Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 1/2 Jan./Feb. 2022 Seite 1–80 90. Jahrgang Originalarbeiten ▪ Covid-19: Angsterleben von Psychiatern ▪ Nutzen und Schädlichkeit von berauschenden und schmerzlindernden Substanzen Übersichtsarbeiten ▪ Multiple Sclerosis Health Resource Utilization Survey ▪ Botulinumtoxin-Therapie des Spasmus hemifacialis ▪ Konzeptualisierung nymphomanischer Zustände der Schulpsychiatrie Kasuistiken ▪ Sulpirid-induzierte Dystonie bei Tourette Syndrom CME-Fortbildung ▪ Nichtinvasive Hirnstimulationsverfahren

Inhalt Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie Januar/Februar 2022 · 90. Jahrgang · Seite 1–80 4 6 6 8 10 12 14 14 16 18 In eigener Sache | Adaptives Lernen für die „Neurologie“ – Dieses Wissen werden Sie nicht mehr los Fokussiert | Borderline: Repetitive transkranielle Magnetstimulation vielversprechend Fokussiert | Ischämischer Schlaganfall: IVT trotz unbekannter Zeitdauer seit Symptombeginn? Fokussiert | Losartan bei PTBS? Blutdruckmedikament auf Wirksamkeit untersucht 19 Originalarbeit | Abwägung von Nutzen und Schädlichkeit von berauschenden und schmerzlindernden Substanzen aus der Perspektive von deutschen Suchtmedizinern Udo Bonnet, Michael Specka, Michael Soyka, Thomas Alberti, Stefan Bender, Jörg Hilger, Thomas Hillemacher, Thomas Kuhlmann, Jens Kuhn, Christel Lüdecke, Jens Reimer, Udo Schneider, Welf Schroeder, Markus Stuppe, Gerhard Wiesbeck, Norbert Wodarz, Norbert Scherbaum Original Article | Weighing the Benefi ts and Harms of Psychotropic and Analgesic Substances – A Perspective of German Addiction Medicine Experts Fokussiert | Transitorisch-ischämische Attacke: Diagnose auch bei nicht-klassischen Symptomen Fokussiert | Alkoholentzugssyndrom: Gabapentin senkt GABA- und Glutamatspiegel Fokussiert | Schädelhirntrauma: präklinische Gabe von Tranexamsäure erhöht Mortalitätsrate Fokussiert | Psychische Störungen und COVID-19-Risiken – neue Zusammenhänge Fokussiert | MS: Rituximab verhindert sekundäre Autoimmunität nach Alemtuzumab-Therapie 30 Originalarbeit | Covid-19-Pandemie: Angsterleben von niedergelassenen und Krankenhaus-Psychiatern Jens Bohlken, Karel Kostev, Claudia Bartels, Jens Wiltfang, Daniel Broschmann, Matthias Lemke, Thomas Lempert, Bernhard Michalowsky, Steffi Riedel-Heller Original Article | Covid-19 Pandemic: Anxiety Experience of Resident and Hospital Psychiatrists 37 Skripte der Botulinumtoxin-Akademie | Botulinumtoxin – Therapie des Spasmus hemifacialis: Ein Update Wolfgang H. Jost, Rainer Laskawi, Anja Palmowski-Wolfe, Björn Spittau, Peter P. Urban Scripts of the botulinum toxin academy | Therapy of Hemifacial Spasm with Botulinum Toxin: an Update Editorial | Wirkfaktoren von Behandlung und Erfolgswahr- scheinlichkeit in Psychiatrie und Neurologie Peter Falkai Editorial | Power Factors and Success Probability in Psychiatry and Neurology Utilization Survey Nils-Henning Ness, Dirk Schriefer, Rocco Haase, Tjalf Ziemssen Review Article | The Multiple Sclerosis Health Resource Utilization Survey 42 Übersichtsarbeit | Der Multiple Sclerosis Health Resource Fortschr Neurol Psychiatr 2022; 90: 1–2 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 1

Herausgebergremium Prof. Dr. med. Marianne Dieterich leitet seit 2008 die Klinik für Neurologie mit Friedrich-Baur- Institut der LMU München. Zu ihren Schwerpunkten zählen die Diagnostik und Therapie von Schwindel, Gleichgewichts- und Raumorientierungsstörungen, die Hirnstammdiagnostik und bildgebende Verfahren. Prof. Dr. med. Heinz Reichmann ist Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Dresden und Dekan der Medizinischen Fakultät. Seine Forschungs- schwerpunkte sind neurodegenerative und Muskelerkran- kungen. Er war Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der European Neurological Society. Prof. Dr. med. Peter Falkai (Schriftleitung) ist seit Juli 2012 Direktor der Klinik für Psych- iatrie und Psychotherapie der Universität München. Wissen- schaftliche Schwerpunkte sind die struk turelle Bildgebung, molekulare Neuropathologie und Genetik zur Erforschung der Pathophysiologie psychiatrischer Erkrankungen. Prof. Dr. med. Wolfgang Gaebel war 1992–2016 Direktor der Psychiatr. Klinik der Heinrich-Hei- ne-Universität, Ärztl. Direktor des LVR Klinikum Düsseldorf und 2014–2016 Gründungsdirektor des LVR-Institut für Versorgungs- forschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind Psychosen, Psy- chopharmakologie, Psychopathologie, Klassifikation (DSM-5, ICD-11), Qualitätsmanagement und Destigmatisierung. Prof. Dr. med. Joachim Klosterkötter war von 1996–2015 Direktor der Psychiatrischen Universi- tätsklinik und von 2006–2012 Dekan der Medizinischen Fakul- tät der Universität zu Köln. Er baute das erste Früherkennungs- zentrum für psychische Erkrankungen auf und beschäftigt sich weiterhin mit Präventiver Psychiatrie. Prof. Dr. med. Jens Kuhn ist Facharzt für Neurologie, Nervenheilkunde, Psychiatrie und Psychotherapie und tätig als Chefarzt für Psychiatrie am Johanniter Krankenhaus Oberhausen (EVKLN) und wissen- schaftlich an der Uniklinik Köln. Seit 2010 ist er „Managing Editor“ der Zeitschrift. Prof. Dr. med. Max Schmauß war von 1989–2019 Ärztlicher Direktor des Bezirks- krankenhauses Augsburg und von 2001–2002 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). Wissenschaftliche Schwer- punkte lagen im Bereich schizophrener und affektiver Stö- rungen sowie der klinischen Psychopharmakologie. Prof. Dr. med. Claudia Sommer ist Professorin für Neurologie mit Schwerpunkt periphere Neurologie und Schmerz an der Universität Würzburg. Derzeit ist sie Past-Presidentin der Deutschen Schmerzgesell- schaft und neue Präsidentin der International Association for the Study of Pain (IASP). Prof. Dr. med. Claus-W. Wallesch absolvierte in Ulm und Freiburg seine Ausbildung zum Neuro- logen. 1985 Habilitation in Neurologie und Klinischer Neuro- psychologie. 1994–2008 Direktor der Neurologischen Univer- sitätsklinik Magdeburg. 2008–2020 Ärztlicher Direktor der BDH-Klinik Elzach. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind Neuro traumatologie und Rehabilitation. Beirat Kristina Adorjan, München Udo Bonnet, Castrop-Rauxel Björn Falkenburger, Dresden Doreen Huppert, München Daniel Huys, Köln Johannes Levin, München Robert Perneczky, München Susanne Petri, Hannover Volker Pütz, Dresden Benedikt Schoser, München Louisa von Baumgarten, München Tjalf Ziemssen, Dresden Ehemalige Herausgeber Kurt Beringer Peter Berlit August Karl Bostroem Klaus Conrad Gereon Rudolph Fink Kurt Heinrich Fritz Hohagen Johannes Kornhuber Johannes Lange Bernhard Neundorfer Uwe Henriks Peters Werner Scheid Hans Jörg Weitbrecht Hans Heinrich Wieck Listungen MEDLINE, EMBASE, SCOPUS, Current Contents (Clinical Medicine), Science Citation Index, Science Citation Index Expanded, PSYNDEX, PsycINFO, BIOSIS Previews Verlag Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14 · 70469 Stuttgart Postfach 301120 · 70451 Stuttgart www.thieme-connect.de/ejournals www.thieme.de/fdnp Aktueller Impact Factor: 0,752 Fortschr Neurol Psychiatr 2022; 90: 3 | © 2022. Thieme. All rights reserved. 3

einem Thema ausführlicher widmen, führt eine Verlinkung zu dem Inhalt im Weiterbil- dungscurriculum Neurologie in der eRef, in dem das Thema der Frage ausführlich be- handelt wird. So deckt es den Wissensbedarf auf dem aktuellen Lernniveau jeder und jedes Einzelnen. Das Weiterbildungscurriculum Neurologie ist in unserer medizinischen Wissensplatt- form eRef zu fi nden: https://eref.thieme.de/playlistCollection/plBDS4U . Es enthält gut strukturierte Leselisten, in denen relevante Fachinformationen für die Weiterbildung zur Fachärztin bzw. zum Facharzt gebündelt sind. Damit ist das notwendige Wissen je- derzeit zur Hand — ob zum schnellen Nachschlagen, als Refresher für die nächste Rota- tion oder zur kontinuierlichen Vorbereitung auf die Facharztprüfung. In Kombination mit dem neuen adaptiven Weiterbildungscurriculum können Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung ihr Wissen nun noch schneller und nachhaltiger verinnerli- chen und Wissenslücken schließen. Lernen Sie mit dem adaptiven Weiterbildungscurriculum Neurologie wie nie zuvor und machen Sie sich fi t für die Facharztprüfung! Ihr Thieme Verlag Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 3 – 4 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 4 – 5 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 5

E I D Besten TESTEN Fachzeitschriften einfach testen kostenlos ganz in Ruhe mit automatischer Erinnerung © ximich_natali/stock.adobe.com Wir wollen Ihnen jetzt nicht erzählen, was das Besondere an unseren Fachzeitschriften ist. Probieren Sie es einfach aus. Welche Zeitschriften möchten Sie kostenlos kennenlernen? Wählen Sie Ihre Favoriten aus und lehnen Sie sich entspannt zurück. Wir erinnern Sie rechtzeitig an das Ende des Lesetests. : r e t s i g e r s l e d n a H d n u z t i S , G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . 9 9 4 3 A R H , t r a g t t u t S Besser fortbilden, besser versorgen: www.thieme.de/die-besten-testen . n e t l a h e b r o v r e m r ü t r r I d n u n e g n u r e d n ä s i e r P

Fachwissen präzise auf den Punkt. Anästhesiologie – Radiologie – Innere – Gynäkologie – HNO-Heilkunde – Urologie – Chirurgie – Neurologie – Psychiatrie und Psychotherapie Gut verständlich und klar strukturiert liefert die Referenz Reihe verlässliche Antworten auf alle Fragestellungen zu Krankheitsbildern, Leitsymptomen und Methoden Ihres Fachgebietes. Der Inhalt der Bücher steht Ihnen digital in der Wissensplattform eRef zur Verfügung (Zugangscode im Buch). Jetzt Referenz-Reihe kennenlernen! www.thieme.de/referenzen i . e m e h T y b d e t i d E – m o c . e b o d a . k c o t s / m u m m m m i x a m ©

Aktuellstes Fachwissen präzise auf den Punkt Ein Nachschlagewerk, das psychische Störungen umfassend behandelt und dabei übersichtlich bleibt? Referenz Psychische Störungen beweist, dass dies möglich ist: Gut verständlich und klar strukturiert liefern die Autoren verlässliche Antworten auf die Fragestellungen zu psychiatrischen Krankheitsbildern, Leitsymptomen und Methoden. Profitieren Sie von präzisen Angaben wie Therapiealgorithmen oder Dosierungsempfehlungen, die Sie direkt im Arbeitsalltag anwenden können. Buch + Online-Version in der eRef ISBN 978 3 13 243246 8 249,99 € [D] n e d n e l l i a f n a e d n e d r e w ] D l [ b a h r e ß u a n e g n u r e f e i L i e B . n e t l a h e b r o v r e m ü t r r I d n u n e g n u r e d n ä s i e r P . 9 9 4 3 A R H , t r a g t t u t S r e t s i g e r s l e d n a H d n u - z t i S , G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . t e n h c e r e b r e t i e w n e t s o k d n a s r e V www.thieme.de/shop

Neurologie und Psychiatrie – gemeinsam stark 12-MAL JÄHRLICH Einstiegspreis für Neuabonnenten Fundiertes Wissen für den Berufsalltag, aktuelle Erkenntnisse und praxisrelevante Themen – dafür steht die Zeitschrift Fortschritte der Neurologie Psychiatrie. Mit informativen Originalarbeiten, Übersichten, Kasuistiken und Fortbildungsartikeln – mit denen Sie bis zu 30 CME-Punkten im Jahr sammeln – sowie Referaten zu internationalen Studien deckt sie ein breites Spektrum an Themen der beiden Fächer ab und stärkt die tiefe und wichtige Beziehung dieser. Aktuell bedeutende Themen finden sie zudem in spannenden Schwerpunkheften der Zeitschrift. © Alswart – stock.adobe.com – edited by Thieme www.thieme.de/fdnp

Mit Rat und Tat an Ihrer Seite N E U Das erfolgreiche Praxis-Handbuch Tony Attwood, der bekannteste Experte für Asperger-Autismus, erklärt verständlich, was Kinder mit Asperger-Syndrom auszeichnet, was sie brauchen und welche Potentiale sie haben. Eltern, Therapeuten und Lehrer erhalten viele Anregungen und Methoden, wie sie betroff ene Kinder besser erreichen und fördern. F ü r I h r e P a t i e n t e n Das Asperger-Syndrom Tony Attwood 2021. 232 S., 20 Abb., kart. ISBN 978 3 432 11500 9 24,99 € [D] 25,70 € [A] Stressfrei die Welt verstehen Kinder mit Asperger einfühlsam erziehen Cynthia La Brie Norall 2021. 296 S., 4 Abb., kart. ISBN 978 3 432 11248 0 24,99 € [D] 25,70 € [A] Alles, was Eltern über Autismus wissen müssen Selbstbestimmt leben mit Asperger Elternleitfaden Autismus Dr. Brita Schirmer 2020. 3., überarb. Aufl . 256 S., 35 Abb., kart. ISBN 978 3 432 11283 1 24,99 € [D] 25,70 € [A] Überraschend anders: Mädchen & Frauen mit Asperger Christine Preißmann (Hrsg.) 2020. 192 S., 13 Abb., kart. ISBN 978 3 432 11200 8 19,99 € [D] 20,60 € [A] Bequem bestellen über www.trias-verlag.de versandkostenfrei innerhalb Deutschlands

Diese wurden mit 1 oder 2 Alemtuzumab- Zyklen behandelt. Nach Wiederanstieg der Population der B-Lymphozyten im Ver- gleich zum Ausgangsniveau vor Therapie- beginn erhielt jeder Proband dann 1 bis 3 Infusionen von niedrig dosierten Ritu- ximab. Um die Eff ekte von Rituximab in Hin- blick auf die Abmilderung einer sekundären Autoimmunität einschätzen zu können, re- gistrierten die Forscherinnen und Forscher vor Therapiebeginn und ab dann monatlich die folgenden Parameter: ▪ Diff erentialblutbild, ▪ Nierenwerte, ▪ Schilddrüsenwerte einschließlich Antikörper, ▪ sowie Urinanalyse. Bei 5 Patienten lag der Beobachtungszeit- raum bei über 24 Monaten, bei den übrigen 5 Patienten fi el dieser kürzer aus. Auf Basis der Grenze von 24 Monaten bildete die Ar- beitsgruppe 2 Kohorten. Rituximab beugt Autoimmunität vor Die Patienten der ersten Kohorte mit lan- gem Beobachtungszeitraum waren im Durchschnitt 47 Jahre alt, 60 % von ihnen weiblich. Für die zweite Kohorte konnten die entsprechenden Zahlen auf 44 Jahre und 80 % Frauen beziffert werden. In der ersten Kohorte gab es über den Beobach- tungszeitraum von teilweise bis zu 41 Mo- naten keinen einzigen Fall einer sekundären Autoimmunerkrankung. In der zweiten Kohorte mit Beobachtungs- zeiträumen bis zu 24 Monate beobachteten die Forscherinnen und Forscher hingegen einen Fall einer transienten Neutropenie mit einer absoluten Neutrophilenzahl von unter 500/μl, sowie jeweils einen Patienten mit Harnwegsinfekt und Infekt der oberen Atemwege. Obgleich es sich nicht um schwere Autoimmunerkrankungen wie bei- spielsweise Morbus Basedow oder eine thrombozytopenische Purpura handelte, gelten die oben genannten Nebenwirkun- gen als transiente Autoimmunität. Keine statistische Power Auf Basis dieser Ergebnisse sehen die Auto- rinnen und Autoren ihre Hypothese, das Ri- tuximab in niedriger Dosierung die Neben- wirkung der sekundären Autoimmunität nach Therapie mit Alemtuzumab im Sinne einer “Schlag auf Schlag” Strategie abmil- dern könne, als bestätigt. Aufgrund der ge- ringen Stichprobengröße und dem retros- pektiven Ansatz war allerdings keine aus- reichende statistische Power vorhanden. Vor diesem Hintergrund hält die Arbeits- gruppe weitere Untersuchungen, die auf dem Ansatz ihrer Studie aufbauen, für an- gebracht. Diese sollten dabei mit größeren Stichproben und mit einem prospektiven Design arbeiten. FA ZIT In dieser Pilotstudie mit 10 erwach- senen MS-Patienten, die im Anschluss an eine Alemtuzumab- Therapie nach Anstieg der B-Lym- phozyten mit niedrig dosiertem Rituximab behandelt worden sind, zeigten sich weniger Anzeichen einer sekundären Autoimmunität als in Studien ohne Rituximab-Gabe. Nach Meinung der Autorinnen/Autoren könnte Rituximab die Nebenwirkun- gen von Alemtuzumab abmildern. Sie halten daher weitere Studien mit größeren Stichproben und prospek- tivem Design für angebracht. Dipl.-Psych. Annika Simon, Hannover Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 6 – 17 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 17

Originalarbeit Abwägung von Nutzen und Schädlichkeit von berauschenden und schmerzlindernden Substanzen aus der Perspektive von deutschen Suchtmedizinern Weighing the Benefi ts and Harms of Psychotropic and Analgesic Substances – A Perspective of German Addiction Medicine Experts Autoren Udo Bonnet 1 , 2 , Michael Specka 2 , Michael Soyka 3 , Thomas Alberti 4 , Stefan Bender 5 , Jörg Hilger 6 , Thomas Hillemacher 7 , 8 , Thomas Kuhlmann 9 , Jens Kuhn 4 , 10 , Christel Lüdecke 11 , Jens Reimer 12 , 13 , Udo Schneider 14 , Welf Schroeder 15 , Markus Stuppe 16 , Gerhard Wiesbeck 17 , Norbert Wodarz 18 , Norbert Scherbaum 2 Institute 1 Evangelisches Krankenhaus Castrop-Rauxel, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik LVR-Klinik Essen, Klinik für Psychiatrie und Psychothera- pie & Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin, Medizinische Fakultät, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitäts- klinik, LMU München, München, Deutschland Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Johanniter Krankenhaus Oberhausen, Evangelischer Klinikverbund Niederrhein gGmbH LWL-Kliniken Marsberg, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Marsberg, Deutschland Evangelische Stiftung Tannenhof, Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Neurologie, Remscheid, Deutschland Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitäts- klinik der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Nürnberg Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychothera- pie, Medizinische Hochschule Hannover Psychosomatische Klinik Bergisch Gladbach, Bergisch Gladbach, Deutschland 2 3 4 5 6 7, 8 9 10 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitäts- klinik Köln 11 Fachbereich für Abhängigkeitserkrankungen, Asklepios Fachklinikum Göttingen, Deutschland 12, Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf 13 Zentrum für Psychosoziale Medizin, Gesundheit Nord, Klinikverbund Bremen, Bremen, Deutschland 14 Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ruhr-Universität Bochum, Campus Ost-Westfalen-Lippe, Lübbecke, Deutschland 15 MEDIAN Klinik Wied, Wied, Deutschland. 16 Carl-Friedrich-Flemming-Klinik, Helios Kliniken Schwerin, Klinik für Abhängigkeitserkrankungen, Schwerin, Deutschland 17 Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel, Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen 18 Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg am Bezirksklinikum, Zentrum für Suchtmedizin Schlüsselwörter Illegale Substanzen , Legalisierung , Cannabis , Ketamin , Opioide , Gabapentinoide , Nichtsteroidale Antirheumatika Key words Illegal drugs , Legalization , Cannabis , Ketamine , Opioids , Gabapentinoids , Non-Steroidal Anti-Infl ammatory Drugs , Analgesics eingereicht akzeptiert online publiziert 25.02.2021 15 . 11 . 2020 13 . 01 . 2021 10.1055/a-1363-0223 0720-4299 Bibliografi e Fortschr Neurol Psychiatr 2022; 90: 19 – 29 DOI ISSN © 2021 . Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG , Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Udo Bonnet Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Evangelisches Krankenhaus Castrop-Rauxel Grutholzallee 21, 44577 Castrop-Rauxel Germany Tel.: + 02305/102 2858 , Fax + 02305/102 2860 udo.bonnet@uni-due.de Bonnet U et al. Abwägung von Nutzen und … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 19 – 29 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 19

ide, Nichtsteroidale Antirheumatika [NSAR], Flupirtin, Triptane) am unteren Ende des globalen Gefährdungs-Rankings ein [ 1 ] . Diskor- dant zum BTMG wurde Alkohol ebenfalls im oberen Drittel einge- ordnet [ 1 ] und bestätigte damit die Ergebnisse aus anderen west- europäischen Risiko-Rankings [ 2 – 6 ] . Auch neue psychoaktive Sub- stanzen (NPS), wie synthetische Cannabinoide und Cathinone [ 7 ] , gehörten zu den schädlichsten Substanzen [ 1 ] . Allerdings wurde solchen Schädlichkeitsrankings vorgeworfen, dass sie sich per defi nitionem in der Regel nur auf negative Subs- tanzeff ekte beziehen und off enbar positive Eigenschaften einer psychoaktiven Substanz zu sehr ausblendeten [ 8 , 9 ] , die ja vorhan- den sein müssten, da anderenfalls eine solche Substanz keine in- trinsische Motivation für einen nachhaltigen Konsum erzeugen dürfte. Aus der suchtmedizinischen Perspektive ist ein deutliches Überwiegen von negativen gegenüber positiven Eff ekten durch langfristigen und abhängigen Konsum von illegalen Rauschdrogen, Alkohol oder Nikotin eine „Conditio sine qua non“, insbesondere unter Berücksichtigung der karzinogenen Potenz von Alkohol und Nikotin [ 10 ] oder der Beschaff ungskriminalität in unmittelbarer Verbindung mit dem abhängigen Konsum von illegalen Drogen [ 11 – 13 ] . Vor dem Hintergrund der Legalisierung der Verordnung von me- dizinischem Cannabis auch in Deutschland und robusten Hinwei- sen auf eine schnelle, aber leider oft nicht nachhaltige positive Wir- kung von Ketamin bei therapieresistenten Depressionen [ 14 ] wur- den bei dieser Bewertung im Unterschied zu den meisten Vorläufern aus West-Europa [ 2 – 4 ] , [ 6 ] auch potenziell nützliche Eigenschaf- ten von Rauschdrogen berücksichtigt, die beispielsweise für An- algetika selbstverständlich sind. Obwohl in Deutschland bisher noch wenig beachtet [ 12 , 13 ] , wird bezüglich des Konsums von na- türlichen psychoaktiven Substanzen wie Psilocybin-haltigen Pilzen oder Ayahuasca hauptsächlich aus Großbritannien und Spanien be- richtet, dass deren sporadischer Konsum mit einem positiven Ein- fl uss auf das Leben und die psychische Gesundheit der Konsumen- ten verbunden [ 15 ] und eff ektiv gegen therapieresistente Depres- sionen sein soll [ 16 ] . Allerdings wurde dieser Trend erst etwa zeitgleich mit der Durchführung des vorliegenden Projektes zuneh- mend deutlicher [ 15 , 16 ] . Das Ziel der hier vorliegenden Untersuchung war, eine möglichst abgewogene Beurteilung von Nutzen und Schädlichkeit im Zusam- menhang mit dem Konsum bzw. der Einnahme von psychoaktiven illegalen Drogen und legalen Substanzen inklusive opioidergen An- algetika oder NOAs vorzunehmen. Letztere wurden erstmals in ein solches Ranking einbezogen, da sich in den letzten Jahren Berichte häufen, die die Einnahme von Gabapentinoiden (Gabapentin, Pre- gabalin) [ 17 – 20 ] oder NASR [ 21 – 23 ] mit Substanzmissbrauch oder auch Abhängigkeit verbinden. In älteren Publikationen wurde auch bezüglich Flupirtin [ 24 ] und Triptanen [ 25 – 27 ] ein gewisses Abhän- gigkeitsrisiko beschrieben. Neben den in der Regel vernachlässigten potenziell positiven Wirkungen von psychoaktiven Substanzen ist zudem zu berück- sichtigen, dass die bisherigen Rankings bezüglich der Risiken [ 2 – 5 ] und des Nutzens [ 5 ] von psychoaktiven Substanzen kritisiert wur- den, die Einfl üsse durch die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht berücksichtigt zu haben [ 8 , 9 ] . Daher wurden in dieser Untersu- chung medizinische Suchtexperten auch erstmals danach gefragt, ob sich deren Einschätzung der Schädlichkeit einer illegalen Subs- tanz ändern würde, wenn der Konsum dieser Substanz legalisiert worden wäre. Methodik In Ergänzung zum Schädlichkeits-Ranking (Fragebogen 1, 254 Items, Fragebogenstruktur im Supplementary Material 1 von [ 1 ] ge- zeigt, hierzu ▶ Abb. 1 ) beabsichtigten wir, auch den potenziellen durchschnittlichen Nutzen / Vorteil einer psychotropen Substanz zu bewerten. Es konnte zwischen den Kategorien „keine / wenig“, „mäßig“ und „viel“ Nutzen gewählt werden ▶ Abb. 1A . Im Gegen- satz zum Schädlichkeits-Ranking [ 1 ] verzichteten wir über eine Dif- ferenzierung von Dimensionen der körperlichen, psychischen und sozialen Gesundheit, um das Ausfüllen des Fragebogens auf den ersten Blick für machbar zu halten und somit einen soliden Rück- lauf zu bekommen. Die Einschätzung bezüglich der Gesamtschäd- lichkeit (des Gesamtrisikos) erfolgte, wie oben erwähnt, allerdings in mehreren, genau: 5 gesundheitlichen und sozialen Dimensionen (körperliches, psychisches, soziales Risiko für den Konsumenten sowie körperliches und psychisches bzw. soziales Risiko für die Um- gebung / Gesellschaft des Konsumenten = „andere“) ▶ Abb. 1B [ 1 ] . Die Praktikabilität der diff erenzierten Schädlichkeitsbeurteilung in diesen 5 Dimensionen wurde in früheren Konsensuskonferenz-ba- sierten Studien gezeigt [ 2 , 6 ] . Darüber hinaus wurde bei illegalen Substanzen danach gefragt, wie deren Schädlichkeit bei eventuel- ler Legalisierung eingeschätzt werde. Hier konnte zwischen den Kategorien „nicht schädlich“, „gering schädlich“; „mittelgradig schädlich“, „sehr schädlich“, und „extrem schädlich“ gewählt wer- den ▶ Abb. 1C . In einem Fragebogen 2 (5 Items) wurde der prozen- tuale Anteil der 5 Dimensionen „physische“, „psychische“ und „so- ziale Folgen für den Konsumenten“ – „physische & psychische“ und „soziale Folgen für die Umgebung / Gesellschaft ( = andere)“ an der durchschnittlichen Gesamtschädlichkeit bestimmt (Supplementa- ry Material 2 in [ 1 ] ). Ein- und Ausschlusskriterien Eingeschlossen wurden Fachärzte aus Deutschland mit mindestens 5 Jahren klinischer Erfahrung in der stationären Behandlung von substanzbezogenen Abhängigkeitserkrankungen. Aus der Bewer- tung ausgeschlossen wurden solche Substanzen, über die von we- niger als 60 % der Befragten Angaben gemacht wurden oder über die mehr als 60 % der Befragten berichteten, dass sie keine oder nur wenig klinische Erfahrung mit diesen Substanzen hatten [ 1 ] . Kohorten Die erste Erhebung ( Kohorte 1 ) wurde von März 2016 bis Septem- ber 2017 durchgeführt. Hierzu wurde der Fragebogen 1 zur Schäd- lichkeit und Nützlichkeit sowie Änderung der Schädlichkeit bei po- tenzieller Legalisierung einer illegalen Substanz an 40 Leitende Ärzte einer Akut- oder Rehabilitationsklinik zur Behandlung von Suchterkrankungen ausgegeben. Diese wurden gebeten, diese an Kolleginnen / Kollegen mit dem passenden Einschlusskriterium 1 2 https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyt.2020.592199/ full#supplementary-material , zuletzt aufgerufen am 15.11.2020 https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyt.2020.592199/ full#supplementary-material , zuletzt aufgerufen am 15.11.2020. Bonnet U et al. Abwägung von Nutzen und … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 19 – 29 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 21

▶Tab. 1 Charakteristika der Teilnehmer. Erhebungen Alter in Jahren Geschlecht Jahre Berufserfahrung Jahre Erfahrung in der stationären Behandlung von Abhängigkeitser- krankungen Arbeitsfeld Mittelwert (SD) Median (Spannweite) Weiblich (n, %) Männlich (n, %) Mittelwert (SD) Median (Spannweite) Mittelwert (SD) Median (Spannweite) Akutbereich (n, %) Reha-Bereich (n, %) Kohorte 1 1 (N = 101) Kohorte 2 2 (N = 36) 49,8 (9,6) 50 (32–75) 26 (25,7 %) 75 (74,3 %) 21,6 (9,5) 20 (5–46) 16,3 (8,4) 15 (5–45) 76 (75,2 %) 25 (24,8 %) 52,9 (6,9) 55 (38–63) 10 (27,8 %) 26 (72,2 %) 24,9 (8,2) 26 (8–39) 17,6 (7,4) 16,5 (6–35) 26 (72,2 %) 10 (27,8 %) 1 Kohorte 1 beantwortete Fragebogen 1 (254 Items, Einschätzung der Schädlichkeit der Substanzen auf 5 Dimensionen) – 2 Kohorte 2 beantwortete Fragebogen 2 (5 Items, Einschätzung des prozentualen Anteils der einzelnen Dimensionen für die Ermittlung der Gesamtschädlichkeit). Schädlichkeit für Nutzer Schädlichkeit für andere Schädlichkeit für Nutzer Schädlichkeit für andere a Crack Methamphetamin Heroin Alkohol Kokain GHB Amphetamine Cathinone Synthetische Cannabinoide Propofol Ecstasy Halluzinogene Naturdrogen Barbiturate Benzodiazepine Cannabis b Psilocybinhaltige Pilze LSD Nikotin Opioiderge Schmerzmittel Z-Drugs Codein Tilidin/Tramadol Methadon Gabapentinoide Buprenorphin Methylphenidat Flupirtin NSAR Triptane 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 ▶ Abb. 2 Reihenfolge der Bewertung der relativen durchschnittlichen Gesamtschädlichkeit von höherer Schädlichkeit (links) nach niedriger Schäd- lichkeit (rechts) einer Substanz [ 1 ] . Kohorte 1 bewerte die Schädlichkeit von 30 Substanzen auf 5 gesundheitlichen und sozialen Dimensionen für Konsu- menten und andere jeweils auf einer Skala von 0 (nicht schädlich) bis 4 (extrem schädlich). Die Gesamtschädlichkeit einer Substanz wurde schließlich über die relative Beteiligung (Gewichtung) der 5 Dimensionen bestimmt. Diese Gewichtung ermittelte zuvor Kohorte 2 ( [ 1 ] in Supplementary Material 7 ). Die relative durchschnittliche Schädlichkeit von Ketamin für Nutzer und andere wurde beinahe deckungsgleich mit der von halluzinogenen Naturdrogen eingeschätzt [ 1 ] . Ausschlusskriterium erfüllten [ 1 ] . Die Bewertungen für die restli- chen 30 Substanzen konnten für die Analyse benutzt werden. Durch die breite Streuung der Rekrutierungswege (s. Methodik) haben wir keine belastbare Zahl dazu, wie viele Fragebögen in den Umlauf gerieten. ▶ Tab. 1 zeigt die Charakteristika der Fachärzte, die den Fragebogen bearbeitet und zurückgesendet hatten. Beide Kohor- ten waren mehrheitlich männlich und mit einem Median von ≥ 15 Jah- ren Arbeit in der stationären Behandlung von Abhängigkeitserkran- kungen sehr erfahren in der Suchtmedizin. Kohorte 1 machte die we- nigsten Beurteilungen bezüglich Ayahuasca (N = 42), Kratom (N = 46) und Khat (N = 54) (Supplemental Figure 2 4 in [ 1 ] ), sämtlich in Deutsch- 4 https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyt.2020.592199/ full#supplementary-material , zuletzt aufgerufen am 15.11.2020. land kaum verbreitetet [ 12 ] , [ 13 ] . Entsprechend gaben die Teilnehmer auch an, die wenigsten klinischen Erfahrungen mit diesen Substanzen zu haben (Supplemental Figure 3 5 in [ 1 ] ). Zu allen anderen Substan- zen machten mindestens 77 Teilnehmer der Kohorte 1 Angaben (Sup- plemental Fig. 2 in [ 1 ] ). In der Kohorte 2 machten alle Teilnehmer zu allen Kategorien Angaben. Einschätzung der Gesamtschädlichkeit einer Substanz Diese wurde aus der Summe der Werte in den einzelnen 5 Dimen- sionen, jeweils multipliziert mit dem prozentualen Anteil (Gewich- 5 7 https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyt.2020.592199/ full#supplementary-material , zuletzt aufgerufen am 15.11.2020. https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyt.2020.592199/ full#supplementary-material , zuletzt aufgerufen am 15.11.2020 Bonnet U et al. Abwägung von Nutzen und … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 19 – 29 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 23

3,5 3 2,5 2 Benzodiazepine 1,5 Opioiderge ZDrugs Tilidin/Tramadol Methadon Gaba 1 MPH Buprenorphin NSAR Flupirtin t i e k h c i l d ä h c s t m a s e G Methamphetamine Heroin Crack Alkohol Amphetamine Kokain Synth. Cann. GHB Ecstasy LSD Nikotin Pilze Cathinone And. Naturdrogen Propofol Ketamin Barbiturate Cannabis Codein 0,5 Triptane 0 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Anteil der Angabe „kein/wenig Nutzen“ (%) Streudiagramm mit Bewertung der durchschnittlichen Gesamtschädlichkeit einer Substanz in Relation zur ihrer durchschnittlichen Nut- ▶ Abb. 4 zenbewertung (Kategorie: „kein / wenig Nutzen“). Schon optisch grenzen sich zwei Gruppen ab (mit Schwerpunkt im linken unteren und Schwer- punkt im rechten oberen Quadrat). Beurteilung der Gesamtschädlichkeit durch Kohorte 1 mit Gewichtung durch Kohorte 2; Nutzenbewertung durch Kohorte 1. Abkürzungen: Gaba = Gabapentinoide, NSAR = Nichtsteroidale Antirheumatika, LSD = Lysergsäurediäthylamid, synth. Cann. = synthetische Cannabinoide, GHB = Gammahydroxybuttersäure, MPH = Methylphenidat, Pilze = psilocybinhaltige Pilze, Opioiderge = Opioiderge Analgetika. Bei Illegalität Bei Legalität ** ** ** ** * * 4,0 3,5 3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 0,0 A m pheta mine Cannabis Cathinone Crack Ecstasy G HB Heroin Kokain LSD M etha m pheta min Synthetische Cannabinoide Psilocybinhaltige Pilze ▶ Abb. 5 telgesetz) und unter der Annahme ihrer Legalisierung, *p < 0,05, **p < 0,01. Beurteilung durch Kohorte 1. Vergleich der durchschnittlichen Gesamtschädlichkeit illegaler Substanzen unter gesetzlichen Reguationsbedingungen (Betäubungsmit- zinisch weniger schädlichen Medikamenten wie Analgetika, Methylphenidat, Benzodiazepinen / Z-Drugs 8 und Substitutionsmit- teln 9 .Auch Cannabis und Ketamin fi nden sich dann in dieser Grup- pe ▶ Abb. 4 . Alkohol und Nikotin befi nden sich unter den schädli- chen und weniger nützlichen Substanzen ( ▶ Abb. 4 , rechter oberer Quadrant). Zopiclon, Zolpidem, Zapeclon 8 9 Methadon, Buprenorphin Einschätzung der Gesamtschädlichkeit einiger illegaler Substanzen bei potenzieller Legalisierung Im Falle einer potenziellen Legalisierung des Umgangs mit traditi- onellen Drogen (Methamphetamin, Heroin, Kokain, Cannabis) wird deren durchschnittliche Gesamtschädlichkeit geringer einge- schätzt als vor der Legalisierung ▶ Abb. 5 . Die Größe des Mittel- wertunterschiedes erscheint in der Stichprobe allerdings nur für Heroin (0,8 Punkte) bemerkenswert ▶ Abb. 5 . Die übrigen Unter- schiede betragen maximal 0,2 Punkte auf der Skala von 0 bis 4. In- ferenzstatistisch signifi kant wird die angenommene Verbesserung bei Cannabis (p = 0,03), Crack (p = 0,003), Heroin (p < 0,001), Bonnet U et al. Abwägung von Nutzen und … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 19 – 29 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 25

als „club-drug“, noch hauptsächlich in Ost- bzw. Süd-Ost-Asien [ 31 ] , scheint aber auch in der niederländischen Drogenszene schon vermehrt angekommen zu sein [ 32 ] . Andererseits wird Ketamin in Kürze in Deutschland als schnell antisuizidal und antidepressiv wir- kende Arznei [ 16 ] eingeführt werden und wird in der Medizin schon traditionell als Anästhetikum und Analgetikum verwendet [ 33 ] . Die bisher einzige Studie, die beim Ranking psychoaktiver Sub- stanzen bisher auch deren Vorteile berücksichtigte, ordnete Alkohol, Nikotin und Cannabis im vorderen Drittel der Nützlichkeit ein [ 5 ] ). In unserer Erhebung fanden wir für Nikotin meistens keinen / wenig Nutzen, für Cannabis meistens einen mäßigen Nutzen und für Al- kohol etwa gleich häufig keinen / wenig oder mäßigen Nutzen ▶ Abb. 3 . In der Korrelation von Schädlichkeit und Nützlichkeit ran- gierte Alkohol etwa in der Mitte zwischen den eher nützlichen / we- niger schädlichen verordnungsfähigen Substanzen und den eher nicht / wenig nützlichen / schädlicheren Substanzen. Zur Erklärung dieser Konstellation könnten wiederholt aufkommende Befunde eine Rolle spielen, die moderaten Alkoholmengen eine protektive Eigenschaft für die kognitive Leistungsfähigkeit zuschreiben, die sich jedoch bei Dosissteigerung schnell zu einer Schwächung ent- wickelt (z.B [ 34 ] .). Eine ähnliche J-Funktion wurde auch bezüglich des Einfl usses von Alkohol auf die Mortalität von Patienten mit nichtalkoholischer Fettleber beschrieben [ 35 ] . Die schädlichen Al- koholwirkungen sind allgemein bekannt und sollen an dieser Stel- le nicht vertieft werden. Beispielsweise führt ein täglicher Konsum von > 40 g zur alkoholischen Fettleber, allerdings mit eher seltener Progression zur Leberzirrhose oder gar Leberzellkrebs [ 36 ] . Einfl uss von Legalisierung? Bei Annahme eines Wechsels des Rechtsstatus (Legalisierung) gab es eine signifi kante Änderung der Risikobewertung (Abnahme der Gesamtschädlichkeit) für die traditionellen illegalen Drogen Crack, Kokain, Methamphetamin, Heroin und Cannabis. Hierbei mag eine Rolle spielen, dass mit der Legalisierung gefährliche Kontaminati- onen und die Beschaff ungskriminalität abnehmen dürften. Vermehr- te Schäden, beispielsweise durch eine dann eventuelle Zunahme der Verfügbarkeit, befürchteten die Teilnehmer hauptsächlich für synthe- tische Cannabinoide. Repräsentativität der Studienergebnisse Genauso wie die Vorläuferstudien [ 2 – 6 ] kann die vorliegende Ar- beit nicht behaupten, strenge Anforderungen an die Repräsenta- tivität zu erfüllen. Wir wollten die Subjektivitätsverzerrungen ver- ringern, indem wir eine große und homogene Studiengruppe rek- rutierten (in der Suchtmedizin spezialisierte Fachärzte). Es gibt jedoch keine offi zielle Statistik darüber, wie viele Fachärzte mit mehr als 5 Jahren Erfahrung in der stationären Behandlung von Ab- hängigkeitserkrankten zum Zeitpunkt der Studie in Deutschland gearbeitet haben. Wir schätzen, dass diese Zahl zwischen 250 und 500 Ärzten gelegen hat. Daher kann unsere Kohorte 1 (N = 101) durchaus für die Mehrheit der suchtbehandlungserfahrenen Ärzte in Deutschland nicht repräsentativ sein. Das Gleiche gilt für Kohor- te 2 (N = 36). Allerdings ergab eine Sensibilitätsanalyse, dass die durch die Kohorte 2 geschätzten Gewichtungen der Bedeutung der Dimensionen bei der Bestimmung der durchschnittlichen Gesamt- schädlichkeit einer Substanz ein beinahe identisches Schädlich- keits-Ranking ergab, als wenn die Konsensuskonferenz-basierten Gewichtungen einer europäischen Arbeitsgruppe von Suchtexper- ten [ 6 ] benutzt wurden [ 1 ] . Dies unterstützt die Annahme einer nicht unbedeutenden Konstruktvalidität der Fragebögen in Ver- bindung mit der Beurteilung durch die Kohorten. Limitationen und Stärken der Studie Die globale Einschätzung der Nützlichkeit des Gebrauchs psycho- aktiver Substanzen wurde spontan und im Gegensatz zur französi- schen Vorläuferstudie ohne die Vorgabe diff erenzierender Kriteri- en durchgeführt [ 5 ] . Wir entschieden uns für eine spontane und umfassende Beurteilung, da wir den Fragebogen nicht überfrach- ten wollten. Zudem gehen wir, wie auch andere Autoren [ 8 , 9 ] , davon aus, dass ein Fragebogen zu diesem Thema immer eine er- hebliche Subjektivität der Bewertungen abbilden wird, auch wenn vorher eine Konsensuskonferenz zur Defi nition und zum Training der Beurteilung einzelner Nutzen- und Schadens-Kriterien [ 2 , 6 ] durchgeführt wurde. Für Unschärfen bei der Beurteilung sorgte auch die schwierige Abgrenzbarkeit von medizinischem Gebrauch und Freizeitgebrauch mancher Substanzen wie Cannabis [ 37 ] . Es bleibt die generelle Schwierigkeit der Vergleichbarkeit von Nutzen- und Schadenskriterien vor dem Hintergrund eines individuellen Konsumkontextes und der individuellen Prädisposition eines Kon- sumenten bezüglich schädlicher und nützlicher Wirkungen einer psychoaktiven Substanz. Die besondere Herausforderung dieser Studie liegt auch darin, verschiedene NOA berücksichtigt zu haben, die mit einem Abhängigkeitsrisiko und – bei Überdosierungen – auch mit einem besonderen Toxizitätsrisiko verbunden sind [ 17 – 27 ] . Im Sinne einer weiteren, eher gravierenden Limitation wurde sehr allgemein von Legalisierung gesprochen, ohne verschiedene Modelle der legalen Verfügbarkeit von bislang illegalen Substan- zen zu defi nieren und die Beurteilung einer etwaig geänderten Schädlichkeit diff erenziert nach den verschiedenen Modellen durch die Experten vornehmen zu lassen. In dieser Studie präsentierte Resultate können als Einstieg in die Psychoedukationsarbeit von Abhängigkeitserkrankten sowie für die Prävention von schädlichen Wirkungen durch psychoaktive Sub- stanzen und Analgetika dienen. Die Autoren denken, dass diese Er- gebnisse die Gefährdung durch bzw. geringe Nützlichkeit von le- galen Substanzen wie Alkohol und Nikotin unterstreichen und dazu beitragen, dass die Gefährdung durch sog. Neue Psychoaktive Sub- stanzen besser im Kontext von legalen und illegalen Substanzen eingeordnet werden kann. Erstmals wurde eingeschätzt, ob die Än- derung des Rechtsstatus die Gefährdung durch eine illegale Subs- tanz verändern würde. Juristen, Sozialarbeiter oder andere mit der Beurteilung von Abhängigkeitserkrankungen befassten Berufs- gruppen mögen auch hier zu anderen Einschätzungen kommen als Suchtmediziner. Fazit für die Praxis ▪ „Crack“, Methamphetamin, synthetische Cannabinoide und Cathinone gehören zu den am wenigsten nützlichen und am meisten schädlichen psychoaktiven Substanzen. ▪ Der größte Nutzen bei geringer Schädlichkeit wird Analgetika und opioidergen Substitutionsmitteln attestiert. Bonnet U et al. Abwägung von Nutzen und … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 19 – 29 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 27

[21] Etcheverrigaray F , Grall-Bronnec M , Blanchet MC et al. Ibuprofen [30] Weaver MF . Prescription sedative misuse and abuse . Yale J Biol Med dependence: a case report . Pharmacopsychiatry 2014 ; 47 ( 3 ) : 115 – 117 2015 ; 88 ( 3 ) : 247 – 256 [31] Liu Y , Lin D , Wu B et al. Ketamine abuse potential and use disorder . [22] Godersky ME , Vercammen LK , Ventura AS et al. Identifi cation of Brain Res Bull 2016 ; 126 : (Pt 1): 68 – 73 non-steroidal anti-infl ammatory drug use disorder: a case report . Addict Behav 2017 ; 70 : 61 – 64 [23] Bonnet U , Strasser JC , Scherbaum N . Screening for physical and behavioral dependence on non-opioid analgesics in a German elderly hospital population . Addict Behav 2019 ; 90 : 265 – 271 [24] Gahr M , Freudenmann RW , Connemann BJ et al. Abuse liability of fl upirtine revisited: implications of spontaneous reports of adverse drug reactions . J Clin Pharmacol 2013 ; 53 ( 12 ) : 1328 – 1333 [25] Hallas J , Støvring H . Templates for analysis of individual-level prescription data . Basic Clin Pharmacol Toxicol 2006 ; 98 ( 3 ) : 260 – 265 [26] Gaist D , Sindrup SH , Hallas J et al. Misuse of sumatriptan . Lancet 1994 ; 344 : 1090 [27] Gaist D , Tsiropoulos I , Sindrup SH et al. Sumatriptan: a population- based study of its use based on interview and prescription register data . Brit Med J 1998 ; 316 : 1352 – 1353 [28] Bonomo Y , Norman A , Biondo S et al. The Australian drug harms ranking study . J Psychopharmacol 2019 ; 33 ( 7 ) : 759 – 768 [29] Schwabe U , Paff rath D , (Hrsg.) Arzneiverordnungs-Report 2015. Aktuelle Zahlen, Kosten, Trends und Kommentare . Springer-Verlag 2016 ; Berlin, Deutschland : [32] https://drugsinc.eu/de/drugsgebruik-in-nederland-dit-zijn-de-trends/ , zuletzt aufgerufen am 15.11.20. [33] Bonnet U . How much alcohol is in ketamine’s antidepressant action? Life Sci 2017 ; 168 : 54 – 57 [34] Sabia S , Fayosse A , Dumurgier J et al. Alcohol consumption and risk of dementia: 23-year follow-up of Whitehall II cohort study . BMJ 2018 ; 362 : k2927 [35] Hajifathalian K , Torabi Sagvand B , McCullough AJ . Eff ect of alcohol consumption on survival in nonalcoholic fatty liver disease: a national prospective cohort study . Hepatology 2019 ; 70 ( 2 ) : 511 – 521 [36] Seitz HK , Bataller R , Cortez-Pinto H et al. Alcoholic liver disease . Nat Rev Dis Primers 2018 ; 4 ( 1 ) : 16 [37] Reiman A , Welty M , Solomon P . Cannabis as a substitute for opioid-based pain medication: patient self-report . Cannabis Cannabinoid Res 2017 ; 2 ( 1 ) : 160 – 166 Bonnet U et al. Abwägung von Nutzen und … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 19 – 29 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 29

das Geschlecht und andere Dimensionen des Bedrohungserle- bens und des Bewältigungsverhaltens. Diskussion Niedergelassene Psychiater fühlten sich im Ver- gleich zu den Kollegen im Krankenhaus durch die COVID-19 Pandemie mehr belastet und bedroht. Das Erleben von Angst war abhängig vom Gefühl der Einschränkung und der Exposi- tionsgefahr, nicht jedoch von der Exposition, der Ausstattung mit Schutzmitteln. Für die Ausprägung der Angst scheinen weniger objektive Indikatoren als das subjektive Erleben eine wichtige Rolle zu spielen. ABSTR AC T Background To date, no studies have examined the pandemic- related stress experience of inpatient versus outpatient psych- iatrists. Therefore, the aim is to investigate the extent of Co- vid-19 exposure, anxiety, stress experience, and coping abilities among psychiatrists in private practice compared to physicians in psychiatric and psychosomatic hospitals. Methods E-mail-based questionnaires with 13 items were used to assess anxiety and stress experience. A total of 105 practicing psychiatrists, and 73 physicians and psychologists from four clinics (including the Clinic for Psychosomatic Medi- cine and Psychotherapy) were surveyed between early April and mid-May 2020. Results Compared to hospital psychiatrists, psychiatrists in private practice more often felt severely restricted (52.4 vs. 32.9 % p = 0.010), at risk of infection (35.2 vs. 13.7 %, p < 0.001) and fi nancially threatened (24.7 vs. 6.9 %, p = 0.002). The pro- portion of well-informed practicing psychiatrists was lower (47.6 vs. 63.0 %, p = 0.043) and the proportion with lack of protective equipment was higher (27.6 vs. 4.1 %, p < 0.001). At the same COVID-19 exposure level (8.6 vs. 8.2 %), offi ce-based psychiatrists were more likely to report high anxiety, although not signifi cantly, compared to hospital psychiatrists (18.1 vs. 9.6 %, p = 0.114). Risk factors for experiencing anxiety in both groups were feeling restricted (OR = 5.52, p = 0.025) and expe- rienced risk of infection (OR = 5.74, p = 0.005). Exposure level, clinic or practice affi liation, age, gender, and other dimensions of threat experience and coping behavior had no infl uence. Discussion Psychiatrists in private practice felt more stressed and threatened by the COVID-19 pandemic compared with hospital-based colleagues. The experience of anxiety was de- pendent on feeling constrained and at risk of exposure, but not on exposure, protective equipment. Objective indicators seem to play less of an important role in the expression of anxiety than subjective experience. Einleitung Ende Dezember 2019 breitete sich die Infektion mit dem neuarti- gen Coronavirus (SARS-CoV-2) und der daraus folgenden COVID- 19-Erkrankung zunächst in der Stadt Wuhan in China aus. Die welt- weite Infektionswelle wurde am 11.3.2020 durch die WHO als Pan- demie eingestuft. In Europa kam es im März 2020 zu rasant ansteigenden Infektionsraten. Besonders Italien und Spanien waren durch zunehmende Mortalitätsraten betroff en. Abgeschwächt war diese Entwicklung auch in Deutschland festzustellen. Seit März be- standen in nahezu allen europäischen Staaten umfassende Maß- nahmen des Infektionsschutzes insbesondere Hygienevorschriften und Ausgangsbeschränkungen (sog. erster Lockdown). Studien zeigten weltweit, dass neben der Bevölkerung [ 1 ] das medizinische Personal einer besonderen Infektions- und Erkrankungsgefahr sowie einem erhöhten Mortalitätsrisiko ausgesetzt war [ 2 , 3 ] . Diese Situation hatte Folgen für das Erleben, das psychische Be- fi nden [ 4 , 5 ] , die Arbeitsqualität [ 6 , 7 ] und das Engagement des medizinischen Personals in der Versorgung [ 8 ] . Deutsche Studien zur psychischen Belastung belegen, dass Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen in Deutschland trotz unter- schiedlicher Infektionslage ein vergleichbar hohes Maß an Sorgen und Ängsten aufweisen [ 9 – 11 ] . Während Kramer und Kollegen vor allem Mitarbeiter in Krankenhäusern untersuchten [ 11 ] , wurde in der Studie von Paff enholz und Kollegen auch ambulant tätige Ärzte befragt [ 9 ] . Skoda und Kollegen untersuchten das Ausmaß von Angst und Depression in der Bevölkerung und bei medizinischem Personal [ 11 ] . Frühzeitig wurden niedergelassene Neurologen und Psychiater [ 12 ] befragt. Es fi nden sich jedoch nur wenig Studien zum Erleben von Ärzten in psychiatrischen Krankenhäusern [ 13 ] . Ziel dieser Studie war es deshalb, die Unterschiede und Bedin- gungsfaktoren des Ausmaßes der Angst von in eigener Praxis ar- beitenden Psychiatern im Vergleich zu Ärzten und Psychologen in psychiatrischen und psychosomatisch-psychotherapeutischen Kli- niken zu untersuchen. Dabei sollten insbesondere soziodemogra- phische, organisatorische und andere Belastungsfaktoren erfragt und in Hinblick auf ihre Folgen für das Angsterleben erfasst werden. Methode Design und Stichprobe Es wurde eine Fragebogenerhebung mit niedergelassenen psych- iatrischen Fachärzten zwischen dem 1.4.2020 und 6.4.2020 über den Berufsverbandes Deutscher Nervenärzte (BVDN) durchgeführt. Insgesamt konnten 105 niedergelassene Fachärzte und 49 Ärzte und 24 Psychologen aus vier Kliniken zwischen April und Mai 2020 befragt werden. 40 Befragte standen in einem universitären Ar- beitsverhältnis. Zu den Universitätskliniken gehörte die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Göttingen. Zu den nicht univer- sitären Kliniken gehörte die Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik in Hamburg und die Psychiatrische Abteilung der Schloßparkklinik in Berlin. Für die Durchführung der Befragung lag ein Ethikvotum der Universitätsklinik Leipzig mit der Nr. 213/20-ek vor. Bohlken Jens et al. Covid-19-Pandemie: Angsterleben von niedergelassenen … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 30 – 36 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 31

▶ Tab. 1 Stichprobenbeschreibung. zugehörigkeit, Alter, Geschlecht und andere Dimensionen des Be- drohungserlebens und des Bewältigungsverhaltens ( ▶ Tab. 3 ). Klinikärzte und -psychologen Niederge- lassene Psychiater Chi² p -Wert Fallzahl Geschlecht weiblich männlich Alter 25–44 J 45–54 J > 54 J 73 69,7 % 30,3 % 61,1 % 16,7 % 22,2 % 105 49,5 % 50,5 % 6,0 % 25,0 % 69,0 % 0,044 < 0,001 ▶Tab. 2 Angstniveau, Bedrohungserleben, Belastungsbewältigung und COVID-19-Expositionsniveau bei klinischen und niedergelassenen Psychiatern. Klinikärz- te und -psycholo- gen 73 9,6 % Chi² p-Wert Nieder- gelas- sene Psychi- ater 105 18,1 % 0,114 32,9 % 52,4 % 0,010 13,7 % 35,2 % 0,001 6,9 % 24,7 % 0,002 63,0 % 47,6 % 0,043 78,1 % 80,0 % 0,757 93,2 % 4,1 % 87,6 % 27,6 % 0,229 < 0,001 8,2 % 8,6 % 0,934 Angstniveau Große/sehr große Angst Ja Bedrohungserleben Gefühl der Einschränkung stark/ sehr stark eingeschränkt Infektionsgefahr hohe/sehr hohe Gefahr Persönliche fi nanzielle Bedrohung hohe/sehr hohe Bedrohung Belastungsbewältigung Informiertheit gut/sehr gut informiert Akzeptanz Regierungshandeln hohe/sehr hohe Akzeptanz Resilienz hohe/sehr hohe Resilienz Fehlende Schutzkleidung täglich/mehrmals täglich COVID-19- Expositionsniveau Kontakt mit COVID-19- Patien- ten mindestens 1mal/(Woche Variablen, die mit Angst assoziiert sind Das Gefühl der Einschränkung (OR = 5,52, 95 % KI: 1,24–24,61, p = 0,025) und die erlebte Infektionsgefahr (OR = 5,74, 95 % KI 1,68– 19,64, p = 0,005) waren signifi kant mit großer bis sehr großer Angst assoziiert. Keinen Einfl uss hatten Expositionsniveau, Klinik-/Praxis- Diskussion Die befragten niedergelassenen Psychiater erlebten sich durch die COVID-19 Pandemie mehr belastet und bedroht als die Kollegen im Krankenhaus. Darüber hinaus fühlten sich die Ärzte und Psycho- logen in Klinken besser geschützt und besser informiert. Das Erle- ben von großer Angst war abhängig vom Gefühl der Einschränkung und der Expositionsgefahr, nicht aber von der Exposition, der Aus- stattung mit Schutzmitteln, oder dem Status als Klinik- oder Pra- xisarzt bzw. Psychologe. Für die Ausprägung der Angst scheinen somit insgesamt weniger objektive Indikatoren als das subjektive Erleben eine wichtige Rolle zu spielen. Unterschiedliche Möglichkeiten der Belastungsbewältigung Gegenüber den im psychiatrischen oder psychosomatischen Kran- kenaus arbeitenden Ärzten und Psychologen waren niedergelasse- ne Psychiater auch objektiv in einer benachteiligten Position. Die Ausstattung mit Desinfektionsmitteln und Schutzkleidung war in der Anfangsphase in den meisten psychiatrischen Praxen nicht aus- reichend. Darüber hinaus waren die organisatorischen Ausweich- kapazitäten insbesondere in kleinen Einzelpraxen begrenzt. Bezüg- lich der Informationspolitik waren Psychiater darauf angewiesen sich via Internet bei ihren regionalen Kassenärztlichen Vereinigun- gen oder den Berufsverbänden oder wissenschaftlichen Fachge- sellschaften zu informieren [z. B. www.dgppn.de , [ 15 ] . Im Vergleich zu anderen medizinischen Fachrichtungen konnte in psychiatri- schen Praxen jedoch die Umstellung auf Video- oder Telefon-Kom- munikation durchgeführt werden [ 12 ] . Dadurch war eine Ausweich- kapazität für den direkten Kontakt zum Patienten gewährleistet. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass ein Drittel der Psychiater mit Umsatzeinbußen rechneten [ 12 ] . Es gibt einige Indizien, dass Krankenhauspsychiater im April/Mai 2020 mehr Möglichkeiten hatten, die Belastungen der Pandemie zu bewältigen. Dazu zählen die bessere Ausstattung mit Desinfek- tionsmitteln und Schutzkleidung [ 9 , 10 ] , die besser eingespielte organisatorische Fähigkeit mit diesem Schutz umzugehen [ 11 , 16 , 17 ] , die besseren Möglichkeiten der Schaff ung eines orga- nisatorischen Puff ers durch zeitliches Aufschieben von Aufnahmen, durch eine bessere Informationspolitik im Rahmen einer einheitli- che Steuerung im Rahmen eines Krankenhauses [ 19 , 20 ] . Schließ- lich hatten vermutlich die meisten im psychiatrischen Krankhaus arbeitenden Ärzte und Psychologen durch die Anstellung in einem Krankenhaus eine bessere fi nanzielle Absicherung. Unterschiedliches Bedrohungserleben Bei der Regressionsanalyse war bei beiden Gruppen ein erhöhtes Angstniveau positiv mit dem Niveau der wahrgenommenen Infek- tionsgefahr und den erlebten Einschränkungen assoziiert In eini- gen Studien wurde weibliches Geschlecht und jüngeres Lebensal- ter als besondere Risikofaktoren für ein höheres Belastungserleben beschrieben [vgl. z. B. [ 4 , 5 ] . Es ist eine off en Frage, weshalb diese Zusammenhänge hier nicht gefunden wurden. Auch hatte die von Bohlken Jens et al. Covid-19-Pandemie: Angsterleben von niedergelassenen … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 30 – 36 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 33

Out betroff en war als Pfl egepersonal auf Normal-Stationen [ 18 ] . Auch die deutsche Studie von Skoda und Kollegen weist in eine ähn- liche Richtung: Medizinisches Personal, insbesondere Ärzte, wie- sen ein geringeres Maß an Depression und Angst auf als die Bevöl- kerung [ 11 ] . Stärken und Schwächen Es handelt sich um die erste deutsche Befragungsstudie, die nie- dergelassene Psychiater mit ihren Kollegen in der Klinik verglichen hat. Andere Studien fokussierten oft nur auf den stationären Sek- tor und schlossen ärztliches und pfl egerisches Personal ein [ 7 , 8 ] . Folgende Limitationen sind zu berücksichtigen: Bezogen auf die Gesamtzahl der im psychiatrischen und psychosomatischen Ver- sorgungsbereich arbeitenden Ärzte und Psychologen handelt es sich hier um relativ kleine Stichproben, deren Repräsentativität zudem durch Auswahl und Rücklaufquote beeinträchtigt war. An- gesichts der geringen Stichprobengröße und der damit einherge- henden geringeren statistischen Power wurde auf eine diff eren- zierte Auswertung nach Ärzten und Psychologen verzichtet. Mög- licherweise entwickeln Ärzte durch körperliche Untersuchungen zu potentiell infi zierten Patienten mehr Ängste. Obgleich in chine- sischen Befragungsstudien Responseraten von über 80 % erreicht wurden, blieben Arztbefragungen in Hong Kong mit 31 % [ 18 ] und in Italien mit 25 % [ 19 ] ebenfalls deutlich darunter. Es ist nicht aus- zuschließen, dass besonders besorgte und betroff ene Ärzte geant- wortet haben, was zur Überschätzung der Belastung führen mag. Es ist weiterhin nicht auszuschließen, dass das Antwortverhalten durch unterschiedliche Erhebungszeitpunkte Anfang April und An- fang Mai beeinfl usst wurde. Darüber hinaus blieben Persönlich- keitseigenschaften, die möglicherweise mit der Berufswahl und der berufl ichen Sozialisation assoziiert sind, als mögliche konfun- dierende Variablen unberücksichtigt. Eine wichtige Limitation des fehlenden Einsatzes von standardisierten Befragungsinstrumenten war dem Umstand geschuldet, dass im Bereich des Berufsverban- des keine Möglichkeit einer digitalen Befragung bestand. Niedergelassene Psychiater erlebten sich durch die COVID-19 Pandemie mehr belastet und bedroht als die Kollegen im Kranken- haus. Das Erleben von großer Angst war abhängig vom Gefühl der Einschränkung und der Expositionsgefahr, nicht aber von der Ex- position, der Ausstattung mit Schutzmitteln oder dem Status als Klinik- oder Praxisarzt. Für die Ausprägung der Angst scheinen we- niger objektive Indikatoren als das subjektive Erleben eine wichti- ge Rolle zu spielen. Aufgrund der zentralen Rolle, die die psychiat- rische Versorgung der Bevölkerung einnimmt, ist es wichtig, mög- liche Optimierungsspielräume zu identifi zieren, um insbesondere in der ambulanten Versorgung eine optimale Versorgungsqualität zu gewährleisten. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonfl ikt besteht. Literatur [1] Chew NW S , Lee GK H , Tan BY Q , Jing M , Goh Y , Ngiam NJ H , Yeo LL L et al. A multinational, multicentre study on the psychological outcomes and asso- ciated physical symptoms amongst healthcare workers during COVID-19 outbreak . Brain Behav Immun 2020 ; S0889-1591 : 30523 – 30527 [2] Modenese A , Gobba F . Increased Risk of COVID-19-Related Deaths among General Practitioners in Italy . Healthcare (Basel) 2020 ; 8 : 155 [3] Bandyopadhyay S , Baticulon R E , Kadhum M , Alser M , Ojuka D K , Badereddin Y et al. Infection and mortality of healthcare workers worldwide from COVID-19: a systematic review . BMJ Glob Health 2020 ; 5 : e003097 [4] Bohlken J , Schömig F , Lemke M R , Pumberger M , Riedel-Heller S G . COVID-19-Pandemie: Belastungen des medizinischen Personals [COVID-19 Pandemic: Stress Experience of Healthcare Workers – A Short Current Review] . Psychiatr Prax 2020 ; 47 : 190 – 197 [5] Pappa S , Ntella V , Giannakas T , Giannakoulis V G , Papoutsi E , Katsaounou P . Prevalence of depression, anxiety, and insomnia among healthcare workers during the COVID-19 pandemic: A systematic review and meta-analysis . Brain Behav Immun 2020 ; S0889-1591 : 30845 – 3084 [6] Dewa C S , Loong D , Bonato S , Thanh N X , Jacobs P . How does burnout aff ect physician productivity? A systematic literature review . BMC Health Serv Res 2014 ; 14 : 325 [7] Gan Y , Jiang H , Li L , Yang Y , Wang C , Liu J , Yang T , Opoku S , Hu S , Xu H , Herath C , Chang Y , Fang P , Lu Z . Prevalence of burnout and associated factors among general practitioners in Hubei, China: a cross-sectional study . BMC Public Health 2019 ; 19 : 1607 [8] Aoyagi Y , Beck C R , Dingwall R , Nguyen-Van-Tam J S . Healthcare workers’ willingness to work during an infl uenza pandemic: a systematic review and meta-analysis . Infl uenza Other Respir Viruses 2015 ; 9 : 120 – 130 [9] Paff enholz P , Peine A , Hellmich M et al. Perception of the 2020 SARS-CoV-2 pandemic among medical professionals in Germany: results from a nationwide online survey . Emerg Microbes Infect 2020 ; 9 : 1590 – 1599 [10] Kramer V , Papazova I , Thoma A et al. Subjective burden and perspectives of German healthcare workers during the COVID-19 pandemic . Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 2021 ; 271 : 271 – 281 [11] Skoda E M , Teufel M , Stang A , Jöckel K H , Junne F , Weismüller B , Hetkamp M , Musche V , Kohler H , Dörrie N , Schweda A , Bäuerle A . Psychological burden of healthcare professionals in Germany during the acute phase of the COVID-19 pandemic: diff erences and similarities in the international context . J Public Health (Oxf) 2020 ; 42 : 688 – 695 [12] Bohlken J , Schömig F , Seehagen T , Köhler S , Gehring K , Roth-Sacken- heim C , Matschinger H , Riedel-Heller S G . Erfahrungen und Belastungs- erleben niedergelassener Neurologen und Psychiater während der COVID-19-Pandemie . Psychiatr Prax 2020 ; 47 : 214 – 217 [13] Jokić-Begić N , Lauri Korajlija A , Begić D . Mental Health of Psychiatrists and Physicians of Other Specialties in Early COVID-19 Pandemic: Risk ind Protective Factors . Psychiatr Danub 2020 ; 32 : 536 – 548 [14] Zhang S X , Huang H , Wei F . Geographical distance to the epicenter of Covid-19 predicts the burnout of the working population: Ripple eff ect or typhoon eye eff ect? Psychiatry Res 2020 ; 288 : 112998 [15] Petzold M B , Plag J , Ströhle A . Umgang mit psychischer Belastung bei Gesundheitsfachkräften im Rahmen der Covid-19-Pandemie . Nervenarzt. 2020 ; 91 : 417 – 421 [16] Spitzer M . Pandemie Was die Krise mit uns macht und was wir daraus machen . mvg Verlag ; 2020 ISBN-13 : 978-3747402573 Bohlken Jens et al. Covid-19-Pandemie: Angsterleben von niedergelassenen … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 30 – 36 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 35

Skripte der Botulinumtoxin-Akademie Botulinumtoxin – Therapie des Spasmus hemifacialis: Ein Update Therapy of Hemifacial Spasm with Botulinum Toxin: an Update Autoren Wolfgang H. Jost 1 , Rainer Laskawi 2 , Anja Palmowski-Wolfe 3 , Björn Spittau 4 , Peter P. Urban 5 ZUSAMMENFASSUNG Die Injektion von Botulinumtoxin gilt beim Spasmus hemifacialis (SHF) mittlerweile als Therapie der Wahl. Alle 3 Botulinum- toxin-A Präparate sind für diese Indikation zugelassen. Der SHF ist eine häufi ge Erkrankung, die gekennzeichnet ist durch unwill- kürliche Kontraktionen der vom Nervus facialis innervierten Muskulatur einer Gesichtshälfte. Die Symptome können tonisch oder klonisch, intermittierend oder permanent auftreten. Die Diagnosestellung erfolgt klinisch. Zur Ausschlussdiagnostik soll- te eine Magnetresonanztomografie des Schädels eingesetzt werden, die einen pathologischen Nerv-Gefäß-Kontakt nach- weisen und alternative Ursachen ausschließen kann. ABSTR AC T Injections of botulinum toxin can be viewed by now as the the- rapy of choice in treating hemifacial spasm (HFS). Each of the three botulinum toxin-A preparations have been approved for this indication in Germany. HFS is a frequent disease characte- rized by involuntary contractions of the muscles of one half of the face innervated by the facial nerve. The symptoms can be either tonic or clonic, intermittant or permanent. Diagnosis is based purely on clinical observation. A magnetic resonance ima- gingof the skull is appropriate to demonstrate nerve-vessel con- tact as most frequent cause and to exclude other pathologies. Institute 1 2 Parkinson-Klinik Ortenau, Wolfach Hals-Nasen-Ohrenklinik, Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen Universitäts-Augenklinik, Universität Basel, Basel,Schweiz Anatomie und Zellbiologie, Medizinische Fakultät OWL, Universität Bielefeld Asklepios Klinik Barmbek, Abt. für Neurologie, Hamburg 3 4 5 Schlüsselwörter Botulinumtoxin , Spasmus hemifacialis , N. facialis Key words Botulinum toxin , hemifacial spasm , facial nerve eingereicht akzeptiert 13 . 09 . 2021 12 . 10 . 2021 online publiziert 12.01.2022 10.1055/a-1677-4008 0720-4299 Bibliografi e Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 37 – 41 DOI ISSN © 2022 . Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag , Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Korrespondenzadresse Prof. Dr. Wolfgang Jost Parkinson-Klinik Ortenau Kreuzbergstraße 12 77709 Wolfach Deutschland Tel.: + 49/7834/971 212 , Fax: + 49/7834/971 340 W.Jost@parkinson-klinik.de Einleitung Im Jahr 2017 beschloss der Arbeitskreis Botulinumtoxin e.V. der DGN, dass zu allen zugelassenen Indikationen ein Skript erstellt und veröff entlicht wird. Im gleichen Jahr wurde das Skript zum Spasmus hemifacialis veröff entlicht [ 1 ] . Eine Aktualisierung sollte nach fünf Jahren erfolgen. In diesem Zeitraum wurden nur wenige Arbeiten zum Thema publiziert, hauptsächlich zur operativen Therapie (hemifacial spasm – Search Results – PubMed (nih.gov)). Anamnese und klinischer Befund Der Spasmus hemifacialis (SHF) wurde Ende des 19. Jahrhunderts erstmals in unserem heutigen Verständnis beschrieben [ 2 ] . Dieser Jost WH et al. Botulinumtoxin-Therapie des Spasmus hemifacialis: … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 37 – 41 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 37

Lidschluss) bei Willkürinnervation einer anderen ispilateralen Re- gion (z. B. Mund spitzen) kommen. Entsprechend ist gelegentlich auch eine diskrete Fazialisparese zu beobachten [ 15 ] , z. B. in Form eines ,Signe des ciles‘ (Wimpernzeichen). Diff erenzialdiagnosen Diff erenzialdiagnostisch müssen lokale Prozesse in der Nähe des Abgangs des N. facialis aus dem Hirnstamm abgegrenzt werden. Grundsätzlich sollten bei Fazialisparesen oder zusätzlichen neuro- logischen Defi ziten immer andere Ursachen, wie raumfordernde Prozesse erwogen werden [ 9 ] . Eine wichtigste Diff erenzialdiagnose zu Beginn der Erkrankung (wenn nur der M. orbicularis oculi betroff en ist) ist ein unilateraler Blepharospasmus. Meist tritt der Blepharospasmus jedoch beid- seits auf und betriff t außerdem nur die periorbitale Muskulatur. Das gemeinsame Vorkommen beider Erkrankungen wurde beschrie- ben. Im Gegensatz zum SHF kann der Blepharospasmus oft durch eine „Geste antagoniste“ beeinfl usst werden. Beim Meige-Syndrom, der Kombination von Blepharospasmus und oromandibulärer Dystonie, sind zwar ebenfalls viele Muskeln beteiligt die vom N. facialis versorgt werden, darüber hinaus aber auch Muskeln die von anderen Nerven versorgt werden. Außerdem sind die Kontraktionen beim SHF synchron, beim Meige-Syndrom nicht. Synkinesien nach einer Fazialisdefektheilung können klinisch sehr ähnlich wie ein Spasmus hemifacialis imponieren. Synkinesien treten nach einer Fazialisparese nicht im Ruhezustand, sondern nur bei Aktivierung der fazialisinnervierten Muskulatur auf (z. B. beim Augenblinzeln). Eine Mitbeteiligung nicht vom N. facialis versorgter Muskeln spricht gegen einen SHF, ebenso sensible Störungen, ein abgeschwächter Kornealrefl ex, oder die Mitbeteiligung anderer Hirnnerven. Auch hier sollten raumfordernde Prozesse ausgeschlossen werden. Sind nur einzelne Muskeln betroff en, ist die Tic-Erkrankung eine wichtige diff erenzialdiagnostische Abgrenzung, wobei faziale Tics komplexere Bewegungen hervorrufen, meist nicht unilateral sind und auch häufi g andere Muskeln betreff en. Weiterhin sollte der SHF von anderen Bewegungsstörungen des Gesichts, wie Myokymien (bei Hirnstammläsionen), tardiven Dys- kinesien, oromandibularer Dystonie, Epilepsia partialis continua, und psychogene Störungen abgegrenzt werden. Diagnostik Die Diagnose lässt sich durch Anamnese und klinischen Befund stel- len. Rezent wurde ein Score (HFS score) erarbeitet, der sowohl die klinischen Symptome, als auch die Lebensqualität bei Patienten mit SHF nach Botulinumtoxintherapie erfasst [ 16 ] . Zur Ausschlussdiagnostik sollte bei der Erstdiagnose eine Kern- spintomographie (MRT) des Schädels erfolgen [ 17 ] . Ausgeschlos- sen werden sollten Raumforderungen des Gehirns und des Klein- hirnbrückenwinkels [ 9 ] . Weiterhin kann in CISS-Sequenzen in der MRT Angiographie in vielen Fällen ein pathologischer Nerv-Gefäß- kontakt festgestellt werden, z. B. AICA, PICA oder Vertebralarterie. Weiterhin sollten Tumore der Glandula parotis ausgeschlossen werden, die sehr selten Ursache eines SHF sind und meist eher mit einer progredienten Fazialisparese assoziiert sind [ 9 ] . Hier sollte auch immer die B-Scan-Sonografi e ihren diagnostischen Einsatz fi nden. In diff ererenzialdiagnostisch unklaren Fällen kann eine weiter- gehende elektrophysiologische Diagnostik mittels Elektromyogra- fi e (EMG) notwendig sein [ 15 ] . Wegen einer möglichen Mitbeteili- gung des M. stapedius wäre die Ableitung des Stapediusrefl exes zu erwägen. Polygraphie mit Oberflächenelektroden Die simultane Ableitung der Muskelaktivität mit Oberfl ächenelek- troden vom M. orbicularis oculi, M. orbicularis oris und anderen fazialisinnervierten Muskeln der gleichen Seite zeigen spontane synchrone Muskelbursts mit einer Dauer von 10–100 ms. Dieser Befund schließt eine willkürliche Bewegung oder eine psychogene Bewegungsstörung (Tics) aus, da eine Willkürbewegung eine deut- lich längere EMG-Aktivität ( > 100 ms) aufweist. Provokationsma- növer sind die willkürliche kräftige Aktivierung der Gesichtsmus- kulatur und Hyperventilation. Nadel-EMG Das Nadel-EMG wird beim SHF selten eingesetzt. Es zeigen sich typischerweise hochfrequente, kurzdauernde Bursts, die synchron in multiplen vom N. facialis versorgten Muskeln auftreten. Ande- rerseits fi nden sich häufi g auch Zeichen einer peripher neurogenen Schädigung mit Spontanaktivität, neurogenem Umbau und gege- benenfalls auch Ausfall motorischer Einheiten. Blinkreflex Elektrophysiologisch ist eine synchrone Ausbreitung der Refl exant- wort bei elektrischer Stimulation des ersten Trigeminusastes auf alle fazialisinnervierten Muskeln der vom SHF betroff enen Gesichts- hälfte charakteristisch, wobei üblicherweise die Refl exantwort aus dem M. orbicularis oculi und M. orbicularis oris abgeleitet wird. Normalerweise wird beim elektrisch ausgelösten Blinkrefl ex nur der M. orbicularis oculi aktiviert. Pathophysiologisch wird die Erre- gungsausbreitung auf eine 1. ephaptische Übertragung an der Stel- le des Gefäß- Nervenkontakts, 2. Hyperexzitabilität des Fazialiskerns und 3. antidrome Erregung von Ästen des N. facialis als Folge kol- lateraler Aussprossungen gesehen [ 18 ] . Elektrische Stimulation des N. facialis Eine weitere Möglichkeit besteht in der elektrischen Stimulation eines einzelnen Astes des N. facialis. Normalerweise kommt es nur zu einer Kontraktion bzw. einem Muskelantwortpotential des von diesem Ast innervierten Muskels. Beim SHF breitet sich die Erregung als Folge ephaptischer Übertragungen der Nervenaktionspotentiale auch in andere Muskeln aus. Dieses kann über die simultane Regist- rierung von Antwortpotentialen aus unterschiedlichen, nicht be- nachbarten Muskeln nachgewiesen werden (‚lateral spread‘). Es wurde intraoperativ gezeigt, dass die ‚lateral spread response‘ bei Beseitigung des Gefäß-Nerven-Kontaktes sofort erlischt [ 19 ] . Alle aufgeführten Untersuchungstechniken belegen elektrophy- siologisch das Auftreten einer kollateralen Aussprossung, die auch bei defektgeheilten peripheren Fazialisparesen auftritt. Zugleich lassen sich dadurch andere Diff erentialdiagnosen wie ein Blepha- rospasmus, ein Fazialis-Tic oder eine Epilepsia partialis continua ab- grenzen, da hier keine pathologischen Reinnervationsphänomene vorkommen. Jost WH et al. Botulinumtoxin-Therapie des Spasmus hemifacialis: … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 37 – 41 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 39

Erstveröffentlichung Bei dem Manuskript handelt es sich um das aktualisierte Skript des AK Botulinumtoxin e.V. der DGN Jost WH, Laskawi R, Palmowski-Wolfe A, Urban PP. Therapie des Spasmus hemifacialis mit Botulinumtoxin. Fortschr Neurol Psych 2017; 85: 194–198 Interessenkonflikt Wolfgang Jost war Referent oder Berater für Abbvie, Merz und Ipsen. Literatur [1] Jost W H , Laskawi R , Palmowski-Wolfe A , Urban P P . Therapie des Spasmus hemifacialis mit Botulinumtoxin . Fortschr Neurol Psych 2017 ; 85 : 194 – 198 [2] Brissaud É . Anatomie du cerveau de l’homme; morphologie des hémis- phères cérébraux, ou cerveau proprement dit . Masson ; Paris : 1893 [3] Jost W H . Hemifacial spasm. In: Kompoliti K, Verhagen Metman L eds. Encyclopedia of Movement Disorders . Academic Press ; 2010 : 2 : 17 – 30 [4] Wang A , Jankovic J . Hemifacial spasm: clinical fi ndings and treatment . Muscle Nerve 1998 ; 21 : 1740 – 1747 [5] Micheli F , Scorticati M C , Gatto E et al. Familial hemifacial spasm . Mov Disord 1994 ; 9 : 330 – 332 [6] Digre K , Corbett J J . Hemifacial spasm: diff erential diagnosis, mechanism, and treatment . Adv Neurol 1988 ; 49 : 151 – 176 [7] Baizabal-Carvallo J F , Jankovic J . Distinguishing features of psychogenic (functional) versus organic hemifacial spasm . J Neurol 2017 ; 264 : 359 – 363 [8] Abbruzzese G , Beradelli A , Defazio G . Hemifacial spasm . Handb Clin Neurol 2011 ; 100 : 675 – 680 [9] Galvez-Jimenez N , Hanson M R , Desai M . Unusual causes of hemifacial spasm . Semin Neurol 2001 ; 21 : 75 – 83 [10] Oliveira L D , Cardoso F , Vargas A P . Hemifacial spasm and arterial hypertension . Mov Disord 1999 ; 14 : 832 – 835 [11] Babinski J . Hémispasme facial périphérique . Nouvelle Iconographie de la Salpétrière 1905 ; 18 : 418 – 423 [12] Tan E K , Jankovic J . Bilateral hemifacial spasm: a report of fi ve cases and a literature review . Mov Disord 1999 ; 14 : 345 – 349 [13] Reimer J , Gilg K , Karow A et al. Health-related quality of life in blepharospasm or hemifacial spasm . Acta Neurol Scand 2005 ; 111 : 64 – 70 [14] Tan E K , Fook-Chong S , Lum S Y , Lim E . Botulinum toxin improves quality of life in hemifacial spasm: validation of a questionnaire (HFS-30) . J Neurol Sci 2004 ; 219 : 151 – 155 [15] Auger R G . Hemifacial spasm: clinical and electrophysiologic observa- tions . Neurology 1979 ; 29 : 1261 – 1272 [16] Wabbels B , Yaqubi A . Validation of a new hemifacial spasm grading questionnaire (HFS score) assessing clinical and quality of life parameters . J Neural Transm (Vienna) 2021 ; 128 : 793 – 802 [17] Tan E K , Chan L L , Lim S H et al. Role of magnetic resonance imaging and magnetic resonance angiography in patients with hemifacial spasm . Ann Acad Med Singapore 1999 ; 28 : 169 – 173 [18] Montero J , Junyent J , Calopa M et al. Electrophysiological study of ephaptic axono-axonal responses in hemifacial spasm . Muscle Nerve 2007 ; 35 : 184 – 188 [19] Yamashita S , Kawaguchi T , Fukuda M et al. Lateral spread response elicited by double stimulation in patients with hemifacial spasm . Muscle Nerve 2002 ; 25 : 845 – 849 [20] Costa J , Espirito-Santo C , Borges A et al. Botulinum toxin type A therapy for hemifacial spasm. Cochrane Database Syst Rev 1; 2005: CD004899. DOI: 10.1002/14651858.CD004899.pub2 [21] Elston J S . Botulinum toxin treatment of hemifacial spasm . J Neurol Neurosurg Psychiatry 1986 ; 49 : 827 – 829 [22] Park Y C , Lim J K , Lee D K , SD Yi . Botulinum a toxin treatment of hemifacial spasm and blepharospasm . J Korean Med Sci 1993 ; 8 : 334 – 340 [23] Scott A B , Kennedy R A , Stubbs H A . Botulinum A toxin injection as a treatment for blepharospasm . Arch Ophthalmol 1985 ; 103 : 347 – 350 [24] Yoshimura D M , Aminoff M J , Tami T A , Scott A B . Treatment of hemifacial spasm with botulinum toxin . Muscle Nerve 1992 ; 15 : 1045 – 1049 [25] Sławek J , Bogucki A , Bonikowski M et al. Botulinum toxin type-A preparations are not the same medications – clinical studies (Part 2) . Neurol Neurochir Pol 2021 ; 55 : 141 – 157 [26] Jost W H , Kohl A . Botulinum toxin: evidence-based medicine criteria in blepharospasm and hemifacial spasm . J Neurol 2001 ; 248 : 21 – 24 [27] Dutton J J , White J J , Richard M J . Myobloc for the treatment of benign essential blepharospasm in patients refractory to botox . Ophthal Plast Reconstr Surg 2006 ; 22 : 173 – 177 [28] Laskawi R . Spasmus facialis. In: Laskawi R, Roggenkämper P Hrsg.: Botulinumtoxin-Therapie im Kopf-Halsbereich. 90 – 101. Urban und Vogel ; 2004 [29] Laskawi R , Niemczewska A , Schneider S et al. Änderung von Dosis und Injektionsmuster der Botulinumtoxin-Langzeittherapie fazialer Dyskinesien . Laryngorhinootologie 2014 ; 93 : 186 – 192 [30] Cakmur R , Ozturk V , Uzunel F et al. Comparison of preseptal and pretarsal injections of botulinum toxin in the treatment of blepharo- spasm and hemifacial spasm . J Neurol 2002 ; 249 : 64 – 68 [31] Eleopra R , Tugnoli V , Caniatti L , De Grandis D . Botulinum toxin treatment in the facial muscles of humans: evidence of an action in untreated near muscles by peripheral local diff usion . Neurology 1996 ; 46 : 1158 – 1160 [32] Urban P P . Pregabalin as add-on treatment to botulinum toxin in idiopathic hemifacial spasm . Neurology 2006 ; 66 : 1781 [33] Sampaio C , Ferreira J J , Simoes F et al. DYSBOT: a single-blind, randomized parallel study to determine whether any diff erences can be detected in the effi cacy and tolerability of two formulations of botulinum toxin type A – Dysport and Botox – assuming a ratio of 4:1 . Mov Disord 1997 ; 12 : 1013 – 1018 [34] Colakoglu B D , Cakmur R , Uzunel F . Is it always necessary to apply botulinum toxin into the lower facial muscles in hemifacial spasm?: a randomized, single-blind, crossover trial . Eur Neurol 2011 ; 65 : 286 – 290 [35] Kollewe K , Mohammadi B , Dengler R , Dressler D . Hemifacial spasm and reinnervation synkinesias: Long term treatment with either Botox® or Dysport® . J Neural Transm 2010 ; 117 : 759 – 763 [36] Jitpimolmard S , Tiamkao S , Laopaiboon M . Long term results of botulinum toxin type A (Dysport) in the treatment of hemifacial spasm: a report of 175 cases . J Neurol Neurosurg Psychiatry 1998 ; 64 : 751 – 757 [37] Jannetta P J , Abbacy M , Maroon J C , Morales-Ramos F . Aetiology and defi nitive microsurgical treatment of hemifacial spasm. Operative technique and results in fourty-seven patients . J Neurosurg 1997 ; 47 : 321 – 328 [38] Loeser J D , Chen J . Hemifacial spasm: treatment by microsurgical facial nerve decompression . Neurosurgery 1983 ; 13 : 141 – 146 [39] Auger R G , Piepgras D G , Laws E R Jr . Hemifacial spasm: results of microvascular decompression of the facial nerve in 54 patients . Mayo Clin Proc 1986 ; 61 : 640 – 644 [40] Jost W . Atlas der Botulinumtoxin-Injektion: 3. Aufl . Berlin: KVM-Verlag; 2018. Jost WH et al. Botulinumtoxin-Therapie des Spasmus hemifacialis: … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 37 – 41 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 41

assessment of cost of illness as well as MS-HRS-based results on the costs of disease dynamics in people with MS. Methods This article is based on a selective literature review on the MS-HRS as well as on health economic aspects of cost assessment. Results The MS-HRS provides a holistic assessment of direct medical, direct non-medical and indirect resource utilization. Within indirect costs, we considered absenteeism, either short term (sick leave) or long term (disability pension), but also pre- senteeism, which refers to impaired performance during work. Resources were valued at the societal opportunity cost or the best possible approximation. First analyses based on MS-HRS showed that, in addition to inpatient disease severity and cli- nical course, disease dynamics in form of relapses and progres- sion have enormous socioeconomic implications. Conclusion Valid cost data bring transparency to the econo- mic consequences of diseases. In addition to clinical data, cost data can be used to determine cost-effectiveness and thus reveal opportunities for more effi cient patient care. For the case of MS, a freely accessible tool is available for cost assessments. Einleitung Die Multiple Sklerose (MS) ist eine unheilbare Autoimmunerkran- kung des zentralen Nervensystems und die häufi gste Ursache neu- rologischer Behinderungen im jungen Erwachsenenalter [ 1 ] . Die Di- agnose wird mehrheitlich zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr ge- stellt und führt zu erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität für die Betroff enen und enormen Kosten für die Gesellschaft [ 2 ] . Bei etwa 85 % der Patienten wird zunächst eine schubförmig- remittierende MS (RRMS) diagnostiziert, die durch das unvorher- sehbare Auftreten von Schüben gekennzeichnet ist [ 3 ] . Klinisch ist ein Schub als Verschlechterung oder Auftreten neuer neurologi- scher Symptome defi niert, gefolgt von einer Periode der teilweisen oder vollständigen Rückbildung dieser Symptome [ 4 ] . Bis zu 80 % der Patienten gehen unbehandelt innerhalb von 20 Jahren in den sekundär progredienten Verlauf (SPMS) über [ 3 ] . Dieser ist durch eine Akkumulation von irreversiblen Behinderungen gekennzeich- net, die entweder aus einer schubassoziierten Verschlechterung oder einer schubunabhängigen Progression resultieren [ 5 ] . Aufgrund des chronischen Verlaufs und des meist frühen Krank- heitsbeginns bei nur leicht reduzierter Lebenserwartung stellt die MS auch für die Volkswirtschaft eine enorme Belastung dar [ 2 ] . Auch im Vergleich mit Betroff enen anderer chronischer, neurolo- gischer Krankheiten wie Demenz, Parkinson oder Migräne weist die MS hohe personenbezogene Kosten auf [ 6 ] . Die Erforschung und Entwicklung von Therapien zur Behandlung der MS sind wich- tige Bestandteile zur Steuerung der Gesundheitskosten. Um die Wirtschaftlichkeit neuer Therapien zu bewerten und evidenzba- sierte Entscheidung über die Ressourcenverteilung zu treff en, nut- zen Entscheidungsträger Informationen über die Kosten und den Nutzen der Therapien [ 7 ] . Hierfür liefert die Gesundheitsökonomie entsprechende Lösungsansätze: In verschiedenen Studien wurden die Krankheitskosten der MS in Deutschland geschätzt [ 8 – 11 ] . Die größte und aktuellste Studie aus dem Jahre 2017 berichtet die Krankheitskosten der MS aus ge- sellschaftlicher Perspektive anhand von Primärdaten in einer Quer- schnittserhebung stratifi ziert nach dem Schweregrad der Erkran- kung [ 10 ] . In dieser Studie wurden die jährlichen totalen Kosten (inkl. immunprophylaktischer Therapie) für Deutschland auf 28 200€ (leichte Beeinträchtigung) bis 62 700€ (schwere Beein- trächtigung) geschätzt. Es ist dabei anzumerken, dass ein Vergleich unterschiedlicher Krankheitskostenstudien nur begrenzt möglich ist: Zum einen bestehen erhebliche Unterschiede in der Studien- methodik hinsichtlich der Zusammensetzung, Quantifi zierung und monetären Bewertung der Ressourcen. Zum anderen müssen Un- terschiede in den MS Kohorten hinsichtlich der Patienten- und Krankheitseigenschaften beachtet werden. Der Vergleich interna- tionaler Krankheitskostenstudien in der MS wird zusätzlich durch Unterschiede in der Organisation der Gesundheitssysteme er- schwert. Dies ist besonders auf die unterschiedliche Verfügbarkeit und den Zugang zu medizinischen Leistungen zurückzuführen [ 2 , 12 ] . Trotz der skizzierten Heterogenität in Krankheitskostenstudien zeigen systematische Übersichtsarbeiten zentrale Tendenzen im (inter-)nationalen Kontext auf [ 12 – 14 ] : So lässt sich mit zunehmen- der neurologischer Behinderung (via Expanded Disability Status Scale (EDSS)) sowohl ein deutlicher Anstieg der Gesamtkosten als auch eine Veränderung der Zusammensetzung der Kosten beob- achten. Während bei milder neurologischer Behinderung (EDSS 0–3) die direkten medizinischen Kosten überwiegen, dominieren die indirekten Kosten bei schwer betroff enen Personen (EDSS 7–9). Weiterhin steigen die Krankheitskosten der MS in schubaktiven Krankheitsphasen, jedoch variieren Ressourceninanspruchnahme und die damit einhergehenden Krankheitskosten teils erheblich zwischen einzelnen Studien [ 14 , 15 ] . Auch Kosteneff ektivitätsstu- dien in der MS sind aufgrund des hohen Ausmaßes methodischer Heterogenität schwer vergleichbar und liefern zum Teil wider- sprüchliche Ergebnisse. Im europäischen Kontext zeigt sich jedoch die Tendenz, dass orale Therapeutika gegenüber den Injektions- therapeutika kosteneff ektiv sind [ 16 ] . Bisherige patientenberichtete Fragebögen zur Erfassung der Krankheitskosten sind weder methodisch validiert noch publiziert und somit für die breitere MS Forschung nicht nutzbar. Um die Ver- gleichbarkeit und Transparenz der Krankheitskostenerfassung in der MS zu erhöhen, wurde ein patientenberichteter Fragebogen (Multiple Sclerosis Health Resource Utilization Survey (MS-HRS)) entwickelt, validiert und frei zugänglich publiziert [ 17 ] . Der MS- HRS ermöglicht die Kostenerfassung in klinischen Querschnitt- als auch Längsschnittstudien, sodass temporale Assoziationen zwi- schen klinischen Events und deren ökonomischen Konsequenzen erfasst werden können. Fokus dieser Übersichtsarbeit bildet der MS-HRS. Wir berichten methodische Grundlagen zur Krankheitskostenerfassung sowie MS-HRS basierte Ergebnisse zu den Kosten der Krankheitsdynamik in Form von Schüben und Progression bei Personen mit MS. Ness N-H et al. Der Multiple Sclerosis Health … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 42 – 48 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 43

▶ Tab. 1 Erfasste Ressourcen und Bewertungsmethoden des Multiple Sclerosis Health Resource Survey (MS-HRS) [ 17 ] . Erfasste Ressourcen Item Methodik zur monetären Bewertung Direkt medizinisch Stationäre/Teilstationäre Aufenthalte Tage im Krankenhaus, Reha-, Pfl egeeinrichtung Standardisierte Bewertungssätze [ 26 ] Ambulante Konsultationen Investigationen/Diagnose Besuche bei Allgemeinmedizinern, Neurologen, anderen Spezialisten (Urologen, Ophthalmologen, Psychologen), MS-Schwestern, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Beratungsstellen, Optikern, Logopäden, Akupunktur, andere alternative Heilmethoden Magnetresonanztomographie, Computertomogra- phie, Lumbalpunktion, Blutuntersuchung Standardisierte Bewertungssätze [ 26 ] Einheitlicher Bewertungsmaßstab Rezeptfreie Medikamente z. B. Medikamente zur Symptombehandlung Patientenberichtete Kosten Immunprophylaktischer Therapie Injektionstherapien, Infusionstherapien, Orale Therapien Jährliche Therapiekosten berechnet anhand des Arzneiverordnungs-Reports Professionelle Betreuungsfachkraft z. B. Professionelle Pfl ege, Haushaltshilfe Standardisierte Bewertungssätze Medizinische Verbrauchsartikel z. B. Verbände, Pfl aster Patientenberichtete Kosten Direkt nicht-medizinisch Informelle Pfl ege Investitionen und Anschaff ungen Indirekt Krankheitstage Berufs- und Erwerbsunfähigkeit Präsentismus z. B. Hilfe durch Familie oder Freunde (Transport, Pfl ege) Umbauten an Haus/Auto, Gehhilfen, Rollstuhl, Elektroroller, Krankenbett Opportunitätskostenansatz Patientenberichtete Kosten Anzahl der Tage Prozentsatz Produktivitätsskala Humankapitalansatz Humankapitalansatz Humankapitalansatz Studien mit MS-HRS Datenerhebungen in PEARL, PANGAEA, PANGAEA 2.0, PANGAEA EVOLUTION und AMASIA. Die nicht-interventionel- ▶Tab. 2 len Studien PEARL und PANGAEA sind bereits abgeschlossen und die zugehörigen MS-HRS basierten Daten publiziert worden [ 32 – 34 ] . Abkürzungen: Prospective pharmacoeconomic cohort evaluation (PEARL), post-authorization non-interventional German safety study of Gilenya (PANGAEA), Im- pact of Mayzent® (siponimod) on secondary progressive multiple sclerosis patients in a long-term non-Interventional study in Germany (AMASIA), secondary progressive multiple sclerosis (SPMS), relapsing-remitting multiple sclerosis. PEARL [ 28 ] PANGAEA [ 30 ] PANGAEA 2.0 [ 31 ] PANGAEA EVOLUTION [ 27 ] AMASIA [ 29 ] Anzahl Patienten Diagnose 1800 RRMS 800 RRMS 1500 RRMS 1000 RRMS mit hohem Risiko für SPMS, SPMS 1500 SPMS Verlaufsmodifi zierende Behandlung Betainterferone/ Glatiramerazetat Beobachtungsdauer (Jahre) 2 Fingolimod Fingolimod Verfügbare Therapien Siponimod (2mg/1mg) 2 2 2 3 gaben durch Über- bzw. Unterberichterstattung verzerrt sein können. Daher wurde bei der Entwicklung des MS-HRS berücksichtigt, zu lange Erinnerungsperioden zu vermeiden, da diese zu Teleskop-Eff ekten füh- ren können, bei denen Ereignisse, die außerhalb des Zeitrahmens auf- treten, fälschlicherweise in den adressierten Zeitraum einbezogen wer- den. Ebenso könnten häufi ge Ereignisse und solche, die weniger auff äl- lig sind, über einen langen Zeitraum ungenauer berichtet werden [ 23 ] . Gleichzeitig birgt der Bezug auf zu kurze Erinnerungsabschnitte wie beim Work Productivity and Activity Impairment Questionnaire (WPAI, in der Regel 7 Tage) die Gefahr, dass patientenberichtete Daten bei wei- terführenden Analysen und Längsschnittbetrachtungen durch Extrapo- lation auf längere Zeitabschnitte übergeneralisiert werden, jedoch ohne dabei das Kriterium der Repräsentativität zu erfüllen [ 24 ] . Der MS-HRS wurde in einer Studie mit über 2000 Patienten für einen halbjährlichen sowie quartalsweisen Erhebungszeitrahmen validiert, wobei gute psy- Ness N-H et al. Der Multiple Sclerosis Health … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 42 – 48 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 45

tionären und ambulanten Hospitalisierungen war während der Pro- gression im Vergleich zu klinisch inaktiven (kein Schub und keine Progression) Patienten bis zu dreimal so hoch [ 32 ] . FA ZIT Krankheitskostenstudien haben das Potenzial, Transparenz in die ökonomischen Auswirkungen von Krankheiten zu bringen. Die alleinige Betrachtung von Krankheitskosten gibt Aufschluss über die Menge und den Umfang gesellschaftlicher Ressourcen, die aufgrund einer Krankheit beansprucht werden. In Ergänzung zu klinischen Daten kann die Kosteneff ektivität festgestellt werden und somit Anhaltspunkte für eine effi zientere Patientenversor- gung aufgedeckt werden. Im Falle der MS steht nun mit dem MS-HRS ein validiertes Instrument zur Erfassung der gesell- schaftlichen Kosten zur Verfügung. So kann mit vergleichsweise geringem Aufwand in verschiedenen Kontexten – von der Praxis bis zur Phase IV-Studie – gesundheitsökonomische Daten erhoben werden, die leicht mit klinischen Outcomes in Verbindung gesetzt werden können. Die ersten MS-HRS basierten Analysen bestätigen, dass neben dem stationären Behinderungsgrad und dem klinischen Verlauf auch die Krankheitsdynamik in Form von Schüben und Progression enorme sozioökonomische Auswirkungen hat. In zukünftigen Studien sollten anhand des MS-HRS z. B. die sozioökonomischen Auswirkungen einzelner symptomatischer Beeinträchtigungsbereiche wie Kognition und Mobilität untersucht werden. Zusätzlich sollte analysiert werden, welche sozioökonomischen Konsequenzen die Transition zwischen schubförmigem und progredienten Krankheitsverlauf hat. Ebenso sollten zukünftig MS-HRS basierte Studien bei Personen mit primär progredienten Krankheitsverlauf implementiert und stratifi ziert nach Behinderungsgrad ausgewertet werden. Interessenkonflikt NHN, DS, RH und TZ geben an, dass für den vorliegenden Beitrag kein Interessenkonfl ikt besteht. NHN erhielt Forschungsunterstützung von Novartis. RH erhielt Honorare für Referententätigkeiten bzw. Forschungsunterstützung von Celgene und Sanofi . TZ erhielt Honorare für Beratungs- und Referententätigkeiten bzw. Forschungsunterstüt- zung von Bayer Healthcare, Biogen, Bayer, Celgene, Novartis, Roche und Sanofi . Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Literatur [1] Goodin D S . The epidemiology of multiple sclerosis: insights to disease pathogenesis . In Handbook of clinical neurology . Elsevier ; 2014 : 231 – 266 [2] Kobelt G , Thompson A , Berg J et al. New insights into the burden and costs of multiple sclerosis in Europe . Mult Scler 2017 ; 23 : 1123 – 1136 . doi: 10.1177/1352458517694432 [3] MSIF Atlas of MS 2013: Mapping Multiple Sclerosis around the World In: Multiple Sclerosis International Federation ed; 2013 [4] Lublin F D , Reingold S C , Cohen J A et al. Defi ning the clinical course of multiple sclerosis: The 2013 revisions . Neurology 2014 ; 83 : 278 – 286 . doi: 10.1212/WNL.0000000000000560 [5] Inojosa H , Schriefer D , Ziemssen T . Clinical outcome measures in multiple sclerosis: A review . Autoimmunity reviews 2020 ; 19 : 5 . doi: https://doi.org/10.1016/j.autrev.2020.102512 102512 . [6] Raggi A , Leonardi M . Burden and cost of neurological diseases: a European North–South comparison . Acta Neurol Scand 2015 ; 132 : 16 – 22 . doi: https://doi.org/10.1111/ane.12339 [7] IQWIG. Allgemeine Methoden Version 5.0 vom 10.07.2017 [General Methods Version 5.0 from 10.07.2017]. In: Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen ed; 2017 [8] Karampampa K , Gustavsson A , Miltenburger C et al. Treatment experience, burden and unmet needs (TRIBUNE) in MS study: results from Germany . Multiple Sclerosis Journal 2012 ; 18 : S23 – S27 . doi: 10.1177/1352458512441566b [9] Reese J P , John A , Wienemann G et al. Economic burden in a German cohort of patients with multiple sclerosis . Eur Neurol 2011 ; 66 : 311 – 321 . doi: 10.1159/000331043 [10] Flachenecker P , Kobelt G , Berg J et al. New insights into the burden and costs of multiple sclerosis in Europe: Results for Germany . Multiple sclerosis (Houndmills, Basingstoke, England) 2017 ; 23 : S78 – S90 . doi: 10.1177/1352458517708141 [11] Kobelt G , Berg J , Lindgren P et al. Costs and quality of life of multiple sclerosis in Germany . The European journal of health economics 2006 ; 7 : 34 – 44 [12] Paz-Zulueta M , Parás-Bravo P , Cantarero-Prieto D et al. A literature review of cost-of-illness studies on the economic burden of multiple sclerosis . Multiple Sclerosis and Related Disorders 2020 ; 43 : 102162 . doi: https://doi.org/10.1016/j.msard.2020.102162 [13] Naci H , Fleurence R , Birt J et al. Economic burden of multiple sclerosis: a systematic review of the literature . PharmacoEconomics 2010 ; 28 : 363 – 379 . doi: 10.2165/11532230-000000000-00000 [14] Ernstsson O , Gyllensten H , Alexanderson K et al. Cost of Illness of Multiple Sclerosis – A Systematic Review . PLoS One 2016 ; 11 : e0159129 . doi: 10.1371/journal.pone.0159129 [15] Hawton A J , Green C . Multiple sclerosis: relapses, resource use, and costs . The European Journal of Health Economics 2016 ; 17 : 875 – 884 . doi: 10.1007/s10198-015-0728-3 [16] Iannazzo S , Iliza A C , Perrault L . Disease-Modifying Therapies for Multiple Sclerosis: A Systematic Literature Review of Cost-Eff ectiveness Studies . Pharmacoeconomics 2018 ; 36 : 189 – 204 . doi: 10.1007/ s40273-017-0577-2 [17] Ness N-H , Haase R , Kern R et al. The Multiple Sclerosis Health Resource Utilization Survey (MS-HRS): Development and Validation Study . Journal of Medical Internet Research 2020 ; 22 : e17921 [18] van Lier L I , Bosmans J E , van Hout HP J et al. Consensus-based cross-European recommendations for the identifi cation, measurement and valuation of costs in health economic evaluations: a European Delphi study . Eur J Health Econ 2018 ; 19 : 993 – 1008 . doi: 10.1007/ s10198-017-0947-x [19] Drummond M F . Methods for the economic evaluation of health care programmes . 4. Aufl Oxford : Oxford University Press ; 2015 [20] Gansen F M . Health economic evaluations based on routine data in Germany: a systematic review . BMC Health Services Research 2018 ; 18 : 268 . doi: 10.1186/s12913-018-3080-3 [21] Reinhold T , Andersohn F , Hessel F et al. Die Nutzung von Routinedaten der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) zur Beantwortung gesundheits- ökonomischer Fragestellungen – eine Potenzialanalyse . Gesundheits- ökonomie & Qualitätsmanagement 2011 ; 16 : 153 – 159 . doi: 10.1055/s-0029-1245615 Ness N-H et al. Der Multiple Sclerosis Health … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 42 – 48 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 47

Übersichtsarbeit Die Konzeptualisierung nymphomanischer Zustände in den Lehrbüchern der deutschsprachigen Schulpsychiatrie vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute Concepts of Nymphomania in the German Academic Psychiatry: Changes Over the Last Two Centuries Autoren Teresa Rendel , Holger Steinberg Institut Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Leipzig, Forschungsstelle für die Geschichte der Psychiatrie Schlüsselwörter Gesundheit von Frauen , Sexuelle Dysfunktion, psycholo- gisch , Geschichte des 19. Jahrhunderts , Geschichte des 20. Jahrhunderts , Psychiatrie Key words Women’s Health , Sexual dysfunctions, psychological , History 19th Century , History 20th Century , Psychiatry eingereicht akzeptiert online publiziert 16.02.2021 14 . 07 . 2020 18 . 01 . 2021 10.1055/a-1365-8868 0720-4299 Bibliografi e Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 49 – 59 DOI ISSN © 2021 . Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG , Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Korrespondenzadresse Holger Steinberg Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Leipzig Forschungsstelle für die Geschichte der Psychiatrie Semmelweisstr. 10 04103 Leipzig Germany Tel.: 0341-9724113 , Fax: 0341-9724539 holger.steinberg@medizin.uni-leipzig.de ZUSAMMENFASSUNG Hintergrund Die vorliegende Chronologie soll einen Überblick über die Auff assungen zur Nymphomanie in der Geschichte der deutschsprachigen Schulpsychiatrie der vergangenen 200 Jah- re geben. Fragestellung Welche Kontinuitäten bestehen über diese Zeit in der Vorstellung über die Ätiologie, die Diagnosestellung, die Klassifi kation oder über Therapieempfehlungen? Welcher Wan- del ist feststellbar? Wurde das gesteigerte sexuelle Verlangen der Frau als Erkrankung oder eher als Symptom gesehen? Wel- che Bedeutung wurde der Sexualität der Frau vonseiten der Psychiatrie in der jeweiligen Epoche zugemessen? Welche Ur- sachen können für die Deutungen der jeweiligen Zeit benannt werden? Methodik Es erfolgte die kursorische Durchsicht der einfl uss- reichsten deutschsprachigen psychiatrischen Lehrbücher der jeweiligen Zeit in chronologischer Kontinuität. Anhand der Fragestellung wurden relevante Textstellen eruiert, eingehend analysiert und unter Berücksichtigung des historischen Kon- textes miteinander verglichen. Ergebnisse Zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kann ein klarer Bruch im Krankheitsverständnis der Nymphomanie fest- gestellt werden. Im 19. Jahrhundert wurde von einer schweren psychischen Erkrankung ausgegangen, die zumindest anteilig durch eine periphere Erkrankung der weiblichen Geschlechts- organe und dem mit diesen verbundenen Nervensystem ver- ursacht wurde und in irreversible terminale psychische Zustän- de übergehen könne. Im 20. und 21. Jahrhundert wechselt das Krankheitsverständnis zwischen Sexualneurose und funktio- neller Sexualstörung, die auf den Symptomenkomplex der Hypersexualität beschränkt ist. Ursächlich dafür ist einerseits die mit einer umfassenden Neuklassifi kation psychischer Er- krankungen insgesamt veränderte Diagnosestellung, die im 19. Jahrhundert als nymphomane eingeordenete Symptome sowohl manischen als auch schizophrenen Erkrankungen zu- ordnet, andererseits eine veränderte Wahrnehmung weiblicher Sexualität im gesellschaftlichen Diskurs. Das Verschwinden der Diagnose Nymphomanie aus der 11. Version der International Classifi cation of Diseases ist Ausdruck dieses Wandels. Schlussfolgerung Die Vorstellung von Nymphomanie ist im Laufe der Zeit erheblichen Änderungen unterworfen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ändert sich das Krankheitsverständnis maßgeblich, sodass sogar in eine frühe und eine späte Phase unterschieden werden kann. Die Diagnose ist obsolet gewor- den. Rendel T, Steinberg H. Die Konzeptualisierung nymphomanischer Zustände … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 49 – 59 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 49

▶ Tab. 1 Gegenwart, zugleich Quellengrundlage der vorliegenden Studie. Kanon der nach unserer Auff assung wichtigsten deutschsprachigen psychiatrischen Lehrbücher des 19. und 20. Jahrhunderts bis in die Autor Lebensdaten Titel und Aufl age (wenn nicht Erstaufl age) Jahr und Ort der Erscheinung Quelle im Text Johann Christian Reil 1759–1813 Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Kurme- thode auf Geisteszerrüttungen Halle, 1803 Johann Christian August Heinroth 1773–1843 Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelen- störungen und ihrer Behandlung Leipzig, 1818 Wilhelm Griesinger 1817–1868 Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten Stuttgart, 1845 Heinrich Neumann Richard von Kraff t- Ebing Emil Kraepelin Karl Jaspers Eugen Bleuler August Bostroem Oswald Bumke Karl Leonhard Hans Hoff Gerd Huber Manfred Bleuler Helmut Rennert Frank Schneider Rainer Tölle et al. 1814–1884 1840–1902 1856–1926 1803–1969 1857–1939 1886–1944 1877–1950 1904–1988 1897–1969 1921–2012 1903–1994 1920–1994 Lehrbuch der Psychiatrie Lehrbuch der Psychiatrie Psychiatrie, 8. Aufl age Allgemeine Psychopathologie Lehrbuch der Psychiatrie Kurzgefasstes Lehrbuch der Psychiatrie von Professor Dr. Johannes Lange, 4. Aufl age Lehrbuch der Geisteskrankheiten, 6. Aufl age Grundlagen der Psychiatrie Lehrbuch der Psychiatrie Psychiatrie Eugen Bleuler. Lehrbuch der Psychiatrie, 15. Aufl age Neurologie und Psychiatrie sowie Grundzüge der Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters, 8. Aufl age * 1958 Facharztwissen Psychiatrie und Psychotherapie 1932–2014 Psychiatrie einschließlich Psychotherapie, 17. Aufl age Erlangen, 1859 Stuttgart, 1879 Leipzig, 1909–1915 Berlin, 1913 Berlin, 1916 Leipzig, 1941 München, 1944 Stuttgart, 1948 Basel, 1956 Stuttgart, 1974 Berlin, 1983 Leipzig, 1987 Berlin, 2012 Berlin, 2014 [ 3 ] [ 8 ] [ 9 ] [ 10 ] [ 13 ] [ 36 ] [ 16 ] [ 19 ] [ 23 ] [ 37 ] [ 17 ] [ 30 ] [ 26 ] [ 18 ] [ 24 ] [ 28 ] [ 27 ] Zunächst erfolgte die kursorische Durchsicht aller Lehrbücher in chronologischer Reihenfolge. Relevante Kapitel und Textstellen wur- den sorgfältig exzerpiert und inhaltlich analysiert. In einem weiteren Schritt erfolgte eine Kontextualisierung der Textstellen im Hinblick auf die Fragestellung. Vor allem wurde dabei versucht, sowohl den wissenschaftlich-psychiatrischen Hintergrund und Fortschritt als auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit einzubezie- hen, in denen die jeweiligen Lehrwerke verankert sind. Dennoch han- delt es sich bei dieser Methode vornehmlich um ein Close-Reading- Verfahren, das eng mit den Texten selbst zu arbeiten versucht. Bei diesem Längsschnittverfahren, dessen Ziel darin besteht, Kontinui- täten und Brüche in der Auff assung der deutschsprachigen Schul- psychiatrie über einen großen historischen Zeitraum zu einem kon- kreten psychiatrischen Thema darzustellen, also das zusammenzu- führen, was den jungen Medizinstudierenden und Ärzten jeweils als vermeintlich gesichertes Wissen an die Hand gegeben wurde, han- delt es sich um ein bereits bewährtes Verfahren [ 6 ] . Ergebnisse Das Krankheitsverständnis der Nymphomanie kann in zwei Phasen unterteilt werden. In der ersten Phase des 19. Jahrhunderts han- delt es sich dabei um eine häufi g gestellte Diagnose mit mannig- faltigen Symptomen und mitunter sehr schlechter Prognose, die immer auch anteilig auf einer Erkrankung der Geschlechtsorgane oder des assoziierten Nervensystems beruhend gesehen wurde. Diese Beschreibung der Nymphomanie lässt sich etwa bis zur Wende in das 20. Jahrhundert in den Lehrbüchern fi nden. Die zweite Phase beginnt in den 1940er-Jahren, ab denen zum einen eine intensivere Auseinandersetzung mit sexuellen Störungen im Allgemeinen einsetzt und zum anderen ein gewisser Einfl uss psy- choanalytischer Strömungen auf das Thema Sexualität, auch inner- halb der Schulpsychiatrie, zu registrieren ist. Im weiteren Verlauf ste- hen hauptsächlich die Theorien zentraler Neurosenbildung aufgrund eines sexuellen oder emotionalen Erlebnismangels sowie einer Se- xualstörung aufgrund angeborener erhöhter Triebhaftigkeit neben- einander. Die Nymphomanie des 20. und 21. Jahrhunderts gilt als seltene Pathologie mit guter Prognose, deren Symptomatik im We- sentlichen auf das Sexualverhalten beschränkt ist. Als Ursachen für diese Entwicklung werden insbesondere zwei Gründe identifi ziert. Auf der einen Seite wird durch die Auseinander- setzung mit Veränderungen im Sexualverhalten im Rahmen anderer psychischer Erkrankungen gesteigerte sexuelle Appetenz häufi ger als untergeordnetes Symptom, nicht mehr als Hauptdiagnose, be- griff en. Auf der anderen Seite beeinfl ussen der gesellschaftliche Wan- del und die damit verbundene Liberalisierung weiblicher Sexualität auch die Beurteilung von Sexualpathologien insgesamt. Rendel T, Steinberg H. Die Konzeptualisierung nymphomanischer Zustände … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 49 – 59 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 51

Auch der Gesprächsinhalt sei für die Diagnose von Bedeutung. So erwiesen sich insbesondere die Fixierung auf das Thema Hoch- zeit, Beschimpfungen und Verdächtigungen anderer Frauen in se- xueller Hinsicht sowie die übertriebene Auseinandersetzung mit der eigenen Jungfräulichkeit als kennzeichnend [ 10 , 13 ] . Insbesondere Heinrich Neumann und Richard von Kraff t-Ebing benennen detailliert weitere spezifi sche Symptome dieser Erkran- kung. Neben ausgeprägt pathologischen Verhaltensweisen, wie dem Einreiben des Körpers und der Wände mit Kot, Urin und Mens- trualblut [ 13 ] , gelten als mildere Form bereits übertriebene Rein- lichkeit, Haarnesteln sowie häufi ges Ausspucken [ 10 , 13 ] . Eine besondere Stellung wird lehrbuchübergreifend der engen Verbindung aus exaltiertem Geschlechtstrieb und religiösem Erle- ben eingeräumt, die bereits im Gesunden beobachtet werden könne, etwa in orgiastischen Sekten-Ritualen oder religiöser Schwärmerei während der Pubertät. Pathologisch gesteigerte se- xuelle Erregung äußere sich daher besonders häufi g in Verbindung mit religiös gefärbtem Delir, spirituellem Wahnerleben oder Ver- sündigungsideen [ 10 , 13 , 19 ] . Stadieneinteilung, Klassifi kation, Prognose Da fast über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg keine übergrei- fende, allgemein akzeptierte Klassifi kation psychischer Erkrankun- gen existierte, ist auch die Zuordnung der Nymphomanie in den entsprechenden Lehrwerken uneinheitlich. Sie ist sowohl als Aus- prägung der Tobsucht [ 3 , 9 , 13 ] und Tollheit (auch: Hypersthenie) [ 8 ] als auch als Hypermetamorphose [ 10 ] und speziell als Trieb- oder Willensstörung [ 8 , 9 , 13 ] zu fi nden. Heinroth verweist für die Nymphomanie auf die dreistufi ge Sta- dieneinteilung des französischen Arztes Jean Baptiste Louis de The- sacq, der darüber unter dem Pseudonym J. D. de Bienville im 18. Jahrhundert eine sehr verbreitete, vielfach aufgelegte Monografi e verfasst hatte [ 20 ] , der zufolge sich ungezähmte venerische Be- gierde über das Stadium des noch heilbaren Aberwitzes bis zur töd- lichen, unheilbaren Raserei steigern könne. Auch bezüglich der Nomenklatur herrscht Uneinigkeit. Während für Griesinger die „Mania“ aus den beiden Elementen Tobsucht und Wahnsinn besteht [ 9 ] , wobei die Nymphomanie eine Form der Tob- sucht sei, gilt die Tobsucht inklusive ihrer nymphomanischen Aus- prägung für Kraff t-Ebing bereits als schwere Form der Manie [ 13 ] . Wiederum davon zu unterscheiden ist die Klassifi kation Neu- manns. Für diesen „entschiedensten Vertreter“ [21, (S. 333)] des bekannten Konzepts der Einheitspsychose [ 21 ] durchlaufe jede psy- chische Krankheit die gleichen drei Stadien. Aus einer Hypermeta- morphose entwickle sich zunächst Wahnsinn, dann Verrücktheit, schließlich Blödsinn. Da die Nymphomanie als Krankheit junger Frauen lange im Stadium des Wahnsinns verbleibe, sei ihre Prog- nose gut, da ausreichend Zeit zum therapeutischen Eingreifen sei. Sie verschlechtere sich allerdings deutlich, wenn nymphomanische Zustände während der Involution aufträten und schnell in Verrückt- heit übergingen [ 10 ] . Therapie Um das erregte Nervensystem zu beruhigen, sehen die ersten Ner- venärzte in der Einhaltung strenger Diätetik, also Lebens- und Ver- haltensmaßnahmen, die bestmögliche Therapie. Das bedeutet für Frauen mit dieser Diagnose das Meiden von Alkohol, Fleisch, wür- zigen Speisen und aufregenden Tätigkeiten wie geschlechtlicher Betätigung und Festivitäten sowie generelle Reizarmut der Sinne [ 3 , 8 , 10 ] . Uneinigkeit herrscht bei der Verordnung kühlender Bäder, die zwar periphere Nerven beruhigen [ 3 , 13 ] , aber auch schädliches wollüstiges Empfi nden auslösen könnten [ 10 , 13 ] . Auch die Indikation für den Einsatz von Zwangsmitteln sei gegeben. Diese dienten unter anderem zur disziplinarischen Ruhigstellung aufgebrachter nymphomanischer Patientinnen [ 3 , 8 , 10 , 13 ] sowie zur Durchsetzung des strengen Masturbationsverbotes, das na- mentlich Kraff t-Ebing in besonderem Maße zu verfügen versucht [ 13 ] . Die wichtigste Therapieform des 19. Jahrhunderts, die Arbeits- oder Beschäftigungstherapie, wird auch gegen die Nymphomanie als Schlüssel angesehen. Insbesondere harte körperliche Arbeit solle Ablenkung vom aufgeregten Geschlechtstrieb verschaff en und galt für die Genesung als unerlässlich [ 3 , 8 , 9 , 13 ] . Während Heinroth schon 1818 großen Wert auf die Behandlung somatischer Begleiterkrankungen, hier insbesondere auf die Mens- truationsregulierung, legt [ 8 ] , sehen andere Autoren 40 und 60 Jahre später zwar den engen Zusammenhang dys- und amenor- rhoeischer Zustände mit nymphomanischer Symptomatik, halten die kausale Behandlung aber für unwirksam, sondern messen der Selbstregulierung des Zyklus allenfalls prognostische Bedeutung bei [ 10 , 13 ] . Die Vorstellung, dass ein regelmäßiger Zyklus als phy- siologischer Zustand anzustreben sei, ist dabei in dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit, was die Psychiaterin Esther Fischer-Hom- berger in ihrer medizinhistorischen Abhandlung „Krankheit Frau“ herausarbeitet, die sich ausführlich mit der in der Viersäftelehre verwurzelten und bis ins 19. Jahrhundert hineinreichenden, weit verbreiteten Ansicht über die Menstruation als krankhaftem Zu- stand an sich auseinandersetzt [ 22 ] . Wenngleich keine psychopharmakologische Medikation nach heutigem modernen Verständnis in der Therapie der Nymphoma- nie Anwendung fi nden kann, wird dennoch therapeutisch auf psy- chotrope Substanzen zugegriff en. Diese sollen bei sexueller Aufre- gung Abhilfe schaff en. Gute Wirkung wurde der hochdosierten ora- len Gabe von Kampher zugesprochen [ 3 , 8 , 9 ] , der von innen heraus die Erregung abkühle. Heinrich Neumann verordnete zudem Ca- lomel, eine Chlor-Quecksilber-Verbindung mit starken Nebenwir- kungen, die insbesondere im Anfangsstadium der Nymphomanie in der Therapie eingesetzt werden solle. Bei verzögerter Rekonva- leszenz empfi ehlt er zudem das Auftragen von Brechweinsteinsal- be und Crotonöl auf Waden und Sakralgegend [ 10 ] . Über die Wirksamkeit von Digitalis herrscht Uneinigkeit: Neu- mann hält es für die Nymphomanie im Stadium des Wahnsinns für ein geeignetes Mittel [ 10 ] , während Griesinger und Kraff t-Ebing sexuelle Aufregungszustände sogar als Kontraindikation angeben, da Digitalis diese verschlimmern würde [ 9 , 13 ] . Laut Griesinger seien Diuretika ebenfalls kontraindiziert [ 9 ] . Ein weiteres stark nebenwirkungsreiches Mittel, das Kraff t-Ebing bei Fallsucht und eben sexuellen Aufregungszuständen und Ona- nie gerne verordnete, ist Bromkali. Milde Vergiftungserscheinun- gen führten zur Sedierung der Patientinnen, was trotz ausgepräg- ter Nebenwirkungen wie Hautnekrosen, Koliken und neurologi- schen Ausfallerscheinungen als Therapieerfolg angesehen wurde [ 13 ] . Rendel T, Steinberg H. Die Konzeptualisierung nymphomanischer Zustände … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 49 – 59 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 53

[ 32 ] . Auch international waren der Trend zu genitalverstümmeln- den Engriff en, wie der Infi bulation oder Klitoridektomie, unter an- derem bei Nymphomanie sowie ihre berechtigte Kritik Gegenstand wissenschaftlicher Publikationen und Diskussionen [ 5 , 33 – 35 ] . Daher liegt die Vermutung nahe, dass diese Eingriff e in Deutsch- land auch unter der Indikation einer Nymphomanie zwar stattfan- den, allerdings aufgrund des experimentellen Status nicht in die Standardlehrwerke aufgenommen wurden. Einzig Hans Hoff er- wähnt 1956 einen Therapieversuch durch Kastration, der aber er- folglos geblieben sei [ 30 ] . Auch die Anwendung der in den Vereinigten Staaten in den 1940er-Jahren infl ationär, so auch zur Therapie der Nymphomanie durchgeführten präfrontalen Lobotomien [ 34 ] , die auch in Deutschland angewendet wurden, lässt sich in den untersuchten deutschsprachigen Lehrwerken nur bei Hans Hoff nachvollziehen, der diese Art der Therapie bei der nicht mit Nymphomanie zu ver- wechselnden Paranoia erotica indiziert sieht. Unter dieser den Pa- raphrenien zugeordneten Erkrankung fasst er den Liebeswahn in seinem auch heute so gebräuchlichen begriffl ichen Inhalt, aber auch sexuelles Beeinfl ussungserleben, dem er beispielsweise den Wunsch nach geschlechtlicher Transition zuordnet und dem er häu- fi g homosexuelle Impulse als Ursache unterstellt [ 30 ] . Geschlechterverteilung Das männliche Äquivalent zur Nymphomanie ist die Satyriasis (spä- ter auch: Don-Juanismus), die von den Lehrbuchautoren aber ins- gesamt weit weniger Beachtung fi ndet als die Nymphomanie der Frau. Griesinger und Neumann sehen die Nymphomanie sogar noch als ausschließlich Frauen betreff ende Krankheit an [ 9 , 10 ] . Heinroth und Hoff erwähnen zu Beginn des 19. Jahrhunderts und Mitte des 20. Jahrhunderts zwar den männlichen Begriff in ihren Werken, for- mulieren aber nur das weibliche Krankheitsbild aus und bringen ausschließlich weibliche Fallbeispiele [ 8 , 30 ] . Karl Leonhard spricht sogar nur für Frauen eine Therapieempfehlung aus [ 17 ] . Eine völli- ge Ausnahme bildet Gerd Huber, der ebenfalls die Hypersexualität erwähnt, allerdings nur den Begriff des Don-Juanismus als mögli- che Pathologie im Sexualablauf aufl istet und die Nymphomanie nicht namentlich anführt [ 26 ] . Eine mögliche Erklärung für diese Diskrepanz lässt sich von Ri- chard von Kraff t-Ebing ableiten. Er stuft die Nymphomanie als häu- fi ge, die Satyriasis als seltene Erkrankung ein, was dadurch zustan- de komme, dass beim Mann ein ausgeprägterer Sexualtrieb phy- siologisch angelegt sei, sodass ähnliche Ausprägungen hypersexuellen Verhaltens nur bei der Frau Krankheitswert besä- ßen [ 14 ] . Diesen Doppelstandard kritisiert wiederum Helmut Ren- nert, der als einziger in unserer Studie vertretener Nervenarzt der DDR den Einfl uss gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse in be- sonderem Maße in sein Krankheitsverständnis mit einbezieht. Es handle sich seiner Auff assung nach bei dieser geschlechtlichen Un- gleichheit um tradierte Rollenbilder, nicht um begründete Diagno- sekriterien [ 24 ] . Diskussion In der chronologischen Gesamtschau fällt insbesondere der Ver- lust des Stellenwertes der Nymphomanie in den Lehrbüchern der deutschsprachigen Schulpsychiatrie insgesamt auf sowie das völ- lige Verschwinden ihrer in der frühen Psychiatrie stets aufgeführ- ten, in sich geschlossenen konzeptuellen schweren Form als Enti- tät. Im Folgenden werden die Gründe für den Bedeutungsverlust der Nymphomanie für die Schulpsychiatrie sowie das schrittweise Verschwinden zunächst ihrer frühen, schweren Form und schließ- lich der Diagnose selbst zur Diskussion gestellt. Zwei Gründe können allem Anschein nach die erste Umwälzung über 200 Jahre Fachentwicklung erklären. Mit einer umfassenden und schnell allgemein akzeptierten Klassifi kation psychischer Er- krankungen sowie der allmählichen Abkehr von der peripher-orga- nischen Ursachenforschung hin zu einer multikausalen Perspekti- ve, wofür das Schaff en und das Lehrbuch von Emil Kraepelin para- digmatisch stehen [ 36 ] , änderte sich das Krankheitsverständnis psychischer Erkrankungen zur Wende ins 20. Jahrhundert maßgeb- lich. Patientinnen, deren gravierende Symptome während des 19. Jahrhunderts zur Diagnose einer Nymphomanie geführt hätten, werden ab dem Ende des Jahrhunderts sowie in den kommenden Jahrzehnten unter Krankheiten des aff ektiven und schizophrenen Formenkreises geführt. Zudem fand und fi ndet forciert besonders seit den 1970er-Jah- ren ein Wandel in der Wahrnehmung und Bewertung weiblicher Sexualität im allgemeinen gesellschaftlichen Kontext statt. Religi- öse und moralisierende Vorstellungen von einer keuschen, passi- ven Sexualität weichen einem liberaleren Verständnis, das sexuel- le Praktiken enttabuisiert, sexuelle Befriedigung als Bedürfnis an- erkennt und den Leidensdruck der Patientinnen für die Diagnose einer Sexualstörung in den Vordergrund rückt. Damit verbunden ist eine Verschiebung des Fokus sexueller Erkrankungen insgesamt zu konstatieren, der zunächst die hauptsächlich männlich besetz- ten sexuellen Delinquenzen und sogenannten Perversionen und schließlich die Therapiebedürftigkeit sexuellen Mangelerlebens in Form von Alibidinämie, Anorgasmie oder psychogener Impotenz in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Des Weiteren herrscht eine anhaltende Ambivalenz bezüglich des Vorhandenseins und der Klassifi kation hypersexueller Störun- gen, wofür auch die Veränderungen von der 10. zur 11. Version der ICD sowie das Aufkommen neuer Diagnosen wie Sexsucht oder Compulsive Sexual Behaviour Disorder exemplarisch stehen. Wo fi nden sich frühe nymphomanische Symptome in späteren Lehrwerken? Wenn die Entität Nymphomanie verschwindet, stellt sich die Frage, unter welchen Krankheits- und Störungsbildern sich dann Patien- tinnen mit nymphomanischer Symptomatik wiederfi nden lassen. Emil Kraepelin verwendet als erster Autor den Begriff der Nympho- manie nicht mehr. In der zwischen 1909 und 1915 entstandenen, vier Bände umfassenden 8. Aufl age seines Lehrwerks präsentiert er eine umfassende, neue Einteilung psychischer Erkrankungen, die in ihren wesentlichen Grundlagen bis heute aktuell ist. Insbe- sondere die Dichotomisierung in manisch-depressive Psychosen – heute aff ektive Erkrankungen – und die Dementia praecox mit ihren Unterformen, die später in Eugen Bleulers Konzept der Schizophre- nien Eingang fand [ 19 ] , geht auf ihn zurück. Des Weiteren unter- teilt er mehrere Formen psychopathischer Persönlichkeiten. Im von Kraepelin ausführlich beschriebenen Krankheitsbild der Dementia praecox fi nden sich viele teilweise sehr spezifi sche Sym- Rendel T, Steinberg H. Die Konzeptualisierung nymphomanischer Zustände … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 49 – 59 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 55

Auf der einen Seite ermöglichte das seither den off enen Umgang mit aktivem Begehren und sexueller Erregung ohne gesellschaftli- che Sanktionierung oder psychiatrische Stigmatisierung, auf der an- deren Seite wurden dadurch sexuelle Inappetenz und Libidoverlust nicht mehr als inhärent weibliches Merkmal angesehen, sondern er- hielten den Status eines behandlungsbedürftigen Leidens [ 24 ] . Der Übergang von der Frigiditätsbehandlung als Dienst am Mann, der nicht in einer lust- und lieblosen Ehe leben wollte, hin zum Ziel er- füllter weiblicher Sexualität als Selbstzweck ist dabei fl ießend. Fest- zustellen ist in jedem Fall, dass die körperliche oder psychische Un- fähigkeit zu erfüllter Sexualität, sei es in Form von männlicher Impo- tenz oder weiblicher Anorgasmie, in den jüngsten untersuchten Kompendien einen weit größeren Teil der entsprechenden Lehrbuch- kapitel einnimmt als Hypersexualität [ 27 – 29 ] . Da die Nymphomanie nie nur psychiatrische Diagnose, sondern immer auch gesellschaftliche Zuschreibung war, unterlag auch das soziokulturelle Begriff sverständnis einem starken Wandel. In dem wohl bekanntesten modernen Werk zur Geschichte der Nympho- manie, das auch ins Deutsche übersetzt wurde, beschreibt die New Yorker Historikerin Carol Gronemann, die sich seit Jahrzehnten ins- besondere mit der Geschichte der Frau in der Gesellschaft und im Arbeitsleben beschäftigt, ausführlich, wie sich beginnend mit der sexuellen Befreiungsbewegung der negativ konnotierte Begriff „nymphoman“ von jenen Frauen angeeignet wurde, die nicht unter ihrem Sexualtrieb, sondern dem gesellschaftlichen Tabu litten und ihre intensiv ausgelebte Sexualität mit Stolz nach außen tragen wollten [ 41 ] . Mit dieser positiven Begriff sumkehr unterscheidet sich die popkulturelle Verwendung immer stärker von dem mit Lei- densdruck verbundenen klinischen Syndrom, für das eine neue Be- zeichnung gefunden werden musste. Neue Begriff e für ein altes Phänomen In der 2019 erschienenen 11. Version der ICD ist die Diagnose Nym- phomanie bzw. Satyriasis nicht mehr enthalten. Eine hypersexuel- le Störung ist demnach als Compulsive Sexual Behaviour Disorder (CSD), also als Impulskontrollstörung und nicht mehr sexuelle Funk- tionsstörung, unter der Kodierung 6C72 zu bestimmen [ 1 ] . Das zweite international gebräuchliche Klassifi kationssystem Diag- nostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), das in der ersten und zweiten Ausgabe 1952 und 1968 Nymphomanie noch als eine der wenigen weiblichen sexuellen Funktionsstörungen auf- listete, enthält seit dem Erscheinen der Version DSM-III keine Dia- gnose für hypersexuelle Störungen mehr [ 34 ] . Seit den 1990er-Jahren erobert zudem der Begriff „Sexsucht“ sowohl Populärmedien als auch medizinische Fachliteratur. Ähn- lich der Spielsucht handle es sich dabei um eine Verhaltenssucht, also eine Abhängigkeitserkrankung, obwohl sie streng genommen nicht die Abhängigkeitskriterien erfüllen müsse. Eine klare Tren- nung der Begriff e ist aufgrund der mangelnden klinischen Ausein- andersetzung derzeit unmöglich und wird weiterhin intensiv dis- kutiert [ 42 , 43 ] . Roland Wölfl e, der sich in seinem Essay „Sexsucht: Chimäre oder klinisches Syndrom?“ [ 44 ] intensiv mit dem Thema auseinander- setzt, sieht den Begriff der Nymphomanie als eines von vielen his- torischen Synonymen der Sexsucht. Dabei bezieht er sich auch auf Patrick Carnes’ „Wenn Sex zur Sucht wird“ aus dem Jahre 1992 als erstes Standardwerk zur Sexsucht, dem zufolge auch exhibitionis- tische, voyeuristische, pädophile und weitere ursprünglich als Per- versionen betrachtete sexuelle Neigungen nun der sexuellen Ab- hängigkeit zugeordnet werden sollen [ 45 ] . Der Trend zur Diagnose einer Suchterkrankung statt einer Se- xualstörung bei gleichen Symptomen ist auch in der neueren psy- chiatrischen Schulliteratur nachvollziehbar. Rainer Tölle und Kolle- gen sehen die Ursache gesteigerter sexueller Appetenz, entspre- chend der Frigiditätstheorie, in der Kompensation eines emotionalen Erlebnismangels, kommen aber zu dem Schluss, dass daher die Existenz einer Nymphomanie überhaupt fraglich sei. Dranghafte Sexualappetenz, innere Unruhe und Beherrschtsein von sexuellen Impulsen und Vorstellungen seien hingegen Aus- drucksformen süchtiger Sexualität, die parallel zu anderen Abhän- gigkeitserkrankungen ebenfalls in einem Erlebnismangel und dem Gefühl des Nicht-Erfülltseins anderer Art begründet seien [ 27 ] . Carol Gronemann sieht in der Bezeichnung Sexsucht hingegen die erneute Gefahr der Stigmatisierung sexuell aktiver Frauen, da es sie mit negativ konnotiertem Verhalten wie Alkohol- oder Drogen- abhängigkeit auf eine Stufe stellt [ 41 ] . Ob Abhängigkeits- oder Impulskontrollstörung – deutlich wird, dass die Debatte um die Einteilung hypersexueller Störungen ihren Fokus auf das selbstschädigende Verhalten und den Leidensdruck legt und sie von der sexuellen Sphäre als nur eine mögliche Ausprä- gung weitestgehend löst. Die noch immer bestehende Uneinigkeit über die klinische Zuordnung von Hypersexualität setzt dabei die über alle Jahrzehnte erkennbare stetige Veränderung in der Be- trachtung von Nymphomanie fort, wobei in der aktuellen Debatte Konsens darin zu bestehen scheint, dass es sich in erster Linie um eine Impuls- oder Verhaltensstörung handelt, nicht um eine Sexu- alpathologie und mit den Geschlechtsorganen wenig zu tun habe. Hans Hoff hatte die Nymphomanie bereits 1956 den Impulskon- trollstörungen zugeordnet und bezeichnete damit eine Zwangshand- lung, die einem Copingmechanismus entspreche und deren Nicht- ausführen Angstzustände hervorrufen würde. Er sieht sie damit als Form der Monomanie, einem längst umstrittenen, aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammenden Konzept, das bereits von Kraff t-Ebing angezweifelt wurde [ 13 ] , aber in verschiedenen Formen regelmäßig Erwähnung fi ndet [ 29 , 36 ] , so zum Beispiel als Klepto- manie [ 30 ] . Damit teilt er die Einschätzung, dass es sich nicht um eine sexuelle Störung handele, sondern um eine mögliche Ausfor- mung einer impulsiven oder zwanghaften Grunderkrankung, wobei Hinterhuber noch 1997 auf die sexuelle Komponente der Pyro- und Kleptomanie verweist [ 29 ] . Der größte Unterschied zur heutigen CSD besteht dabei in der Geschlechterverteilung. Die übrigen von Hoff der Monomanie zugeordneten Zwangshandlungen wie Pyro- manie oder Kleptomanie galten, ebenso, wie bereits beschrieben, die Nymphomanie, als explizit weibliche Erkrankungen. Laut Grie- singer käme Pyromanie ausschließlich, laut Eugen Bleuler vor allem bei jungen Dienstbotinnen vor [ 9 , 19 ] . Bleuler und Kraepelin beob- achten Pyromanie und Kleptomanie zudem insbesondere während der Menstruation [ 19 , 36 ] . Im Gegensatz dazu ist die Patientenkli- entel sowohl der CSD als auch der Sexsucht heute eindeutig männ- lich [ 42 , 43 , 46 ] . Ursächlich dafür seien sowohl die mit bis zu 80 % angegebene [ 43 ] höhere Prävalenz bei Männern als auch nach An- sicht der britischen Verhaltensforscher Manpreet Dhuff ar und Mark Griffi ths insbesondere die höhere gesellschaftliche Hürde für Frau- en, pathologisch hypersexuelles Verhalten zuzugeben, sowie der Rendel T, Steinberg H. Die Konzeptualisierung nymphomanischer Zustände … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 49 – 59 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 57

[5] Sigusch V . Geschichte der Sexualwissenschaft . Frankfurt/Main : Campus ; 2008 [6] Gnoth M , Glaesmer H , Steinberg H . Suizidalität in der deutschspra- chigen Schulpsychiatrie. Thematisierung in Lehrbüchern von 1803 bis heute . Nervenarzt 2018 ; 22 : 828 – 836 . doi: 10.1007/s00115-017- 0425-9 [7] Steinberg H . The sin in the aetiological concept of Johann Christian August Heinroth (1773-1843). Part 2: Self-guilt as turning away from reason in the framework of Heinroth’s concept of the interrelation- ships between body and soul . Hist Psychiatry 2004 ; 15 : 437 – 454 [8] Heinroth JCA . Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung . Leipzig : Vogel ; 1818 [9] Griesinger W . Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten . Stuttgart : Krabbe ; 1845 [10] Neumann H . Lehrbuch der Psychiatrie . Erlangen : Enke ; 1859 [11] Engstrom EJ , Kendler KS . Richard von Kraff t-Ebing’s views on the etiology of major psychiatric illness . Psychol Med 2013 ; 43 : 1345 – 1352. doi: 10.1017/S0033291712001833 [12] Engmann B , Steinberg H . Das Konzept der Refl expsychose: Entstehung, Bedeutung und Wertung im psychiatrisch-philosophi- schen Kontext . Nervenarzt 2012 ; 83 : 653 – 657 [13] von Kraff t-Ebing R . Lehrbuch der Psychiatrie . Stuttgart : Enke ; 1879 [14] von Kraff t-Ebing R . Psychopathia Sexualis . Stuttgart : Enke ; 1886 [15] Kapfhammer HP , Richard Freiherr V . Kraff t-Ebing und Sigmund Freud – Diskurs über die „Normalität“ und „Perversion“ von Sexualität im ausgehenden 19. Jahrhundert und beginnenden 20. Jahrhundert . Neuropsychiatr 2015 ; 29 : 163 – 178 [16] Jaspers K . Allgemeine Psychopathologie . Berlin : Springer ; 1913 [17] Leonhard K . Grundlagen der Psychiatrie . Stuttgart : Enke ; 1948 [18] Bleuler M. Eugen Bleuler . Lehrbuch der Psychiatrie . 15 Aufl . Berlin : Springer ; 1983 [19] Bleuler E . Lehrbuch der Psychiatrie . Berlin : Springer ; 1916 [20] de Bienville DT . La Nymphomanie ou traité de la fureur utérine . Amsterdam : Marc-Michel Rey ; 1772 [21] Henseler H . Die „analytische Medizin“ des Psychiaters Heinrich Wilhelm Neumann. Uni München: Med. Dissertation; . 1959 ; [22] Fischer-Homberger E . Krankheit Frau . 2. Aufl Darmstadt : Luchter- hand ; 1988 [33] Charlier P , Saudamini D . Paul Broca‘s clitoridectomy as a cure for „nymphomania“: A pseudo-medical mutilation . Torture 2019 ; 29 : 110 – 112 . doi: 10.7146/torture.v29i2.114013 [34] Kleinplatz PG . History of the Treatment of Female Sexual Dysfunction(s) . Annu Rev Clin Psychol 2018 ; 14 : 29 – 54 . doi: 10.1146/annurev-clinpsy-050817-084802 [35] Studd J , Schwenkhagen A . The historical response to female sexuality . Maturitas 2009 ; 63 : 107 – 111 . doi: 10.1016/j.maturi- tas.2009.02.015 [36] Kraepelin E . Psychiatrie . 8. Aufl Leipzig : Barth ; 1909 [37] Bumke O . Lehrbuch der Geisteskrankheiten . 6 Aufl . München : Bergmann ; 1944 [38] Studd J . A comparison of 19th century and current attitudes to female sexuality . Gynecol Endocrinol 2007 ; 23 : 673 – 681 . doi: 10.1080/09513590701708860 [39] Schröter A , Riha O , Steinberg H . „[P]lumpe [.] Versuche der weiblichen Wissenschaftlichkeit“? Sexualität, soziale Rolle und Intelligenz der Frau bei deutschsprachigen Autorinnen des frühen 20. Jahrhunderts . Z Sexualforschung 2013 ; 26 : 245 – 265 [40] Sichtermann B . Weiblichkeit – Zur Politik des Privaten . Berlin : Wagenbach ; 1984 [41] Groneman C . Nymphomania: A history . New York : Norton & Company ; 2000 [42] Kor A , Fogel Y , Reid RC et al. Should Hypersexual Disorder be Classifi ed as an Addiction? Sex Addic Compuls 2013 ; 20 : 27 – 47 . doi: 10.1080/10720162.2013.768132 [43] Kraus SW , Voon V , Potenza MN . Should compulsive sexual behaviour be considered an addiction? Addiction 2016 ; 111 : 2097 – 2106 . doi: 10.1111/add.13297 [44] Wölfl e R . „Sexsucht“: Chimäre oder klinisches Syndrom? Plädoyer für eine klinische Konzeptualisierung . Neuropsychiatr 2010 ; 24 : 209 – 216 [45] Carnes P . Wenn Sex zur Sucht wird . München : Kösel ; 1992 [46] Dhuff ar MK , Griffi ths MD . Understanding the role of shame and it‘s consequences in female hypersexual behaviours: A pilot study . J Behav Addic 2014 ; 3 : 231 – 237 . doi: 10.1556/JBA.3.2014.4.4 [47] Dhuff ar MK , Griffi ths MD . Barriers to female sex addition treatment in the UK . J Behav Addic 2016 ; 5 : 562 – 567 . doi: 10.1556/2006.5.2016.072 [23] Bostroem A . Kurzgefasstes Lehrbuch der Psychiatrie von Professor Dr. [48] Briken P , Habermann N , Berner W et al. Diagnosis and Treatment Johannes Lange . 4. Aufl Leipzig : Thieme ; 1941 [24] Rennert H . Neurologie und Psychiatrie sowie Grundzüge der Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters . 8. Aufl Leipzig : Barth ; 1987 [25] Himmerich H , Steinberg H . Hormonelle Krankheits- und Therapie- konzepte in der Psychiatrie . Fortschr Neurol Psychiatr 2011 ; 79 : 384 – 394 [26] Huber G . Psychiatrie . Stuttgart : Schattauer ; 1974 [27] Tölle R , Windgassen K , Lempp R . Psychiatrie einschließlich Psychotherapie . 17 Aufl . Berlin : Springer ; 2014 [28] Schneider F . , Hrsg . Facharztwissen Psychiatrie und Psychotherapie . Berlin : Springer ; 2012 [29] Hinterhuber H . Lehrbuch der Psychiatrie . Stuttgart : Thieme ; 1997 [30] Hoff H . Lehrbuch der Psychiatrie . Basel : Schwabe ; 1956 [31] Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) . Internationale statistische Klassifi kation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. 10. Revision. Im Internet: . https:// www.dimdi.de/static/de/klassifi kationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/ htmlgm2020/block-f50-f59.htm#F52 ; Stand: 05.05.2020 [32] Splett T , Steinberg H . Die Therapie der Hysterie im 19. Jahrhundert – Wie stand die deutsche Psychiatrie zur Kastration? Fortschr Neurol Psychiat 2003 ; 71 : 45 – 52 . doi: 10.1055/s-2003-36685 of Sexual Addiction: A Survey among German Sex Therapists . Sex Addic Compuls 2007 ; 14 : 131 – 143. doi: 10.1080/10720160701310450 [49] Nolte K . Gelebte Hysterie . Frankfurt/Main : Campus ; 2003 [50] Dannecker M . Fortwährende Eingriff e . Berlin : Deutsche Aidshilfe e.V. ; 2019 [51] Yeagley E , Hickok A , Bauermeister JA . Hypersexual behavior and HIV sex risk among young gay and bisexual men . J Sex Res 2014 ; 51 : 882 – 892. doi: 10.1080/00224499.2013.818615 [52] Parsons JT , Rendina HJ , Ventuneac A et al. Hypersexual, Sexually Compulsive, or Just Highly Sexually Active? Investigating Three Distinct Groups of Gay and Bisexual Men and Their Profi les of HIV-Related Sexual Risk . AIDS Behav 2016 ; 20 : 262 – 272. doi: 10.1007/ s10461-015-1029-7 [53] Parsons JT , Rendina HJ , Ventuneac A et al. A psychometric investigation of the hypersexual disorder screening inventory among highly sexually active gay and bisexual men: An item response theory analysis . J Sex Med 2013 ; 10 : 3088 – 3101. doi: 10.1111/jsm.12117 [54] Schröter A , Riha O , Steinberg H . Tendenziöse Objektivität. Frauenbilder in der deutschen Neurowissenschaft des 19. Jahrhun- derts . Fortschr Neurol Psychiatr 2012 ; 80 : 512 – 519 [55] Schott H , Tölle R . Geschichte der Psychiatrie . München : Beck ; 2006 Rendel T, Steinberg H. Die Konzeptualisierung nymphomanischer Zustände … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 49 – 59 | © 2021 . Thieme. All rights reserved. 59

waren keine weiteren Vorerkrankungen zu verzeichnen. Die Vital- parameter, Laborwerte sowie eine native kraniale und zervikale Computertomographie zeigten keine Auff älligkeiten. Es wurde der Verdacht auf eine transitorische ischämische Attacke (TIA) gestellt. In der extra- und intrakraniellen Duplexsonographie wurden ein Subclavian-Steal-Syndrom und eine Gefäßdissektion ausgeschlos- sen. Während der Untersuchung entwickelte der Patient erneut eine akute Sprechstörung. Neurologisch zeigte er jetzt eine Dysar- thrie bei attackenartiger Kieferdystonie und verstärkte klonische Tics in der zervikalen Region, dem Rumpf und der Extremitäten. Es zeigte sich kein Hinweis auf einer Störung der Okulomotorik; eine notfallmäßige kraniale Kernspintomographie (MRT) war unauff äl- lig; eine zerebrale MR-Angiographie, einschließlich Fettsuppressi- on-Sequenzen, zeigte keine Dissektion oder anderweitige Gefäß- anomalien. Die Familienanamnese war negativ für Gerinnungsstö- rungen, kardiologische Erkrankungen oder Schlaganfälle im jungen Alter. In der erweiterten Medikamentenanamnese berichtete der Patient, dass er seit drei Wochen von einem neuen Neurologen mit Sulpirid gegen sein bestehendes TS behandelt wurde. Innerhalb dieser drei Wochen wurde Sulpirid schnell aufdosiert (auf bis zu 800 mg täglich). Aus diesem Grund wurde eine Sulpirid induzierte Dystonie vermutet, welche klinisch durch die dystonische und klo- nische Tics des bekannten TS überlagert wurde. Die Einnahme von weiteren Medikamente wurde von dem Patient verneint. Unter Mo- nitorüberwachung mittels Puls- und Blutdruckmessung sowie kon- tinuierliche Ableitung eines Elektrokardiogramms, wurde eine lang- same intravenöse Gabe von 5 mg Biperiden (Anticholinergikum) verabreicht. Innerhalb von 60 Sekunden nach Biperidengabe bil- deten sich sämtliche Symptome (Sprechstörung, Schwäche der lin- ken oberen Extremität sowie die Zervikal- und Nackenschmerzen), bis auf die bekannte TS-Symptomatik, zurück. Aufgrund der zeitli- chen Korrelation mit der Sulpirideinnahme wurde dieses Mittel ab- gesetzt. Die Elektroenzephalographie ergab einen normalen Alpha Grundrhythmus ohne Hinweis auf Herdbefunde oder epilepsiety- pischen Potentiale. Der Patient entwickelte keine weiteren Symp- tome mehr und wurde am folgenden Tag entlassen. Diskussion Bei diesem Fall zeigt sich einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Sulpirid und der Entwicklung einer Dystonie, wel- che die zervikale Region und die Larynxmuskulatur betraf und die Motorik der linken oberen Extremität beeinfl usste. Die okulomo- torische Untersuchung, welche hier unauff ällig ausfi el, ist in sol- chen Fällen unerlässig, da Sulpirid als Nebenwirkung okulogyre Kri- sen verursachen kann. Okulogyre Krisen können somit diagnostisch wegweisend sein, sollten aber nicht mit okulären Tics verwechselt werden. Ein kausaler Zusammenhang nach dem Algorithmus zur Bewer- tung der Kausalität der WHO [ 1 ] , nach den Defi nitionen von Ed- wards und Aronson [ 2 ] sowie nach dem Naranjo-Algorithmus [ 3 ] wird als „möglich“ oder sogar als „wahrscheinlich“ eingestuft. Aus ethischen Gründen wurde eine erneute Gabe von Sulpirid (als Be- handlungsmöglichkeit) ausgeschlossen. Sulpirid wird sehr häufi g für die Behandlung von TS und anderen Tic-Störungen verwendet [ 4 ] . In diesem Fall wurde Sulpirid auf 800 mg pro Tag innerhalb von drei Wochen aufdosiert, anstelle einer initialen Dosierung von 50– Aufl istung von Antipsychotika, die eine Dystonie als uner- ▶Tab. 1 wünschte Arzneimittelwirkung verursachen können (adaptiert von Research Foundation Canada) [ 9 ] . Antipsychotika, welche Dystonien als Nebenwirkungen verursa- chen können Acetophenazin Amoxapin Chlorpromazin Fluphenazin Haloperidol Loxapin Mesoridazin Metoclopramid Molindone Perphenazin Piperacetazine Prochlorperazin Promazin Promethazin Thiethylperazin Thioridazin Thiothixen Trifl uoperazin Trifl upromazin Trimeprazin 100 mg täglich und einer langsamen Aufdosierung über mehrere Wochen hinweg [ 5 ] . Wir postulieren, dass die zu schnelle Sulpirid- Aufdosierung als relevanter Faktor für die Entwicklung der Dysto- nie zu bewerten ist. In der Literatur sind Einzelfälle berichtet, bei denen Sulpirid auch zu gravierenden unerwünschten Wirkungen geführt hat: In einem Fall wurde eine tardive Dyskinesie bei einem TS Patienten durch eine fünf Jahre lange Sulpirid-Einnahme ausgelöst [ 6 ] . Ein noch stärkerer Hinweis für den kausalen Zusammenhang ist die Tatsache, dass Bi- periden intravenös, welches zur Behandlung von Antipsychotika in- duzierten akuten Dystonien zugelassen ist [ 7 ] , zur schnellen und kompletten Rückbildung der erwähnten Symptome führte. Martino et al. führte eine Meta-analyse über 316 randomisierte kontrollierte Studien aus Kanada und England hinsichtlich der Prä- valenz von neu aufgetretener Dystonie unter Verwendung diverser Antipsychotika, unter anderem Sulpirid. Hier zeigte sich eine 15,3 % Prävalenz von Dystonien unter Sulpirid [ 8 ] . Weitere Antipsychoti- ka können ebenfalls zu einer Dystonie, im Rahmen unerwünschter Arzneimittelnebenwirkungen, führen ( ▶ Tab. 1 ). Unser Fall ist von besonderem Interesse für Neurologen und Psy- chiater, da er hervorhebt, dass bei der Behandlung von TS mit Sul- pirid die Möglichkeit der Entwicklung einer Dystonie in Betracht gezogen werden sollte. Aus diesem Grund ist es aus unserer Sicht wichtig, dass besonders junge Neurolog*innen auf solche akut- Abdelnaby R et al. Sulpirid induzierte Dystonie in … Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 60 – 62 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 61

Fort- und Weiterbildung Nichtinvasive Hirnstimulationsverfahren in der Psychiatrie Tobias Schwippel , Christian Plewnia In der Behandlung psychischer Erkrankungen bietet die Gruppe der nichtinvasiven Hirnstimulationsverfahren einen auf neurophysiologischen Erkenntnissen basie- renden und integrativen Ansatz. Einige der Stimulationsverfahren sind für spezifi - sche psychiatrische Indikationen bereits wissenschaftlich sehr gut untersucht und haben sich weltweit in der Therapie etabliert. So hat die transkranielle Magnetsti- mulation (TMS) zur Behandlung der therapierefraktären Depression in den USA bereits seit 2008 eine Zulassung der Food and Drug Administration (FDA). In Europa und speziell in Deutschland wird TMS jedoch selbst im universitären Rahmen nicht fl ächendeckend angeboten. Der nachfolgende Artikel beschreibt die zur Verfügung stehenden Technologien und deren biologische Wirkmechanismen, skizziert die klinische Indikationsstellung und Anwendung der TMS und fasst die klinische Evidenz zusammen. Er orientiert sich an den kürzlich veröff entlichen Leitlinien zur therapeutischen Nutzung nichtinvasiver Hirnstimulation [ 1 – 3 ] . Begriff sklärung: Nichtinvasive Hirnstimulationsverfahren Der Terminus der nichtinvasiven Hirnstimulation fasst Ver- fahren zusammen, bei denen – in Abgrenzung zur intra- kraniellen Applikation von Strom in Form von tiefer oder kortikaler Hirnstimulation ( ▶ Abb. 1 ) – die Energie ohne Eröff nung des Schädels, also nichtinvasiv, appliziert wird. Die Stimulation erfolgt durch Anlegen von Elektroden auf die Kopfhaut oder durch kurze magnetische Impulse und der damit verbundenen elektromagnetischen Induktion eines elektrischen Feldes im Gehirn. Das älteste Verfahren stellt die Elektrokonvulsionsthera- pie (EKT) dar. Deren Wirksamkeit bei Depressionen und Schizophrenie ist umfassend nachgewiesen [ 4 ] . Die EKT wird bei therapieresistenter Depression und Schizophre- nie in entsprechend spezialisierten Zentren routinemäßig angewandt. Die Nachteile des Verfahrens sind die Abhän- gigkeit von einer Narkose und die kognitiven Nebenwir- kungen. Neuere, nichtinvasive Verfahren ermöglichen es, die ap- plizierte Gesamtenergie zu reduzieren und zu fokussieren. Durch die gezielte Stimulation ist es möglich, die Aktivität krankheitsrelevanter neuronaler Netzwerke gezielt und kontrolliert zu modulieren ( ▶ Abb. 2 ). Unter der Vielzahl der Methoden sind die transkranielle Magnetstimulation (TMS) und die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS) klinisch relevant. ABKÜR ZUNGEN dorsolateraler präfrontaler Kortex dlPFC hf-rTMS high-frequency rTMS low-frequency rTMS lf-rTMS maximaler Stimulator-Output MSO repetitive transkranielle rTMS Magnetstimulation transkranielle Wechselstromstimulation Theta-burst-Stimulation transkranielle Gleichstromstimulation transkranielle Magnetstimulation transkranielle random noise Stimulation tACS TBS tDCS TMS tRNS Transkranielle Magnetstimulation (TMS) Grundlagen des Wirkmechanismus Die TMS ist ein seit 1985 bekanntes Verfahren, bei dem ein zeitveränderliches magnetisches Feld durch elektromag- netische Induktion ein elektrisches Feld erzeugt [ 6 ] . Letz- teres aktiviert spannungsabhängige Ionenkanäle und de- polarisiert die Neuronen. Bei der TMS wird in einer auf die Kopfhaut aufgesetzten Spule ein magnetisches Feld generiert. Dieses durchdringt den Schädel und induziert das intendierte elektrische Feld im Kortex. Da der Strom weder Schädelknochen noch Haut durchdringen muss, ist das Verfahren gut verträglich. Das Schwippel T et al. Nichtinvasive Hirnstimulationsverfahren in… Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 63 – 79 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 63

Eine Weiterentwicklung der rTMS mit dem Ziel, tiefere ze- rebrale Strukturen zu erreichen, ist die deep TMS . Unter Verwendung einer modifi zierten Magnetspule, die sich helmartig um den Kopf des Patienten stülpt (H1 Spule), gelingt – bei geringer Fokalität – eine Induktion des elek- trischen Feldes in bis zu 6 cm Tiefe. Die Magnetkrampftherapie (MKT) ist eine krampfi ndu- zierende Variante der transkraniellen Magnetstimulation. Durch den Nutzen der elektromagnetischen Induktion und Umgehung des anatomisch bedingten elektrischen Wider- stands kann im Vergleich zur EKT eine geringe Energie- menge verwendet werden. Dies kann begründen, warum neurokognitive Defi zite nach MKT off enbar seltener als nach EKT auftreten. Die Wirksamkeit und Verträglichkeit dieses Verfahrens wird derzeit noch in klinischen Studien untersucht. Nebenwirkungen der rTMS Die Nebenwirkungen der rTMS sind aufgrund der kurzen und fokalen Anwendung zumeist mild. Bei der Stimula tion selbst kommt es neben einem leichten Stechen in Abhän- gigkeit von der Stimulationslokalisation meistens zu eher unangenehmen Muskelzuckungen der Schädel- und Au- genmuskulatur. Nach einer kurzen Adaptationsphase sind diese Begleiterscheinungen von der weit überwiegenden Zahl der Patienten gut zu tolerieren. Darüber hinaus geben Patienten gelegentlich leichte transiente Kopfschmerzen und Nackenschmerzen sowie postinterventionelle Müdig- keit als Nebenwirkungen an. Dem lauten Klickgeräusch bei der Abgabe eines Stimulationspulses sollte durch einen Gehörschutz (Ohrstöpsel) entgegengewirkt werden. Merke Die gravierendste mögliche Nebenwirkung ist die Induktion eines Krampfanfalls, insgesamt ist dieses Risiko jedoch sehr gering. FALLBEISPIEL Anamnese Der 53-jährige Herr M. erscheint erstmalig in einer psychiatrischen Praxis. Er berichtet, innerhalb der letzten 10 Jahre unter mehreren „schlimmen Phasen“ gelitten zu haben. Aktuell gehe es ihm seit ca. 3 Monaten schlecht. Bei der weiteren Exploration beschreibt Herr M. für die aktuelle und die vorangehenden Episoden eine Einschlafstörung mit begleitenden Ruminationen, einen leichten Gewichtsverlust bei Inappetenz, eine gedrückte Stimmung und eine Reduktion seines Antriebs. Er müsse sich morgens sehr anstrengen, um ins Büro zu gelangen. Dort sei er lustlos und nicht produktiv. Er könne kaum seine Leitungsposition ausfüllen, fühle sich überfordert. Auch aus dem Familien- und Sozialleben habe sich der studierte Ingenieur zurückgezogen. Lebensmüde Gedanken bestünden nicht, darüber hinaus besteht kein Hinweis auf ein wahnhaftes Erleben. In der Vergangenheit nahm der Patient bei einer ähnlichen Symptomatik Urlaub und konnte nach spätestens 4 Wochen erneut arbeiten. Aufgrund der Corona-Pandemie musste Herr M. jedoch seinen Urlaub bereits betriebsbe- dingt nehmen. Das aktuelle Home-Offi ce habe ihn zunächst entlastet, jedoch fehle ihm der Kontakt zu den Mitarbeitern und die Tagesstruktur. Herr M. berichtet, von seinem Hausarzt Lorazepam und Citalopram verschrieben bekommen zu haben. Lorazepam, das er bei Bedarf einnehme, entspanne ihn sehr. Sie stellen die Diagnose einer rezidivierend depressiven Erkrankung mit gegenwärtig mittelgra- diger Episode. An einer zusätzlichen medikamentö- sen Therapie ist der Patient nicht interessiert. Nach einer psychotherapeutischen Behandlung hat sich der Patient bereits umgeschaut. Es bestehen jedoch mehrmonatige Wartezeiten. Ein Klinikaufenthalt kommt für Herrn M. nicht infrage. Die meisten in der Literatur berichteten Krampfanfälle stammen aus der Anfangszeit der rTMS, in welcher mit hö- herer Stimulationsintensität behandelt wurde. Vor dem Hintergrund der vielen veröff entlichten Studien mit Tau- senden von Probanden und der umfassenden klinischen Erfahrung mit der Methode ist das Risiko, einen epilepti- schen Anfall auszulösen, bei Beachtung der Sicherheitsas- pekte und der entsprechenden Empfehlungen sehr gering. Eine kürzlich erschienene Arbeit beziff erte die Auftretens- wahrscheinlichkeit eines unter Beachtung der Leitlinien auftretenden epileptischen Anfalls auf 1/60000 rTMS-An- wendungen [ 8 ] . Das Risiko für einen epileptischen Anfall steigt, wenn eine Epilepsie vorbekannt ist, epileptogene Medikamente eingenommen werden oder strukturelle Schäden des Gehirns vorliegen. Da rTMS häufi g im ambulanten Kontext angewandt wird, ist für viele Patienten die Anreise mit dem eigenen Auto notwendig. Bisher liegen keine Hinweise für eine spezifi sch durch rTMS verursachte Beeinträchtigung der Fahrtaug- lichkeit vor, die jedoch immer individuell beurteilt werden sollte. Kontraindikationen der rTMS Als absolute Kontraindikation für eine rTMS-Behandlung gilt das Vorhandensein von nicht entfernbarem ferromag- netischem Material im Kopfbereich. Dies schließt implan- Schwippel T et al. Nichtinvasive Hirnstimulationsverfahren in… Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 63 – 79 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 65

PR A XISTIPP Eine einfache Methode, die Stimulationslokalisation für Depression zu fi nden, ist der Beam F3 Algorith- mus. Zu fi nden unter http://clinicalresearcher.org/ F3/calculate.php Die nahezu unbegrenzte Zahl der möglichen Behandlungs- parameter ermöglicht einerseits die Individualisierung der Therapie, erschwert jedoch die systematische Wirksam- keitsprüfung. Die wichtigsten Stimulationsparameter sind: ▪ Stimulationslokalisation ▪ Stimulationsprotokoll ▪ Stimulationsintensität ▪ Anzahl Stimulationsbehandlungen Stimulationslokalisation Die Auswahl der Stimulationslokalisation richtet sich immer nach neurophysiologischen Erkenntnissen bezüg- lich der Zielsymptomatik. Der Nachweis von Veränderun- gen des Aktivitätsniveaus spezifischer Hirnareale oder funktioneller Störungen kortikaler und subkortikaler Netz- werke führt zu hypothesengestützten Interventionen und klinischen Studien. Stimulationsprotokoll Ziel der therapeutischen Stimulation ist eine über die ei- gentliche Stimulationsdauer hinausgehende Modulation der kortikalen Exzitabilität und Plastizität. Die zeitliche An- ordnung der Stimulationspulse und die Dauer ihrer Anwen- dung entscheiden über die Richtung der Exzitabilitätsän- derung. Bekannte rTMS-Protokolle mit jeweils zahlreichen Modifi kationsformen sind: ▪ High-frequency rTMS (hf-rTMS). 10 Stimulationspul- se/Sekunde = 10 Hz für 4 s, dann Stimulationspause von 26 s. Insgesamt 3000 Stimulationspulse. Stimulationsdauer von 37,5 min. Durch hf-rTMS kann die neuronale Aktivität der kortikalen Zielstruktur gezielt gesteigert werden. Klinische Anwendung fi ndet diese Art der Stimulation vor allem bei Depressionen. ▪ Low-frequency rTMS (lf-rTMS). 1 Stimulationspuls/Se- kunde = 1 Hz kontinuierlich für 26 min 40 s. Insgesamt werden 1600 Stimulationspulse appliziert. Ziel ist die kortikale Inhibition. Durch lf-rTMS kann die neuronale Aktivität der kortikalen Zielstruktur gezielt reduziert werden. Anwendung fi ndet die lf-rTMS bei Depressio- nen und akustischen Halluzinationen. ▪ Continuous theta burst Stimulation (cTBS). Gruppen von 3 Stimulationspulsen („bursts“ von 50 Hz) werden mit einer Frequenz von 5 Hz appliziert. Insgesamt werden 600 Stimulationspulse kontinuier- lich abgegeben. Stimulationsdauer von 40 s. cTBS bewirkt überwiegend eine Senkung der kortikalen Erregbarkeit. ▪ Intermittent theta burst Stimulation (iTBS). Gruppen von 3 Stimulationspulsen („bursts“ von 50 Hz) werden mit einer Frequenz von 5 Hz appliziert. Nach 10 „bursts“ (2 s) erfolgt eine Pause für 8 s. Insgesamt werden 600 Stimulationspulse in einer Zeit von 190 s abgegeben. iTBS bewirkt überwiegend eine Steige- rung der kortikalen Erregbarkeit. CHECKBOX Checkliste für eine rTMS-Behandlung Anamnese ▪ Vorherige rTMS-Behandlung; Nebenwirkungen ▪ metallische Implantate im Kopfbereich (Aneurysma-Clip, Cochlea-Implantat, THS-Elektroden) ▪ Schlaganfälle, Hirnoperationen, schweres Schädel-Hirn-Trauma ▪ neurologische Erkrankungen ▪ elektrische Implantate (Herzschrittmacher) ▪ Epilepsie/Krampfanfälle ▪ Schwangerschaft ▪ Hörschädigung ▪ aktuelle Medikation/Krampfschwellen- modulierende Medikation ▪ Suchtanamnese: Intoxikation oder Entzug Vor der Behandlung ▪ Indikationsstellung und Abwägung Nutzen/Risiko ▪ Entscheidung über das TMS-Protokoll ▪ Patientenaufklärung ▪ schriftliche Einwilligungserklärung ▪ Lokalisation der Stimulationsorte ▪ Motorschwellenbestimmung Während der Behandlung ▪ wöchentliche ärztliche Verlaufskontrolle ▪ Wirkung psychometrisch erfassen z. B. Montgomery- Åsberg Depression Rating Scale (MADRS) und Beck Depression Inventory (BDI-II) ▪ Nebenwirkungen erfragen ▪ Behandlungsdauer anpassen Merke Der Einsatz hemmender oder erregender repetitiver TMS richtet sich nach den pathophysiologischen Erkenntnissen über eine psychiatrische Erkrankung. Stimulationsintensität und Bestimmung der Motorschwelle Die Stärke des transkraniellen magnetischen Stimulus wird in Prozenten des maximalen Stimulator-Outputs (MSO) Schwippel T et al. Nichtinvasive Hirnstimulationsverfahren in… Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 63 – 79 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 67

Evidenzgrad A (defi nitiver Eff ekt) nachgewiesen. Dies führ- te bereits 2008 zur Zulassung durch die amerikanischen Behörden. Eine Netzwerk-Metaanalyse mit insgesamt 4233 inkludierten depressiven Patienten unterstrich eben- falls die Wirksamkeit [ 11 ] . Das Odds Ratio der hf-rTMS Be- handlung liegt bei 3, d. h. unter der hf-rTMS Behandlung ist die Chance, zu respondieren, 3-mal so hoch wie unter einer Placebo-Behandlung. Auch eine aktuelle Netzwerk- Metaanalyse bestätigt die Wirksamkeit mit ähnlicher Wirk- stärke [ 12 ] . Im Vergleich hierzu liegt das Odds-Ratio bei pharmakologischer Behandlung zwischen 1 und 2 [ 13 ] . Ein weiterer Ansatz in der Depressionsbehandlung ist die Verminderung der Aktivität des rechten dlPFC. Dies kann durch lf-rTMS erreicht werden. Analog zur hf-rTMS erfolgt die lf-rTMS werktäglich über 3-6 Wochen. Die Stimulationsdauer beträgt knapp 27 Mi- nuten mit 1600 Stimulationspulsen. Dieses Verfahren wird jedoch aufgrund schlechterer Studienlage erheblich selte- ner eingesetzt. Dennoch besitzt die lf-rTMS einen Evidenz- grad B (wahrscheinlicher Eff ekt), was sich auch metaana- lytisch bestätigt. Allerdings deuten Studien, welche beide Stimulationsarten direkt vergleichen, auf eine ähnliche Wirksamkeit hin, wenn die gleiche Anzahl an Stimulations- pulsen appliziert wurde [ 14 ] . Die Anwendung beider Stimulationsprotokolle (hf-rTMS und lf-rTMS) kann innerhalb einer Sitzung nacheinander erfolgen. Allerdings dauerte eine therapeutische rTMS- Sitzung dann über eine Stunde, was für die Patienten be- lastend ist und zu einer ressourcenintensiven Behandlung führt. Der Evidenzgrad für eine bilaterale rTMS-Behand- lung entspricht einem Evidenzgrad B (wahrscheinlicher Ef- fekt) und das metaanalytisch kalkulierte Odds-Ratio liegt bei circa 4 [ 11 ] . Da direkte Vergleiche zwischen bilateraler rTMS und hf-rTMS des linken dlPFC keine Überlegenheit der bilateralen Behandlung zeigten, wird in der Regel pri- mär die hf-rTMS zur Behandlung einer Depression einge- setzt (s. ▶ Abb. 4 ). Merke Eine Erhaltungstherapie eignet sich bei Patienten mit initialer Wirkung der rTMS. Neuere rTMS-Protokolle bei Depressionen Die vorgestellten rTMS-Protokolle, namentlich lf-rTMS und hf-rTMS, sind wirksam in der Behandlung der Depression. Die Eff ektstärke ist moderat und durchaus vergleichbar mit einer antidepressiven Medikation. Circa 30-50 % der Patienten respondieren auf die rTMS-Behandlung. Eine der Bemühungen, die Eff ektivität der Behandlung zur erhö- hen, ist deep TMS, eine technische Variante, mit der auch tiefere Hirnareale erreicht werden können (siehe Abschnitt Neuere TMSVerfahren). Zwei große Studien konnten einen antidepressiven Eff ekt nachweisen, sodass Evidenzgrad A bitemporale EKT unilaterale EKT (rechts) MKT bilaterale rTMS bilaterale TBS If-TMS (rechter dIPFC) iTBS (linker dIPFC) hf-rTMS (linker dIPFC) tDCS Venlafaxin 0.1 1 10 100 Odds Ratios ▶Abb. 4 Wirksamkeit unterschiedlicher Modalitäten nichtinvasiver Hirnsti- mulation und Venlafaxin zur Behandlung unipolarer Depression. Es sind die 95 %-Konfi denzintervalle grafi sch dargestellt. Wirksamkeit wird als „Respon- se“ defi niert und bedeutet eine Symptomreduktion ≥ 50 %. Das Odds-Ratio gibt die Chance auf Response unter einer Behandlung im Vergleich zur Place- bobehandlung an. Abszisse in logarithmischer Skalierung. Daten der Hirnsti- mulationsverfahren aus [ 12 ] ; Daten für Venlafaxin aus [ 13 ] . (defi nitiver Eff ekt) besteht und die Behandlung in den USA zugelassen ist. FALLBEISPIEL Indikationsstellung und Einleitung der Behandlung Zusammengefasst besteht eine rezidivierend- depressive Episode, gegenwärtig mittelgradig. Die bisherige medikamentöse Behandlung mit Citalopram 10 mg führte zu keiner Besserung. Psychometrisch bestätigten der BDI-II und der MADRS die Verdachtsdiagnose (BDI-II 27 Punkte, MADRS 23 Punkte). Nach Überprüfung der Ausschlusskriterien wird dem Patienten eine rTMS Behandlung über zunächst 3 Wochen (15 Sitzun- gen) angeboten. Aufgrund der besten Evidenzlage wird dem Patienten eine ambulante Behandlung mit hf-rTMS des linken dorsolateralen präfrontalen Kortex (dlPFC) vorgeschlagen. Der Patient wird für jede Behandlungssitzung mit dem Auto anreisen. Die Verwendung der Theta-burst-Stimulation in der Be- handlung von Depressionen hat den Vorteil, ähnliche neu- roplastische Eff ekte wie konventionelle rTMS auszulösen, jedoch in einer signifi kant kürzeren Zeit (iTBS: ca. 3 min, hf-rTMS: ca. 37 min). Die verkürzte Stimulationsdauer der TBS ermöglicht insbesondere die bilaterale Stimulation in einer für den Patienten zeitlich tolerablen Therapiesitzung. Dabei besteht metaanalytische Evidenz für die antidepres- sive Wirksamkeit bilateraler TBS, cTBS des rechten dlPFC und iTBS des linken dLPFC. Der aktuelle Evidenzgrad wird Schwippel T et al. Nichtinvasive Hirnstimulationsverfahren in… Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 63 – 79 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 69

▶Tab. 1 Deutsche Leitlinienempfehlungen zur TMS. Erkrankung Leitlinie Jahr Empfehlung Depression Schizophrenie Akustische Halluzinationen Negativsympto- matik Zwangsstörung Nationale Versorgungsleitlinie (Gültigkeit abgelaufen) 2015 Eine hf-TMS des linken dorsolateralen präfrontalen Kortex kann bei Patienten eingesetzt werden, die primär nicht auf eine antidepressive Pharmakotherapie angesprochen haben. S3-Leitlinie 2019 Beimedikamentöser Behandlungsresistenz sollte eine lf-TMS mit 1 Hz über dem linken Temporallappen bei persistierenden akustischen Halluzinationen im Rahmen eines Gesamtbehand- lungsplans angeboten werden. Beimedikamentöser Behandlungsresistenz kann eine hf-TMS mit 10 / 20 Hz, appliziert über dem linken dorsolateralen präfrontalen Kortex zur Behandlung persistierender Negativsymptome im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans angeboten werden (0). Die Patienten sollten über eine hohe Rate an möglicher Non-Response aufgeklärt werden (KKP). Grad 0 B 0/KKP S3-Leitlinie (Gültigkeit abgelaufen) 2013 TMS soll wegen fehlender Wirksamkeit zur Behandlung von Patienten mit therapierefraktärer Zwangsstörung nicht durchgeführt werden. A Empfehlungsgrade: A: Soll-Empfehlung, B: Sollte-Empfehlung, 0: Kann-Empfehlung, KKP: Klinischer Konsenspunkt.; Die dargestellten Empfehlungen sind zur Veranschaulichung teils leicht gekürzt. Behandlung akustischer Halluzinationen mit rTMS Während der Wahrnehmung akustischer Halluzinationen deuten bildgebende Befunde auf eine Überaktivierung des linken auditorischen Kortex. Darüber hinaus ist ein ganzes Netzwerk weiterer Hirnareale überaktiviert, darunter die anteriore Insula, der präzentrale Gyrus, das Broca- Areal und der Hippocampus [ 17 ] . grund des beträchtlichen Anteils der therapierefraktären Patienten und der guten Verträglichkeit der rTMS gilt in der neuen S3-Leitlinine der Schizophrenie der Empfeh- lungsgrad B (Sollte-Empfehlung) für die lf-rTMS Behand- lung akustischer Halluzinationen im Rahmen eines Ge- samtbehandlungskonzepts bei medikamentöser Behand- lungsresistenz ( ▶ Tab. 1 ). Der Versuch, diese Überaktivität im Bereich des temporo- parietalen Übergangs mit inhibitorischer lf-rTMS zu nor- malisieren, erbrachte vielversprechende, wenn auch noch nicht vollständig konsistente Ergebnisse. Metaanalysen belegten einen insgesamt positiven Eff ekt der lf-rTMS des linken Temporalkortex, wenngleich die Eff ektstärke bei den eingeschlossenen therapieresistenten Patienten mit d = 0,27 als gering einzuschätzen ist [ 18 ] . Es gibt Hinwei- se, dass sich die Faktoren junges Alter und weibliches Ge- schlecht positiv auf die Wirkung der rTMS Behandlung aus- wirken. Inhibitorische cTBS-Protokolle konnten in kleinen Studien die Wirksamkeit bereits nachweisen [ 19 ] , wobei große, multizentrische, placebokontrollierte Studien in Arbeit und erforderlich sind, um zu einer defi nitiven Aussage be- züglich der klinischen Wirksamkeit zu erhalten [ 20 ] . Aktuell besteht der Evidenzgrad C (möglicher Eff ekt) zur lf-rTMS-Behandlung bei akustischen Halluzinationen. Auf- FALLBEISPIEL Behandlungsführung Die Einnahme von Lorazepam wurde 1 Woche vor Behandlungsbeginn beendet. In der ersten Sitzung erfolgt die Bestimmung der motorischen Schwelle des Patienten zur Anpassung der Stimulationsinten- sität. Diese lag bei 42 % MSO. Im Anschluss erfolgt über 37,5 Minuten hf-rTMS des linken dlPFC. Die hf-TMS wird mit 120 % der individuellen motorischen Schwelle durchgeführt, bei Herrn M. somit mit 50 % MSO. Die Stimulation wird problemlos vertragen. Leichte Kopfschmerzen, die einmalig nach der Stimulation auftreten werden mit 400 mg Ibuprofen behandelt. Herr M. berichtet in der 1. Behandlungs- woche von einer leichten Müdigkeit nach der Stimulation und keinerlei Besserung seiner Stim- mung. Auf Nachfrage gibt er jedoch an, sich etwas Schwippel T et al. Nichtinvasive Hirnstimulationsverfahren in… Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 63 – 79 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 71

▶ Tab. 2 Empfehlungen in deutschen Behandlungsleitlinien (Spalte 7) hinsichtlich einer rTMS Behandlung bei psychiatrischen Erkrankungen. Übersicht der Evidenzgrade, abgeleitet aus wissenschaftlichen Studien für verschiedene TMS-Protokolle (Spalten 2-6) und hf-rTMS lf-rTMS bilaterale rTMS deep TMS bilaterale TBS Deutsche Leitlinien (Jahr) Unipolare Depression Negativsymptomatik Akustische Halluzinationen Nikotin-Craving PTBS Zwangsstörung A C – C B – B – C – – C B – – – – – A – – – – – B – – – – – 0 (2015) 0 /KKP (2019) B (2019) – (2015) – (2019) A soll nicht durchge- führt werden (2013) Evidenzgrade (Spalte 2-6): A = defi nitiv wirksam, B = wahrscheinlich wirksam, C = möglicherweise wirksam. Leitlinien Empfehlungen (Spalte 7): A = Soll-Empfehlung, B = Sollte-Empfehlung, 0 = Kann Empfehlung, KKP = Klinischer Konsenspunkt Merke Merke tDCS moduliert die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Aktionspotenzials, löst es jedoch nicht direkt aus. Bei der tDCS gibt es primäre und sekundäre Eff ekte. Die primären Eff ekte treten während der Stimulation im Sinne einer polaritätsspezifi schen Änderung des Ruhemembran- potenzials auf. Vereinfacht kann davon ausgegangen wer- den, dass kathodale Stimulation (d. h. die Kathode über dem kortikalen Zielareal) einen vornehmlich inhibitori- schen Eff ekt auf das darunterliegende kortikale Areal hat, wohingegen die anodale Stimulation hauptsächlich exzi- tatorisch wirkt. Während der anodalen tDCS wird über membranständige Calcium- und Natrium-Kanäle das Ru- hemembranpotenzial moduliert, weshalb die Eff ekte der tDCS durch die Gabe eines Calciumkanalblockers (Fluna- rizin) oder eines Natriumkanalblockers (Carbamazepin) reduziert bzw. aufgehoben werden können. Sekundäre, nach der Stimulation persistierende Eff ekte scheinen zusätzlich von einer Modulation der synaptischen Stärke abhängig zu sein. Diese Eff ekte sind hierbei u. a. vom glutamatergen System abhängig, nachgewiesen durch Anwendung des NMDA-Rezeptorblockers Dextro- methorphan, der die sekundären tDCS-Eff ekte verhindert. Nachweisbar sind Eff ekte einer einmaligen, 15- bis 30-mi- nütigen tDCS-Sitzung bis ca. 60 Minuten nach der Stimula- tion. Stimulationseff ekte, welche deutlich über den eigent- lichen Stimulationszeitpunk hinausgehen und somit von besonderer klinischer Relevanz sind, lassen sich durch wie- derholte Stimulationssitzungen über mehrere Tage erzie- len. Allgemein gilt, dass die Wirkung der tDCS wesentlich von der Grundaktivität der jeweiligen neuronalen Struk- turen abhängig ist. Deshalb kann durch gezielte Aktivie- rung des stimulierten Hirnareals, z. B. durch kognitive Auf- gaben während der Stimulation, der Eff ekt der tDCS ge- lenkt und verstärkt werden. tDCS fördert über die eigentliche Stimulationsdauer hinaus neuroplastische Eff ekte. Neben lokalen Eff ekten ist die Wirkung auf kortikale und subkortikale funktionelle Netzwerke nachgewiesen. Die Verwendung der tDCS hat einige Vorteile: ▪ niedrige Anschaff ungskosten ▪ günstiges Nebenwirkungsprofi l ▪ tragbares Gerät, möglicher Heimgebrauch ▪ Durchführung der Stimulation parallel zu Psychothe- rapie, kognitiver Aufgabe oder Entspannung ▪ Modulation funktioneller Netzwerke Insgesamt ist die Datenlage für die klinische Verwendung der tDCS schlechter als für die rTMS.Die bisher publizier- ten placebokontrollierten Studien sind monozentrisch, so- dass Bedarf an hochqualitativen, großen Studien zur Über- prüfung der Wirksamkeit der tDCS besteht. Die bisherige Evidenz ist in den kürzlich erschienenen Evidenz-basierten Leitlinien zur Wirksamkeit der tDCS in der Behandlung psy- chischer Erkrankungen zusammengefasst [ 2 ] . Neuere Verfahren der transkraniellen elektrischen Stimulation Ein neues technisches Verfahren zur Erhöhung der Fokali- tät ist die high-defi nition tDCS (HD-tDCS). Dabei wird die Elekrodenmontage aufgrund computergestützter Prädik- tionsmodelle der intrazerebralen Verteilung des elektri- schen Felds optimiert ( ▶ Abb. 2 ). Die Applikation von Wechselstrom (transcranial alterna- ting current stimulation, kurz tACS) zielt bei prinzipiell identischer Montage auf einen anderen Wirkmechanis- mus. Während der tACS ist jede Elektrode für einen halben Oszillationszyklus entweder Anode oder Kathode. Im Mit- tel wird das Ruhemembranpotenzial daher – anders als bei Schwippel T et al. Nichtinvasive Hirnstimulationsverfahren in… Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 63 – 79 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 73

LECT-tDCS-Studie mit 120 Patienten verglich die Wirkung von tDCS, Sertralin und tDCS + Sertralin. Es zeigte sich eine Überlegenheit der Kombinationsbehandlung (tDCS + Ser- tralin). Interessanterweise war Sertralin allein der Place- bogabe nicht klinisch überlegen, wohingegen die tDCS- Behandlung eff ektiver als Placebo war. [ 24 ] . Die ELECT- tDCS-Studie mit 245 Patienten verglich tDCS mit Escitalopram in mittel- bis schwergradig depressiven Pa- tienten ohne Vormedikation. Die Nichtunterlegenheit (non-inferiority) der tDCS-Behandlung gegenüber Escita- lopram konnte nicht nachgewiesen werden. Allerdings waren beide Behandlungen wirksamer als die Placebobe- handlung, wenngleich der positive Eff ekt der tDCS zeitlich verzögert auftrat [ 25 ] . Mehrere Metaanalysen schließen auf einen signifi kanten Eff ekt der tDCS auf depressive Sym- ptomatik mit kleiner bis mittlerer Eff ektstärke [ 26 ] . Cave Von einer Anwendung der tDCS mit selbst konstruier- ten Geräten ohne medizinische Supervision oder außerhalb einer konkreten klinischen Indikationsstel- lung ist abzuraten. tDCS bei der Behandlung der Schizophrenie Die zumeist verwendeten Elekrodenmontagen beruhen auf pathophysiologischen Modellen der Schizophrenien. Einer Steigerung der Aktivität der linken temporo-parieta- len Region bei akustischen Halluzinationen wird mit ka- thodaler, inhibitorischer tDCS begegnet. Anodale tDCS der hypoaktiven frontalen Areale wird zur Behandlung der Ne- gativsymptomatik eingesetzt. Akustische Halluzinationen Sechs von sieben der vergleichsweise kleinen, randomi- sierten, kontrollierten Studien mit der Kathode über dem temporo-parietalen Kortex und der Anode links präfrontal zeigten eine Verbesserung der Symptomatik durch tDCS. Teilweise blieb dieser Eff ekt auch Monate nach der eigent- lichen Behandlung bestehen. Zusätzlich existierten Hin- weise darauf, dass die aktuelle antipsychotische Medika- tion den tDCS-Eff ekt beeinfl usst. Zusammengefasst be- steht für die Behandlung akustischer Halluzinationen der Evidenzgrad B (wahrscheinlicher Eff ekt) für anodal links präfontale und kathodal links temporo-parietale tDCS.Der Eff ekt ist dabei eher moderat und es besteht eine hohe Va- riabilität der Behandlungsergebnisse. Ebenso muss zur besseren Einordnung betont werden, dass die genannten Studien an therapierefraktären, teilweise an Clozapin-re- sistenten Patienten durchgeführt worden sind. Allgemein werden mindestens 10 Stimulationssitzungen empfohlen. Ein hohes Alter scheint für den Behandlungserfolg eher nachteilig zu sein, ebenso eine stark ausgeprägte Negativ- symptomatik. Negativsymptomatik In einer kürzlich veröff entlichen Studie untersuchten Vali- engo et al. die Eff ektivität von tDCS als add-on zur medi- kamentösen Behandlung im Vergleich zu einer Scheinsti- mulation bei 100 Patienten mit Negativsymptomen bei Schizophrenie [ 27 ] . Sie führten 10 tDCS-Sitzungen inner- halb von 5 Tagen durch. Die tDCS-Behandlungsgruppe ver- besserte sich psychopathologisch signifi kant. Hinsichtlich der Negativsymptomatik sprachen in der tDCS-Gruppe 40 % der Patienten auf die Behandlung an, im Kontrast hierzu lediglich 4 % in der Gruppe, die eine Placebostimu- lation erhielten. Aktuell besteht für die Behandlung der Negativsymptomatik, unter Berücksichtigung der kürzlich veröff entlichten Studie, der Evidenzgrad B (wahrscheinli- cher Eff ekt). tDCS zur Behandlung weiterer psychischer Erkrankungen Zwangsstörungen Neurophysiologische Studien weisen auf einen Zusam- mengang zwischen Symptomen einer Zwangsstörung und Alterationen kortiko-striato-thalamo-kortikaler Verbin- dungen hin. Durch Stimulation des supplementär motori- schen Areals wird versucht, dieses Netzwerk zu modulie- ren. Die Ergebnisse sind bis dato sehr variabel und es liegt keine Metaanalyse vor. Aktuell besteht Evidenzgrad C (möglicher Eff ekt) für die tDCS-Behandlung mit anodaler Stimulation des prä-supplementär motorischen Kortex. Suchterkrankungen Unter der Annahme, dass bei Suchterkrankung und insbe- sondere während des Cravings eine mangelnde Topdown- Kontrolle vorliegt, wird die Modulation des präfrontalen Kortex als therapeutischer Ansatz genutzt. Die wenigen vorliegenden Studien kombinierten die Stimulation u. a. mit einem impliziten Assoziationstraining oder mit acht- samkeitsbasierten Verfahren. Zusammenfassend besteht Evidenzgrad B (wahrscheinlicher Eff ekt) für anodale tDCS des rechten dlPFC und kathodale Stimulation des linken dlPFC hinsichtlich der Reduktion des Cravings und Rück- fallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit. KERNAUSSAGEN ▪ Die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) kann die Aktivität kortikaler Areale gezielt modulieren und adaptive neuroplastische Prozesse fördern. ▪ Die rTMS ist nebenwirkungsarm und sehr gut verträglich. ▪ Die rTMS Therapiedauer liegt bei 3-6 Wochen und kann mit Pharmako- und Psychotherapie kombi- niert werden. Schwippel T et al. Nichtinvasive Hirnstimulationsverfahren in… Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 63 – 79 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 75

[5] Thielscher A , Antunes A , Saturnino G B . Field modeling for [18] Li J , Cao X , Liu S et al. Effi cacy of repetitive transcranial transcranial magnetic stimulation: a useful tool to understand the physiological eff ects of TMS? Milano . Italy : IEEE EMBS ; 2015 [6] Barker A T , Jalinous R , Freeston I L . Non-invasive magnetic stimulation of human motor cortex . Lancet 1985 ; 325 : 1106 – 1107 magnetic stimulation on auditory hallucinations in schizophrenia: a meta-analysis . Psychiatry Res 2020 ; 113141 [19] Plewnia C , Zwissler B , Wasserka B et al. Treatment of auditory hallucinations with bilateral theta burst stimulation: a randomized controlled pilot trial . Brain Stimul 2014 ; 7 : 340 – 341 [7] Schwippel T , Schroeder P A , Fallgatter A J et al. Clinical review: [20] Plewnia C , Brendel B , Schwippel T et al. Treatment of The therapeutic use of theta-burst stimulation in mental disorders and tinnitus . Prog Neuro-Psychopharmacol Biol Psychiatry 2019 ; 92 : 285 – 300 [8] Lerner A J , Wassermann E M , Tamir D I . Seizures from transcranial magnetic stimulation 2012-2016: Results of a survey of active laboratories and clinics . Clin Neurophysiol 2019 ; 130 : 1409 – 1416 [9] Vigod S N , Murphy K E , Dennis C-L et al. Transcranial direct current stimulation (tDCS) for depression in pregnancy: A pilot randomized controlled trial . Brain Stimulation 2019 ; 12 : 1475 – 1483 [10] Plewnia C , Schroeder P A , Wolkenstein L . Targeting the biased brain: non-invasive brain stimulation to ameliorate cognitive control . Lancet Psychiatry 2015 ; 2 : 351 – 356 [11] Brunoni A R , Chaimani A , Moff a A H et al. Repetitive transcranial magnetic stimulation for the acute treatment of major depressive episodes: a systematic review with network meta-analysis . JAMA Psychiatry 2017 ; 74 : 143 – 152 [12] Mutz J , Vipulananthan V , Carter B et al. Comparative effi cacy and acceptability of non-surgical brain stimulation for the acute treatment of major depressive episodes in adults: systematic review and network meta-analysis . Br Med J 2019 ; 364 : . doi: 10.1136/bmj.l1079 [13] Cipriani A , Furukawa T A , Salanti G et al. Comparative effi cacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis . Focus 2018 ; 16 : 420 – 429 [14] Chen J , Zhou C , Wu B et al. Left versus right repetitive transcranial magnetic stimulation in treating major depression: a meta-analysis of randomised controlled trials . Psychiatry Res 2013 ; 210 : 1260 – 1264 [15] Blumberger D M , Vila-Rodriguez F , Thorpe K E et al. Eff ectiveness of theta burst versus high-frequency repetitive transcranial magnetic stimulation in patients with depression (THREE-D): a randomised non-inferiority trial . Lancet 2018 ; 391 : 1683 – 1692 [16] Kozel F A , Motes M A , Didehbani N et al. Repetitive TMS to augment cognitive processing therapy in combat veterans of recent confl icts with PTSD: a randomized clinical trial . J Aff ect Disorders 2018 ; 229 : 506 – 514 [17] Jardri R , Pouchet A , Pins D et al. Cortical activations during auditory verbal hallucinations in schizophrenia: a coordinate- based meta-analysis . Am J Psychiatry 2011 ; 168 : 73 – 81 auditory hallucinations with bilateral theta burst stimulation (cTBS): protocol of a randomized, double-blind, placebocon- trolled, multicenter trial . Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 2018 ; 268 : 663 – 673 [21] Wobrock T , Guse B , Cordes J et al. Left prefrontal high- frequency repetitive transcranial magnetic stimulation for the treatment of schizophrenia with predominant negative symptoms: a sham-controlled, randomized multicenter trial . Biol Psychiatry 2015 ; 77 : 979 – 988 [22] Nitsche M A , Paulus W . Excitability changes induced in the human motor cortex by weak transcranial direct current stimulation . J Physiol 2000 ; 527 : 633 [23] Reinhart R M , Nguyen J A . Working memory revived in older adults by synchronizing rhythmic brain circuits . Nature Neurosci 2019 ; 22 : 820 – 827 [24] Brunoni A R , Valiengo L , Baccaro A et al. The sertraline vs electrical current therapy for treating depression clinical study: results from a factorial, randomized, controlled trial . JAMA Psychiatry 2013 ; 70 : 383 – 391 [25] Brunoni A R , Moff a A H , Sampaio-Junior B et al. Trial of electrical direct-current therapy versus escitalopram for depression . N Engl J Med 2017 ; 376 : 2523 – 2533 [26] Razza L B , Palumbo P , Moff a A H et al. A systematic review and meta-analysis on the eff ects of transcranial direct current stimulation in depressive episodes . Depression and Anxiety 2020 ; 594 – 608 [27] Valiengo LDCL , Goerigk S , Gordon P C et al. Effi cacy and Safety of Transcranial Direct Current Stimulation for Treating Negative Symptoms in Schizophrenia: A Randomized Clinical Trial . Jama Psychiatry 2020 ; 77 : 121 – 129 Bibliografie 10.1055/a-1680-7075 0720-4299 Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 63 – 79 DOI ISSN © 2022 . Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag , Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Schwippel T et al. Nichtinvasive Hirnstimulationsverfahren in… Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 63 – 79 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 77

Fragen und Antworten | CME Punkte sammeln auf CME.thieme.de Fortsetzung … Frage 7 Welche Aussage hinsichtlich der aktuellen S3-Leitlinine Schizophrenie stimmt? A Bei visuellen Halluzinationen sollte eine hf-rTMS B C Behandlung eingesetzt werden Die lf-rTMS sollte im Rahmen eines Gesamtbehand- lungsplans bei therapieresistenten akustischen Halluzinationen angeboten werden. Eine Kombination von rTMS und EKT wird bei Katatonie empfohlen. D TBS kann zur Behandlung eines Dermatozoenwahns E eingesetzt werden. tDCS sollte zur Behandlung der Akathisie eingesetzt werden. Frage 8 Welche Aussage hinsichtlich einer üblichen hf-rTMS Behandlung bei Depression stimmt? A Ein Behandlungseff ekt ist bereits nach der ersten B C Sitzung zu erwarten. Eine Kombination von rTMS und Pharmakotherapie ist ausgeschlossen. Vor der rTMS Behandlung muss ein cMRT angefertigt werden. D Circa 40 % der Patient_innen bricht die Behandlung E auf Grund von Nebenwirkungen ab. Eine typische Behandlungsdauer liegt bei 3-6 Wochen. Frage 9 Welche Aussage ist richtig? Die Bestimmung der motorischen Schwelle vor einer TMS Behandlung. A liefert bei jedem TMS-Gerät dasselbe Ergebnis. B beginnt mit der niedrigsten am Gerät möglichen Intensität. ist nicht abhängig von einer Medikamenteneinnahme. C D ist notwendig zur Bestimmung der individuellen Stimulationsintensität. geschieht ausschließlich mittels Elektromyografi e. E Frage 10 Was stimmt hinsichtlich neuerer rTMS-Stimula- tionsprotokolle zur Behandlung der Depression nicht? A Eine bilaterale Stimulation des dorsolateralen b C präfrontalen Kortex in einer Behandlungssitzung ist möglich. Mit deep TMS können auch tiefere Hirnareale stimuliert werden. Ergebnisse deuten darauf hin, dass TBS in der Depressionsbehandlung konventioneller rTMS nicht unterlegen ist. D Ziel neuer rTMS-Protokolle ist es die Eff ektivität und E Effi zienz der Stimulation zu erhöhen. Die Applikation von Theta-Burst-Stimulation erfordert mehr Zeit als die konventioneller hf-rTMS. Schwippel T et al. Nichtinvasive Hirnstimulationsverfahren in… Fortschr Neurol Psychiatr 2022 ; 90 : 63 – 79 | © 2022 . Thieme. All rights reserved. 79

Impressum Impressum Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 90. Jahrgang Die Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie erscheint mit 12 Ausgaben in 10 Heften pro Jahr. ISSN (Print): 0720-4299, eISSN: 1439-3522 Copyright & Ownership Wenn nicht anders angegeben: © 2022. Thieme. All rights reserved. Die Zeitschrift Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie ist Eigentum von Thieme. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Herausgebergremium Prof. Dr. M. Dieterich, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Neurologie, LMU München, Marchioninistr. 15, 81377 Mün- chen, E-Mail: direktion.neurologie@med.uni-muenchen.de. Prof. Dr. P. Falkai (Schriftleitung), Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Ludwig-Maximilians-Universität München, Nussbaumstr. 7, 80336 München, E-Mail: peter.falkai@med. uni-muenchen.de. Prof. Dr. W. Gaebel, LVR-Klinikum Düs- seldorf, Bergische Landstr. 2, 40629 Düsseldorf, E-Mail: wolfgang.gaebel@lvr.de. Prof. Dr. J. Kuhn (Managing Editor), Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinik Köln, E-Mail: jens.kuhn@uk-koeln.de. Prof. Dr. J. Klosterkötter, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Univ. zu Köln, Kerpener Straße 62, 50924 Köln, E-Mail: joachim.klosterkoetter@uk-koeln.de. Prof. Dr. H. Reichmann, Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie, Techn. Universität Dresden, Fetscherstr. 74, 01307 Dresden, E-Mail: Heinz.Reichmann@uniklinikum-dresden.de. Prof. Dr. M. Schmauß, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Augsburg, Dr.- Mack-Str. 1, 86156 Augsburg, E-Mail: m.schmauss@bkh- augsburg.de. Prof. Dr. C. Sommer, Neurologische Klinik Universitätsklinikum Würzburg, Josef-Schneider-Str., 97080 Würzburg. E-Mail: mailto:sommer@uni-wuerzburg.de. Prof. Dr. C.-W. Wallesch, Neurologische Klinik, Am Tannwald 1, 79215 Elzach, E-Mail: ClausW.Wallesch@bdh-klinik-elzach.de. Die Herausgeber sind nicht verantwortlich für die Rubrik „Forum der Industrie“ sowie für in der Zeitschrift enthaltene Anzeigen und Beilagen. Verlag Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 301120, 70451 Stuttgart Tel.: +49 711 8931-0, Fax: +49 711 8931-298 www.thieme.de, www.thieme.de/fdnp www.thieme-connect.de/products Web-App: www.thieme.de/eref-app Redaktion im Verlag Sie erreichen die Redaktion unter: fdnp.impressum@thieme.de V.i.S.d.P.: Dr. Volker Hirschel, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart Verantwortlich für den Anzeigenteil Thieme Media Pharmedia Anzeigen- und Verlagsservice GmbH Andreas Schweiger, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 300880, 70448 Stuttgart Tel.: +49 711 8931-245, Fax: +49 711 8931-470 E-Mail: andreas.schweiger@thieme-media.de Produktionsmanagement Tel.: +49 711 8931-451, Fax: +49 711 8931-189 E-Mail: Laura.Diemand@thieme.de Abonnentenservice Wir bitten unsere Abonnenten, Adressänderungen dem Abonnentenservice mitzuteilen, um eine reibungslose Zustellung der Zeitschrift zu gewährleisten. Tel.: +49 711 8931-321, Fax: +49 711 8931-422, https://kundenservice.thieme.de Die Inhalte der Zeitschrift stehen online in Thieme connect zur Verfügung (www.thieme-connect.de/products). Der Zugang ist für persönliche Abonnenten im Preis enthalten. Über kosten- pfl ichtige Zugangsmöglichkeiten und Lizenzen für Institutionen (Bibliotheken, Kliniken, Firmen etc.) informiert Sie gerne unser Institutional Sales Team, E-Mail: esales@thieme.de Warenbezeichnungen und Handelsnamen Marken, geschäftliche Bezeichnungen oder Handelsna men werden nicht in jedem Fall besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Handelsnamen handelt. Informationen für unsere Autoren Manuskripteinreichung unter: http: / /mc.manuscriptcentral.com/fdnp Manuskriptrichtlinien und andere Informationen für Auto- ren entnehmen Sie bitte den Autorenhinweisen unter dem Reiter „Autoren“ auf www.thieme.de/fdnp. Grundsätzlich werden nur solche Manuskripte angenommen, die noch nicht anderweitig veröff entlicht oder zur Veröff entlichung eingerei- cht worden sind. Bitte beachten Sie: Wir können keine Abbildungen annehmen, die bereits in Büchern, Zeitschriften oder elektron ischen Pro- dukten anderer Anbieter publiziert worden sind oder an denen ein Dritter Nutzungsrechte hat (z. B. Arbeitgeber). Der Grund: Auch gegen Lizenzgebühr ist es kaum noch möglich, die Nut- zungsrechte in dem für uns erforderlichen Umfang zu erhalten. Bitte zahlen Sie deshalb keine Lizenzgebühren (z. B. bei „Rights- Link“/Copyright Clearance Center) – auch die Standard-Lizenz- verträge von „Creative Commons“ sind für eine Publikation leider nicht ausreichend. Diese Zeitschrift bietet Autoren die Möglichkeit, ihre Artikel gegen Gebühr inThieme connect für die allgemeine Nutzung frei zugänglich zu machen. Bei Interes- se wenden Sie sich bitte an: fdnp.impressum@thieme.de For users in the USA Authorization of photocopy items for internal or personal use, or the internal or personal use of specific clients, is granted by Georg Thieme Verlag Stuttgart. New York for libraries and other users registered with the Copyright Clearance Center (CCC) Transactional Reporting Service; www.copyright.com. For reprint information in the USA, please contact: journals@thieme.com Bezugspreise 2022* Versandkosten persönliches Abonnement (Gesamtpreis inkl. Versandkosten) institutionelles Abonnement (Gesamtpreis inkl. Versandkosten)** ermäßigtes Abonnement für Ärzte in der Weiterbildung und Studenten (Gesamtpreis inkl. Versandkosten) Inland 48,20 357,00 (405,20) 667,00 (715,20) 191,00 (239,20) Ausland 73,10 357,00 (430,10) 667,00 (740,10) 191,00 (264,10) Einzelheft 50,00 € (D) zuzüglich Versandkosten ab Verlagsort, unverbindlich empfohlener Preis; inkl. der gesetzl. Mwst. Mitglieder des Berufsverbandes Deutscher Nervenärzte erhalten die Zeitschrift im Rahmen ihrer Mitgliedschaft. * in € (D); unverbindlich empfohlene Preise; inkl. der gesetzl. Mehrwertsteuer. Das Abonnement wird zum Jahreswechsel im Voraus berechnet und zur Zahlung fällig. Das Abonnement kann jederzeit begonnen werden. Die Bezugsdauer verlängert sich automatisch jeweils um ein Jahr, wenn bis zum 30. September des Vorjahres keine Abbestellung vorliegt. ** Der institutionelle Jahresbezugspreis inkludiert den Online-Zugriff für einen Standort. Weitere Informationen finden Sie unter https://lp.thieme.de/fachzeitschriften/ijbp/ Wichtiger Hinweis Wie jede Wissenschaft ist die Medizin ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was Behandlung und me- dikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in diesem Heft eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autoren, Herausgeber und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung der Zeitschrift entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applika- tionsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernom- men werden. Jeder Benutzer ist angehalten, durch sorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Präparate und ggf. nach Konsultation eines Spezialisten festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung für Dosierungen oder die Beach- tung von Kontraindikationen gegenüber der Angabe in dieser Zeitschrift abweicht. Eine solche Prüfung ist besonders wich- tig bei selten verwendeten Präparaten oder solchen, die neu auf den Markt gebracht worden sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Autoren und Verlag appellieren an jeden Benutzer, ihm etwa auff al- lende Ungenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind für die Dauer des Urheberrechts ge- schützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfälti- gung und Verbreitung in gedruckter Form, Übersetzung, Über- tragung und Bearbeitung in andere Sprachen oder Fassungen sowie die Einspeicherung und Verbreitung in elektronischen Medienformen (z. B. CD-Rom, DVD, USBSpeicher, Datenbank, cloud-basierter Dienst, e-book und sonstige Formen des elec- tronic publishing) und auch öff entlicher Zugänglichmachung (z. B. Internet, Intranetoder andere leitungsgebundene oder -ungebundene Datennetze), u. a. durch Wiedergabe auf sta- tionären oder mobilen Empfangsgeräten, Monitoren, Smart- phones, Tablets oder sonstigen Empfangsgeräten per Down- load (z. B. PDF, ePub, App) oder Abruf in sonstiger Form etc. Hinweis zu Studien-Referaten Die Autorinnen und Autoren unserer Referate-Rubriken schreiben frei- oder nebenberufl ich für verschiedene Auftrag- geber aus Verlagsbranche, Wissenschaft und Industrie. Bei Fragen zu Interessenkonfl ikten einzelner Autoren wenden Sie sich bitte mit der im Impressum unter „Redaktion“ genannten E-Mail-Adresse an den Verlag. Datenschutz Wo datenschutzrechtlich erforderlich, wurden die Namen und weitere Daten von Personen redaktionell verändert (Tarnna- men). Dies ist grundsätzlich der Fall bei Patienten, ihren An- gehörigen und Freunden, z. T. auch bei weiteren Personen, die z. B. in die Behandlung von Patienten eingebunden sind. Wertschätzende Sprache und geschlechtergerechter Sprachgebrauch Thieme Publikationen streben nach einer fachlich korrekten und unmissverständlichen Sprache. Dabei lehnt Thieme je- den Sprachgebrauch ab, der Menschen beleidigt oder dis- kriminiert, beispielsweise aufgrund einer Herkunft, Behin- derung oder eines Geschlechts. Thieme wendet sich zudem gleichermaßen an Menschen jeder Geschlechtsidentität. Die Thieme Rechtschreibkon- vention nennt Autor*innen mittlerweile konkrete Beispiele, wie sie alle Lesenden gleichberechtigt ansprechen können. Die Ansprache aller Menschen ist ausdrücklich auch dort intendiert, wo im Text (etwa aus Gründen der Leseleichtig- keit, des Text-Umfangs oder des situativen Stil-Empfi ndens) z.B. nur ein generisches Maskulinum verwendet wird. Printed in Germany Satz: MPS Limited, Bangalore (India) Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Fortschr Neurol Psychiatr 2022; 90 | © 2022. Thieme. All rights reserved.