationseinrichtungen an stationären geriatrischen Rehabilitationskliniken, selten als solitäre Einrichtungen (bundesweit ca. 60 Einrichtungen**) mobil im gewohnten Lebensumfeld der Rehabilitanden (Privatwohnung oder Pflegeheim, Beginn im Einzelfall auch in der Kurzzeitpflege) durch ambulant-mobile Rehabilitationseinrichtungen, zumeist in Anbindung an stationäre geriatrische Rehabilitationseinrichtungen, teils als solitäre Einrichtungen (bundesweit ca. 17 Einrichtungen***) Vergütung stationär bundesweit einheitlich pauschalierte Vergütung nach dem DRG-System bei Erbringung einer „geriatrischen frührehabilitativen Komplexbehandlung“ (GFK) gemäß mindestens OPS 8-550.1 stationär Vergütung zwischen den Krankenkassen und den Einrichtungs- trägern nach § 111 (5) SGB V meist als Tagessätze einrichtungsindividuell vereinbart teilstationär krankenhausindividuell zu vereinbarende, tagesbezogene DRG bei Erbringung einer „teilstationären geriatrischen Komplex- behandlung“ gemäß mindestens OPS 8-98a.1 ambulant Vergütung zwischen den Krankenkassen und den Einrich- tungsträgern nach § 111c (3) SGB V meist als Tagessätze einrichtungs- individuell vereinbart Verfügbarkeit in allen Bundesländern, statistisch an ca. einem Drittel aller Kranken- häuser, aber bundeslandspezifisch deutlich unterschiedliche Versor- gungsdichte Zugang Notaufnahme oder vertragsärztliche Krankenhauseinweisung eines geriatrischen Patienten; ggf. von dort Sekundärverlegung in ein Krankenhaus, das geriatrische Frührehabilitation erbringt, oder in eine Tagesklinik zur weiterführenden teilstationären geriatrischen Früh- rehabilitation; in geringem Umfang vertragsärztliche Direkteinweisung in eine geriatrische Tagesklinik mobil Vergütung zwischen den Krankenkassen und den Einrichtungsträ- gern nach § 111c (3) SGB V meist therapieeinheiten-, z. T. auch behand- lungstagbezogen einrichtungsindividuell vereinbart in versorgungsrelevantem Umfang derzeit nur in einem Teil der Bundes- länder: Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Mecklenburg-Vorpom- mern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen (ambulante und mobile Einrichtungen noch deutlich lokaler begrenzt) zu ca. 90% als Anschlussrehabilitation nach einem stationären Kranken- hausaufenthalt (i. d. R. eingeleitet durch das vorbehandelnde Kranken- haus); zu ca. 10% als vertragsärztliche Verordnung auf Muster 61 in ge- ringem Umfang aus Rehaempfehlungen nach § 18a SGB XI im Rahmen der MDK-Pflegebegutachtung**** Quellen: Destatis 2017, KG5-Statistik der GKV 2018, § 21 KHEntgG 2018, Basisdokumentation MoGeRe 2018. Zusammenstellung Kompetenz-Centrum Geriatrie. * Stand 2017. ** Stand 2018. *** Stand 2019, **** quantitativ bisher nicht separat erfasst. 50 Lübke N. Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in … Geriatrie up2date 2021; 3: 47–60 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
FALLBEISPIEL Weiterversorgung bei fehlenden geriatrischen Rehabilitationseinrichtungen Ein vorher mobiler geriatrischer Patient kann nach komplikationsreichem Verlauf einer Kolonteilresek- tion und 14-tägiger geriatrisch-frührehabilitativer Komplexbehandlung mit pflegerischer Hilfe in einen Stuhl transferiert werden und dort ca. 1 Stunde sit- zen. Da die Ehefrau ihren Mann so zu Hause nicht versorgen kann, wird dieser in eine Kurzzeitpflege verlegt. Dort bleibt er im Bett und erhält 2 × pro Wo- che Physiotherapie. Da sich sein Zustand wieder ver- schlechtert, wird er auf Drängen der Ehefrau von dort 5 × pro Woche über 18 Tage in die angeschlossene geriatrische Tagesklinik des Krankenhauses gefahren. Am Gehwagen mit Begleitung mobilisiert kann er schließlich nach Hause entlassen werden. Kommentar Kurzzeitpflege und Tagesklinik haben in Kombination faktisch das fehlende Angebot einer stationären ger- iatrischen Rehabilitation ersetzt: Eine für den Patien- ten belastende, aber im Ergebnis noch gute Option. Für eine indikationsspezifische Rehabilitation wäre er vermutlich noch nicht ausreichend belastbar, eine geriatrische Rehabilitation in einem anderen Bundes- land kaum zumutbar gewesen. Ohne die Tagesklinik wäre das Risiko einer dauerhaften Pflegebedürftig- keit mit einer Heimaufnahme groß gewesen. Stationäre geriatrische Rehabilitation Frührehabilitation ist ein wesentliches Strukturelement der geriatrisch-rehabilitativen Versorgungskette, dem oft eine Weichenstellung für den Erfolg des gesamten Re- habilitationsprozesses zukommt [7]. Dennoch bedarf es auch weiterführender Rehabilitationsstrukturen, um die rehabilitativen Potenziale alter und pflegebedürftiger Menschen auszuschöpfen. Rund 850 geriatrischen Kran- kenhausabteilungen und Tageskliniken stehen hierfür ca. 240 geriatrische Rehabilitationseinrichtungen, davon ca. 160 stationäre, gegenüber; dies allerdings nur in einem Teil der Bundesländer (▶ Tab. 1) (länderbezogene Kapazi- täten der einzelnen Versorgungsstrukturen finden sich auf der Homepage des Kompetenz-Centrums Geriatrie [8]). Ambulante rehabilitative Versorgung Teilstationäre geriatrische Frührehabilitation und ambulante geriatrische Rehabilitation Beiden Strukturen ist gemeinsam, dass die Rehabilitan- den – i. d. R. mit einem organisierten Transportdienst – morgens gebracht und nachmittags abgeholt werden und tagsüber dort ihre rehabilitativen Therapien erhalten. Merke Die teilstationäre Frührehabilitation in geriatrischen Tageskliniken kompensiert faktisch oft das Fehlen ambulanter geriatrischer Rehabilitationseinrich- tungen. Trotz leistungsrechtlich unterschiedlicher Grundlage ver- folgen beide Angebote primär das Ziel der Verbesserung von Aktivitäts- und Teilhabebeeinträchtigungen in enger Anbindung an eine darüber hinaus häuslich noch oder be- reits wieder gewährleistete Versorgung. Daher gibt es nur wenige Länder, in denen beide Strukturen vorgehal- ten werden. Ein Vorteil von Tageskliniken gegenüber ambulanten ger- iatrischen Rehabilitationseinrichtungen besteht i. d. R. in der direkten Verfügbarkeit der Mittel und Einrichtungen eines Krankenhauses. Daher eignet sich das tagesklini- sche Setting besonders für die oftmals komplexen und fluktuierenden Behandlungsbedarfe multimorbider ger- iatrischer Patienten, insbesondere, wenn neben den re- habilitativen Interventionen noch Bedarf an medizini- scher Diagnostik und/oder Therapie besteht [3]. Ambu- lante geriatrische Rehabilitation kann demgegenüber ei- nen stärkeren Beitrag zur Vermeidung oder Verzögerung des Eintritts von Pflegebedürftigkeit leisten. Sie kommt daher insbesondere für Patienten in Betracht, deren Funktionszustand sich langsam, aber stetig, ggf. auch trotz Heilmittelverordnungen verschlechtert hat. Von dieser Option wird bisher allerdings kaum Gebrauch ge- macht. Dies korrespondiert mit der seit Jahren stagnie- renden Zahl dieser Einrichtungen [10]. Mobile geriatrische Rehabilitation Bei der mobilen Rehabilitation sucht das Rehabilitations- team die Rehabilitanden zur Erbringung seiner Leistung in deren Lebensumfeld (eigene Häuslichkeit oder auch Pflegeheim) auf. Leistungsrechtlich gilt die mobile Reha- bilitation als Sonderform der ambulanten Rehabilitation. Sie wird bisher nahezu ausschließlich als geriatrisches An- gebot vorgehalten. Vorteile stationärer geriatrischer Rehabilitationseinrich- tungen gegenüber ambulanten und mobilen Angeboten bestehen v. a. in den Möglichkeiten der Übernahme auch aufwendiger Pflegeleistungen, einer oft umfangreiche- ren Ausstattung und potenziell höherer Therapieintensi- täten. Die Einheit von Behandlung, Beratung, Erprobung und die Integration in den Alltag ist eine besondere Stärke mobiler Rehabilitation. Hilfsmittel, Wohnumfeld und As- sistenz der An- und Zugehörigen können bestmöglich einbezogen werden. Dennoch gibt es seit ihrer sozial- gesetzlichen Verankerung 2007 bundesweit bisher nur Lübke N. Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in … Geriatrie up2date 2021; 3: 47–60 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 51
CME-Fortbildung INFOBOX Besonderheiten mobiler geriatrischer Rehabilitation Vorteile ▪ Rehabilitation findet im Alltag der Betroffenen statt. ▪ Nachträglicher Transfer des Gelernten in den Alltag entfällt. ▪ Die Ziele sind konkret am Alltagskontext des Rehabilitanden orientiert (z. B. vom eigenen Bett in den Fernsehsessel oder mit dem Rollator auf die eigene Toilette kommen). ▪ Die Ziele sind mit dieser Form der geriatrischen Rehabilitation daher oft schneller und nachhaltiger erreicht als im stationären Setting. ▪ Oft sind die Rehabilitanden motivierter. ▪ An- und Zugehörige lernen kontinuierlich mit, die Rehabilitanden angemessen zu unterstützen, ohne ihre und deren Ressourcen zu überfordern. ▪ Das Erlernte wird auch außerhalb der Therapiezeiten im realen Alltag weiter eingefordert und trainiert. Grenzen ▪ Manche Techniken sind nicht verfügbar (z. B. kein Bewegungs- bad, keine sperrigen Hilfsmittel oder Trainingsgeräte). ▪ Der logistische und personelle Aufwand pro Therapieeinheit ist höher und begrenzt die leistbare Therapieintensität. ▪ Therapeuten können nicht vor Ort supervidiert werden, und der Arzt ist beispielsweise bei Komplikationen nicht direkt verfügbar [9]. 19 mobile geriatrische Rehabilitationseinrichtungen (Stand 30.09.2020). Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass dieses Setting nach den Rahmenempfehlungen zur mobilen geriatri- schen Rehabilitation (MoGeRe) auf Patienten beschränkt ist, für die Rehabilitationsfähigkeit und eine positive Re- habilitationsprognose ausschließlich bei einer Leistungs- erbringung in ihrem gewohnten Lebensumfeld zu erwar- ten ist, die also in den etablierten stationären oder ambu- lanten Settings gar nicht rehabilitiert werden können [11]. Dies begrenzt MoGeRe bisher weitgehend auf Pa- tienten mit mittelschwerer Demenz, bei denen davon auszugehen ist, dass sie sich außerhalb ihres gewohnten räumlichen und sozialen Bezugsfeldes eher verschlech- tern, als dass sie ihr bestehendes Rehabilitationspotenzial nutzen können. Dadurch bleiben die besonderen Vorteile dieses Settings aber für andere Zielgruppen ungenutzt. Inanspruchnahme der Angebote Eine quantitative Übersicht hierzu gibt ▶ Tab. 2. Die typischen Zugangswege zu den 2 geriatrisch-rehabili- tativen Kernleistungen (geriatrische Frührehabilitation und medizinisch geriatrische Rehabilitation) sind im letz- ten Abschnitt von ▶ Tab. 1 dargelegt. Während FR-Leis- tungen stets an eine Krankenhausaufnahme gebunden sind, können Maßnahmen der medizinisch-geriatrischen Rehabilitation auch hiervon unabhängig vertragsärztlich auf dem Formular nach Muster 61 verordnet werden. De- ren Umsetzung setzt jedoch in aller Regel die regionale Verfügbarkeit entsprechender geriatrischer Rehabilitati- onseinrichtungen voraus. Einen in den letzten Jahren zunehmenden Zugangsweg stellen Rehabilitationsempfehlungen im Rahmen der Pflegebegutachtung nach § 18a SGB XI dar. Hiernach sind die MDK-Pflegegutachter verpflichtet, zu jeder Pflegeein- stufung eine separate Stellungnahme zu vorliegendem bzw. nicht vorliegendem Rehabilitationsbedarf abzuge- ben. Bei Zustimmung des Rehabilitanden ersetzt diese Empfehlung einen separaten Rehabilitationsantrag. Die Quote entsprechender – allerdings nicht nur geriatrischer – Empfehlungen stieg in den letzten Jahren von unter 1 auf über 4% aller Pflegebegutachtungen, wird aber der- zeit aus vielfältigen Gründen nur zu weniger als einem Viertel auch in entsprechende Rehabilitationsmaßnah- men umgesetzt [12, 13]. ▶ Tab. 2 Geriatrisch-rehabilitative Leistungserbringung nach Rehabilitationssetting. Fallzahlen/Jahr * Anteil davon Anschluss- rehabilitation davon sonstige Antragsteller ** stationäre Frührehabilitation teilstationäre Frührehabilitation stationäre medizinische Rehabilitation ambulante medizinische Rehabilitation mobile medizinische Rehabilitation 362 989 41 417 77 388 2 236 1 710 74,7% 8,5% 15,9% 0,5% 0,4% – – 90,0 % 72,0 % 83,9 % – – 10,0 % 28,0 % 16,1 % Quellen: * Destatis 2017, KG5-Statistik der GKV 2018, § 21 KHEntgG 2018, Basisdokumentation MoGeRe 2018. Zusammenstellung Kompetenz-Centrum Geriatrie. ** Insbesondere aus vertragsärztlicher Verordnung, zu geringen Anteilen aus Rehabilitationsempfehlungen im Rahmen der MDK-Pflegebegut- achtung. 52 Lübke N. Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in … Geriatrie up2date 2021; 3: 47–60 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Merke 98 % aller geriatrisch-rehabilitativen Maßnahmen erfolgen im Zusammenhang mit Krankenhausauf- enthalten (FR oder AR). Nur ca. 10 % aller Anträge auf medizinisch-geriatrische Rehabilitation nach § 40 SGB V werden von Vertragsärzten gestellt. Ausgewählte konzeptionelle Besonderheiten Assessment Der Breite geriatrischer Beeinträchtigungen entspricht die Breite des geriatrischen Assessments. Einem über vie- le Dimensionen gestreuten Screening (bspw. nach Lachs) folgt ein vertiefendes Basisassessment in den auffälligen Bereichen. Praktisch regelhaft kommen Instrumente zum Einsatz zur Erfassung von ▪ Selbsthilfefähigkeit (z. B. Barthel-Index) und ▪ Mobilität (z. B. Timed Up & Go, Tinetti-Test oder De Morton Mobilitäts-Index). Häufig werden darüber hinaus auch Instrumente genutzt zur Erfassung von ▪ Kognition (Mini Mental State Examination, DemTect, Uhren-Tests) und ▪ Stimmung (z. B. Geriatrische Depressionsskala, De- pression im Alter-Skala). Wichtig ist ein Sozialassessment, welches das soziale Um- feld, das Wohnumfeld, bisherige häusliche/außerhäus- liche Aktivitäten, den Pflege-/Hilfsmittelbedarf und rechtliche Verfügungen umfassen sollte. Weitere Instru- mente und Hinweise zu deren Anwendung und Interpre- tation finden sich auf der Homepage des Kompetenz- Centrums Geriatrie [14]. Rehazielfindung Rehabilitationsziele in der Geriatrie sollten möglichst prä- zise an die individuellen Bedürfnisse und konkreten Le- bensumstände der Betroffenen angepasst sein. Diese auszuhandeln ist kein banaler Prozess. Oft ist es ratsam, die An- und Zugehörigen einzubinden. Meist kommt den Kontextfaktoren (z. B. der Wohnung oder der regionalen Infrastruktur) eine große Bedeutung zu. Nicht immer ist es möglich, verlorene Funktionen wiederherzustellen. Oft kann Selbstständigkeit in Alltagsverrichtungen aber über Umwegstrategien oder den Einsatz von Hilfsmitteln erreicht werden. Wo Selbstständigkeit nicht möglich ist, kann mehr Selbstbestimmung die Teilhabe und Lebens- qualität entscheidend verbessern. Merke Rehabilitationsziele in der Geriatrie sind individuell, kontextbezogen und alltagsrelevant. Sie fördern eine möglichst selbstständige oder selbstbestimmte Teil- habe am sozialen Leben. FALLBEISPIEL Bedeutung von Rehabilitationszielen Ein bislang noch in seiner Einrichtung einigermaßen mobiler Pflegeheimbewohner erleidet eine Hüftfrak- tur, von der er sich relativ gut erholt. Nur das Trep- pensteigen klappt nicht mehr wie vorher. Aber ist das in einem behindertengerechten Pflegeheim mit kompletter Fahrstuhlausstattung ein alltagsrelevan- tes Rehaziel? Ein anderer Pflegeheimbewohner hat seine bisherige Mobilität nach einem Schlaganfall weitgehend ein- gebüßt. Nur das Sitzen im Stuhl ist mit entsprechen- der Stabilisierung wieder möglich. Der Transfer in den Stuhl erfordert aber immer noch 2 Pflegekräfte. Es ist unter den realen Personalbedingungen in Pflegehei- men sehr wahrscheinlich, dass sich die Frage, ob die- ser Bewohner sein weiteres Leben ausschließlich im oder auch noch außerhalb seines Bettes verbringt, davon abhängt, ob der Transfer auch mit einer Pfle- gekraft möglich wird. Ein äußerst alltagsrelevantes Rehaziel, das seine selbstbestimmte Teilhabe am Le- ben in seiner Pflegeeinrichtung wesentlich erweitern kann, selbst wenn die Zielerreichung möglicherweise mehr einer entsprechenden Schulung der Pflege- kräfte als einer funktionalen Verbesserung des Be- wohners zu verdanken wäre! Cave Scheinbar „kleine“ Ziele können für die Teilhabe große Bedeutung haben und umgekehrt! PR A XISTIPP Sektorenübergreifende Perspektive und Kontext- faktoren einbeziehen Ein geriatrischer Rehabilitand ist selten ein „unbe- schriebenes Blatt“! Oft haben zahlreiche Akteure wie Hausarzt, Angehörige oder ambulante Pflegedienste Erfahrungen mit den Rehabilitanden. Dieses und je- nes wurde schon probiert, das eine hat geklappt, anderes aus diesen oder jenen Gründen nicht. Solche Vorerfahrungen sollten erfragt und in die Rehaziel- planung einbezogen werden. Dies betrifft auch die realen weiteren physischen und zeitlichen Unterstüt- zungsressourcen insbesondere der An- und Zugehö- rigen. So kann ein Rehabilitand bei seinen Kindern wohnen und trotzdem tagsüber auf sich gestellt sein. Auch weitere Kontextfaktoren wie bspw. die Aus- gestaltung der Wohnung (bspw. Schwellen, Stufen, Treppen, Türbreiten im Hinblick auf die Nutzung von Gehhilfen, aber auch die Erreichbarkeit von Schrän- ken etc.) sollten frühzeitig in die Rehazielplanung einbezogen werden. Lübke N. Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in … Geriatrie up2date 2021; 3: 47–60 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 53
CME-Fortbildung Geriatrisches Team Geriatrische rehabilitative Leistungen werden unter Lei- tung und Verantwortung von Geriatern erbracht (Schwerpunkt Geriatrie oder Zusatzweiterbildung Ger- iatrie oder Facharzt Innere Medizin und Geriatrie). Dane- ben gehören zum geriatrischen Team obligat die Pflege, die Physiotherapie, die Ergotherapie, die Logopädie und Schlucktherapie, die Psychologie/Neuropsychologie, die Sozialarbeit sowie Ernährungsberatung. Weitere Profes- sionen wie Orthopädiemechaniker, Seelsorger etc. kön- nen das Team ergänzen. Wichtig sind Erfahrungen der Zusammenarbeit im Team und im Umgang mit alten, insbesondere auch kognitiv beeinträchtigten Menschen. Hierfür kommt dem regel- mäßigen Austausch in wöchentlichen Teambesprechun- gen mit laufender Anpassung der Therapieschritte und gegebenenfalls auch der Rehabilitationsziele hohe Be- deutung zu. Unverzichtbar ist ein Sozialdienst mit guten Kenntnissen der regionalen Infrastruktur zur weiteren Unterstützung der Rehabilitanden. Dies unterstreicht die Bedeutung der Wohnortnähe für die geriatrische Rehabi- litation [15]. Räumliche und apparative Ausstattung In der Regel wird in geriatrischen Einrichtungen von einem 25% höheren Raumbedarf gegenüber nicht ger- iatrischen Einrichtungen ausgegangen. Dies soll das Handling der Patienten und den Einsatz notwendiger Hilfsmittel erleichtern, kann bei der Rehabilitation aber auch die spätere Übertragung erlernter Fähigkeiten in das oft engere, reale Lebensumfeld erschweren. Insbe- sondere in der ambulanten Rehabilitation ermöglichen ausreichende Aufenthaltsräume auch den Austausch und die gegenseitige Motivation der Rehabilitanden. Auf- wendige Therapieeinrichtungen wie bspw. Bewegungs- bad, ein Armlabor oder gewichtsentlastende Laufbänder sind die Stärke stationärer Rehabilitationseinrichtungen. Risiko von Komplikationen Die Vulnerabilität geriatrischer Rehabilitanden ist mit einem erhöhten Risiko für Akutkomplikationen verbun- den. Dies stellt gemäß dem Qualitätssicherungsverfah- ren „QS-Reha Geriatrie“ der GKV entsprechende Anforde- rungen an die Vorhaltung akutmedizinischer Interven- tionsmöglichkeiten resp. Kooperationen. Dennoch liegen die Rückverlegungsraten aus stationärer geriatrischer Re- habilitation ins Krankenhaus bei ca. 8,2 %, die Mortalität bei 1,7% [16]. In der ambulanten und mobilen Rehabilitation ist nur die medizinische Notfallversorgung zu gewährleisten. Die sonstige kurative Versorgung bleibt in Händen der Ver- tragsärzte. Potenziale und Grenzen Wie weit hilft die Evidenz? Generell ist die Wirksamkeit rehabilitativer Maßnahmen auch bei alten und pflegebedürftigen Menschen belegt. Dies gilt krankheitsübergreifend wie bei zahlreichen ein- zelnen Krankheitsbildern. Systematische Reviews interna- tionaler Studien belegen dies bezogen auf Mortalität, Heimaufnahmerate, Pflegeabhängigkeit und funktionales Outcome. Register- und Routinedaten aus der deutschen rehabilitativen Versorgungs- und Umsetzungspraxis stüt- zen dies ebenfalls. Es fehlen allerdings hochwertig kon- trollierte Studien aus Deutschland. Außerdem schränkt die Vielfalt unterschiedlicher Interven- tions-, Kontext- und Zielgruppenkonstellationen den Nutzwert dieser externen Evidenz für die Übertragbarkeit auf den Einzelfall geriatrischer Rehabilitanden ein [17]. rehabilitativer INFOBOX Rehabilitation von Menschen mit Demenz Die Evidenz für die Rehabilitation von Menschen mit leichtgradiger bis mittelschwerer Demenz ist gut, wenn die Demenz Begleiterkrankung und nicht die rehabilitationsbegründende Diagnose ist. Oft ist der funktionale Status vor und nach Rehabilitation etwas schlechter als bei kognitiv unbeeinträchtigten Reha- bilitanden, die Verbesserungen liegen aber in ver- gleichbarer Größenordnung. Auf Menschen mit leichten Demenzen sind geriatrische Einrichtungen i. d. R. gut eingestellt, für Menschen mit mittel- schwerer Demenz kommt – soweit verfügbar – die mobile geriatrische Rehabilitation in Betracht. Keine hinreichende Evidenz gibt es bisher für die nachhal- tige Verbesserung durch die etablierten geriatrischen Rehabilitationsangebote bei Demenz als rehabilita- tionsbegründender Diagnose [17]. Potenziale unterschiedlicher rehabilitativer Ansätze Trotz eingeschränkter Reserven geriatrischer Rehabilitan- den eröffnet der differenzierte Einsatz unterschiedlicher rehabilitativer Strategien Chancen auf Teilhabeverbes- serungen. Geriatrische Rehabilitation ist therapeutisch und von ih- ren Rehabilitationsstrategien breit angelegt. Auch bei geriatrischen Patienten ist Restitution in allen Rehabilita- tionssettings eine erfolgversprechende Strategie. Den- noch kommt bei oft begrenzten Restitutionspotenzialen in der Geriatrie der Kompensation und Adaptation als re- habilitativen Ansätzen besondere Bedeutung zu. 54 Lübke N. Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in … Geriatrie up2date 2021; 3: 47–60 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
INFOBOX Rehabilitationsstrategien nach dem ICF-Modell Restitution Zielt darauf, geschädigte Körperstrukturen und Funktionen bis zum Normalzustand (ad integrum) oder weitestmöglich (ad optimum) wiederherzustel- len. In der Regel werden so auch die Rehabilitations- ziele auf Ebene der Aktivitäten und Teilhabe erreicht. Kompensation Zielt auf die ersatzweise Übernahme geschädigter Strukturen, Funktionen und Aktivitäten durch ande- re, um die gleichen Ziele und Aufgaben in der Le- bensführung und Teilhabe zu erreichen. Adaptation Zielt auf Anpassung der praktischen Lebensvollzüge an die individuellen Einschränkungen unter Berück- sichtigung und gegebenenfalls Anpassung der Kon- textfaktoren. Sie umfasst die Reduktion hemmender und die Stärkung fördernder umwelt- und person- bezogener Faktoren. Dies kann von der Anpassung von Hilfsmitteln über räumliche und sächliche Maß- nahmen bis zu Strategien der subjektiven Bewälti- gung (Coping) und Stützung von Ressourcen der An- und Zugehörigen reichen. ICF = International Classification of Functioning, Disability and Health Rehabilitationsprognose Während die Rehabilitationsprognose in der FR oft noch offen bleiben muss und darf, stellt sie in der geriatrischen Rehabilitation häufig die schwierigste Herausforderung dar. Eine Rehabilitationsindikation lässt sich nie allein aus einem Funktionsassessment ableiten. Sie erfordert stets weitere Informationen zum bisherigen Krankheitsverlauf, dem Rehabilitationsziel und den dafür relevanten Kon- textfaktoren. PR A XISTIPP Bedeutung der Vorgeschichte für die Rehabilitationsprognose Geriatrische Rehabilitanden weisen oft nicht nur multiple, sondern auch durch unterschiedliche Er- krankungen schon längere Zeit bestehende oder fortschreitende Beeinträchtigungen auf. In welchem Umfang angestrebte Rehaziele erreichbar sind, hängt neben dem aktuellen Funktionsstatus auch davon ab, ▪ wie der letzte „stabile“ Funktionsstatus vor einem Akutereignis war, ▪ welche Beeinträchtigungen seit wann vorliegen und wie sie sich im Verlauf entwickelt haben, ▪ welche Erkrankungen ihnen zugrunde liegen, ▪ was ggf. schon wann an rehabilitativen Maßnah- men (inkl. Einsatz von Heilmitteln) versucht wur- de und ▪ ggf. über welchen Zeitraum, mit welchem Erfolg und wie nachhaltig? Diese Aspekte sind dann mit dem aktuellen Status im Hinblick auf das individuelle Rehabilitationsziel und die hierfür relevanten aktuellen Kontextfaktoren zu bewer- ten, um zu einer belastbaren Rehabilitationsprognose für den Einzelfall zu kommen. Herausforderungen und Perspektiven Als wesentliche Herausforderungen in der geriatrisch-re- habilitativen Versorgung sind festzuhalten: ▪ Sie findet nahezu ausschließlich im Kontext von Kran- kenhausaufenthalten statt. Bisher kaum genutzt wer- den demgegenüber ambulante Rehabilitationsmög- lichkeiten im Rahmen schleichender Verschlechterun- gen der funktionalen Gesundheit. Hier könnte seitens der Vertragsärzte durch rechtzeitige Verordnung am- bulanter geriatrischer Rehabilitation ein stärkerer Bei- trag dazu geleistet werden, den Eintritt von Pflegebe- dürftigkeit hinauszuzögern. ▪ Die hohe Erbringung von Frührehabilitation stellt die Ausschöpfung vorhandener Rehabilitationspotenziale bei Fehlen weiterer Rehabilitationsstrukturen nicht si- cher. Es existieren keine kassenübergreifend einheitli- chen, transparenten Regelungen, wie bei Fehlen ent- sprechender Strukturen bspw. mit Rehabilitations- empfehlungen im Rahmen der Pflegebegutachtung oder vertragsärztlicher Beantragung geriatrischer Re- habilitation zu verfahren ist. ▪ Die weitgehende Dominanz stationärer Strukturen geht an den Bedarfen vieler geriatrischer Rehabilitan- den nach zugehenden Angeboten vorbei. Das Wohn- umfeld ist für viele nicht selten der noch einzige räum- liche und soziale Schutzraum, in dem sie sich ausken- nen und sicher fühlen. Diesen Schutzraum zu verlas- sen ist häufig angstbesetzt, sodass vielen trotz objek- tivem Rehabilitationspotenzial ein solcher Entschluss nicht möglich ist [12, 18]. Die eng gefassten Zugangs- regelungen zu mobiler Rehabilitation schließen zu- dem viele von den speziellen Chancen dieses Rehabili- tationssettings aus. Perspektivisch sollte die Auswahl des geriatrischen Reha- bilitationssettings stärker an den individuellen Rehabilita- tionszielen und der Frage, in welchem Setting diese Ziele am besten zu erreichen sind, ausgerichtet werden [7]. Lübke N. Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in … Geriatrie up2date 2021; 3: 47–60 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 55
CME-Fortbildung Hierzu sind Setting-vergleichende kontrollierte Begleit- studien zur besseren Evidenzbasierung zu fordern. An einer Anpassung der Rahmenempfehlungen MoGeRe mit einer entsprechenden Erweiterung der bisher sehr eng gefassten Indikationskriterien mobiler geriatrischer Rehabilitation wird derzeit gearbeitet. Merke Entwicklungsbedarfe bestehen im bundesweiten Ausbau medizinisch geriatrischer Rehabilitation und hierbei insbesondere wohnortnaher ambulanter und zugehender mobiler Angebote. Abschließend sei auf das am 4. November 2020 in Kraft getretene IPReG (Intensivpflege- und Rehabilitationsstär- kungsgesetz) hingewiesen [19]. Unter anderem soll da- mit die geriatrische Rehabilitation gestärkt werden. Hier- zu wird bei einer vertragsärztlich verordneten geriatri- schen Rehabilitation nicht mehr überprüft, ob diese me- dizinisch erforderlich ist, sofern die geriatrische Indika- tion durch dafür geeignete Abschätzungsinstrumente vertragsärztlich überprüft wurde. Die Anwendung dieser Instrumente ist dafür nachzuweisen und das Ergebnis die- ser Abschätzung bei der Übermittlung der Verordnung an die Krankenkasse beizufügen. Die konkrete Ausgestal- tung geeigneter Abschätzungsinstrumente, um eine ger- iatrische Rehabilitationsindikation zu belegen, hat der Gemeinsame zum 31.12.2021 zu regeln; sie ist bereits Gegenstand aktueller Beratungen. Voraussichtlich werden hierbei neben As- sessmentergebnissen die o. g. GKV-Definitionskriterien geriatrischer Patienten von Bedeutung sein. Bundesausschuss (G‑BA) bis Zusammenfassung Geriatrisch-rehabilitative Versorgung dient dem Erhalt selbstbestimmter Teilhabe alter Menschen. Sie trägt zur Minderung von Pflegebedürftigkeit bei – eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen. Sie arbeitet mit meist multipel beeinträchtigten älteren Patienten mit zu- gleich eingeschränkten Reserven. Dadurch tragen diese Menschen ein hohes Risiko, im Rahmen jeglicher Akut- erkrankungen weitere Beeinträchtigungen ihrer bisheri- gen Aktivitäten und Teilhabe zu entwickeln. Dies recht- fertigt den hohen Anteil von Frührehabilitation bereits im Krankenhaus, die einen wesentlichen Teil geriatrisch- rehabilitativer Versorgung in Deutschland ausmacht. Ihr Ziel ist es, entsprechende Einbrüche in der Selbstständig- keit so früh und so weit wie möglich zu mindern oder zu vermeiden. Frührehabilitation allein kann – besonders unter den Be- dingungen pauschalierter Vergütung im DRG-System – jedoch keine gegebenenfalls notwendige, weiterführen- de medizinische Rehabilitation ersetzen. Angebote ent- sprechender geriatrischer Rehabilitationseinrichtungen stehen allerdings nicht in allen Bundesländern zur Ver- fügung. Darüber hinaus werden rehabilitative geriatrische Ange- bote in Deutschland weitgehend in stationären Struktu- ren erbracht. Dies schöpft Vorteile anderer rehabilitativer Erbringungsformen bisher kaum aus. So könnte bspw. die ambulante geriatrische Rehabilitation bereits stärker zur Verhinderung von Pflegeeintritt bei langsam zunehmen- den Verschlechterungen der funktionalen Gesundheit eingesetzt werden. Die mobile Rehabilitation, welche die Rehabilitanden in ihrem Wohnumfeld aufsucht, könnte bei Patienten, deren Rehabilitations- und Teilhabeziele weniger durch Wiederherstellung verlorener Funktionen als durch Adaptation von Kontextfaktoren und Verbes- serung von Unterstützungsarrangements zu erreichen sind, effizienter und nachhaltiger sein. KERNAUSSAGEN ▪ Geriatrische Rehabilitation arbeitet mit meist multipel beeinträchtigten Patienten mit einge- schränkten Reserven. ▪ Dies bedeutet ein erhöhtes Risiko im Rahmen jeg- licher Akuterkrankungen, anhaltende Beeinträch- tigungen ihrer bisherigen Aktivitäten und Teilhabe zu entwickeln, und rechtfertigt den hohen Anteil von Frührehabilitation in der Geriatrie. ▪ Frührehabilitation im Krankenhaus kann – beson- ders unter den Bedingungen pauschalierter Ver- gütung im DRG-System – jedoch keine medizini- sche Rehabilitation ersetzen. ▪ Geriatrische Rehabilitationsangebote zur medizi- nischen Rehabilitation stehen allerdings nicht flä- chendeckend und nicht in allen Bundesländern zur Verfügung. ▪ Darüber hinaus werden rehabilitative geriatrische Angebote weitgehend in stationären Strukturen erbracht. Dies schöpft besondere Vorteile ambu- lanter und mobiler rehabilitativer Erbringungs- formen bisher kaum aus. 56 Lübke N. Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in … Geriatrie up2date 2021; 3: 47–60 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Interessenkonflikt Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an im Bereich der Medizin aktiven Firma: nein; Patent/ Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an zu Sponsoren dieser Fortbildung bzw. durch die Fortbil- dung in ihren Geschäftsinteressen berührten Firma: nein. Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessen- konflikt besteht. Autorinnen/Autoren Norbert Lübke Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Geriatrie, Sozialmedizin. Manager im Sozial- und Ge- sundheitswesen (MSG). Seit 2003 Leiter des Kompetenz-Centrums Geriatrie des GKV-Spit- zenverbandes und der Medizinischen Dienste. Aufgabenbereich: Systemberatung zur Weiter- entwicklung, Qualitätssicherung, Evaluation und sozialmedi- zinischen Begutachtung geriatrischer Versorgung. Schwer- punkt: geriatrische Rehabilitation. Korrespondenzadresse Dr. med. Norbert Lübke Kompetenz-Centrum Geriatrie beim MDK Nord Hammerbrookstraße 5 20097 Hamburg Deutschland norbert.luebke@kcgeriatrie.de Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungs- bestimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Norbert Lübke, Hamburg. Zitierweise für diesen Artikel Lübke N. Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in Deutsch- land. Rehabilitation 2020; 59: 1–14 Literatur [1] Hajek A, Brettschneider C, Ernst A et al. Einflussfaktoren auf die Pflegebedürftigkeit im Längsschnitt. Gesundheitswesen 2017; 79: 73–79 [2] Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Kranken- kassen, GKF Spitzenverband, Hrsg. 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Im Internet (Stand: 26.10.2020): https://rehaempfehlung.medfak.uni-halle.de/fi- les/2020/01/Abschlussbericht.pdf [14] MDK Kompetenz-Centrum Geriatrie, Hrsg. Assessments in der Geriatrie. Im Internet (Stand: 26.10.2020): https://kcgeriatrie. de/Assessments_in_der_Geriatrie/Seiten/default.aspx [15] GKV-Spitzenverband, Hrsg. Rahmenempfehlungen zur ambu- lanten geriatrischen Rehabilitation des GKV-Spitzenverbandes und der Verbände der Krankenkassen auf Bundesebene vom 02.01.2018 2018; 1–32. Im Internet (Stand: 26.10.2020): https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/kran- kenversicherung_1/rehabilitation/richtlinien_und_verein- barungen/2018_01_15__Re_amb_ger_Reha_02012018.pdf Lübke N. Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in … Geriatrie up2date 2021; 3: 47–60 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 57
CME-Fortbildung [16] Trögner J, Tümena T, Schramm A et al. Geriatrie in Bayern Da- tenbank (GIB‑DAT) – Patientenstrukturen und Ergebnisse der geriatrischen Rehabilitation. Eine statistische Analyse von Benchmarking-Parametern Teil II. Z Gerontol Geriatr 2006; 39: 134–142 [17] Lübke N. Explorative Analyse vorliegender Evidenz zu Wirk- samkeit und Nutzen von rehabilitativen Maßnahmen bei Pfle- gebedürftigen im Hinblick auf eine mögliche Anwendbarkeit im Rahmen der Feststellung des Rehabilitationsbedarfs bei der Pflegebegutachtung. G3-Gutachten im Auftrag des Medi- zinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Kranken- kassen e.V. (MDS). Hamburg: MDK; 2015: 1–216. Im Internet (Stand: 26.10.2020): https://www.mds-ev.de/fileadmin/doku- mente/Publikationen/GKV/Rehabilitation/Gutachten_Re- ha_bei_Pflegebeduerftigkeit_KCG.pdf [18] Janßen H. Ermittlung des allgemeinen Rehabilitationsbedarfs und Evaluation Mobiler Geriatrischer Rehabilitation in statio- nären Pflegeeinrichtungen und der Kurzzeitpflege – Ab- schlussbericht. Bremen: Hochschule; 2018: 1–123 [19] Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Hrsg. Gesetz zur Stärkung von intensivpflegerischer Versor- gung und medizinischer Rehabilitation in der gesetzlichen Krankenversicherung (Intensivpflege- und Rehabilitationsstär- kungsgesetz – GKV-IPReG). Veröffentlicht im Bundesanzeiger am 04.11.2020: Bundesgesetzblatt, Teil I, 48: 2220–2228 Bibliografie Geriatrie up2date 2021; 3: 47–60 DOI 10.1055/a-1275-1933 ISSN 2627-0889 © 2021. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Präsenz Sie möchten Studienergebnisse, neue Erkenntnisse tragen? Hatten schon einmal eine unangenehme Begegnung mit den Medien? Kennen die Situation, Journalisten gegenüber Rede und Antwort zu stehen? ankommen. Dazu bieten wir Ihnen ein modular aufgebautes Medientraining für Einzelpersonen und Kleingruppen. Interessiert? www.thieme.de/medientraining l e w a r / a l i l o t o F © 58 Lübke N. Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in … Geriatrie up2date 2021; 3: 47–60 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Den genauen Einsendeschluss finden Sie unter https://cme.thieme.de. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführliche Anleitung. Wir wünschen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! Unter https://eref.thieme.de/CXFTH4Y oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests. VNR 2760512020158721155 Frage 1 Frage 3 Welche Aussage zum geriatrischen Patienten ist nicht richtig? A Geriatrische Patienten zeichnen sich durch erhöhtes Risiko für überraschende Einbrüche ihrer bisherigen Selbstständig- keit aus. B Unabdingbares Kriterium für die Einstufung als geriatrischer Patient nach den Kriterien der Gesetzlichen Krankenversiche- rung (GKV) ist das Vorliegen einer geriatrietypischen Multi- morbidität. Welche der folgenden Aussagen zur Vergütung der geriatri- schen frührehabilitativen Komplexbehandlung (GFK) ist richtig? A Die Vergütung erfolgt kontinuierlich abgestuft nach erbrach- ten Therapieeinheiten und Behandlungsdauer. B Die Vergütung setzt die Erbringung der Leistung im individu- ell notwendigen Umfang voraus. C Die Vergütung setzt die Erbringung der Leistung über den ge- samten Krankenhausaufenthalt voraus. C Das Alter stellt einen unabhängigen Risikofaktor für den Ein- D Leistungen unter 20 Therapieeinheiten und unter 14 Behand- tritt von Pflegebedürftigkeit dar. D Altersphysiologisch bedingte Einschränkungen von Reserven sind zum Teil durch Training und angepasste Lebensweise günstig beeinflussbar, jedoch nicht prinzipiell vermeidbar. E Als geriatrietypisch gilt Multimorbidität z. B. im Zusammen- hang mit Fehl- und Mangelernährung oder Störungen im Flüssigkeits- oder Elektrolythaushalt. Frage 2 Eines der im Folgenden genannten Kriterien gehört nicht zu den Indikationskriterien der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für die geriatrische Rehabilitation. Welches? A voraussichtlich anhaltende Beeinträchtigungen von Aktivitä- ten oder Teilhabe B der Ausschluss vorrangig kurativer Behandlungsbedürftigkeit C die Fähigkeit zur mehrmals täglichen aktiven Teilnahme an rehabilitativen Maßnahmen lungstagen werden nicht gesondert vergütet. E Erst ab einem Leistungsumfang von mindestens 20 Therapie- einheiten und 14 Behandlungstagen setzt eine schrittweise Erhöhung der Vergütung bei weiteren Therapieeinheiten ein. Frage 4 Welches der folgenden Ziele wird durch die geriatrische Früh- rehabilitation nicht verfolgt? A die funktionale Verschlechterung eines Patienten im Rahmen einer akutstationär behandlungspflichtigen Erkrankung zu vermeiden B die Rehabilitationsfähigkeit eines Patienten für eine An- schlussrehabilitation herzustellen C das gesamte Rehabilitationspotenzial während des Aufent- halts im Krankenhaus auszuschöpfen D die Notwendigkeit einer Anschlussrehabilitation abzuwenden E die Erhöhung eines vorbestehenden Pflegegrades zu vermei- D die Motivation des Rehabilitanden E eine medizinisch begründete positive Prognose für das Errei- den chen des Rehabilitationsziels ▶ Weitere Fragen auf der folgenden Seite … Lübke N. Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in … Geriatrie up2date 2021; 3: 47–60 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 59
CME-Fortbildung Punkte sammeln auf CME.thieme.de Fortsetzung … Frage 5 Frage 8 Welche der folgenden Aussagen zu geriatrisch-rehabilitativen Versorgungsangeboten ist falsch? A Stationäre Frührehabilitation hat sich unter den pauschalier- ten Vergütungen des DRG-Systems nach Dauer und Umfang der Leistungen weitgehend standardisiert. B In geriatrischen Tageskliniken können auch Patienten mit noch bestehendem diagnostischem Abklärungsbedarf reha- bilitativ behandelt werden. C Stationäre Rehabilitation ist erforderlich, wenn bei gegebe- ner Rehabilitationsindikation die medizinische und pflegeri- sche Versorgung zu Hause (noch) nicht gewährleistet werden kann. D Ambulante geriatrische Rehabilitation kommt ohne Trans- portangebot aus. E Mobile Rehabilitation kann besonders gut das individuelle Unterstützungs- und Pflegearrangement der Patienten in die Rehabilitation einbeziehen. Frage 6 Welches der folgenden Merkmale stellt ein weitgehendes Spezi- fikum geriatrischer Rehabilitation dar? A die Kombination multipler Beeinträchtigungen und Erkran- kungen B das Ziel einer Restitution ad integrum oder zumindest ad op- timum C die Wiedererlangung weitestmöglicher Teilhabe D der Einsatz von Hilfsmitteln E der hohe Anteil als Anschlussrehabilitation erbrachter Leis- tungen Frage 7 Was ist in Deutschland die häufigste Zugangsform in eine ger- iatrisch-rehabilitative Versorgung? A die vertragsärztliche Verordnung einer stationären geriatri- schen Rehabilitation B die vertragsärztliche Verordnung einer ambulanten geriatri- schen Rehabilitation C die stationäre Krankenhausaufnahme geriatrischer Patienten D die Anschlussrehabilitation geriatrischer Patienten nach einem Krankenhausaufenthalt E die Rehabilitationsempfehlung im Rahmen einer MDK-Pfle- gebegutachtung Worin unterscheidet sich mobile wesentlich von ambulanter geriatrischer Rehabilitation? A in den Zugangsverfahren B in der Notwendigkeit, die häusliche Versorgung des Rehabili- tanden außerhalb der Therapiezeiten sicherzustellen C in der Zusammensetzung des geriatrischen Rehabilitations- teams D in der Konkretheit und dem unmittelbaren Kontextbezug der Rehabilitationsziele E in der Prognose für das Erreichen des Rehabilitationsziels Frage 9 Welcher der folgenden Aspekte spielt in der geriatrischen Reha- bilitation für die Beurteilung der Rehabilitationsprognose keine wesentliche Rolle? A das individuelle Rehabilitationsziel B der letzte stabile Funktionszustand vor einem Akutereignis C die Dauer des Bestehens der vorliegenden Beeinträchtigun- gen D die den Beeinträchtigungen zugrunde liegenden Krankheits- bilder E das kalendarische Alter Frage 10 Eine der folgenden Aussagen zu rehabilitativen Strategien in der geriatrischen Rehabilitation ist falsch. Welche? A Restitution ist auch im Alter oft eine erfolgversprechende Re- habilitationsstrategie. B Restitution ist nur im stationären Setting effizient möglich. C Kompensation trägt beim geriatrischen Rehabilitanden häu- fig zum Erhalt oder Wiedergewinn von Selbstständigkeit bei. D Je länger und je stärker ein geriatrischer Rehabilitand beein- trächtigt ist, umso wichtiger werden adaptive Strategien. E Je wichtiger Adaptation für die individuelle Rehazielerrei- chung ist, umso größer sind die Vorteile eines mobilen Er- bringungssettings. 60 Lübke N. Geriatrisch-rehabilitative Versorgung in … Geriatrie up2date 2021; 3: 47–60 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Geriatrie up2date 1 · 2021 CNE 11 Der schwerhörige ältere Patient – (k)eine Dauerbaustelle im Pflegealltag?! Mechthild Decker-Maruska DOI: 10.1055/a-1294-1139 Geriatrie up2date 2021; 3 (1): 63–75 ISSN 2627-0889 © 2021 Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
CNE Fortbildung Unter dieser Rubrik sind bereits erschienen: Sucht im Alter I. Vogt, M. Schmid Heft 4/2020 „Würde gefunden“ – für eine würdevolle Sterbebegleitung in der Geriatrie R. Teufel Heft 3/2020 Der Weg zu einem demenzsensiblen Krankenhaus J. Heil Heft 2/2020 Entstehung, Prävention und Management Inkontinenz- assoziierter Dermatitis (IAD) B. Uebach Heft 1/2020 Freiheitseinschränkende Maßnahmen bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen im Akutkrankenhaus J. Narchi, S. Ritzi Heft 3/2019 Umgang mit älteren Menschen mit geistiger Behinderung im Krankenhaus L. Habermann-Horstmeier Heft 2/2019 Begegnungsorientiertes Arbeiten mit Menschen mit Demenz S. Kraus Heft 1/2019 ALLES ONLINE LESEN IHR ONLINE-SAMMELORDNER JETZT FREISCHALTEN Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: online wie offline, am PC und mobil, alle bereits erschienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! https://eref.thieme.de/geri-u2d Sie möchten jederzeit und überall auf Ihr up2date-Archiv zu- greifen? Kein Problem! Ihren immer aktuellen Online- Sammelordner finden Sie unter: https://eref.thieme.de/WT87L Sie haben Ihre Zeit- schrift noch nicht freigeschaltet? Ein Klick genügt: www.thieme.de/eref-registrierung
CNE | Mit Schwerhörigkeit kompetent umgehen Der schwerhörige ältere Patient – (k)eine Dauer- baustelle im Pflegealltag?! Mechthild Decker-Maruska Schwerhörigkeit begrenzt die kommunikative Kompetenz und beeinträchtigt in der Folge die zwischenmenschliche Verständigung mittels der gesprochenen Sprache. Dennoch wird der Schwerhörigkeit, insbesondere der Hörminderung im höheren Lebensalter in dem von der gesprochenen Sprache geprägten Pflegealltag kaum Bedeutung beigemessen [1]. Beachtung erfährt die Höreinbuße erst durch das nervtötende Pfeifen von Hörgeräten oder wenn jeder Versuch der zwischenmenschlichen Verständigung in Miss- oder Nichtverstehen resultiert. Es ist an der Zeit, die erhebliche Pflegerelevanz der Schwerhörigkeit zu erkennen und den Pflegeprozess entsprechend zu gestalten. Schwerhörigkeit beeinträchtigt die zwischenmenschliche Verständigung mittels der gesprochenen Sprache (Quelle: Kirsten Oborny/Thieme Group). CNE (Certified Nursing Education) ist das multimediale Fortbildungskonzept von Thieme. Es wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Pflegerat e. V. (DPR) entwickelt. Weitere Informationen finden Sie unter cne.thieme.de Decker-Maruska M. Der schwerhörige ältere Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 63–75 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 63
CNE | Mit Schwerhörigkeit kompetent umgehen Der schwerhörige ältere Patient im klinischen Pflegealltag – Status quo Einhergehend mit der steigenden Lebenserwartung ver- zeichnet das Gesundheitswesen eine stetige Zunahme von älteren und hochaltrigen Patienten auch in den kli- nisch stationären Versorgungsbereichen. Die bedarfs- gerechte und bedürfnisorientierte Versorgung dieser, oftmals multimorbiden Patientenklientel, zu gewährleis- ten, obliegt u. a. der professionellen Pflege. In Anbetracht einer verkürzten klinischen Verweildauer, umfangreicher Dokumentationsaufgaben, einem erhöhten Pflegezeit- aufwand und reduzierten personellen Ressourcen viel- fach eine Herausforderung. Als wäre dies nicht schon ge- nug, kommt dann auch noch „Corona“ nebst Masken- pflicht. So seltsam es anmuten mag, etwas Positives bringt diese Pandemie für die Autorin mit sich. Einerseits erfährt Be- achtung, was in Kliniken seit Jahrzehnten einfach hin- genommen wird: Eine Maske, auch der medizinische Mund-Nasen-Schutz, ist nicht transparent und verdeckt den Mund und somit das Mundbild des Gesprächspart- ners. Folglich werden Hörgeschädigte einer wichtigen In- formationsquelle und einem Bestandteil der Hörtaktik – was zu einem späteren Zeitpunkt noch beschrieben wird – beraubt. Die ohnehin schon problembehaftete Verstän- digung erlebt eine deutliche Verschärfung. Andererseits haben plötzlich auch guthörende, masken- tragende Kollegen das Gefühl, „schlechter“ hören zu kön- nen, empfinden ein Gespräch oder ein Telefonat als schwierig, fragen vermehrt nach und beschreiben häufi- ger auftretendes Miss- oder Nichtverstehen. Die Ver- mutung, dass die Selbsterfahrung der Pflegekräfte zu einer veränderten Wahrnehmung der Schwerhörigkeit und ihrer Folgen auf die zwischenmenschliche Verständi- gung führt, bleibt im beruflichen Alltag zumeist unbestä- tigt. Nach wie vor ist dieser geprägt von lautem Sprechen oder gar Anschreien der betroffenen Patienten, von Miss- oder Nichtverstehen, pfeifenden und/oder ungenutzt in Nachtschrankschubladen liegenden Hörgeräten sowie von Fehleinschätzungen der psychischen, physischen und kognitiven Leistungsfähigkeit, resultierend in unan- gemessenen pflegerischen, ärztlichen oder therapeuti- schen Maßnahmen. Das Ergebnis: Weder Professionalität noch Handlungskompetenz erfahrend, fühlen sich schwerhörige Patienten unverstanden und ziehen sich nicht selten aus dem Pflegeprozess zurück. FALLBEISPIEL Frau M. – 80 Jahre, kontaktfähig, Zustand nach Sturz, eingeschränkter Allgemeinzustand, rollstuhlfähig für 4 Stunden täglich, Transfer an die Bettkante selbst- ständig, Transfer in den Rollstuhl mit geringer per- soneller Unterstützung einer Pflegefachkraft mög- lich, waschen und kleiden bedarf ebenfalls der ge- ringen personellen Unterstützung einer Pflegefach- kraft – wird von Pflegerin S. aufgesucht, um die Grundpflege am Waschbecken unter aktivierend therapeutischen Gesichtspunkten durchzuführen. Während Pflegerin S. in der, vom Bettplatz der Pa- tientin nicht einsehbaren, Nasszelle die Vorbereitun- gen trifft, bittet sie die Patientin, sich an die Bettkan- te zu setzen. Nach Beenden der Vorbereitung begibt sich Pflegerin S. zum Bettplatz von Frau M., um diese beim Transfer in den Rollstuhl zu unterstützen. Doch diese hat die Handlungsanweisung nicht umgesetzt. Freundlich lächelnd fragt Frau M.: „Können wir jetzt anfangen?“ Pflegerin S. teilt der Patientin mit: „Ja, können wir. Aber ich habe Sie doch vorhin gebeten, sich schon mal an die Bettkante setzen.“ Die Antwort von Frau M. ist ein fragendes „Was?“ Pflegerin S. wiederholt ihren Satz und schaut dabei auf ihre Uhr. Den Blick auf die Uhr wahrgenommen entgegnet Frau M. ungehalten: „Nein, das haben Sie nicht, sonst hätte ich das ja gemacht!“ Unter Zeitdruck stehend sagt Pflegerin S.: „Doch, Frau M., das habe ich.“ Da- bei spricht sie erheblich lauter als üblich. Entrüstet antwortet die Patientin: „Nein, haben Sie nicht. Ich bin doch nicht verrückt. Und überhaupt, warum schreien Sie mich so an. Hier herrscht kein Verständ- nis für ältere Menschen. Und ständig schauen Sie auf Ihre Uhr. Ich werde meiner Tochter sagen, wie man mich hier behandelt.“ Pflegerin S. entschuldigt sich und spricht dabei wieder in normaler Lautstärke. Es folgt ein erneutes „Was?“ seitens der alten Dame. Die Entschuldigung wiederholend und dabei wieder lauter sprechend, versucht die Pflegefachkraft, die Patientin zu beruhigen. Zudem bittet Pflegerin S. nochmals, Frau M. möge sich jetzt an die Bettkante setzen. Erbost und völlig aufgelöst entgegnet die Patientin: „Sie schreien schon wieder. Was ist das hier für ein Ton, ich lasse mich doch nicht zwingen! Ich mache jetzt gar nichts mehr.“ Das an die Situation anschließende Gespräch mit der Tochter ergibt: Frau M. ist schwerhörig und negiert das Problem, denn „… so alt ist sie ja noch nicht.“ Die vorhan- denen Hörgeräte liegen seit Jahren in der Schublade und an den Verständigungsproblemen im häuslichen Umfeld sind die Angehörigen schuld, die „nuscheln“ oder zu schnell sprechen, um Frau M. etwas zu verheimlichen. 64 Decker-Maruska M. Der schwerhörige ältere Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 63–75 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Das Zusammenleben mit der Patientin gestalte sich zu- nehmend schwieriger. Einen Besuch bei einem HNO- Facharzt und/oder Hörgeräteakustiker lehnt die Patientin kategorisch ab. Die hier geschilderte Problematik ist kein Einzelfall und beruht auf einem – 25 Jahre zurückliegenden – Erlebnis der Autorin, welches – so oder so ähnlich – auch heute vielfach im Stationsalltag erlebbar ist. Ein Ende dieser „Dauerbaustelle“ bedarf der hörstatuskonformen Gestal- tung des Pflegeprozesses. Dieses Ziel zu erreichen, erfor- dert eine grundlegende Voraussetzung: die Erweiterung der Handlungskompetenz der professionell Pflegenden in Bezug auf die Thematik Schwerhörigkeit. Schwerhörigkeit ist pflegerelevant – (k)eine Fake News?! Schwerhörigkeit beeinträchtigt die zwischenmenschliche Verständigung mittels der gesprochenen Sprache (Laut- sprache) in einem zum Teil erheblichen Ausmaß und er- schwert betroffenen Patienten die aktive Teilhabe am Pflegeprozess oftmals gravierend. Daher ist es zwingend notwendig, sich der hohen pflegerischen Relevanz der Hörminderung bewusst zu werden. Denn: Gesprochene Sprache ist das gebräuchlichste Instrument der interper- sonellen Kommunikation im pflegerischen Alltag, auch zwischen Patienten und Pflegefachkräften. Legt man das bedürfnisorientierte Pflegemodell von Mo- nika Krohwinkel zugrunde, basiert die Pflegerelevanz der Schwerhörigkeit auf einer durch Miss- oder Nichtverste- hen von lautsprachgebunden Informationen hervorgeru- fenen Einschränkung im ABEDL „Kommunizieren kön- nen“. Bedarf die Kompensation dieser Einschränkung der pflegefachlichen Intervention im Sinne von Beratung, Anleitung, Unterstützung oder Übernahme, liegt gemäß der Definition von Krohwinkel ein Pflegeproblem vor. Hierbei erstreckt sich das Spektrum der hörminderungs- bedingten Pflegeprobleme über fast alle ABEDL-Bereiche. Schwerhörigkeit – mehr als nur schlecht hören können Schwerhörigkeit stellt die wohl facettenreichste auditive Leistungseinschränkung aus der Gruppe der Hörstörun- gen dar. Letztgenannte können – aufgrund ihrer weiten Verbreitung in den Industrieländern – zu den großen Volkskrankheiten gezählt werden [2]. Bereits vor 20 Jah- ren zeigte sich ein besonders hohes Aufkommen der Schwerhörigkeit bei Menschen im höheren Lebensalter. Untersuchungen zufolge ist schon damals jeder 3. Deut- sche im Alter von 61–70 Jahren (34%) und jeder 2. Deut- sche im Alter von 71–80 Jahren (54%) von dieser Hörmin- derung betroffen. In der Altersgruppe der über 80-jähri- gen Menschen liegt das Aufkommen sogar bei 98 Prozent [3]. Experten gehen zudem davon aus, dass sich – ver- gleichbar den demenziellen Erkrankungen – das Aufkom- men der Schwerhörigkeit in den nächsten Jahren dras- tisch erhöht. Als ursächlich hierfür wird neben der stei- genden Lebenserwartung eine erhöhte Lärmbelastung beschrieben, in deren Folge vermehrt auch junge Men- schen von einer Schwerhörigkeit betroffen sind. Die Schwerhörigkeit, auch Hypakusis genannt, ist ein Symptom. Akut oder schleichend auftretend, beschreibt Schwerhörigkeit jegliche Minderung des Hörvermögens als Folge einer Erkrankung des sogenannten Ohr-Leit-Sys- tems. Hierbei wird unterschieden zwischen der Schalllei- tungsschwerhörigkeit mit Krankheitsursachen im äuße- ren Ohr oder im Mittelohr und der Schallempfindungs- schwerhörigkeit, bei der die Krankheitsursache in der Ge- hörschnecke (Cochlea) des Innenohrs zu finden ist. Abzu- grenzen hiervon ist die neuronale und die zentrale Schwerhörigkeit, bei der die Krankheitsursache auf der Ebene des Hörnervs, der Hörbahn oder im Hörzentrum angesiedelt ist. Alle Formen können jedoch auch kom- biniert auftreten. Die wohl gravierendste Auswirkung der Schwerhörigkeit und gleichzeitig ihr typisches Merkmal findet sich in der begrenzten Kommunikationsfähigkeit der Betroffenen. Jedoch bleibt, im Gegensatz zum vollständigen Hörver- lust (bei Ertaubung und Gehörlosigkeit), die Wahrneh- mung akustischer Ereignisse wie Töne, Geräusche, Worte bei allen Formen der Schwerhörigkeit erhalten. Allerdings ist die Verständigung mittels der gesprochenen Sprache je nach Art und Ausprägung der Hörminderung, zum Teil erheblich beeinträchtigt. Ursächlich hierfür ist ein leiseres und/oder bruchstückhaftes, unvollständiges Wahrneh- men („Hören“) der verbalen (sprachgebundenen) und paraverbalen (z. B. Tonfall, Sprechtempo, Lautstärke, Sprachmelodie) Kommunikationsanteile, vergleichbar mit einem Handytelefonat bei schlechtem Netz. Die Fol- ge: Miss- oder Nichtverstehen lautsprachlicher Informa- tionen (z. B. Handlungsanweisungen) seitens der betrof- fenen Menschen. Um Verständigungsprobleme dennoch zu meistern, be- dienen sich Pflegefachkräfte in Ermangelung geeigneter Kompensationsstrategien oftmals einer bereits im Kin- desalter erlernten, scheinbar probaten Lösungsstrategie: dem lauten Sprechen oder gar Anschreien des miss- oder nichtverstehenden Gegenübers. Doch anstelle des er- hofften Erfolgs zeigen sich eskalierende Kommunikati- onssituationen, vermehrtes Misstrauen, verringerte Ko- operationsbereitschaft oder der vollständige Rückzug der schwerhörigen Klientel aus dem Pflegeprozess. Die- ses Verhalten wird jedoch vielfach nicht der hörmin- derungsbedingt eingeschränkten Kommunikationsfähig- keit des Interaktionspartners zugeordnet, sondern nicht selten als Beeinträchtigung der körperlichen, emotiona- Decker-Maruska M. Der schwerhörige ältere Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 63–75 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 65
CNE | Mit Schwerhörigkeit kompetent umgehen ▶ Tab. 1 Formen der Schwerhörigkeit und ihre Auswirkungen auf die akustische Wahrnehmung. Art der Schwerhörigkeit Verortung des Defekts Sprachaufbau Klangbild Sprach- qualität Schallleitungsschwerhörigkeit (konduktive Schwerhörigkeit) Gehörgang oder Mittelohr Schallempfindungsschwerhörigkeit (sensorineurale Schwerhörigkeit) Innenohr oder im neuronalen Bereich unverändert unverändert unverändert verändert verändert verändert kombinierte Schwerhörigkeit * Gehörgang oder Mittelohr und Innenohr oder im neuronalen Bereich verändert verändert verändert * Bei Schwerhörigkeit im Alter handelt es sich häufig um eine kombinierte Schwerhörigkeit. Akustische Ereignisse werden … leiser wahrgenom- men. bruchstückhaft und verzerrt wahrgenom- men. leiser sowie bruch- stückhaft/unvollstän- dig wahrgenommen. len oder auch geistigen Leistungsfähigkeit im Sinne einer demenziellen Erkrankung gewertet. ▶ Tab. 1 stellt die veränderte Hörwahrnehmung an 3 Beispielen dar. Die ▶ Tab. 1 verdeutlicht: Schwerhörigkeit hat verschie- dene Gesichter und ist durch mehr gekennzeichnet als nur durch ein „leiseres“ Hören. Lautes Sprechen oder gar Schreien sind somit keine adäquaten Strategien zur Lö- sung von Verständigungsproblemen. Studien zeigen darüber hinaus: Schwerhörigkeit erhöht das Sturzrisiko [4], steigert das Depressionsrisiko [5] und erhöht das Demenzrisiko [6]. Erfahrungen aus den ärzt- lichen und pflegerischen Versorgungsbereichen weisen außerdem darauf hin, dass eine Hörminderung delirante Zustände begünstigen kann. Überdies unterschätzt die professionelle Pflege die Schwerhörigkeit hinsichtlich der Lebens- und Erlebens- situation zahlreicher Betroffener, da es an Wissen in Be- zug auf die physischen, psychischen und sozialen Auswir- kungen der auditiven Einschränkung mangelt. So ist bei- spielsweise kaum bekannt, dass u. a. schnellere Ermü- dung, erhöhte Anspannung, Schlaf- und Essstörungen, Muskelverspannung, aber auch Unsicherheit, Selbstzwei- fel, Angst, Reizbarkeit, Traurigkeit bis hin zur Depression in einer Höreinbuße begründet sein können. Eine weitere schwerwiegende Auswirkung – den zunehmenden sozia- len Rückzug bis hin zur vollständigen Isolation – be- schrieb der deutsche Philosoph Immanuel Kant treffend mit den Worten: „… nicht hören können trennt den Mensch vom Menschen.“ Mit Blick auf die vorherigen Ausführungen ist es von- nöten, eine stete Sorge hörbeeinträchtigter älterer Men- schen zu thematisieren: „Schwerhörig oder taub zu sein heißt: mit ständiger Unsicherheit darüber leben, ob man andere [hier die Pflegefachkraft] richtig verstanden hat, ob man von anderen richtig verstanden worden ist, oder das eigene Missverstehen von anderen auch richtig ge- deutet wird, nämlich als Zeichen eines Hörproblems und nicht eines Intelligenzmangels.“ [7] Schwerhörigkeit und Demenz – Verwechslung keine Seltenheit Eine nicht unbegründete Sorge, denn: Eine „Verwechs- lung“ der Schwerhörigkeit mit einer Demenz ist im pfle- gerischen Alltag keine Seltenheit. Verantwortlich für dieses Phänomen ist das vielfach iden- tische, für die Umwelt oft befremdlich anmutende Inter- aktionsverhalten hörgeminderter und demenziell er- krankter Menschen. Typische Beispiele finden sich in un- angemessenem und/oder zögerlichem Reagieren auf Handlungsanweisungen sowie in verstärktem Misstrauen und einer verminderten Kooperationsbereitschaft. Weitere gemeinsame „Verhaltensauffälligkeiten“ zeigen sich u. a. in Fremdaggression, sozialem Rückzug, man- gelnder Konzentrationsfähigkeit, leichter Ablenkbarkeit, mangelnder Kommunikationsinitiation, Monologisieren, Desorientierung, wahnhaftem Erleben, Affektlabilität und Inkohärenz, Leidensdruck [8]. Vergleichbar der De- menz stellt auch die Schwerhörigkeit eine „Familien- erkrankung“ dar, denn: Der röhrende Fernseher, das „ewige“ Wiederholen von bereits Gesagtem, die nicht genutzten Hörgeräte, die strikte Weigerung, einen Oh- renarzt zu besuchen, sowie die „ständigen“ Verdächti- gungen, etwas verheimlicht zu bekommen, sind für die Angehörigen oftmals schwer auszuhalten und belasten das familiäre Leben nicht unerheblich. Die vorgenannten Auffälligkeiten basieren in beiden Fäl- len auf einer beeinträchtigten kommunikativen Kom- petenz der Betroffenen. Hierbei liegt der hörminderungs- bedingt eingeschränkten Kommunikationskompetenz durch die unvollständige Wahrnehmung von verbalen 66 Decker-Maruska M. Der schwerhörige ältere Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 63–75 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
und paraverbalen akustischen Ereignissen vorrangig ein „Informationsaufnahmedefizit“ zugrunde. Merke Eine pathologische Störung der Hirnleistung im Sinne einer Demenz liegt bei der Schwerhörigkeit primär nicht vor. Jedoch kann eine Schwerhörigkeit einer demenziellen Entwicklung Vorschub leisten und bereits vorhandene, etwa im Anfangsstadium einer Demenz vorliegende Defi- zite verstärken, da sie einen unabhängigen relativen Risi- kofaktor darstellt [9]. Im Gegensatz dazu beruht die Kommunikationsein- schränkung bei demenziellen Erkrankungen im Wesentli- chen auf einem „Informationsverarbeitungs-, Informati- onsspeicherungs- und Informationsabrufdefizit“. Durch die sich mit fortschreitendem Krankheitsverlauf reduzie- rende Fähigkeit, Worten und Begriffen eine Bedeutung zuzuordnen, fällt es demenziell Erkrankten zunehmend schwerer, lautsprachgebundene Informationen zu „be- greifen“, sprachliche Zusammenhänge zu erfassen und in Äußerungen des Kommunikationspartners eine Sinn- haftigkeit zu erkennen. Die Brisanz der Problematik verschärft sich erheblich bei dem zeitgleichen Auftreten von Schwerhörigkeit und De- menz im Sinne einer Komorbidität, die bei 32 Prozent der über 70-jährigen Patienten anzutreffen ist [10]. Hierbei potenzieren sich beide Krankheitsbilder sowohl im Aus- maß der eingeschränkten Kommunikationskompetenz als auch der daraus resultierenden Verhaltensauffälligkei- ten [11]. Bleibt die Hörminderung nebst ihren Auswirkungen im Rahmen des Pflegeprozesses unerkannt oder unberück- sichtigt, widerspricht dies der immer wieder postulier- ten, ganzheitlichen Betrachtungsweise der Patienten. Zu- dem erfahren der Beziehungsaufbau und die Beziehungs- gestaltung zum Teil gravierende Beeinträchtigungen, wodurch Patienten die aktive Mitarbeit am Prozess- geschehen verwehrt bleibt. Die Folgen spiegeln sich er- fahrungsgemäß u. a. in einer erhöhten klinischen Verweil- dauer, einem verminderten Behandlungserfolg und der unzureichenden Weiterversorgungplanung wider. Mit Blick auf die steigenden Ansprüche an die Pflegequa- lität, deren Niveau eng verknüpft ist mit der Qualität der Pflegebeziehung und der Interaktionsfähigkeit der wei- terhin oftmals maskentragenden professionell Pflegen- den, ist es unerlässlich, die Thematik Hörstörungen in die Aus-, Fort- und Weiterbildung der professionellen Pflege einzubinden. Darüber hinaus bedarf die flächendeckende Einbindung der auditiven Leistungseinschränkungen in bestehende Pflegekonzepte der Entwicklung eines längst überfäl- ligen, entsprechenden Expertenstandards. Hier ist nicht zuletzt auch die Pflegewissenschaft gefordert. Wenngleich bislang ein solcher Standard noch nicht zur Verfügung steht, so hat doch jeder hörgeschädigte Pa- tient das Anrecht auf eine die individuellen kommunika- tiven Probleme, Ressourcen und Bedürfnisse berücksich- tigende Gestaltung des Pflegeprozesses. Der Pflegeprozess bei Schwerhörigkeit (im Alter) Der Pflegeprozess beschreibt eine pflegefachliche Vor- gehensweise, mit dem Ziel, Pflegeprobleme zu erkennen und angemessene Interventionen zu planen, zu organi- sieren, durchzuführen sowie zu evaluieren, um diese Pro- bleme zu beheben. Hierbei orientiert sich das prozesshaf- te Geschehen am Prinzip des kybernetischen Regelkreises als Instrument zur Lösung von komplexen Problemsitua- tionen. Für jeden Patienten individuell durchgeführt setzt sich der Gesamtprozess aus den Bestandteilen Anamne- se, Assessment, Planung, Durchführung und Evaluation zusammen, welche miteinander zusammenhängen und interdependent, also gegenseitig abhängig sind. Bezug- nehmend auf die Schwerhörigkeit bedeutet dies: die Inte- gration der Schwerhörigkeit in den Pflegeprozess (▶ Abb. 1). Das pflegefachliche Management der Höreinbuße, das im Rahmen dieses Beitrags nur ansatzweise behandelt wer- den kann, bedarf zudem einer entsprechenden Definition der erforderlichen Rahmenbedingungen in den von Mo- nika Krohwinkel beschriebenen 5 Tätigkeitsbereichen. Die Anamnese – eingehend beobachten und aktiv zuhören Die Pflegeanamnese (Informationssammlung, Erstein- schätzung) bietet eine Möglichkeit, ein hörminderungs- bedingtes Pflegeproblem frühzeitig zu eruieren. Denn: Das Erkennen einer Schwerhörigkeit gestaltet sich im All- gemeinen schwierig, da Betroffene, im Gegensatz zu ge- hörlosen und spätertaubten Patienten, das „Hör- und Verstehproblem“ nur selten offen kommunizieren. Über- dies verfügen schwerhörige ältere Patienten zudem über zahlreiche Strategien, um die Höreinbuße nahezu meis- terhaft zu verbergen. Empfehlenswert ist, Fragen bezüglich des Hörvermögens erst zum Ende des Anamneseinterviews und einfühlsam formuliert einfließen zu lassen. Diese Vorgehensweise fördert nicht nur den Aufbau einer Vertrauensbeziehung, sie ermöglicht zudem die eingehende Beobachtung des Kommunikations- und Interaktionsverhaltens des Inter- viewpartners im Gesprächsverlauf. Hier offenbaren sich erste Hinweise auf eine mögliche Schwerhörigkeit, bei- Decker-Maruska M. Der schwerhörige ältere Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 63–75 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 67
CNE | Mit Schwerhörigkeit kompetent umgehen Anamnese Evaluation Assessment „Hörproblem“ Durchführung Planung ▶ Abb. 1 Pflegeprozess: erfragen – einschätzen – planen – umsetzen – prüfen (Quelle: Thieme Group). spielsweise durch das typische „Aufrichten“ der Ohr- muschel mittels der Hand. Weitere Anzeichen sind: häufi- ges Nachfragen, inhaltliches Miss- oder Nichtverstehen, leichte Ablenkbarkeit durch akustische Ereignisse, erhöh- te Konzentration auf Gesicht und Lippen des Gesprächs- partners, verstärkte Anspannung und Unsicherheit ge- folgt von hilfesuchenden Blicken zu Angehörigen mit der Bitte, die Frage zu beantworten. Auch aktives Zuhören zahlt sich aus und kann Hinweise auf eine mögliche oder bereits vordiagnostizierte Schwerhörigkeit geben. Bezeichnend hierfür sind u. a. die eher beiläufigen Anspielungen der betroffenen Pa- tienten sowie der Angehörigen, welche die „nuschelige“ Aussprache der Enkeltochter, das „bewusst“ leise Spre- chen des Sohnes ebenso bemängeln wie den „brüllen- den“ Fernseher, das „vorsätzliche“ nur „das zu hören, was man hören will“ oder die konsequente Nichtnutzung vorhandener Hörgeräte. Ebenso können der Rückzug von Familienfeierlichkeiten oder aus einem ehrenamtlichen Engagement auf einen zunehmenden Hörverlust hindeuten. In diesem Zusam- menhang sollte die Information bezüglich einer bereits Jahre zurückliegenden HNO-ärztlichen Untersuchung nicht unbeachtet bleiben, denn nicht selten ist die Ver- legung des Gehörgangs durch Cerumenpfröpfe verant- wortlich für ein „Hörproblem“. Ein weiteres Indiz findet sich zudem in Informationen be- treffend Beruf/Arbeitsplatz. So sind beispielsweise Straß- enbau- und Fabrikarbeiter, Landwirte und Schmiede täg- lich einem erhöhten Lärmpegel ausgesetzt, in dessen Fol- ge oftmals eine Einschränkung des Hörvermögens auf- tritt. Nicht ungesagt bleiben darf: Schon heute thematisiert eine gewisse Anzahl älterer hörgeminderter Patienten ihr „Problem“ beim ersten Zusammentreffen, fordert ein angemessenes Verhalten ein oder verweist voller Stolz auf ihre Hightech-Hörgeräte mit einer Vielzahl an Funk- tionen. Konsequente Nutzung und eine Verbesserung der Lebensqualität eingeschlossen. Die Anzahl dieser selbstbewussten, eine bedarfsgerechte und bedürfnisori- entierte Pflege einfordernden schwerhörigen Alters- patienten steigt stetig. Für das Erstgespräch ist es zielführend, eine hallreduzier- te Räumlichkeit auszuwählen. Des Weiteren gilt es, ab- lenkende Nebengeräusche bestmöglich zu verringern, zum Beispiel durch das Schließen von Fenstern und Türen oder das Stummschalten des Telefons, sofern dieses nicht an einen Kollegen abgegeben werden kann. Erfahrungs- gemäß trägt zudem die Einbindung der Angehörigen da- zu bei, Unsicherheit und Anspannung zu reduzieren. För- derlich ist darüber hinaus, einen höheren Zeitaufwand als üblich einzuplanen und die im Beitrag zu einem späteren Zeitpunkt beschriebenen Verhaltensregeln einzuhalten. 68 Decker-Maruska M. Der schwerhörige ältere Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 63–75 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Das Assessment Das Assessment dient der spezifischen Einschätzung von individuellen Problemen und Bedürfnissen, insbesondere im Hinblick auf die Problemursache. Besteht im Anschluss an die Pflegeanamnese der Ver- dacht einer Hörminderung, ist dieser mittels standardi- sierter Testverfahren zu überprüfen, da Arztbriefe oder Einweisungsformulare sowie Pflegeüberleitungsberichte erfahrungsgemäß kaum bzw. wenig differenzierte Infor- mationen beinhalten. Zu diesen Screeningverfahren zählen neben dem Flüster- test [12] auch der Mini-Audio-Test oder MAT [13] Flüstertest Nach Ausatmen werden [von der Pflegefachkraft] folgende Zahlen aus 50 cm Entfernung in das bezeichnete Ohr [des Patienten] geflüstert, während das andere Ohr zugehalten wird: 6 1 9 linkes Ohr 2 7 3 rechtes Ohr ▶ Abb. 2 Flüstertest. Bei mehr als einer falschen Zahlen- wiedergabe besteht möglicherweise eine Hörstörung [12] (Quelle: Thieme Group). Mini-Audio-Test (MAT) EDV-Nummer-Klinik: Alter: Geschlecht: m □ w □ (▶ Abb. 2, Abb. 3). Um die Ausprägung der Behinderung hinsichtlich des sozialen und emotionalen Lebens und Er- lebens schwerhöriger Menschen einzuschätzen, kann bei- spielsweise das HHIE‑S (Hearing Handicap Inventory for the Elderly–Screening) [14] angewendet werden. Alle ge- nannten Verfahren können nach Einweisung auch Pflege- fachkräfte durchführen. Neben den genannten Testverfahren ist es Pflegefach- kräften – nach vorangegangener Instruktion – gestattet, den Gehörgang mittels eines Otoskops zu inspizieren (▶ Abb. 4). Dies ermöglicht u. a. eine Verlegung des Ge- hörgangs durch Cerumen-Ansammlung ohne großen Aufwand zu erkennen (▶ Abb. 5). Bekräftigt die Durchführung eines der beiden erst- genannten Screeningverfahren den Verdacht auf eine Hörbeeinträchtigung und/oder ergibt die Gehörgangs- inspektion eine Verlegung durch Cerumen, trägt auch die professionelle Pflege Sorge für eine zeitnahe HNO- ärztliche Abklärung. Nicht selten führt bereits die im Rah- men dieser Untersuchung durchgeführte Cerumen-Ent- fernung bei den betroffenen Patienten zu einer Verbes- serung der auditiven Wahrnehmung. Bedarf es einer ver- lässlichen Beurteilung der Ausprägung der Höreinbuße, beispielsweise im Vorfeld einer kognitiven Testung, emp- fiehlt es sich, im Anschluss an die HNO-ärztliche Unter- suchung, eine audiometrische Testung (Ton- und Sprach- audiometrie) zu veranlassen. Merke Beide vorgenannten Maßnahmen bedürfen sowohl der Anordnung durch den behandelnden Arzt als auch der Zustimmung des Patienten. Beantworten Sie bitte jede Frage spontan. Wenn Sie die entsprechende Situation nicht kennen, versuchen Sie bitte, sich eine möglichst ähnliche vorzustellen. Bitte beantworten Sie unbedingt alle Fragen. Vielen Dank! stimmt stimmt teilweise stimmt nicht 1 2 3 4 5 6 Andere sagen, dass ich meinen Fernseher zu laut einstellen würde. Das Zwitschern von Vögeln oder das Zirpen von Grillen höre ich schlecht. Eine Unterhaltung mit einer anderen Person in einem fahrenden Bus verstehe ich schlecht. Wenn jemand flüstert, habe ich Probleme, ihn zu verstehen. Meine Hörprobleme führen zu Missverständnissen mit meinen Gesprächspartnern. Andere sagen mir, dass ich Hörprobleme haben würde. □ □ □ □ □ □ □ □ □ □ □ □ □ □ □ □ □ □ ▶ Abb. 3 Mini-Audio-Test (MAT) zum frühzeitigen Screening auf Schwerhörigkeit [13]. „Stimmt“ erhält 2 Punkte, „stimmt teilweise“ 1 Punkt und „stimmt nicht“ 0 Punkte. Eine weitere fachspezifische Diagnostik beim HNO-Arzt ist bei einer Gesamtpunktzahl von 2 Punkten ab dem 50. Lebensjahr und von 3 Punkten ab dem 60. Lebensjahr erforderlich (Quelle: Thieme Group). Decker-Maruska M. Der schwerhörige ältere Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 63–75 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 69
CNE | Mit Schwerhörigkeit kompetent umgehen ▶ Abb. 5 Cerumenpfropf (Quelle: Mechthild Decker- Maruska). rausnehmen, dem Batteriewechsel, der Funktionstes- tung, dem Beheben von Funktionsstörungen oder in der Pflege der Systeme. Zumeist bleibt den Patienten die er- forderliche Unterstützung versagt, da die Pflegefachkräf- te mit der Handhabung der Hörgeräte kaum vertraut sind. Folglich verschwinden diese ungenutzt in Nacht- schrankschubladen. Neben hörgeräteversorgten Patienten werden Pflege- fachkräfte zukünftig vermehrt älteren Patienten mit Hör- implantaten wie dem Cochlea-Implantat (CI) begegnen. Das CI besteht aus 2 Komponenten: dem Audioprozessor nebst Sendespule, der meist (wie ein Hörgerät) außen ne- ben dem Ohr getragen wird (▶ Abb. 6), und dem eigent- lichen, unter der Kopfhaut sitzenden Implantat, dessen Elektroden in die Gehörschnecke (Cochlea) reichen. Der Prozessor wandelt akustische Signale in einen digitalen Code um, der mittels der Sendespule an das eigentliche Implantat übertragen wird. Dieses wiederum setzt die di- gitalen Signale in elektronische Reize um, die durch die Elektrode an den Hörnerv vermittelt werden. Grob skiz- ziert erfolgt die Versorgung mit einem CI, wenn durch die Anpassung herkömmlicher Hörgeräte kein relevantes Sprachverstehen erzielt werden kann. Wichtig für die professionelle Pflege ist hier: Angesichts des die Sende- spule haltenden Magneten im implantierten Anteil des CIs ist es unerlässlich, den behandelnden Arzt auf die Rücksprache mit der implantierenden Klinik im Vorfeld eines MRTs (Magnetresonanztomogramms) hinzuweisen. Die Kontaktdaten sowie weitere Informationen zum CI können dem Implantat-Ausweis entnommen werden. Überdies gilt es, einen weiteren wesentlichen Aspekt nicht zu ignorieren: Wird die externe Komponente des CIs abgenommen, beispielsweise beim Schlafen oder Du- schen, ist der Patient vollständig taub. Der Umgang mit den vorgenannten Hörgeräten erfordert einige Übung, ist aber bei Weitem einfacher als gedacht, wie ▶ Tab. 2 zeigt. ▶ Abb. 4 Otoskop zur Inspektion des Gehörgangs (Quelle: Mechthild Decker-Maruska). Die Bandbreite hörminderungsbedingter Pflegeproble- me ist umfangreich. In diesem Zusammenhang beschrei- ben die Pflegeprofis vielfach die Handhabung von Hörge- räten/Implantaten sowie das Miss- oder Nichtverstehen im Rahmen der interpersonellen Kommunikation als ver- sorgungsrelevante Unsicherheitsfaktoren, nicht zuletzt in Bezug auf die Maßnahmenplanung und deren Durchfüh- rung. Hörgeräte und Cochlea-Implantate – was Pflegende wissen sollten Die wohl wichtigste Lektion in diesem Kontext ist: Hörge- räte und Cochlea-Implantate sind keine „Verstehgeräte“, denn: Ganz gleich wie hochtechnisiert die Systeme zum jetzigen Zeitpunkt auch sind, die Wahrnehmung akus- tischer Ereignisse durch ein intaktes Gehör vermögen sie nicht zu ersetzen. Und: Das Tragen von Hörgeräten oder Implantaten darf nicht erzwungen werden! Vielmehr soll- ten in Abstimmung mit dem Patienten zeitliche Vorgaben bezüglich der Nutzungsdauer (Tragedauer) in die Planung einfließen. Die Handhabung der oftmals filigranen Hörgeräte er- weist sich für schwerhörige ältere Patienten vor dem Hin- tergrund einer nicht selten eingeschränkten Feinmotorik und Sensibilität und/oder einer verminderten Sehfähig- keit als schwierig. Die sich hieraus ergebenden potenziel- len Pflegeprobleme finden sich u. a. im Einsetzen und He- 70 Decker-Maruska M. Der schwerhörige ältere Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 63–75 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
▶ Abb. 6 Cochlea-Implantat (Quelle: Mechthild Decker-Maruska). a Die einzelnen Komponenten des Cochlea-Implantats. b Der Audioprozessor und die Sendespule werden außen neben dem Ohr getragen. Das Implantat sitzt unter der Kopfhaut, und die Elektroden- kontakte liegen in der Cochlea (Gehörschnecke). ▶ Tab. 2 Umgang mit Hörgeräten und Cochlea-Implantaten (CI). Prinzip der Handhabung Zielsetzung Kontakt mit Hörgeräten/CI grundsätzlich mit desinfizierten, trockenen Händen Prävention von möglichen Infektionen des Ohres/der Kopfhaut Hörgeräte vor dem Einsetzen und Herausnehmen ausschalten Verhinderung von eventuellen Rückkopplungseffekten Hörgeräte abends herausnehmen; CI-Audioprozessor abnehmen Prävention von Dekubitus, Einsparung beim Batterieverbrauch Hörgeräte/CI bei bettlägerigen Patienten am Tage nur intermittierend einsetzen Hörgeräte-Otoplastiken mit einem weichen Tuch/Tupfer (ggf. leicht mit Wasser befeuchtet) oder mittels dafür vorgesehener Sets reinigen Prävention von Dekubitus Verhinderung von Beschädigungen der Otoplastik Hörgeräte/CI vor Feuchtigkeit- und Hitzeeinwirkungen schützen Verhinderung von Schäden an den elektronischen Bestandteilen Hörgeräte/CI in dafür vorgesehenen, gepolsterten Behältnissen aufbewahren Verhinderung von zeitaufwendigem Suchen und Schäden, z. B. durch Herunterfallen Merke Manipulationen an Hörgeräten oder Cochlea-Implan- taten mit spitzen Gegenständen wie Kanülen sowie die Anwendung von Desinfektionsmitteln sind grundsätzlich zu unterlassen! Ob das Beheben von Funktionsstörungen oder die Inspek- tion des Gehörgangs – nicht selten verzögern sich die In- terventionen in Ermangelung eines geeigneten Equip- ments um Stunden oder gar Tage. Hier kann ein Notfall- koffer der besonderen Art für Abhilfe sorgen (▶ Abb. 7). Einige Funktionsstörungen bei Hörgeräten äußern sich durch ein von Pflegenden und Patienten gleichermaßen als unangenehm empfundenes Pfeifen. Die nachfolgende ▶ Tab. 3 verweist auf mögliche Ursachen und geeignete Maßnahmen zu dieser und weiteren Funktionsstörungen. Dieser etwas andere „Notfallkoffer“ beinhaltet, neben Batterien in unterschiedlichen Größen, einen Batterietes- ter, einen Stetoclip zur Funktionstestung von Hörgeräten sowie ein Otoskop zur Inspektion des Gehörgangs. So be- steht die Möglichkeit, beispielsweise die Verlegung des Gehörgangs durch Cerumen als Ursache für eine Funk- tionseinschränkung zeitnah zu identifizieren oder durch Decker-Maruska M. Der schwerhörige ältere Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 63–75 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 71
CNE | Mit Schwerhörigkeit kompetent umgehen den unverzüglichen Austausch von Batterien die Funktion des Hörgeräts wiederherzustellen. Wie der „Notfallkoffer“ sollte auch die Conferette (Kinn- bügel-Hörverstärker) in keiner patientenversorgenden Einrichtung fehlen (▶ Abb. 8). Zur Anwendung kommt diese einfach zu handhabende technische Hilfe bei Kom- munikationsproblemen mit leicht- bis mittelgradig schwerhörigen, nicht mit Hörgeräten versorgten Patien- ten. Da die Conferette alle akustischen Ereignisse glei- chermaßen verstärkt, ist sie vorzugsweise bei 4- bis 6-Au- gen-Gesprächen in ruhigen Räumen zu verwenden. Miss- oder Nichtverstehen kompetent begegnen Angesichts von Miss- oder Nichtverstehen lautsprach- gebundener Informationen wie Handlungsanweisungen tendieren Pflegekräfte vielfach zu lautem Sprechen oder gar Anschreien des schwerhörigen Gegenübers, um sich „Gehör“ zu verschaffen. Diese Strategie ist jedoch wenig wertschätzend und in den meisten Fällen nicht zielfüh- rend. Insbesondere bei einem zeitgleichen Auftreten von Hörminderung und Demenz birgt die Anwendung dieser Methode u. a. die Gefahr eines verstärkten fremdaggres- siven Verhaltens. ▶ Abb. 7 Notfallkoffer (Quelle: Mechthild Decker-Maruska). ▶ Abb. 8 Conferette (Quelle: Mechthild Decker-Maruska). a Detailansicht. b Conferette in der Anwendung. 72 Decker-Maruska M. Der schwerhörige ältere Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 63–75 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
▶ Tab. 3 Tipps zum Umgang mit Funktionsstörungen bei Hörgeräten. Ursache das Hörgerät (HG) pfeift HG sitzt nicht richtig im Ohr HG befindet sich im „falschen“ Ohr (besonders häufig bei In-dem-Ohr-Hörgeräten (IdO) Lautstärkeregler ist zu hoch aufgedreht Lautstärkeregler ist defekt HG sitzt zu locker im Ohr Schallschlauch ist defekt Schallschlauch ist verstopft Maßnahme HG herausnehmen und erneut einsetzen HG herausnehmen, seitliche Zuordnung kontrollieren (rote Markierung = rechts/blaue Markierung = links), in das „richtige“ Ohr einsetzen Lautstärke reduzieren Akustiker kontaktieren Akustiker kontaktieren Akustiker kontaktieren Schallschlauch reinigen das Hörgerät rutscht aus dem Ohr (Problem bei In-dem-Ohr-Hörgeräten) Talgrückstände im Gehörgang das Hörgerät funktioniert nicht HG ist nicht eingeschaltet fehlende Batterie Batteriefach ist offen Batterie ist leer Batterie ist falsch eingelegt die Lautstärke verringert sich Batterie ist zu schwach HG herausnehmen, HG und Gehörgang reinigen, HG erneut einsetzen; wiederholt sich das Ereignis: Akustiker kontaktieren HG einschalten HG herausnehmen, Batterie einlegen, Funktion testen, HG erneut einsetzen Batteriefach schließen HG herausnehmen, neue Batterie einlegen, Funktion testen, HG erneut einsetzen HG herausnehmen, Batterie korrekt einlegen, Funktion testen, HG erneut einsetzen HG herausnehmen, neue Batterie einlegen, Funktion testen, HG erneut einsetzen Mikrofonöffnung ist verstopft/verklebt Akustiker kontaktieren Ohrpassstück (Hinter-dem-Ohr-Systeme HdO) bzw. Cerumen- filter (IdO-Systemen) ist mit Cerumen verstopft HG herausnehmen, Otoplastik reinigen/Filter wechseln, HG erneut einsetzen Kaum von Erfolg gekrönt zeigt sich in der Kommunika- tion auch die Anwendung der Deutschen Gebärdenspra- che (DGS) oder der Lautsprachbegleitenden Gebärden (LBG), da insbesondere schwerhörige ältere Patienten nur selten über eine derartige Fähigkeit verfügen. Bezeichnend für die unzureichende Kompetenz der Pfle- genden im kommunikativen Umgang mit hörgeschädig- ten Patienten ist die weitverbreitete Meinung, dass hör- geschädigte Menschen eine Fähigkeit sehr gut beherr- schen: das „von den Lippen ablesen“. Eine überschätzte Kompetenz, denn Worte lassen sich nicht vom Mund ab- lesen wie aus einem Buch. Beim Mundabsehen – so die fachlich korrekte Bezeichnung – versuchen hörgeminder- te Menschen, aus den Mundbewegungen des Gesprächs- partners charakteristische Mundbilder für bestimmte Sprachlaute und Worte zu erkennen, um sich so die Laut- sprache auf visuellem Weg zu erschließen. Die Effektivität dieses visuellen Kanals bedarf jedoch eines frei einseh- baren Mundes und ist eng mit der Deutlichkeit der Arti- kulation des Gesprächspartners verbunden. Da jedoch nur etwa ⅓ aller deutschen Sprachlaute absehbar sind, wird Mundabsehen vor allem für ältere Schwerhörige zu einem fehlerträchtigen Kombinationsprojekt. Auch im „Absehpuzzeln“ geübte und gesunde hörbeeinträchtigte Menschen sind dieser Mammutaufgabe nur über einen limitierten Zeitraum gewachsen. Um dennoch ein größtmögliches, inhaltliches Verstehen zu erreichen, müssen die aus der defizitären Hörwahr- nehmung resultierenden Ausfälle durch zusätzliche Infor- mationsquellen mithilfe der Hörtaktik ausgeglichen wer- den. Die Funktionalität dieses das Mundabsehen sowie die Interpretation von Mimik, Gestik und Körperhaltung umfassenden Kompensationsmechanismus setzt jedoch eine uneingeschränkte Denk-, Kombinations- und Kon- zentrationsfähigkeit voraus. Letztgenannte stehen älte- ren, zum Teil multimorbiden schwerhörigen Patienten, oftmals nicht vollumfänglich zur Verfügung. Doch selbst wenn all diese Voraussetzungen erfüllt sind, das Prinzip Hörtaktik führt nur dann zum optimalen Kom- Decker-Maruska M. Der schwerhörige ältere Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 63–75 | © 2021. Thieme. All rights reserved. 73
CNE | Mit Schwerhörigkeit kompetent umgehen munikationserfolg, wenn die pflegenden Akteure be- stimmte „Verhaltensregeln“ konsequent beachten. Hier- zu zählen: ▪ Langsam und deutlich sprechen, jedoch nicht über- artikulieren (dieses Verhalten verzerrt das Mundbild und erschwert das Absehen). ▪ In angemessener Lautstärke reden und nicht schrei- en (Letzteres kann von Schwerhörigen u. a. als schmerzhaft empfunden werden und führt ebenfalls zu Verzerrungen des Mundbilds). ▪ Vor einem Gespräch Blickkontakt herstellen und im Gesprächsverlauf halten, tätigkeitsbegleitende An- weisungen vermeiden. ▪ Mimik, Gestik und Körpersprache bewusst einset- zen, auf Übereinstimmung zwischen verbalen und nonverbalen Äußerungen achten. ▪ Gesprächsthema benennen und einen Themenwech- sel ankündigen. ▪ Auf gute Lichtverhältnisse achten (im Dunkeln ist Mundabsehen unmöglich). ▪ Auf eine korrekte Positionierung der Gesprächspart- ner achten – der schwerhörige Kommunikationspart- ner sollte nicht „ins Licht“ schauen (verhindert Blend- effekte, die das Mundabsehen erschweren). ▪ Störgeräusche abstellen (Störgeräusche lenken ab, daher: Radio/Fernsehen ausschalten, offene Fenster/ Türen schließen, Patientenrufanlage nach vorheriger Rücksprache mit den Kollegen für den Zeitraum eines Gesprächs ausschalten). ▪ Mit Miss- oder Nichtverstehen rechnen (unangemes- sene Reaktionen einkalkulieren). ▪ Grammatikalisch korrektes Deutsch bzw. Mutter- sprache des Patienten verwenden. ▪ Geschlossene Fragestellung vermeiden (Ja/Nein als Antwort garantiert nicht zwingend ein inhaltliches Verstehen). ▪ Fremdworte, komplizierte Fachbegriffe und lange Schachtelsätze weitestgehend vermeiden. ▪ Räumlich Nähe und Distanz beachten (optimale Ent- fernung 0,5–1 Meter). Ausnahme: der Schwerhörige erlaubt, die Intimdistanz zwecks Verbesserung der Hörwahrnehmung zu unterschreiten. ▪ Eine mögliche Sehbehinderung berücksichtigen und ausgleichen (Brille aufsetzen, an vorherige Reinigung denken). ▪ Geduld und Verständnis zeigen (auch wenn das Ge- sagte mehrfach wiederholt werden muss). ▪ Höheren Zeitaufwand, z. B. für ein Gespräch/eine In- tervention, einplanen. ▪ Aufschreiben (trägt zum besseren inhaltlichen Ver- ständnis bei, insbesondere bei erforderlichem Mas- kentragen). Beachten: Die geschriebenen Informatio- nen verbleiben im Besitz des Patienten. Merke „Hörgeräte und Cochlea-Implantate sind keine Verstehgeräte“. Die Nutzung derselben entbindet den gut hörenden Gesprächspartner nicht von der Einhaltung der vorgenannten Verhaltensregeln. Merke Masken, egal welcher Art, stellen eine kommunika- tive Barriere dar. Sofern erlaubt, sollte deshalb ein Gesichtsvisier oder eine Hygiene-Sichtschutzwand genutzt werden. Dokumentation – (un)geliebt, aber unerlässlich Bevor der zumeist letzte Schritt des Pflegeprozesses, die Evaluation, beschrieben wird, sei ein kurzer Ausflug in die ungeliebte Dokumentation gewährt. Obgleich Hörstö- rungen im Rahmen der DRG-orientierten Vergütungs- modalitäten bislang keinen erlösrelevanten Charakter be- sitzen, ist ihre Dokumentation sowohl unter dem Aspekt der Information aller am Versorgungsprozess beteiligten Berufsgruppen als auch unter haftungsrechtlichen Ge- sichtspunkten vonnöten. Die in ▶ Tab. 4 vorgestellten Kürzel erlauben eine präzise, zeit- und platzsparende Dokumentation der Verortung der Hörgeräte/CI sowie der Art der Hörstörung, wobei je- doch ausschließlich HNO-fachärztlich diagnostizierte Hörstörungen in dieser Form zu dokumentieren sind. Der Verdacht auf eine Höreinschränkung ist als solche zu dokumentieren. ▶ Tab. 4 Kürzel zur Dokumentation von Hörstörungen. Dokumentation Art der Hörstörung* Schwerhörigkeit Gehörlosigkeit Spätertaubung Art des Hörsystems Hinter-dem-Ohr-Gerät In-dem-Ohr-Gerät (allgemein) Cochlea-Implantat Verortung des Hörsystems rechts links beidseits Kürzel sh gl et HdO IdO CI re. li. bds. * Die Praxis zeigte: Eine Differenzierung der Schwerhörigkeit in Schallleitung-, Schallempfindungs- und kombinierte Schwerhörigkeit ist ebenso wenig zielführend wie die Dokumentation der Ausprägungen (leicht, mittel, hoch- gradig). 74 Decker-Maruska M. Der schwerhörige ältere Patient … Geriatrie up2date 2021; 3: 63–75 | © 2021. Thieme. All rights reserved.
Evaluation Die fortlaufende Auswertung der Interventionsergebnis- se bezüglich ihrer Effektivität und Zielerreichung kenn- zeichnet den in der Regel letzten Schritt im Pflegepro- zess, die Evaluation. So ist beispielsweise zu hinterfragen, ob die Entfernung von Cerumen erfolgreich durchgeführt wurde, der Patient angesichts konsequenter Anwendung der „Verhaltensregeln“ weniger oft nachfragen musste oder die Tragedauer der Hörgeräte erweitert werden konnte. Ist dies nicht der Fall, sind sowohl die Pflegeziele als auch die Maßnahmenplanung und Durchführung im Rahmen eines Re-Assessments neu zu definieren. Abschließend bleibt zu sagen: Trotz aller Erklärungsver- such ist der zunehmende Verlust der kommunikativen Fä- higkeit und die daraus resultierenden Folgen für die Be- troffenen seitens der „normalen“ Umwelt – Pflegefach- kräfte eingeschlossen – kaum nachempfindbar. Den- noch: Angesichts einer stetig wachsenden Anzahl von schwerhörigen, nicht nur älteren Menschen in allen Berei- chen des Gesundheitswesens ist eine die Hörstörungen im Allgemeinen und die Schwerhörigkeit im Alter im Be- sonderen als pflegerelevant wahrnehmende Gestaltung des Pflegeprozesses mehr als überfällig. Die praktische Umsetzung sollte hierbei ebenso flächendeckend erfol- gen wie die differenzierte Qualifizierung der zukünftigen Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner. Darüber hinaus sollten transparente medizinische Gesichtsmasken u. a. auch in Kliniken eingesetzt werden. Interessenkonflikt Die Autorin erklärt, dass sie innerhalb der vergangenen 3 Jahre Reisekosten von der Springer Medizin Verlag GmbH erhalten hat. Es besteht eine Mitgliedschaft in der Deutschen Gesell- schaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG), der deutschen Fachgesellschaft Aktivierend-therapeutische Pflege e. V. (DGATP) sowie dem Deutschen Schwerhörigenbund e. V. (OV Essen). Autorin Mechthild Decker-Maruska Mechthild Decker-Maruska ist als Case Mana- gerin (DGCC/FHM) in der Integrierten Geriatrie des radprax Krankenhaus Plettenberg tätig. Die examinierte Krankenschwester und Fach- referentin des Deutschen Schwerhörigen- bundes e. V. engagiert sich u. a. als Dozentin im Bereich Gesundheits- und Krankenpflege/Altenhilfe sowie als Fachautorin und Referentin bei nationalen und internationalen Kongressen für eine Verbesserung der Gesundheitsversor- gung hörbeeinträchtigter PatientInnen. Korrespondenzadresse Mechthild Decker-Maruska radprax Krankenhaus Plettenberg Ernst-Moritz-Arndt-Straße 17 58840 Plettenberg decker-maruska@krankenhaus-plettenberg.de Literatur [1] Decker-Maruska M, Lerch M. Hearing impairment in old age – a (no) go in basic and further nursing education. Journal of clinical nursing 2010; 19 (Suppl. 1): 70–92 [2] Neubauer G, Gmeiner A. Volkswirtschaftliche Bedeutung von Hörschäden und Möglichkeiten zur Reduktion deren Folgekos- ten. 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