Wissen, worauf es ankommt 25-MAL JÄHRLICH Einstiegspreis für Neuabonnenten Blättern Sie nicht lange • Die DMW kommt für Sie auf den Punkt. „Ticker“ und „Aktuell publiziert“ bringen Nachrichten aus der internationalen Forschung – kompakt und kommentiert. Lösen Sie komplexeste Fälle • Vergegenwärtigen Sie sich alle relevanten Aspekte eines Krankheitsbildes – bis hin zu seltenen Differenzialdiagnosen. Die Rubriken „Dossier“ und „Übersichten“ unterstützen Sie dabei. Erkennen Sie wahre Ursachen • Fallbeispiele und Kasuistiken schärfen Ihren Blick. Mit CME-Beiträgen, Schritt-für-Schritt-Anleitungen und dem Medi-Quiz überprüfen und vertiefen Sie Ihr Wissen. DMW. Zeit gut investiert. © Thieme www.thieme.de/dmw

Inhalt DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift 22. Januar 2021 · 146. Jahrgang · Seite 61–132 ▶ S. 108 O2-Sättigung [%] 100 Sauerstofftherapie in der Notfall- und Intensivmedizin 80 60 40 20 0 0 20 40 60 80 100 O2-Partialdruck [mmHg] Sauerstoff ist das am häufigsten verordnete Medikament im Krankenhaus. Obwohl eine Sauerstofftherapie bei vorliegender Hypoxämie in Notfallsituationen lebens- rettend ist, sind schädigende Effekte im Sinne einer Sauerstofftoxizität bei hohen Sauerstoffkonzentrationen bekannt. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die aktuellen Empfehlungen zur Sauerstoffdosis und -verabreichung. ▶ S. 121 ▶ S. 129 Metformin-Therapie bei operativen Eingriffen und Gabe jodhaltiger Kontrastmittel Das perioperative und das periinterventionelle Management von Metformin bei Verwendung von Kontrastmitteln zu Diagnosezwecken wird in Literatur und Praxis uneinheitlich definiert bzw. gehandhabt. Der Beitrag stellt die verschiedenen Leitlinien und den aktuellen wissenschaftlichen Stand vor. Symbolbild; Quelle: Rassow J. Hormo- nelle Regulation. In: Rassow J, Hauser K, Deutzmann R et al., Hrsg. Duale Reihe Bio- chemie. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2016. doi:10.1055/b-003-129341 COVID-19: Wie änderte sich die Sterblichkeit? – Mortalität von Frauen und Männern in Deutschland und seinen Bundesländern bis Oktober 2020 Zur Sterblichkeit im Zusammenhang mit SARS-CoV-2-Infektionen gibt es noch viele of- fene Fragen. Um bei der Bewältigung der Pandemie „mit viel Sicht fliegen“ zu können, sollten in SARS-CoV- 2/COVID-19-Zeiten Virus-Testergebnisse um epidemiologische Ergebnisse zur Sterblichkeit ergänzt werden. Wichtige Informationen bieten dabei Auswertungen der Mortalität für Frauen und Männer, die das Alter berücksichtigen, und mit angemessener räumlicher Auflösung erfolgen, d. h. in den 16 Bundesländern. Meine App für die DMW Die DMW ist auch mobil für Sie da. Mit der App können Sie … … Ihre DMW bequem zu jeder Zeit und an jedem Ort online und offline lesen. … mit der ausgefeilten Suche schnell und einfach alle Inhalte zu einem Thema finden. Die App enthält auch die vergangenen Ausgaben im Volltext, selbst wenn Sie die Zeitschrift damals noch nicht abonniert hatten. … auch auf andere Thieme Zeitschriften und aktuelle Thieme Bücher zugreifen, die Sie abonniert bzw. gekauft haben. Die eRef App bündelt für Sie alles übersichtlich an einer Stelle. Interessiert? Dann probieren Sie die neue App doch am besten gleich aus – den Zugriff erhalten Sie unter: www.thieme.de/eref-app 62 Dtsch Med Wochenschr 2021; 146 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Herausgeber DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift Schriftleiter Martin Middeke, München Herausgeber Marylyn Addo, Hamburg Mark-Dominik Alscher, Stuttgart Michael von Bergwelt, München Georg Ertl, Würzburg Stefan Frantz, Würzburg Christian Grohé, Berlin Gerhard Hintze, Bad Oldesloe Uwe Janssens, Eschweiler Hendrik Lehnert, Salzburg Elisabeth Märker-Hermann, Wiesbaden Nikolaus Marx, Aachen Cornel C. Sieber, Winterthur Robert Thimme, Freiburg Andreas Ziegler, Davos Beirat Christian Adam, Bamberg Josefina Alvarez Vega, Herzogenrath Ferruh Artunc, Tübingen Jörg Bechtold, Karlsruhe Stephan C. Bischoff, Hohenheim Johannes Borde, Oberkirch Annegrit Decker, Freiburg Louisa Gerhardt, Zürich Ivo Grebe, Aachen Bernhard Grundmann, Aachen Simona Hillen, Aachen Sophie Charlotte Hintze, Hannover Dorothea von Jagow, Ahrensburg Susanne Kaltwasser, Wiesbaden Andreas Klement, Dresden David Klöpfer, Ludwigsburg Giovanni Maio, Freiburg Wolfgang von Meißner, Baiersbronn Anne Minor, Köln Karsten Müssig, Düsseldorf Martin Oberhoff, Calw Severin Schricker, Stuttgart Joachim Stenzel, Ochsenfurt Boris Weber, Ettenheim Schwerpunkt-Herausgeber (Klinischer Fortschritt) Birgit Aßmus, Gießen Ulrich Hoffmann, München Martin Faßnacht-Capeller, Würzburg Ute Hoffmann, Regensburg Karl-Anton Kreuzer, Köln Winfried Kern, Freiburg Reimer Riessen, Tübingen Gunnar Heine, Frankfurt am Main Michael Pfeifer, Regensburg Martin Aringer, Dresden Frank Tacke, Berlin Organ der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) Kontakt: Kerstin Grigoleit, Bad Honnef This journal is regularly listed in Current Contents (CM/LS), Science Citation Index and MEDLINE Verlag www.thieme.de/dmw www.thieme-connect.de/products Kontakt Georg Thieme Verlag KG DMW Rüdigerstraße 14 70469 Stuttgart dmw@thieme.de 64 Dtsch Med Wochenschr 2021; 146 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Ticker Professorinnen in Unterzahl Richter et al. N Engl J Med 2020; doi:10.1056/ NEJMsa1916935 Erhalten in den USA Ärztinnen seltener Professuren als ihre männlichen Kollegen? Daten der Association of American Medi- cal Colleges ergaben, dass die Chance, Professor zu werden, für Frauen deutlich geringer ist als für Männer. Dieser Unter- schied wird immer deutlicher, je höherran- gig die Professur ist. [AS] Gibt es einen Zusammenhang zwischen gesunden Schlafgewohnheiten und Herzinsuffizienz? Symbolbild; Quelle: © stokkete/stock.adobe.com. Depression: Gestörte Pupillenreaktion von Schlaflosigkeit und Tagesmüdigkeit reduzierten das Risiko um jeweils 8 %, 12 %, 17 % und 34 %. [AS] Schneider et al. Brain Sci 2020; doi:10.3390/ brainsci10120906 Hirnphysiologische Prozesse bei Depres- sionen sind bislang nicht gut verstanden. Anhand der Pupillenreaktion ließ sich bei depressiven Patienten nun ein neuroana- tomisch gut abgegrenzter Prozess nach- verfolgen: Bei einer funktionellen MRT- Untersuchung mit Pupillometrie zeigte sich, dass die Hochregulierung und Auf- rechterhaltung der Erregung in Erwartung einer Belohnung bei schwer depressiven Patienten gestört waren. Die Störung war abhängig von der Schwere der Symptome. [AS] Schlaf gut, Herz gesund? Li et al. Circulation 2020; doi:10.1161/CIRCULA- TIONAHA.120.050792 Erwachsene mit gesunden Schlafgewohn- heiten und subjektiv gutem Schlaf haben ein deutlich verringertes Risiko für eine Herzinsuffizienz – und das sogar unabhän- gig von anderen klassischen Risikofakto- ren. Eine Beobachtungsstudie unter Einbe- zug von Daten einer großen Biodatenbank analysierte den Zusammenhang zwischen Schlafmustern und Inzidenz einer Herz- schwäche bei über 400 000 Personen zwi- schen 37 und 73 Jahren. Die Ergebnisse waren deutlich: frühes Aufstehen, eine Schlafdauer von 7–8 Stunden sowie Fehlen Wöchentliche Insulingabe bei Diabetes Rosenstock et al. N Engl J Med 2020; doi:10.1056/ NEJMoa2022474 Die wöchentliche Gabe eines Basalinsulin- Analogs über 26 Wochen kann bei erwachsenen Patienten mit Diabetes mel- litus Typ 2 und schlecht eingestellten Blut- zuckerwerten den HbA1c wirksam und sicher senken. Zu diesem Ergebnis kom- men Rosenstock und Kollegen in ihrer Phase-II-Studie, bei der sie das Analog mit einer täglichen Injektion von Insulin Glar- gin 100 U verglichen. Wirksamkeit und vor allem Sicherheit beider Insuline und In- tervalle waren vergleichbar. Die wöchentli- che Verabreichung könnte daher vor allem für Patienten, die hinsichtlich täglicher In- jektion eine schlechte Compliance zeigen, eine gute Alternative darstellen. [AS] Herzinsuffizienz: neuer Risikomarker Greve et al. JAMA Cardiol 2020; doi:10.1001/ jamacardio.2020.5969 Ein niedriger Plasmaspiegel des Transport- proteins Transthyretin in der Bevölkerung geht mit einem erhöhten Herzinsuffizienz- Risiko einher. Diesen Zusammenhang stellten Greve und seine Arbeitsgruppe auf Basis von 2 Kohortenstudien mit über 16 000 Probanden fest. So litten Proban- den mit einem Transthyretin-Spiegel un- terhalb der 5. Perzentile messbar häufiger unter Herzschwäche als Probanden mit entsprechenden Plasmaspiegeln zwischen der 5. und 95. Perzentile. Obgleich über die genauen Mechanismen dieser Assozia- tion noch wenig bekannt ist, halten die Au- torinnen/Autoren das Transportprotein für einen potenziellen Risikomarker. [AS] Krebs in Corona-Zeiten Van de Poll-Franse et al. JAMA Oncol 2020; doi:10.1001/jamaoncol.2020.6093 Wie nehmen niederländische Krebspatien- ten ihre Versorgungssituation und ihr Wohlbefinden während der Corona-Krise wahr? Online- und Telefonbefragungen er- gaben: Von März bis April 2020 – während der 1. Corona-Welle – stellte jeder dritte befragte Krebspatient Veränderungen der Versorgungssituation fest. Änderungen waren beispielsweise die Verschiebung oder Absage von Behandlungsterminen und Umstellung auf Telefon-/Videobera- tung. Eine Auswertung der langfristigen Auswirkungen der Corona-Krise auf Krebs- patienten ist erforderlich. [AS] Marylyn Addo und Uwe Janssens geehrt Zwei DMW-Herausgeber erhielten kürzlich Auszeichnungen für ihren Einsatz im Zusammenhang mit Covid-19: Prof. Dr. Marylyn Addo, Hamburg, wurde mit dem „German Medical Award“ als Medizinerin des Jahres 2020 gewürdigt; Prof. Dr. Uwe Janssens, Eschweiler, erhielt den „Zu- kunftspreis 2020“ des Verbandes der Lei- tenden Krankenhausärzte (VLK). Das DMW-Team gratuliert! [UM] 66 Dtsch Med Wochenschr 2021; 146 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Aktuell publiziert ELAIN AKIKI IDEAL-ICU STARRT-AKI Studiendesign AKI Schweregrad DE 231 monozentrisch KDIGO AKI 2 + NGAL > 150 ng/ml FR 620 multizentrisch KDIGO AKI 3 Beatmung & / o. Katecholamine FR 466 multizentrisch RIFLE-F AKI früher septischer Schock Septischer Schock 32 % 67 % 100 % Start der Therapie „früh“ vs. „spät“ „späte“ Gruppe ohne Therapie 6 h vs. 25,5 h 2 h vs. 57 h 7,6 vs. 51,5 h 9 % 49 % 38 % 2927 multizentrisch KDIGO AKI 2&3 auf ITS 12 h 38 % IHD / PIRRT / CRRT 0 % / 0 % / 100 % 50 % / ? / ? IHD / PIRRT / CRRT IHD / PIRRT / CRRT Adverse events „früh“ vs. „spät“ Intensivaufenthalt „früh“ vs. „spät“ 90 Tage 39 % vs. 54 % 60 Tage 49 % vs. 50 % Mortalität 90 Tage 60 Tage 90 Tage 58 % vs. 54 % 90 Tage 23 % vs. 17 % 90 Tage 90 Tage Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse rezenter prospektiver randomisierter Studien (ELAIN, AKIKI, IDEAL-ICU und STARRT-AKI). Versuchen erstmals das Leben einer Patien- tin mittels einer 690 min dauernden Dialyse (Blutfluss 116 ml/min) zu retten. 80 Liter Blut wurden von ca. 60 g Harnstoff befreit [1]. Der Harnstoff blieb zusammen mit dem Kreatinin bis heute das am häufigsten ge- nutzte Laborduett, wenn es um die Indika- tionsstellung einer Nierenersatztherapie bei der AKI geht. Wir messen es stellvertretend für 45 niedermolekulare wasserlösliche Urämietoxine und hoffen – zu Unrecht –, dass es auch 22 Mittelmoleküle und 25 pro- teingebundene Urämietoxine repräsentiert. Auch 75 Jahre nach Kolffs erster erfolgrei- cher Dialyse herrscht Unsicherheit darüber, wann eine Nierenersatztherapie auf der In- tensivstation gestartet werden sollte. Wird zu „früh“ gestartet, werden Patienten mög- licherweise durch eine unnötige Therapie geschädigt, die darüber hinaus noch viel Geld kostet (1878,18 € für ZE119.03 – Hä- mofiltration, kontinuierlich > 72 h < 144 h). Wird die Therapie zu „spät“ gestartet, wer- den unter Umständen Menschenleben gefährdet, und dies bei einer Mortalität, die bei Intensivpatienten mit Nierenersatzthe- rapie immer noch 45 % beträgt. In den letzten 14 Jahren wurden 4 prospek- tive randomisierte Studien publiziert, die Veränderungen des Serum-Kreatinins (AKI-Kriterien) allein oder in Kombination mit anderen klinischen oder laborchemi- schen Parametern als Indikationskriterien für eine Nierenersatztherapie miteinander verglichen. Die neueste und größte Studie, die Standard-versus-Accelerated-Initiation- of Renal-Replacement-Therapy-in-Acute- Kidney-Injury (STARRT-AKI)-Studie, unter- suchte mehr Patienten als alle vorherigen Studien zusammen, und dies weltweit. Sie bestätigte die Ergebnisse einer rezenten Metaanalyse aller bisherigen Studien, dass kritisch kranke Patienten nicht per se vom frühen Beginn der Nierenersatztherapie in- nerhalb weniger Stunden nach Erfüllung der AKI-2- und -3-Kriterien profitieren. Anders sieht es bei den Krankenhäusern aus. Diese profitieren, wenn alle Patienten beim Erreichen von AKI 2 und 3 apparativ behan- delt werden. Wer zusätzlich klinische Parameter wie Azidose, Volumenstatus und Kaliumwert oder gar den Willen von Patien- ten mit in die Entscheidung einbezieht, damit die Patientenautonomie stärkt, Res- sourcen schont und Nebenwirkungen der Therapie (z. B. Hypophosphatämie) vermei- det, wird pekuniär bestraft, denn bis zu 50 % der Patienten benötigen bei dieser ab- wartenden Strategie überhaupt kein Nieren- ersatzverfahren (siehe Tabelle). Umgekehrt erfordert diese Strategie eine sehr intensive und engmaschige Verlaufsbeurteilung, da insbesondere eine prognostisch ungünstige Flüssigkeitsakkumulation bzw. -überladung frühzeitig erkannt und ggf. doch mittels Nierenersatztherapie therapiert werden sollte. Der frühe Blut- und Dialysatfluss ist also gut für den Geldfluss – verbessert je- doch nicht klinisch relevante Endpunkte. Es wird sie sicherlich geben, Parameter, die uns den richtigen Zeitpunkt für den Beginn einer Blutreinigung auf der Intensivstation anzeigen. Plasma-NGAL, Marker der Nieren- schädigung wie [TIMP-2]•[IGFBP7] oder vielleicht von Laborwerten unabhängige Parameter wie die bereits verbrachte Zeit auf der Intensivstation. Zum 100. Jahrestag der ersten erfolgreichen Dialyse werden wir sicherlich mehr wissen. 68 Dtsch Med Wochenschr 2021; 146 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Aktuell publiziert Symptome, nicht jedoch aus prognostischer Indikation empfohlen wird [2]. In den letzten Jahren gab es jedoch entscheidende Neue- rungen bei der Behandlung von Vorhofflim- mern, wie beispielsweise die breite Anwen- dung der Katheterablation, die Einführung neuer oraler Antikoagulanzien oder auch von Dronedaron als neues Antiarrhythmi- kum. Es war daher nur konsequent, die Fra- gestellung unter Einbeziehung moderner therapeutischer Strategien neu aufzurollen. Die EAST-AFNET-4-Studie [3] schloss 2789 Patienten mit Vorhofflimmern ein, wobei die Arrhythmie „neu“ sein musste und maximal seit einem Jahr bestehen durfte. Weitere Vo- raussetzung für den Studieneinschluss war ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko mit ei- nem CHA2DS2-VASc-Score von mindestens 2 Punkten. Die Patienten wurden 1:1 rando- misiert, entweder zu einer Standardtherapie (im Wesentlichen Antikoagulation und Beta- blocker) oder in eine frühe Rhythmuskontrol- le, die zusätzlich zur Standardbehandlung eine rhythmusstabilisierende Strategie (Ka- theterablation oder Antiarrhythmika) bein- haltete. Die Patienten wurden 5,1 Jahre nachverfolgt, primärer Endpunkt war der kardiovaskuläre Tod, Schlaganfall sowie Hos- pitalisierung wegen Verschlechterung der Herzinsuffizienz oder wegen akutem Koro- narsyndrom. Überraschenderweise musste die Studie vorzeitig abgebrochen werden wegen klarer Überlegenheit der Rhythmuskontrolle, wo- bei es zu einer relativen Risikoreduktion von 20 % des Auftretens des primären Endpunk- tes kam. Diese war hauptsächlich durch die Reduktion von Schlaganfällen und des kar- diovaskulären Todes getrieben. Kein signifi- kanter Unterschied lag im primären Sicher- heitsendpunkt (Tod, Schlaganfall, schwere Nebenwirkungen der rhythmuserhaltenden Therapie), sodass die Autoren schlussfol- gern, dass eine frühe Rhythmisierung kar- diovaskuläre Endpunkte reduzieren kann und deshalb jedem Patienten mit neu auf- getretenem Vorhofflimmern angeboten werden sollte. Da die Ergebnisse der EAST-AFNET-4-Studie scheinbar in Widerspruch zu den Ergebnis- sen der AFFIRM-Studie von 2002 stehen, lohnt es sich, die wesentlichen Unterschiede der beiden Studien zu betrachten. Erstens wurden in die EAST-Studie nur Pa- tienten mit neu aufgetretenem Vorhofflim- mern eingeschlossen, 38 % hatten bei Studi- eneinschluss ihre Erstdiagnose, im Median lag die Diagnosestellung 36 Tage zurück. Die frühe Behandlung wiederum bedingte einen sehr guten Erfolg der rhythmisieren- den Strategie, mit 82,1 % der Patienten im Sinusrhythmus nach 2 Jahren. Im Gegensatz hierzu befanden sich in der AFFIRM-Studie Patienten, die zum Teil schon jahrelang un- ter Vorhofflimmern litten – die Erkrankung hatte sich schon erheblich chronifiziert und eine Rhythmisierung war oftmals schwer oder auch gar nicht zu erreichen. Zweitens standen zu AFFIRM-Zeiten ledig- lich Vitamin-K-Antagonisten zur Antikoagu- lation zur Verfügung, welche zum Teil been- det wurden, sobald sich der Sinusrhythmus eingestellt hatte. Das Absetzen der Antiko- agulation führte zu einer Häufung von Schlaganfällen in der rhythmuserhaltenden Gruppe. In EAST-AFNET 4 waren 90 % der Patienten mit einem NOAK antikoaguliert, welches auch nach Erreichen des Sinus- rhythmus nicht abgesetzt wurde, was heut- zutage selbstverständlich erscheint. Schließlich kamen in EAST moderne rhyth- musstabilisierende Strategien (Katheterab- lation, Klasse-I-Antiarrhythmika oder Drone- daron) zum Einsatz, während AFFIRM hauptsächlich auf Amidodaron und Sotalol setzte. Die EAST-Studie kann sicherlich als Meilen- stein-Studie betrachtet werden, die unser klinisches Handeln nachhaltig verändern wird. Bemerkenswert ist, dass 30 % der ein- geschlossenen Patienten keinerlei Vorhof- flimmern-bezogene Symptome aufwiesen, aber prognostisch vom Sinusrhythmus pro- fitierten. Eine rhythmusstabilisierende Stra- tegie – „on top“ auf eine Vorhofflimmern- Standardbehandlung – konnte den kardio- vaskulären Tod und Schlaganfälle noch zusätzlich reduzieren, weshalb ein Rhyth- muserhalt bei jedem Patienten mit neu di- agnostiziertem Vorhofflimmern angestrebt werden sollte. Wichtig scheint neben dem frühen Beginn der Behandlung die Wahl ei- ner modernen Strategie (wie z. B. der Kathe- terablation) sowie einer konsequenten Anti- koagulation, wenn möglich mit einem NOAK. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Autorinnen/Autoren Univ.-Prof. Dr. med. Michael Gramlich Medizinische Klinik I, Universitätsklinikum RWTH Aachen mgramlich@ukaachen.de Literatur [1] Wyse DG, Waldo AL, DiMarco P et al. A Com- parison of Rate Control and Rhythm Control in Patients with Atrial Fibrillation. N Engl J Med 2002; 347: 1825–1833 [2] Hindricks G, Potpara T, Dagres N et al. 2020 ESC Guidelines for the diagnosis and manage- ment of atrial fibrillation developed in colla- boration with the European Association of Cardio-Thoracic Surgery (EACTS). Eur Heart J 2020; ehaa612 [3] Kirchhof P, Camm AJ, Goette A et al. Early Rhythm-Control Therapy in Patients with Atrial Fibrillation. N Engl J Med 2020; 383: 1305–1316 Indizes für zentrales Fettgewebe und Mortalitätsrisiko Jayedi A et al. Central fatness and risk of all cause mortality: systematic review and dose-response meta-analysis of 72 prospective cohort studies. BMJ 2020; doi:10.1136/bmj.m3324 Dass Übergewicht krank macht und darüber hinaus die Sterbewahrschein- lichkeit erhöht, ist hinlänglich be- kannt. Gebräuchlichster Indikator ist der Body-Mass-Index, der allerdings nicht die Fettverteilung berücksich- tigt. Der Review mit Metaanalyse zeigt die Aussagekraft von Indizes für das zentrale Fett, die unabhängig von ei- ner Adipositas mit dem Mortalitätsrisi- ko assoziiert waren. Übergewicht begünstigt die systemische Inflammation, oxidativen Stress, eine Insu- linresistenz, Fettstoffwechselstörung, Hy- pertonie und endotheliale Dysfunktion. Daraus resultiert ein gesteigertes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Nieren- 70 Dtsch Med Wochenschr 2021; 146 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Aktuell publiziert FAZIT Die Ergebnisse untermauern die Not- wendigkeit einer Reanimation vor Ort.Offen bleibt, ob in der Studie alle möglichen Störfaktoren, die zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen könnten, berücksichtigt wurden. Denn Aspekte wie Ausbildung und Geschicklichkeit der Notfallmediziner oder die technische Ausrüstung wer- den nicht dokumentiert. Hinzu kommt ein möglicher Bias bei den Notärzten. Je nach ihrer Einschätzung der Prognose könnte das die Ent- scheidung zum „Bleiben“ oder „Trans- portieren“ und damit die Ergebnisse beeinflusst haben. Dr. Markus Numberger, Kandel Bariatrische Operation bei Adipositas erhöht die Lebenserwartung Carlsson LMS et al. Life Expectancy after Bariatric Surgery in the Swedish Obese Subjects Study. N Engl J Med 2020; 383: 1535–1543 Eine bariatrische Operation bei Adipo- sitas führt zu dauerhaftem Gewichts- verlust und reduziert das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2- Diabetes und Krebs. Inwieweit das reduzierte Sterberisiko nach einer bariatrischen Operation die Lebens- spanne von Patienten mit Adipositas erhöht, ist noch unklar. Carlsson et al. untersuchten die Mortalität und die Lebenserwartung von Adipositas-Pa- tienten nach einer bariatrischen Ope- ration. Eine bariatrische Operation führt zu einer geringeren Gesamtmortalität sowohl für Herz-Kreislauf-Erkrankungen als auch für Krebs im Vergleich zu einer herkömm- lichen Behandlung von Adipositas. Im Rahmen der vorliegenden Studie waren ins- gesamt 25 chirurgische Abteilungen und 480 Zentren der primären Gesundheitsver- sorgung in Schweden involviert. Sämtliche Patienten, die sich zwischen September 1987 und Januar 2001 einer bariatrischen Operation unterzogen haben, schlossen die Forscher in die Analyse ein. Zusätzlich schlossen die Experten noch Adipositas-Pa- tienten ohne chirurgische Behandlung als Kontrollgruppe in die Studie ein. Als Ein- schlusskriterien legten die Wissenschaftler ein Alter zwischen 37 und 60 Jahren und einen Body-Mass-Index von mindestens 34 für Männer und mindestens 38 für Frauen fest. Die Patienten der Operationsgruppe unterzogen sich einem Banding, einer ver- tikalen Gastroplastie oder einem Magenby- pass. Die Teilnehmer der Kontrollgruppe erhielten eine konventionelle Adipositas- Behandlung. Die Studiendatenbank glichen die Forscher mit dem schwedischen Bevöl- kerungs- und Adressregister ab, um Infor- mationen über sämtliche Todesfälle vom Zeitpunkt des Studienbeginns bis De- zember 2018 zu erhalten, sowie mit dem schwedischen Todesursachenregister, um die Todesursache zu ermitteln. Die Teilneh- mer einer schwedischen Referenzstudie, die zwischen 1994 und 1999 durchgeführt wurde, dienten als bevölkerungsbezogene Referenzkohorte für die vorliegende Studie. Die Unterschiede in den Veränderungen des BMI zwischen den Gruppen analysier- ten die Wissenschaftler mit mehrstufigen Regressionsmodellen. Insgesamt nahmen die Experten 2007 und 2040 Patienten in die Operationsgruppe bzw. die Kontrollgruppe und 1135 Teilneh- mer in die Referenzkohorte auf. Zum Zeit- punkt der Analyse am 31. Dezember 2018 betrug die mediane Nachbeobachtungs- dauer der Mortalität in der Operations- gruppe 24 Jahre und in der Kontrollgruppe 22 Jahre, in der SOS-Referenzkohorte 20 Jahre. Insgesamt 18 % der Patienten er- hielten ein Banding, 69 % eine vertikale Gastroplastie und 13 % einen Magenby- pass. In der Operationsgruppe beobachte- ten die Forscher im ersten Jahr nach der Operation eine durchschnittliche Senkung des BMI um 11 Punkte. Bis zum 8. Jahr sta- bilisierte sich der BMI bei etwa 7 Punkten unter dem Ausgangs-BMI. In der Kontroll- gruppe schwankte der BMI innerhalb der Nachbeobachtungszeit nur gering. Insge- samt starben 457 Patienten (22,8 %) in der Operationsgruppe und 539 Patienten (26,4 %) in der Kontrollgruppe. Dieser Unterschied erwies sich als statistisch signifikant. Die durchschnittliche Lebens- erwartung war in der Operationsgruppe 2,4 Jahre länger als in der Kontrollgruppe, aber 5,5 Jahre kürzer als in der Referenzko- horte. Die häufigsten Todesursachen in der vorliegenden Studie waren Herz-Kreislauf- Erkrankungen (388 Todesfälle) und Krebs- erkrankungen (301 Todesfälle). Kardiovas- kuläre Erkrankungen verursachten 167 To- desfälle in der Operationsgruppe und 221 in der Kontrollgruppe. FAZIT Eine bariatrische Operation führt bei adipösen Patienten zu einem gerin- geren Sterberisiko sowohl für Herz- Kreislauf-Erkrankungen als auch für Krebs, so die Autoren. Darüber hinaus konnten die Experten nachweisen, dass die Lebenserwartung bei Patien- ten mit Adipositas mit üblicher Ver- sorgung etwa 8 Jahre kürzer war als in der Allgemeinbevölkerung. Dieser Unterschied konnte durch eine ba- riatrische Operation um etwa 3 Jahre verringert werden. Dr. Maddalena Angela Di Lellis, Tübingen 72 Dtsch Med Wochenschr 2021; 146 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Mediquiz Neurologischer Patient mit unklarem grau-blauem Hautkolorit Neurological patient with greyblue skin colour of unknown origin Befund 1. Ausgeprägte grau-blaue Hautfarbe, an sonnenexponierten Stellen deutlich verstärkt Diagnose Argyrie Differenzialdiagnosen ▪ Intoxikationen ▪ Herzinsuffizienz Erläuterung Die ausgeprägte blau-graue (silbrige!) Hautfarbe an lichtexponier- ten Hautarealen ist typisch für die Silbereinlagerung in der Haut. Der Patient erklärte, seit Jahren regelmäßig aus Gründen der Ge- sundheit Silberpulver zu trinken. Durch Ingestion von kolloidalem Silber kommt es zu der entsprechenden Einlagerung. Durch Son- nenexposition wird die silbrig-graue Farbe verstärkt. Vereinzelte Fälle von Argyrie als klinisches Erscheinungsbild sind in der Litera- tur seit längerem beschrieben [1]. Die Frage der Toxizität von kolloidalem Silber wird schon länger kontrovers diskutiert; fest steht jedoch, dass Silber-Granula sich in parenchymatösen Organen wie der Leber einlagern und nach- gewiesen werden können. Silbereinlagerungen im Gehirn werden im Zusammenhang mit Epilepsie beschrieben [2]. ▶ Abb. 2 Bei dem 58-jährigen Patienten soll nebenbefundlich im in- ternistischen Konsil zur Hautverfärbung Stellung genommen werden. Ein Zusammenhang zwischen oraler Silberaufnahme und klinisch auffälligen zerebralen Ischämien ist bis dato unbekannt. Literatur [1] Hadrup N, Lam HR. Oral toxicity of silver ions, silver nanoparticles and colloidal silver – a review. Regul Toxicol Pharmacol 2014; 68: 1–7 [2] Mirsattari SM, Hammond RR, Sharpe MD et al. Myoclonic status epilepticus following repeated oral ingestion of colloidal silver. Neurology 2004; 62: 1408–1410 74 Grade M et al. Neurologischer Patient mit… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 73–74 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Dossier ▪ HDL-Cholesterin verbessert die Risikoeinschätzung und kann bei der Onlineversion von SCORE (www.heartscore.org) zusätzlich angegeben werden. ▪ LDL-Cholesterin ist der wichtigste Parameter für Screening, Diagnosestellung und Therapieverlauf. ▪ Triglyzeride sollten routinemäßig mitbestimmt werden. (Hinweis: Stehen die Triglyzeride im Vorder- grund, sollten die Patienten nüchtern sein.) Besonders bei Personen mit hohen Triglyzeriden, Diabe- tes mellitus (s. Seite 85), Adipositas oder sehr niedrigem LDL-Cholesterin wird die Verwendung des umfassende- ren Non-HDL-Cholesterins empfohlen. Zur Berechnung wird HDL-Cholesterin von Gesamtcholesterin subtrahiert. gischen Daten geht hervor, dass ab einem Lp(a) von 50 mg/dl (75 nmol/l) das kardiovaskuläre Risiko erhöht ist. Dies betrifft ungefähr ein Viertel der Bevölkerung [10]. Auch neuere Mendelsche Randomisierungsstudien bestätigen dies [12]. Allerdings errechnen sie einen ungleich höheren Wert (> 180 mg/dl bzw. > 430 nmol/l), ab dem das Risiko einem Patienten mit heterozygoter familiärer Hyperliproteinämie vergleichbar sein soll. Eine nachfolgende Studie [13] zeigte die Problematik der im- mer noch nicht standardisierten Laboranalytik und führte zu einer anhaltenden kontroversen Diskussion dieses Cut-offs. Apolipoprotein B Merke Apolipoprotein B (ApoB) ist substanzieller Bestandteil aller atherogenen Lipoproteine. Daher fasst die Bestim- mung von ApoB das kumulative Risiko aller Lipoproteine zusammen. INFOBOX 1 Alle ApoB-haltigen Lipoproteine sind atherogen: ▪ LDL-Cholesterin, ▪ Lipoprotein(a) und ▪ die Remnants der triglyzeridreichen Lipoproteine, Chylomikronen und Very Low Density Lipoprotei- ne (VLDL) [9]. Daher ist ApoB dem LDL-Cholesterin für die Bestim- mung des Risikos überlegen. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn die Triglyzeride erhöht sind, z. B. bei Adipositas oder Diabetes mellitus. Alle kleinen (< 70 nm) ApoB-haltigen Lipoproteine, also auch tri- glyzeridreiche Lipoproteine und deren Remnantpar- tikel, können subendothelial eingelagert werden. Bei Personen mit höheren Plasmaspiegeln ApoproteinB- haltiger Lipoproteine ist die Progression atheroskle- rotischer Plaques beschleunigt. Merke ApoB ist substanzieller Bestandteil aller atherogenen Lipoproteine. Die Bestimmung von ApoB fasst das kummulative Risiko aller Lipoproteine zusammen. Lipoprotein(a) Zur weiteren Verbesserung der Risikoklassifizierung wird einmal im Leben jedes Menschen die Bestimmung von Li- poprotein(a) empfohlen. Lipoprotein(a), abgekürzt Lp(a), ist großteils genetisch determiniert und zeigt lebenslang relativ konstante Werte. Der Zusammenhang zwischen steigendem Wert und ansteigendem Risiko ohne Schwel- lenwert ist seit langem bekannt [10, 11]. Aus epidemiolo- Lp(a) ist ein unabhängiger kardiovaskulärer Risikofak- tor und sollte mindestens einmal im Leben jedes Menschen bestimmt werden. Genetische Diagnostik Bei Verdacht auf eine familiäre Hypercholesterinämie (FH) wird die genetische Diagnostik empfohlen. Zur Iden- tifizierung sind die folgenden klinischen Kriterien rele- vant: ▪ Gesamtcholesterin ohne Behandlung ≥ 310 mg/dl (≥ 8 mmol/l) bei einem Erwachsenen oder einem erwachsenen Familienmitglied, ▪ frühzeitige KHK bei Patient oder einem Familienmit- glied, ▪ Sehnen-Xanthome bei Patient oder einem Familien- mitglied sowie ▪ plötzlicher vorzeitiger Herztod bei einem Familien- mitglied. Wenn eine Mutation identifiziert wurde, sollten die Fami- lienmitglieder im Sinne eines Kaskadenscreenings auf diese Mutation hin untersucht werden. Bei kombinierter Hyperlipoproteinämie und Hypertrigly- zeridämie ist die genetische Diagnostik komplex. Trigly- zerid-Werte bis 890 mg/dl (10 mmol/l) sind meist poly- gen verursacht. Für die schwere Hypertriglyzeridämie sind aktuell Mutationen auf 6 Genen bekannt. Diese sind relevant, wenn beide Allele betroffen sind: Dann liegt ein familiäres Chylomikronämie-Syndrom (FCS) vor, das mit einem hohen Risiko für rezidivierende Pankreatitiden ver- gesellschaftet ist. Bildgebende Diagnostik Wenn keine medikamentöse Therapie erwogen wird, wird auch keine bildgebende Diagnostik empfohlen. Die bildgebende Diagnostik ist deutlich aufgewertet worden. Sie soll insbesondere bei Nicht-Hochrisikopatienten die Zuordnung zu einer Risikogruppe verbessern und Thera- pieentscheidungen erleichtern. Kalkscore-Bestimmun- 76 Vogt A et al. Therapieempfehlungen bei Fettstoffwechselstörungen… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 75–84 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Dossier LDL-C-Zielwert 3,0 mmol/l (116 mg/dl) 2,6 mmol/l (100 mg/dl) 1,8 mmol/l (70 mg/dl) & ≥ 50 % Senkung vom Ausgangswert 1,4 mmol/l (55 mg/dl) 1,0 mmol/l (40 mg/dl) niedrig mittel hoch sehr hoch extrem hoch Risikogruppe • SCORE < 1 % • SCORE ≥ 1 % und < 5 % • junge Diabetiker (Typ 1 < 35 Jahre, Typ 2 < 50 Jahre alt) und einer Krankheitsdauer < 10 Jahre ohne Vorliegen weiterer Risikofaktoren (310 mg/dl) oder LDL-Cholesterin > 4,9 mmol/l (190 mg/d) oder Blutdruck ≥ 180/110 mmHg) • SCORE ≥ 5 % und < 10 % • ein singulär deutlich erhöhter Risikofaktor (insbesondere Gesamtcholesterin > 8 mmol/l • eine familiäre Hypercholesterinämie ohne weitere Risikofaktoren • eine moderate chronische Nierenerkrankung (eGFR 30–59 ml/min) • ein Diabetes mellitus mit ≥ 10 Jahren Krankheitsdauer mit/ohne Endorganschäden oder andere zusätzliche Risikofaktoren • ASCVD (klinisch/Bildgebung) • SCORE ≥ 10 % • Familiäre Hypercholesterinämie mit ASCVD oder mit anderem Hauptrisikofaktor • Schwere chronische Nierenerkrankung (eGFR < 30 ml/min) • Diabetes mellitus mit Endorganschaden: ≥ 3 Hauptrisikofaktoren; oder früher Beginn eines Typ 1 Diabetes mellitus von langer Dauer (> 20 Jahre) Niedrig Mittel Hoch Sehr hoch Extrem hoch • ASCVD mit 2. vaskulärem Ereignis innerhalb von 2 Jahren unter maximal verträglicher Statintherapie ▶ Abb. 1 Risikokategorien und Zielwerte. ▪ Empfohlen wird die mindestens einmalige Be- stimmung von Lipoprotein(a) zur Detektion eines erhöhten Lebenszeitrisikos für kardiovaskuläre Erkrankungen. Zielwerte Für LDL-C, Apolipoprotein B und Non-HDL sind Zielwerte für die Risikokategorien festgelegt (▶ Tab. 1). ▪ Erstmals wird eine fünfte Risikogruppe definiert: Merke Patienten mit ASCVD, die trotz optimaler lipid- senkender Therapie innerhalb von 2 Jahren ein weiteres Ereignis unabhängig vom Stromgebiet erleiden, gelten als Höchstrisikogruppe. Es wird kein unterer LDL-C Grenzwert definiert: Je niedriger der Wert für das LDL-C ist, desto besser. ▪ Für das Nicht-HDL-C lassen sich die Zielwerte einfach ▪ FH-Patienten mit zusätzlichem Risikofaktor zäh- errechnen: LDL-C + 30 mg/dl (+ 0,8 mmol/l). len zur Gruppe mit sehr hohem Risiko. ▪ Für HDL-C und Triglyzeride existieren in Ermangelung interventioneller Daten weiterhin keine Zielwerte. Bei der online-Version von SCORE wird der HDL-C-Wert zur Präzisierung zusätzlich eingegeben. 78 Vogt A et al. Therapieempfehlungen bei Fettstoffwechselstörungen… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 75–84 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Dossier Individuelles Risiko Assesment (s. Abb. 1) Bestimmung von LDL-C Lebensstilmodifikation Indikation für medikamentöse Behandlung? ggf. Risikomodifikation durch Bildgebung Bestimmung des LDL-C Zielwerts Hochpotentes Statin (Atorvastatin, Rosuvastatin) LDL-C Ziel erreicht? Follow up (z. B. jährlich) Hinzunahme Ezetimib LDL-C Ziel erreicht? Follow up (z. B. jährlich) Hinzunahme PCSK9 I LDL-C Ziel erreicht? Follow up (z. B. jährlich) Diskussion Apherese ▶ Abb. 2 Stufentherapie zur Erreichung des Ziel-LDL-Cholesterins. Nach Risiko-Assessment erfolgt die Bestimmung der LDL-C. Ist der LDL-C Wert zu hoch, so ist eine Modifikation des Lebensstils vorzunehmen. Dies ist die Grundlage der therapeutischen Maßnahmen und sollte lebenslang beibehalten werden. Danach wird (u. U. mit bildgebenden Verfahren) geklärt, ob eine Indikation für eine medikamentöse Behandlung nach SCORE vorliegt, und es wird der individuelle LDL-C-Zielwert definiert. Wird durch eine Lebensstilmodifikation der Zielwert erreicht, erfolgt ein jährliches Follow-up. Führt sie nicht zum Ziel, oder fiel die Entscheidung gleich für eine medikamentöse Therapie, kommt ein hochpotentes Statin zum Einsatz. Wird bei der Reevaluation des LDL-C-Wertes der Zielwert erreicht, ist ein regelmäßiges Follow-up ausreichend; wird der Zielwert nicht erreicht, besteht die Indikation für die nächste Therapiestufe mit erneuter Reevaluation. fohlen: Sie können LDL-C im Mittel um ≥ 50 % senken, während durch ein Statin moderater Intensität eine Reduktion von 30–50 % erreicht wird (▶ Tab. 2). Dabei ist die interindividuelle Variabilität zu beachten [17]; ins- besondere bei der familiären Hypercholesterinämie ist das Ansprechen weniger ausgeprägt. Triglyzeride können um 10–20 % gesenkt und HDL-Cholesterin um 1–10 % er- höht werden. Eine Metaanalyse von 26 Studien (Statin vs. Placebo oder weniger intensive Statintherapie) zeigte, dass pro Absenkung von LDL-Cholesterin um 39 mg/dl 80 Vogt A et al. Therapieempfehlungen bei Fettstoffwechselstörungen… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 75–84 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Dossier ▪ Die Zielwerte für LDL-Cholesterin, ApoB und Non-HDL-Cholesterin sind basierend auf neueren Studienergebnissen abgesenkt und präzisiert worden. ▪ Neben niedrigeren LDL-C-Zielen wird eine zusätz- liche prozentuale Reduktion des LDL-C-Aus- gangswerts gefordert: LDL-C-Senkung um ≥ 50 % und Ziel-LDL-C < 1,4 mmol/l (55 mg/dl) bzw. < 1,8 mmol/l (70 mg/dl) bei sehr hohem bzw. hohem Risiko. ▪ Ältere Patienten profitieren von einer Lipidsen- kung. Weitere Medikamente Im Folgenden werden u. a. Substanzen vorgestellt, die bei der homozygoten familiären Hypercholesterinämie (HoFH), bei Hypertriglyzeridämie und beim familiären Chylomikronämie-Syndrom positive Effekte zeigen, derzeit teils aber (noch) nicht auf dem deutschen Markt verfügbar sind (s. Seite 92). Lomitapid Alle bisher genannten Medikamente senken LDL-C bei der homozygoten FH nur wenig; Grund dafür ist, dass die Wirkmechanismen funktionierende LDL-Rezeptoren (LDL-R) voraussetzen. Lomitapid hingegen wirkt als einzi- ges Präparat unabhängig vom LDL-R: Es ist ein Inhibitor des mikrosomalen Transferproteins (MTP) und reduziert die Produktion von Chylomikronen und VLDL. Folge ist, dass weniger LDL-C gebildet wird und der Zielwert für LDL-C hierdurch oft erreicht wird, so dass die Lipopro- tein-Apherese (LA) beendet werden kann [23, 24]. In Deutschland ist Lomitapid zugelassen, aber nicht auf dem Markt, weshalb derzeit nur sehr wenige Patienten mit individueller Kostenübernahme damit behandelt werden können. Fibrate und Omega-3-Fettsäuren Fibrate senken Triglyzeride um etwa 50 % und Triglyzerid- reiche Lipoprotein-Remnants. In der Folge steigt HDL-C an, ein Effekt, der abhängig ist vom Ausgangswert der Triglyzeride. Die Studienlage ist allerdings weniger aussa- gekräftig als für Statine. Deswegen wird für Patienten mit hohem Risiko und erhöhten Triglyzeriden (> 220 mg/dl, > 2,3 mmol/l) die Therapie mit einem Statin empfohlen. Wenn die Triglyzeride höher liegen, soll die Kombination mit Fenofibrat oder Bezafibrat erwogen werden. Die Kombination mit Omega-3-Fettsäuren (Icosapent- Ethyl [EPA] 2 × 2 g/Tag) soll bei Hochrisikopatienten er- wogen werden, deren Triglyzeride zwischen 135 und 499 mg/dl (1,5–5,6 mmol/l) liegen. Die REDUCE-IT Studie zeigte erstmals einen signifikanten Effekt von EPA auf kardiovaskuläre Ereignisse. Bei der Studie wurden 4 g EPA in einer neuen Formulierung mit Mineralöl vergli- chen; die Ereignisrate sank unter EPA um 25 % [25]. Aller- dings ist dieses neue Präparat in Deutschland noch nicht erhältlich. Seit Frühjahr 2020 werden Omega-3-Fettsäu- re-Präparate nicht mehr erstattet, dadurch wird die The- rapie von Patienten mit genetisch bedingter ausgepräg- ter Hypertriglyzeridämie oder z. B. bei Diabetes mellitus Typ 2 deutlich erschwert. Merke Bei Triglyzeriden > 200 mg/dl (2,3 mmol/l) wird die Therapie mit einem Statin empfohlen und bei höheren Werten die Kombination mit einem Fibrat oder Omega- 3-Fettsäuren. Volanesorsen Dieses Medikament wurde kürzlich zugelassen für Patien- ten, ▪ bei denen ein genetisch diagnostiziertes FCS („orphan disease“) vorliegt, ▪ die ein hohes Risiko für eine Pankreatitis haben und ▪ bei denen die diätetische und medikamentöse Thera- pie nicht ausreichend wirksam ist. Hierunter werden die Triglyzeride um etwa 70 % gesenkt [26]. Bempedoinsäure Seit dem 02. November 2020 steht in Deutschland mit der Bempedoinsäure eine weitere Substanz zur LDL-C- Senkung zur Verfügung. Sie ist ein Inhibitor der Adeno- sintriphosphat-Citrat-Lyase (ein Enzym der endogenen Cholesterinbiosynthese), die als Pro-Drug über die „very long chain acyl-CoA synthetase I“ (ACSVL1) in den akti- ven Metaboliten überführt wird. Dieses spezifische En- zym liegt nur in der Leberzelle vor, so dass in Muskelzellen keine Inhibierung der endogenen Cholesterinsynthese stattfindet. Folge ist, dass kaum Myalgien auftreten. Die LDL-C-Senkung liegt bei ungefähr 20 % und entspricht da- mit der des Ezetimib, mit dem es auch als Kombinations- präparat angeboten wird. KERNAUSSAGEN ▪ In der Primärprävention hängt die Behandlungs- indikation vom Gesamtrisikoprofil ab. ▪ In der Sekundärprävention liegt der Zielwert für LDL-C bei < 55 mg/dl (< 1,4 mmol/l). ▪ Die Bedeutung der lebenslangen Cholesterin-Last ist zentral in der Argumentation. Die Empfehlun- gen gehen dahin, LDL-C möglichst frühzeitig und effektiv zu senken. Ziel ist die Reduktion von „Cholesterinlebensjahren“. ▪ Im Sommer 2019 wurde die aktualisierte Europä- ische Leitlinie zum Management von Dyslipidä- 82 Vogt A et al. Therapieempfehlungen bei Fettstoffwechselstörungen… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 75–84 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Dossier [19] Sudhop T, Lütjohann D, Kodal A et al. Inhibition of intestinal cholesterol absorption by ezetimibe in humans. Circulation 2002; 106: 1943–1948 [20] Bohula EA, Morrow DA, Giugliano RP et al. Atherothrombotic risk stratification and ezetimibe for secondary prevention. J Am Coll Cardiol 2017; 69: 911–921 [21] Eisen A, Cannon CP, Blazing MA et al. The benefit of adding ezetimibe to statin therapy in patients with prior coronary artery bypass graft surgery and acute coronary syndrom in the IMPROVE-IT trial. Eur Heart J 2016; 37: 3576–3584 [22] Gemeinsamer Bundesausschuss. Arzneimittel-Richtlinie/Anla- ge III: Nummer 35a – Evolocumab 2016. Im Internet (Stand 30.10.2020): https://www.g-ba.de/beschluesse/2600 [23] Cuchel M, Meagher EA, du Toit TheronH et al. Efficacy and safety of a microsomal triglyceride transfer protein inhibitor in patients with homozygous familial hypercholesterolaemia: a single-arm, open-label, phase 3 study. Lancet 2013; 381: 40–46. doi:10.1016/S0140-6736(12)61731-0 [24] D’Erasmo L, Cefalu AB, Noto D et al. Efficacy of Lomitapide in the Treatment of Familial Homozygous Hypercholesterolemia: Results of a Real-World Clinical Experience in Italy. Adv Ther 2017; 34: 1200–1210. doi:10.1007/s12325-017-0531-x [25] Bhatt DL, Steg PG, Miller M et al. Cardiovascular Risk Reducti- on with Icosapent Ethyl for Hypertriglyceridemia. N Engl J Med 2019; 380: 11–22. doi:10.1056/NEJMoa1812792 [26] Witztum JL, Gaudet D, Freedman SD et al. Volanesorsen and Triglyceride Levels in Familial Chylomicronemia Syndrome. N Engl J Med 2019; 381: 531–542. doi:10.1056/ NEJMoa1715944 Bibliografie 10.1055/a-1199-8193 Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 75–84 DOI ISSN 0012-0472 © 2021. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany 84 Vogt A et al. Therapieempfehlungen bei Fettstoffwechselstörungen… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 75–84 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Dossier Als externe ursächliche Komponenten sind zu nennen: ▪ diätetische (Überernährung, Alkohol, Fruktose, gesät- tigte Fettsäuren), ▪ medikamentöse (z. B. Steroide, Östrogene, Neurolep- Halbwertszeit der remnants kommt es zu einer intensiven Interaktion mit der Gefäßwand; die Partikel sind hoch atherogen. tika), Small dense LDL ▪ klinische (Hypothyreose, Hepatopathie, Nephropathie) und ▪ ggf. hormonelle (Schwangerschaft, Hyperkortisolismus, Akromegalie) Erhöhung der Triglyzeride Der erste und zentrale pathogenetische Schritt bei der Entstehung der diabetischen Dyslipidämie ist eine Erhö- hung der Triglyzeride. Daran sind u. a. folgende Faktoren beteiligt [8]: ▪ erhöhte lipolytische Aktivität der hormonsensitiven Lipase (HSL) im Fettgewebe durch Insulinresistenz, ▪ Freisetzung freier Fettsäuren aus dem viszeralen Fettgewebe und deren hepatische Aufnahme, ▪ erhöhte hepatische Fettsäuresynthese durch Adipokin-Wirkung und Insulin, ▪ erhöhte hepatische VLDL-Produktion (Very Low Density Lipoprotein) sowie ▪ langsamere plasmatische Hydrolyse der Triglyzeride in Chylomikronen und VLDL. So finden sich erhöhte Triglyzerid-Werte oft sowohl nüchtern (als Folge der Insulinresistenz und Adipositas) als auch postprandial (als Folge der reduzierten plasmati- schen Hydrolyse) [9]. Als Folge von Aufnahme und Re-Veresterung freier Fett- säuren und durch Adipokin-Wirkung entsteht zusätzlich eine Steatosis hepatis: die Leber wird zunehmend insulin- resistent. Es werden vermehrt Akut-Phase-Proteine (IL-1, IL-6, TNFα sowie CRP) synthetisiert. Hepatisch syntheti- sierte und aufgenommene Fettsäuren triggern die Pro- duktion endogener Triglyzerid-reicher Lipoproteine (VLDL). Merke Die Hypertriglyzeridämie bei Diabetes entsteht sowohl durch eine verstärkte hepatische Produktion als auch durch einen verzögerten Abbau exogener (Chylomi- kronen) und endogener (VLDL) Triglyzerid-reicher Lipoproteine. Folgeerscheinungen erhöhter Triglyzeride Remnants Die Plasmakonzentration von VLDL- und Chylomikronen- Restpartikeln (remnants) korreliert direkt mit der Höhe der Triglyzeride. Diese Lipoproteine entstehen als Folge der plasmatischen Hydrolyse, sind cholesterinreich und werden rasch hepatisch aufgenommen. Trotz der kurzen Die LDL-Cholesterin-Konzentration ist bei Diabetes melli- tus in der Regel nicht deutlich erhöht. Allerdings wird das LDL-Partikel als Folge von Hypertriglyzeridämie und Insu- linresistenz deutlich modifiziert. Die Triglyzeride in VLDL und Chylomikronen werden durch das Cholesterylester- Transferprotein (CETP) im Austausch gegen Cholester- ylester auf LDL-Partikel übertragen Dieser Prozess folgt einem Konzentrationsgefälle und findet somit bei Hyper- triglyzeridämie vermehrt statt [10]. Anschließend werden die LDL-Triglyzeride durch die hepatische Lipase hydrolysiert; als Resultat entstehen kleine, dichte LDL- Partikel (sdLDL), die atherogener sind als normale, große LDL-Partikel. HDL-Erniedrigung Der Mechanismus der Erniedrigung des HDL-Cholesterins ist ähnlich dem der Entstehung der sdLDL. Triglyzeride werden durch CETP auf HDL-Partikel übertragen, dort hydrolysiert, und es entstehen kleinere HDL3-Partikel. Apolipoprotein A1 dissoziiert und wird renal degradiert, die kleinen Partikel werden rasch hepatisch eliminiert. Somit steht das HDL nicht mehr für den reversen Choles- terintransport und den Endothelschutz zur Verfügung. Verstärkt wird die HDL-Erniedrigung durch verminderte endotheliale Hydrolyse Triglyzerid-reicher Lipoproteine und die damit verbundene verminderte Bereitstellung von Apolipoproteinen für das sogenannte HDL-Remodel- ling. INFOBOX 2 Pathogenese der diabetischen Dyslipidämie: ▪ vermehrter Abbau Triglyzerid-reicher Lipoprotei- ne zu Restpartikeln, ▪ Transfer von Triglyzeriden auf LDL und HDL durch CETP und ▪ Hydrolyse der Triglyzeride durch hepatische Lipase und Bildung von kleinen dichten LDL (sdLDL) und HDL3. Bei längerfristig schlecht eingestelltem Diabetes führt die Glykierung von Apoproteinen, Enzymen und Rezeptoren zu einer Funktionsverschlechterung dieser Regulatoren des Fettstoffwechsels; Folge ist eine weitere Verstärkung der Dyslipidämie. ▶ Abb. 1 fasst die Genese der diabeti- schen Dyslipidämie zusammen [8]. 86 Merkel M. Dyslipidämie bei Diabetes… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 85–91 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Dossier Remnants Remnant-Partikel lassen sich nur schwer in großen Stu- dien messen, daher gibt es hierzu nur einzelne klinische Daten. So wurden sie als unabhängige Risikofaktoren in der Framingham-Heart-Studie identifiziert [15]. In-vitro- Daten belegen, dass sie durch verstärkte endotheliale Retention die Atherogenese initiieren bzw. verstärken können. sdLDL Eine ähnliche Situation liegt bei den sdLDL vor. Auch die- se konnten als unabhängiger Risikofaktor etabliert wer- den [16], die meisten Daten stammen allerdings aus In- vitro-Analysen. SdLDL haben eine lange Halbwertszeit durch reduzierte Bindung an den LDL-Rezeptor, werden leicht oxidiert und haben eine starke Proteoglykan-Bin- dung. HDL-C Eine gegenläufige Assoziation des HDL-Cholesterins mit dem kardiovaskulären Risiko ist ebenfalls ursprünglich aus der Framingham-Heart-Studie bekannt [17] und wur- de anschließend vielfach bestätigt. Allerdings konnte weder durch Mendel-Randomisierung [14] noch durch therapeutische Intervention eine kausale Rolle beim Schutz vor Arteriosklerose belegt werden. Merke Unter dem Aspekt der diabetischen Dyslipidämie gilt HDL-Cholesterin derzeit als inverser Marker, nicht als kausaler Faktor. Einige weitere Faktoren beeinflussen die Atherogenität des Plasmas bei Diabetes mellitus. So wird auch freien Fettsäuren ein atherogenes Potenzial nachgesagt, ähnli- ches gilt für Adipokine. Die beobachtete Erhöhung von inflammatorischen und prokoagulatorischen Faktoren dürfte ebenfalls von wesentlicher Bedeutung sein. Diagnostik Zur Basisdiagnostik und Einschätzung der diabetischen Dyslipidämie ist in der Regel ein normaler Lipidstatus aus- reichend. Hierbei werden Gesamtcholesterin, LDL- und HDL-Cholesterin sowie die Plasma-Triglyzeride bestimmt. PR A XIS Im Gegensatz zu Patienten ohne Diabetes und ohne erhöhte Triglyzeride ist eine Blutentnahme nach min- destens 8-stündiger Nahrungskarenz von Vorteil, da dann die Triglyzeride in dem niedrigsten möglichen Bereich sind. Die folgenden Wechselbeziehungen sollten beachtet werden: Erhöhte Triglyzeride/LDL Erhöhte Triglyzeride lassen nicht nur eine Berechnung des LDL-Cholesterins nach Friedewald ungenauer bzw. ober- halb von 400 mg/dl bzw. 5 mmol/l unmöglich werden, sie interferieren methodenabhängig auch mit der heute bevorzugten direkten Bestimmung von LDL-Cholesterin. Hypertriglyzeridämie/Gesamtcholesterin Bei Hypertriglyzeridämie ist das Gesamtcholesterin eben- falls erhöht, da Triglyzerid-reiche Lipoproteine zu etwa 20 % ihrer Gesamtmasse aus Cholesterin bzw. Choleste- rinestern bestehen. Eine Erhöhung des Gesamtcholeste- rins ist somit nicht mit einer Erhöhung des LDL-Choleste- rins gleichzusetzen. Hohe Triglyzeride/HDL-Cholesterin Bei hohen Triglyzeriden ist die HDL-Cholesterin-Konzent- ration in der Regel deutlich erniedrigt. Werden trotz sehr hoher Triglyzeride hohe HDL-Cholesterinspiegel gemes- sen, können methodische Probleme vorliegen. In dem Fall könnte im Labor eine Aufbereitung des Serums erfol- gen. Quotient aus LDL- und HDL-Cholesterin Die Bildung eines Quotienten aus LDL- und HDL-Choles- terin ist obsolet, da HDL mit zunehmender Konzentration nicht gleichermaßen vor Arteriosklerose schützt wie LDL das Risiko erhöht. Non-HDL- und LDL-Cholesterin Non-HDL-Cholesterin wird durch Subtraktion des HDL- Cholesterinwertes vom Gesamt-Cholesterin errechnet. Der diagnostische und klinische Vorteil des Non-HDL- Cholesterins ist, dass mit diesem Wert sämtliche ApoB- haltigen und damit atherogenen Lipoproteine (remnants, sdLDL) erfasst werden. Bei Hypertriglyzeridämie erwies sich das Non-HDL-Cholesterin als der bessere Prädiktor als das LDL-Cholesterin [18]. Dementsprechend werden in den aktuellen Leitlinien zur lipidologischen Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen auch Zielwerte für das Non-HDL-Cholesterin (in der Regel 30 mg/dl bzw. 0,8 mmol/l oberhalb des LDL-Cholesterinzielwertes) aus- gewiesen (s. u.). Das Non-HDL-Cholesterin wird von den üblichen therapeutischen Maßnahmen ähnlich beein- flusst wie das LDL-Cholesterin. Von Nachteil ist, dass in den meisten prospektiven Interventionsstudien Non- HDL-Cholesterin nur in untergeordnetem Maße betrach- tet wurde. Merke Die wichtigste abgeleitete Größe ist das Non-HDL- Cholesterin. 88 Merkel M. Dyslipidämie bei Diabetes… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 85–91 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Dossier ▶ Tab. 2 Lipidologische Therapieziele zur Reduktion des kardiovaskulären Risikos bei Diabetes. Zusätzlich wird eine Senkung des LDL-Cholesterins um mindestens 50 % zum Ausgangswert gefordert. Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) und der Europäischen Arteriosklerosege- sellschaft (EAS) 2019. Daten aus [19]. ten Datenlage zur Therapie mit Statinen, Ezetimib und PCSK9-Inhibitoren spielt eine Triglyzerid-Senkung mit Fi- braten und Omega-3-Fettsäuren lediglich in Einzelfällen eine Rolle (Statin-Intoleranz, schwere diabetische Mikro- angiopathie, Gefahr einer akuten Pankreatitis). Risiko-Kategorie LDL-C Non-HDL-C ApoB sehr hohes Risiko ▪ Endorganschäden inkl. < 55 mg/dl (< 1,4 mmol/l) < 85 mg/dl (< 2,2 mmol/l) < 65 mg/dl Albuminurie ▪ ≥ 3 Hauptrisikofaktoren ▪ früh manifestierter T1 D, Dauer > 20 Jahre hohes Risiko ▪ keine Endorganschäden ▪ ≥ 1 weiterer Risikofaktor ▪ Diabetes-Dauer > 10 Jahre moderates Risiko ▪ T1 D, Alter < 35 Jahre ▪ T2 D, Alter < 50 Jahre ▪ Diabetes-Dauer < 10 Jahre ▪ keine weiteren Risikofaktoren < 70 mg/dl (< 1,8 mmol/l) < 100 mg/dl (< 2,6 mmol/l) < 80 mg/dl < 100 mg/dl (< 2,6 mmol/l) < 130 mg/dl (< 3,3 mmol/l) < 100 mg/dl ApoB = Apolipoprotein B; LDL-C = LDL-Cholesterin; Non-HDL-C = non-HDL- Cholesterin; T1D = Diabetes mellitus Typ 1; T2D = Diabetes mellitus Typ 2. Folgende Aspekte sind zu beachten: ▪ Begonnen wird in der Regel mit einem hochpotenten Statin, also Atorvastatin oder Rosuvastatin. ▪ Zum Erreichen des jeweiligen risikoadaptierten Ziel- wertes wird die höchste notwendige und verträgliche Statin-Dosis angewendet. ▪ Bei Bedarf wird mit Ezetimib kombiniert; bei Statin- Intoleranz wird es primär eingesetzt. ▪ Kombinationstherapeutika sind wegen der besseren Adhärenz den einzelnen Medikamenten überlegen. ▪ Bei besonders hohem kardiovaskulärem Risiko ist eine Anwendung von PCSK9-Inhibitoren notwendig; in Deutschland ist derzeit nur Evolocumab erhältlich. Die letztgenannten Therapeutika unterliegen gesonderten Regeln des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Merke Wichtigste Maßnahme zur kardiovaskulären Risikore- duktion ist eine zielwertgerechte Senkung von LDL- Cholesterin und Non-HDL-Cholesterin mit einem Statin. Für Fibrate und Omega-3-Fettsäuren ist ein kardiovasku- lärer Nutzen umstritten [20, 21]; auf die aktuellen Daten zu hochdosierter Eicosapentaensäure wird an anderer Stelle eingegangen an (s. S. 92). Angesichts der exzellen- Kleiner Exkurs: Fettstoffwechselstörungen bei Typ-1-Diabetes Auch bei einem Typ-1-Diabetes kann eine Entgleisung zu einer Hypertriglyzeridämie führen. Diese entsteht durch einen erhöhten Einstrom von freien Fettsäuren in die Le- ber. Ursache ist eine fehlende Inhibition der hormonsen- sitiven Lipase im Fettgewebe durch Insulin. Die Fettsäu- ren triggern wie beim Diabetes mellitus Typ 2 die VLDL- Produktion. Die Folgen der Hypertriglyzeridämie (rem- nants, sdLDL, erniedrigte HDL) sind ebenfalls nachweis- bar, aber wegen der fehlenden Insulinresistenz deutlich weniger prägnant als beim Typ-2-Diabetes. Die Hypertri- glyzeridämie ist bei ketoazidotischer Stoffwechsellage besonders stark ausgeprägt, ist aber gleichzeitig bei normnaher Blutzuckerführung komplett reversibel. Durch subkutane Insulingabe kann sogar eine „Supernor- malisierung“ erfolgen. KERNAUSSAGEN ▪ Die diabetische Dyslipidämie ist eine wesentliche Ursache des erhöhten kardiovaskulären Risikos bei Personen mit Diabetes. ▪ Charakteristiken sind erhöhte Triglyzeride, ver- mehrte small dense LDL, vermehrte Restpartikel Triglyzerid-reicher Lipoproteine und erniedrigtes HDL-Cholesterin. ▪ Non-HDL-Cholesterin ist ein zusätzlicher Zielwert bei diabetischer Dyslipidämie. ▪ Neben Lebensstilmaßnahmen wird mit Statinen, Ezetimib und gegebenenfalls PCSK9-Inhibitoren therapiert. ▪ Die zielwertgerechte Therapie der diabetischen Dyslipidämie leistet einen wesentlichen Beitrag zur kardiovaskulären Risikoreduktion bei Diabetes. Interessenkonflikt Vorträge, Reisekosten oder Beratungshonorare von: Sanofi, Amgen, MSD, Shire, Berlin-Chemie, Böhringer, Vitaflo, Biomarin, Genzyme, Akcea, Novartis, Daiichi-Sankyo. 90 Merkel M. Dyslipidämie bei Diabetes… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 85–91 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Dossier Neue lipidsenkende Substanzen David Sinning, Ulf Landmesser Gerade bei kardiovaskulären Hochrisikopatienten reicht eine Statintherapie allein häufig nicht aus, um optimale LDL-C-Werte zu erreichen. Welche Optionen derzeit bestehen – auch mit Blick auf Hypertriglyzeridämie und Lipoprotein(a)-Erhöhung – und wie die jeweilige aktuelle Studienlage zu den einzelnen Substanzen bzw. Kombinationstherapien aussieht, zeigt dieser Beitrag. Einleitung In den letzten Jahren ist der Wissensstand über die gene- tischen und pathophysiologischen Zusammenhänge zwischen Atherosklerose und den dafür kausalen athero- genen Lipoproteinen stark gewachsen. Derzeit steht eine Reduktion des „low density lipoprotein“-Cholesterins (LDL-C) als primäres Therapieziel für die Prävention der koronaren Herzerkrankung (KHK) und anderer athe- rosklerotischer Gefäßerkrankungen im Vordergrund. Aktuelle Untersuchungen weisen darauf hin, dass es für die Beziehung zwischen der durch eine medikamentöse Therapie erreichten LDL-C-Serumkonzentration und der kardiovaskulären Risikoreduktion keinen unteren Grenz- wert gibt. Aus diesem Grund wurden die LDL-C-Zielwerte für Patienten mit sehr hohem kardiovaskulärem Risiko zuletzt weiter abgesenkt. Für diese Patienten wird eine Kombinationstherapie mit Ezetimib und gegebenen- falls auch Proproteinkonvertase-Subtilisin/Kexin-Typ-9 (PCSK9)-Hemmer empfohlen. Derzeit laufen in großen klinischen Studienprogrammen Untersuchungen zur möglichen kardiovaskulären Risikoreduktion durch Absenken der Triglyzerid-reichen Lipoproteine und eines erhöhten Lipoprotein(a)-Spiegels. Medikamentöse Optionen zur LDL-C-Senkung Statine Zur Prävention atherosklerotischer Gefäßerkrankungen bestärkt die aktualisierte ESC/EAS-Leitlinie von 2019 die LDL-C-Senkung als primäres Ziel bei der Therapie von Dyslipidämien [1]. In Abhängigkeit von der kardiovasku- lären Risikokategorie wurden neue, tiefere LDL-C-Thera- pieziele definiert. Durch deren Erreichen sollen kardiovas- kuläre Ereignisse sowohl in der Primär- als auch in der Sekundärprävention effektiver verhindert werden. Merke Eine Vielzahl randomisierter Endpunktstudien konnte die kardiovaskuläre Risikoreduktion durch eine LDL-C- Absenkung mittels Statins nachweisen. Deshalb sind Statine weiterhin die primäre Therapie zur Prävention kardiovaskulärer Ereignisse [2]. Um eine optimale Risikoreduktion zu erreichen, sind jedoch zusätzliche Ansätze zur medikamentösen LDL-C- Reduktion erforderlich. Und das vor allem aus 2 Gründen: ▪ Zum einen bleibt bei vielen Patienten das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse trotz Statintherapie in ma- ximal verträglicher Dosis relevant erhöht. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn keine ausreichende LDL-C- Reduktion erzielt werden kann [3]. So zeigte sich bei- spielsweise bei Patienten mit KHK trotz maximal tole- rierter Statintherapie noch eine kardiovaskuläre Ereig- nisrate von 9 % über einen relativ kurzen Zeitraum [4]. ▪ Zum anderen stellen mögliche Nebenwirkungen einer Statintherapie im klinischen Alltag ein relevantes Problem dar: Insbesondere Statin-assoziierte musku- läre Symptome erschweren die Therapieadhärenz oder führen oftmals zum Therapieabbruch. Daten aus Beobachtungsstudien weisen darauf hin, dass etwa die Hälfte aller Patienten, bei denen eine Statinthera- pie initiiert wurde, diese innerhalb eines Jahres bereits wieder beendet [5, 6]. Ezetimib Der Cholesterin-Absorptionshemmer Ezetimib vermindert die Aufnahme von Cholesterin und Phytosterinen aus Darm/Gallenwegen durch Blockade des NPC1L1-Proteins. Die Therapie mit Ezetimib 10 mg/d führt zu einer LDL-C-Sen- kung um bis zu 20 % zusätzlich zu einer Statintherapie [7]. Studienlage In der IMPROVE-IT-Studie wurden 18 144 Patienten nach akutem Koronarsyndrom randomisiert zu ▪ einer Therapie mit Simvastatin 40 mg/d oder ▪ einer Therapie mit Simvastatin 40 mg/d und Ezetimib 10 mg/d. 92 Sinning D et al. Neue lipidsenkende Substanzen… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 92–101 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Dossier LDL-C Endosom PCSK9- Inhibitor LDL-Rezeptor LDL-Rezeptor Endosom Lysosom a b Lysosom ▶ Abb. 1 Wirkungsmechanismus der PCSK9-Inhibitoren. PCSK9 bindet an den LDL-Rezeptor und verhindert, dass LDL-Cholesterin (LDL-C) im sauren pH der Endosomen vom Rezeptor dissoziiert. Der LDL-Rezeptor wird in der Folge zusammen mit LDL-C lysosomal abgebaut a. PCSK9-Inhibitoren fangen das PCSK9 ab und verhindern damit dessen Bindung an den LDL-Rezeptor. So kann der Rezeptor vom LDL-Cholesterin dissoziieren und wird recycelt, während nur das LDL-Cholesterin im Lysosom abgebaut wird. Da- durch erhöht sich die LDL-Rezeptordichte der Hepatozyten und die LDL-Cholesterin-Clearance steigt b. Quelle: Richter K, Barthel A, Bornstein SR. PCSK9-Inhibitoren – Durchbruch bei der LDL-Cholesterin-Senkung? Dtsch Med Wochenschr 2016; 141: 863–869. gel (als kumulativer Marker sämtlicher atherogener Lipidpartikel) bei beiden medikamentösen Therapien jeweils ca. 50 % beträgt [8, 18], und ▪ senken Lp(a) (Lipoprotein(a)) über einen noch nicht endgültig geklärten Mechanismus um ca. 25 %, wohingegen eine Statintherapie die Lp(a)-Spiegel nicht reduziert – und möglicherweise sogar gering erhöht [19]. Die antiinflammatorische Wirkung von Statinen konnte für die PCSK9-Inhibitoren bisher nicht nachgewiesen wer- den, allerdings scheint dies für die kardiovaskuläre Risiko- reduktion auch nicht im Vordergrund zu stehen [20]. Studienlage Die FOURIER-Studie (für Evolocumab) und die ODYSSEY- OUTCOMES-Studie (für Alirocumab) untersuchten bei Pa- tienten mit etablierter kardiovaskulärer Erkrankung und bereits bestehender, maximal tolerierter Statintherapie mit/ohne Ezetimib, ob eine zusätzliche LDL-C-Absenkung mittels PCSK9-Hemmer das Auftreten kardiovaskulärer Ereignisse reduziert. In FOURIER wurden 27 564 Patien- ten mit stattgehabtem Myokardinfarkt, Schlaganfall oder peripherer arterieller Verschlusskrankheit einge- schlossen. Ergebnisse: ▪ Die mit Evolocumab behandelten Patienten hatten nach 48 Wochen ein durchschnittliches LDL-C von 30 mg/dl. ▪ Für den primären, kombinierten Endpunkt (kardiovas- kulärer Tod, Myokardinfarkt, Schlaganfall, Hospitalisa- tion aufgrund instabiler Angina pectoris oder Koro- narrevaskularisation) zeigte sich über einen mittleren Beobachtungszeitraum von 2,2 Jahren eine signifikan- te Reduktion durch die Therapie mit Evolocumab vs. Placebo (9,8 % vs. 11,3 %; p < 0,001). ▪ Zwischen den beiden Gruppen ergaben sich keine sig- nifikant unterschiedlichen Nebenwirkungsraten, mit Ausnahme seltener lokaler Reaktionen an der Injek- tionsstelle, welche in der Evolocumab-Gruppe häufi- ger auftraten [18]. 94 Sinning D et al. Neue lipidsenkende Substanzen… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 92–101 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Dossier Merke Merke Durch Inclisiran wurde das LDL-C, gemessen an Tag 510, um 52 % bzw. 50 % reduziert; das LDL-C in der Pla- cebogruppe veränderte sich jeweils erwartungsgemäß kaum. Mit Ausnahme von seltenen, milden oder moderaten lo- kalen Reaktionen an der Inclisiran-Injektionsstelle erga- ben sich für die Nebenwirkungsrate keine signifikanten Unterschiede zwischen Inclisiran und Placebo [26]. Kar- diovaskuläre Ereignisse (präspezifizierter Endpunkt) tra- ten in ORION-10 und ORION-11 numerisch seltener unter Inclisiran auf als unter Placebo. Allerdings erlaubt die ge- ringe Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse während einer Beobachtungsdauer von nur 540 Tagen diesbezüglich keine abschließende Beurteilung. Vielmehr wird diese Fragestellung derzeit in der großen ORION-4-Endpunkt- studie untersucht, welche voraussichtlich in 2024 abge- schlossen sein wird (https://clinicaltrials.gov/ct2/show/ NCT03705234). Die ORION-9-Studie konnte kürzlich die Sicherheit und Effektivität (bezüglich LDL-C-Senkung) ei- ner Inclisiran-Therapie bei Patienten mit heterozygoter FH nachweisen [27]. Im Oktober 2020 erhielt Inclisiran die europäische Zulassung. Bempedoinsäure Wirkmechanismus Wo setzt Bempedoinsäure an, sodass es letztlich zur LDL-C- Reduktion kommt? ▪ ATP-Citrat-Lyase (ACL) katalysiert die Reaktion von Citrat zu Acetyl-CoA, welches in HMG-CoA umgewan- delt wird. ▪ HMG-CoA wiederum wird durch die HMG-CoA-Re- duktase zu Mevalonat und letztlich zu Cholesterin verstoffwechselt. ▪ Bempedoinsäure gelangt nach oraler Gabe in die Leber, wo sie zunächst durch die Acyl-CoA-Synthetase (ACSVL1) aktiviert wird und dann die ACL inhibiert [28]. ▪ Die dadurch reduzierte hepatische Cholesterinsynthe- se führt zur Hochregulation von LDL-Rezeptoren auf der Leberzelloberfläche und damit letztlich zur LDL-C- Reduktion im Plasma. Die aktive Bempedoinsäure wirkt also im gleichen Stoff- wechselweg wie die die HMG-CoA-Reduktase inhibieren- den Statine – wenngleich an früherer Stelle. Wichtiger Unterschied zu Statinen ist auch: Statine inhibieren die Cholesterinsynthese nicht nur in Leberzellen, sondern auch in Muskelzellen (wo eine verminderte Lipidmodifika- tion ein mögliches pathophysiologisches Korrelat für Sta- tin-assoziierte muskuläre Symptome darstellen könnte) [29]. Da ACL ein leberspezifisches Enzym ist, kommt es unter Bempedoinsäure zu einer Reduktion der Cholesterin- synthese ausschließlich in der Leberzelle, was das Auf- treten muskulärer Pathologien bzw. Symptome weni- ger wahrscheinlich werden lässt [28]. CLEAR- und andere Studien Mittlerweile sind mehrere Phase-III-Studien publiziert worden, welche die Sicherheit und Effektivität einer The- rapie mit Bempedoinsäure im Hinblick auf eine LDL-C- Reduktion untersuchten. ▪ CLEAR Tranquility In die CLEAR-Tranquility-Studie eingeschlossen wurden 269 Patienten mit (zumindest partieller) Statin-Unver- träglichkeit, LDL-C > 100 mg/dl, ohne manifeste kardio- vaskuläre Erkrankung; eine niedrig dosierte Statinthera- pie, falls verträglich, war zugelassen. Es erfolgte eine 2:1-Randomisierung zu entweder einer Therapie mit Eze- timib + 180 mg Bempedoinsäure oder einer Therapie mit Ezetimib + Placebo. Ergebnis: Das LDL-C wurde durch die Therapie mit Bempedoinsäure zusätzlich zur Therapie mit niedrig dosiertem/keinem Statin + Ezetimib nach 12 Wo- chen um 29 % abgesenkt. Zum Auftreten unerwünschter Ereignisse ergaben sich keine Unterschiede zwischen Bempedoinsäure und Placebo [30]. ▪ Studie mit Patienten unter maximaler Statintherapie Eine Studie von Ballantyne et al. schloss 301 Patienten ein mit entweder einer manifesten kardiovaskulären Erkran- kung oder einem hohen Risiko für eine solche, LDL-C > 100 mg/dl (kardiovaskuläre Erkrankung) bzw. LDL-C > 130 mg/dl (multiple kardiovaskuläre Risikofaktoren), hier jedoch trotz maximaler Statintherapie. Randomisiert wurde entweder zu 180 mg Bempedoinsäure und 10 mg Ezetimib als Kombinationstablette, 180 mg Bempedoin- säure, 10 mg Ezetimib oder Placebo. Die stärkste LDL-C Senkung wurde mit 38 % in der Gruppe der mittels Bem- pedoinsäure und Ezetimib in Kombination behandelten Patienten erzielt. Erneut ergaben sich bezüglich etwaiger unerwünschter Ereignisse keine signifikanten Unterschie- de zwischen den Gruppen [31]. ▪ CLEAR Harmony, Wisdom, Serenity Die bisher größte Phase-III-Studie mit Bempedoinsäure ist CLEAR Harmony. Hier wurden 2230 Patienten mit ent- weder kardiovaskulärer Erkrankung, familiärer Hypercho- lesterinämie oder beidem eingeschlossen. Das LDL-C musste trotz maximal verträglicher lipidsenkender Thera- pie bei > 70 mg/dl liegen. Es erfolgte die 2:1-Randomisie- rung zu entweder 180 mg Bempedoinsäure oder Placebo. Ergebnis: Nach 52 Wochen zeigte sich unter Bempedoin- säure eine im Vergleich zu Placebo relative LDL-C-Absen- 96 Sinning D et al. Neue lipidsenkende Substanzen… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 92–101 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Dossier ▶ Tab. 2 Neue Lipidsenker: Therapieziel Triglyzerid-Reduktion. Lipidsenker Dosis Eicosapentaensäure 2-mal 2 g/d (per os) Triglyzerid- Absenkung ca. 20 % [40] Endpunktstudie Leitlinienempfehlung REDUCE-IT [40] 25 %ige relative Risi- koreduktion für ein kardiovaskuläres Ereignis IIa-B (hohes oder sehr hohes kardio- vaskuläres Risiko, Triglyzeride 135– 499 mg/dl trotz Statin) [1] ▶ Tab. 3 Neue Lipidsenker: Therapieziel Lipoprotein(a)-Reduktion. Lipidsenker Dosis Lipoprotein(a)- Absenkung Endpunktstudie Leitlinienempfehlung ASO (APO(a)-LRX) 20 mg wöchentlich (subkutan) ca. 80 % [50] rekrutierend nicht zutreffend Antisense-Oligonukleotid zur Therapie bei Lipoprotein(a)-Erhöhung Erhöhtes Lp(a) ist ein unabhängiger und vermutlich kausa- ler Risikofaktor für Atherosklerose und kalzifizierende Aor- tenklappenstenose [41–44]. Das dem LDL-C strukturähnli- che Lp(a) wirkt nicht nur proatherogen, sondern auch prothrombotisch und proinflammatorisch. Der Lp(a)- Serumspiegel ist im Wesentlichen genetisch determiniert (autosomal-kodominante Vererbung) und kann durch Lebensstilmaßnahmen nicht relevant abgesenkt werden. Bisher wurden für einige Substanzen/Maßnahmen Lp(a)- senkende Eigenschaften belegt, es steht aber keine effi- ziente selektive Lp(a)-senkende Therapie zur Verfügung. ▪ Für Nikotinsäure konnte zwar eine 30–40 %ige Lp(a)- Absenkung nachgewiesen werden, jedoch zeigte sich in großen Endpunktstudien kein positiver Einfluss auf kardiovaskuläre Ereignisse [45]. ▪ PCSK9-Inhibitoren senken Lp(a) um ca. 25 % ab (Mecha- nismus ist bisher noch nicht endgültig geklärt) [46]. ▪ Lipid-Apherese (siehe Infobox) INFOBOX Lipid-Apherese Eine Möglichkeit zur Absenkung des Lp(a) bietet die Lipid-Apherese. Hiermit können akut Spiegelabsen- kungen von bis zu 75 % erreicht werden. Aufgrund der hohen Syntheserate von Lp(a) steigen die Serum- werte nach einer Apherese rasch wieder an, bei einer wöchentlichen Anwendung beträgt die mittlere Lp(a)- Reduktion letztlich daher nur 30–35 % [47]. Bisher lie- gen keine randomisierten Studien zur Lipid-Apherese vor. Die Lipid-Apherese kann bei einem Lp(a)-Serum- spiegel > 60 mg/dl und progredienter Atherosklerose trotz kontrolliertem LDL-C erwogen werden. Wirkmechanismus und Studienlage Ein innovativer Ansatz zur medikamentösen Therapie der Lp(a)-Erhöhung besteht in der Möglichkeit, die Lp(a)- mRNA mittels eines komplementären, einzelsträngigen Antisense-Oligonukleotids (ASO) zu binden und hier- durch deren Abbau zu initiieren [48]. Analog zur Therapie der Hypercholesterinämie mittels siRNA (Inclisiran, s. o.) koppelt auch bei diesem therapeutischen Ansatz das Therapeutikum an GalNAc. Damit erfolgt also eine spezi- fische Aufnahme des ASO in die Leberzellen, wo etwa 99 % des Plasma-Lp(a) gebildet werden [49]. In eine randomisierte, doppelblinde und Placebo-kontrollierte Phase-II-Studie wurden insgesamt 286 Patienten mit kardiovaskulärer Erkrankung und einem Lp(a)-Serumspie- gel ≥ 60 mg/dl eingeschlossen. Merke Es zeigte sich, dass die wöchentliche subkutane Injektion von 20 mg des Wirkstoffs APO(a)-LRX eine Lp(a)-Absen- kung von im Mittel 80 % bewirkt [50]. Mit Ausnahme milder Reaktionen an den Injektionsstel- len ergaben sich im Vergleich mit Placebo keine signifi- kanten Unterschiede bezüglich etwaiger Nebenwirkun- gen [50] (▶ Tab. 3). Im Jahr 2019 startete eine große Phase-III-Studie (Lp(a)HORIZON). Sie untersucht, ob bei Patienten mit Lp(a)-Erhöhung (≥ 70 mg/dl) und kardiovaskulärer Er- krankung durch eine Lp(a)-Absenkung mittels APO(a)- LRX eine Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse erreicht werden kann. Bis Juni 2024 sollen insgesamt 7680 Patien- ten eingeschlossen werden (https://clinicaltrials.gov/ct2/ show/NCT04023552). 98 Sinning D et al. Neue lipidsenkende Substanzen… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 92–101 | © 2021. Thieme. All rights reserved.

Dossier [16] Koren MJ, Lundqvist P, Bolognese M et al. Anti-PCSK9 mono- therapy for hypercholesterolemia: the MENDEL-2 randomized, controlled phase III clinical trial of evolocumab. J Am Coll Cardiol 2014; 63: 2531–2540. doi:10.1016/j.jacc.2014.03.018 [17] Robinson JG, Nedergaard BS, Rogers WJ et al. Effect of evolo- cumab or ezetimibe added to moderate- or high-intensity statin therapy on LDL-C lowering in patients with hypercho- lesterolemia: the LAPLACE-2 randomized clinical trial. JAMA 2014; 311: 1870–1882. doi:10.1001/jama.2014.4030 [18] Sabatine MS, Giugliano RP, Keech AC et al. Evolocumab and Clinical Outcomes in Patients with Cardiovascular Disease. N Engl J Med 2017; 376: 1713–1722. doi:10.1056/ NEJMoa1615664 [19] Desai NR, Kohli P, Giugliano RP et al. AMG145, a monoclonal antibody against proprotein convertase subtilisin kexin type 9, significantly reduces lipoprotein(a) in hypercholesterolemic patients receiving statin therapy. 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Aktuellstes Fachwissen präzise auf den Punkt Ein Nachschlagewerk, das die Radiologie des Gastrointestinalen Systems umfassend behandelt und dabei übersichtlich bleibt? Referenz Radiologie Gastrointestinales System beweist, dass dies möglich ist: Gut verständlich und klar strukturiert stellt das Werk die wesentlichen Befunde der Bildgebung bei Erkrankungen des Abdomens dar. Präzise werden die Krankheitsbilder, ihre Grundlagen und vor allem die wegweisenden diagnostischen Kriterien geschildert. Profitieren Sie bei der Befundung und während der Bildanalyse von umfangreichem Bildmaterial, das die morphologischen Details gut nachvollziehbar zeigt. Buch + Online-Version in der eRef ISBN 978 3 13 242151 6 Vorbestellpreis bis 3 Monate nach Erscheinen: 179,99 € [D] danach 199,99 € [D] Jetzt zum Jetzt zum Vorbestellpreis Vorbestellpreis www.thieme.de/shop . 9 9 4 3 A R H , t r a g t t u t S r e t s i g e r s l e d n a H d n u - z t i S , G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . t e n h c e r e b r e t i e w n e t s o k d n a s r e V n e d n e l l i a f n a e d n e d r e w ] D l [ b a h r e ß u a n e g n u r e f e i L i e B . n e t l a h e b r o v r e m ü t r r I d n u n e g n u r e d n ä s i e r P Expertenwissen klar, präzise, sicher

Kasuistik Retrorektales Teratom (Dermoidzyste) des Erwachsenen Diagnostik und Therapie am Beispiel einer Kasuistik Retrorectal teratoma (dermoid cyst) of an adult Diagnosis and treatment based on an example of a case report Autoren Mathias Bebobru, Farid-Ahmed Nasri, Maximilian Niculescu-Valaenu, Klaus Friedhoff Institut Helios-Klinik Attendorn Schlüsselwörter präsakrale Tumoren, Dermoidzyste, Diagnose, therapeutisches Vorgehen, Komplikationen Key words presacral tumors, dermoidcyst, diagnosis, surgical approach, complikations Bibliografie Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 104–107 DOI 10.1055/a-1265-8649 ISSN 0012-0472 © 2020. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Korrespondenzadresse Dr. med. Klaus Friedhoff Chefarzt Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie Helios-Klinik Attendorn, 53479 Attendorn, Deutschland Tel.: +49/27 22/60 23 36 Klaus.Friedhoff@Helios-gesundheit.de ZUSAMMENFASSUNG Anamnese Eine 29-jährige Patientin mit seit 2 Jahren beste- henden Schmerzen der unteren Lendenwirbelsäule wurde chirurgisch vorgestellt. Diagnostik und Befunde Ursache der Schmerzen war ein retrorektaler präsakraler zystischer Tumor. Zur Diagnosestel- lung erfolgten eine transvaginale Endosonografie, eine CT-Untersuchung mit Kontrastmittel und eine MRT-Untersu- chung des kleinen Beckens. Therapie und Verlauf Es erfolgte die operative Entfernung des Tumors. Histologisch zeigte sich ein monodermales zysti- sches Teratom. Der postoperative Verlauf war unauffällig. Diskussion Retrorektale Tumoren, die nicht mit dem Rektum in Beziehung stehen, sind insgesamt selten. Je nach Lage des Tumors sollten diese durch einen ventralen transabdominalen oder dorsalen Zugang operativ entfernt werden. ABSTR AC T Medical history A 29 year old woman was introduced to the surgical department with a history of pain in the lower lumbar spine. Clinical findings and diagnosis The cause of the pain was associated with a retrorectal presacral cystic mass. Diagnosis was made by performing a transvaginal ultrasound, a contrast CT scan and MRI of the pelvic. Treatment and course Open surgery was performed. The histologic findings showed a monodermal cystic teratoma. The postoperative management showed no complications. Conclusion Retrorectal Tumors not associated with the rectum in the small pelvic are rare. These tumors should be surgically removed. Einleitung Bei retrorektalen Tumoren des Erwachsenen handelt es sich um eine Rarität. Wir berichten über einen solchen Tumor. Hierbei wird auf die präoperative Diagnostik, das operative Vorgehen und die möglichen Komplikationen hingewiesen. Kasuistik Anamnese Vorgestellt wurde eine 29-jährige Frau (1,75 m, 70 kg). Vor 3 Jahren traten rezidivierende Harnwegsinfekte auf. Sonst lagen keine weite- ren Vorerkrankungen vor. Während der Schwangerschaft ihres ersten Kindes entwickelte sie Schmerzen im Bereich des Kreuzes und Steißbeins. Die Schmerzen nahmen an Intensität zu. Insbeson- 104 Bebobru M et al. Retrorektales Teratom (Dermoidzyste)… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 104–107 | © 2020. Thieme. All rights reserved.

Kasuistik ▶ Abb. 3 Horizontale Linie durch den 3. Sakralwirbel zur Bestimmung, über welchen Zugang operiert wird. Quelle: Heinz Fallenski, Lüden- scheid Strukturen. Die MRT-Untersuchung zeigt die Weichteile mit Ge- fäßversorgung. Beide Untersuchungsmethoden ergänzen sich und sollten in der präoperativen Planungsdiagnostik eingesetzt werden [3, 5, 6]. Retrorektale Tumoren sollten operativ entfernt werden [8]. Es besteht aufgrund der Seltenheit dieser Tumoren wenig Erfahrung hinsichtlich ihrer operativen Entfernung [7]. Der operative Zugang zum Tumor ist von der anatomischen Lage der Geschwulst abhän- gig. Es stehen der perineale, paracoccygeale, dorsale und der transperitoneale ventrale Zugang zur Verfügung [7, 10, 11]. Bei Tumoren, die nicht mit dem Rektum in Verbindung stehen und unterhalb einer gedachten horizontalen Linie durch den 3. Sakral- wirbelkörper lokalisiert sind, wird der dorsale paracoccygeale oder perineale Zugang empfohlen. Tumoren oberhalb dieser gedach- ten horizontalen Linie (▶ Abb. 3) sollten durch einen ventralen transabdominellen minimalinvasiven oder offenen Zugang ent- fernt werden [12]. In unserem Fall haben wir den dorsalen paracoccygealen Zugang gewählt. Im Rahmen der Aufklärung wird über die möglichen Kom- plikationen des Eingriffs informiert. Dies betrifft insbesondere die Kontinenzstörung, Rektumverletzungen, Verletzungen des venö- sen Plexus sacralis und Ureterverletzungen. Diese Komplikationen sind nicht selten und können dramatisch verlaufen [8, 9]. In der Literatur werden bis zu 26 % Komplikationen angegeben. Mitunter muss eine präoperative Embolisation des venösen Plexus in Erwä- gung gezogen werden [9, 13]. Im Rahmen der Operation stellt sich die Frage nach dem Ausmaß der Resektion. Empfohlen wird bei einem Steißbeindermoid die Resektion der Steißbeinspitze. Im vorliegenden Fall konnte die Steißbeinspitze klar vom zystischen Tumor differenziert werden [14, 15]. Es lagen etwa 2 cm zwischen Zystenwand und Steißbeinspitze vor. Deswegen wurde auf eine Resektion des unteren Steißbeins verzichtet. Die Lokalrezidivrate bei malignen retrorektalen präsakralen Tumorrändern ist deutlich erhöht. Nach chirurgischer Resektion haben Chondrome die höchste Lokalrezidivrate. Insgesamt treten Lokalrezidive nach chirurgischer Resektion in ca. 0–15 % der Fälle auf. Benigne Tumoren haben nach kompletter chirurgischer Resektion eine Rezidivrate von 0 %. Die Qualität der radikalen chi- rurgischen Resektion hat einen direkten Einfluss auf die Lokalrezi- divrate [6]. KERNAUSSAGEN ▪ Retrorektalen Tumoren im kleinen Becken, die nicht mit dem Rektum in Verbindung stehen, sind insgesamt selten. Es besteht wenig Erfahrung hinsichtlich ihrer operativen Entfernung. ▪ Bei der Dermoidzyste handelt es sich um einen gutartigen Keimzelltumor, der primär operativ beseitigt werden soll. Durch komplette Resektion des Tumors ist der Patient geheilt und eine weitere Nachsorge diesbezüglich ist nicht mehr erforderlich. ▪ Im Rahmen der präoperativen Diagnostik ergänzen sich die kontrastmittelverstärkte CT-Untersuchung des Abdo- mens und die MRT-Untersuchung. ▪ Intraoperative Komplikation, insbesondere Blutungen, können dramatisch verlaufen. Der operative Zugang hängt von der anatomischen Lage des Tumors ab. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Literatur [1] Farthmann EH, Fiedler L. Retrorectale und präsakrale Tumoren. Der Chirurg 1986; 57: 496–501 [2] Marti MC, Givel JC. Chirurgie anorektaler Krankheiten. 1. Aufl. Berlin- Heidelberg: Springer; 1992: 212–213. doi:10.1007/978-3-642-77233-7 [3] Glasgow SC, Birnbaum E, Lowney JK et al. Retrorectal Tumors: A diagnostic and therapeutic Challenge. Diseases of the Colon & Rectum 2005; 48 (8): 1581–1587. doi:10.1007/s10350-005-0048-2 [4] Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendgynäkologie e. V. Abstract des Münchener Symposiums Kinder- und Jugendgynäkologie (23–25.10.2003). Im Internet „Keimzelltumoren des Ovars und Behandlungsergebnisse der Therapieoptimierungsstudie MAKEI 96“. Prof. Dr. med. U. Göbel, G. Calaminus und D. Schneider, Düsseldorf: www.kindergynaekologie.de/Fort-und-Weiterbildung [5] Aranda-Narváez JM, Gonzalez-Sanchez AJ, Montiel-Casado C et al. Posterior approach (Kraske procedure) for surgical treatment of presacral tumors. World J Gastrointest Surg 2012; 4: 126–130. doi:10.4240/wjgs. v4.i5.126 [6] Dziki L, Wlodarczyk M, Sobolewska-Wlodarczyk A et al. Presacral tumors: diagnosis and treatment-a challenge for a surgeon. Arch Med Sci 2019; 15: 722–729. doi:10-5114/aoms.2016.61441 [7] Lev-Checlouche D, Gutman M, Goldman G et al. Presacral tumors: a practical classification and treatment of a unique and heterogeneous group of diseases. Surgery 2003; 133: 473–478. doi:10.1067/msy.2003.118 106 Bebobru M et al. Retrorektales Teratom (Dermoidzyste)… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 104–107 | © 2020. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Sauerstofftherapie in der Notfall- und Intensivmedizin Jörn Grensemann, Christian Wachs, Stefan Kluge Sauerstoff ist das am häufigsten verordnete Medikament im Krankenhaus. Obwohl eine Sauerstofftherapie bei vorliegender Hypoxämie in Notfallsituationen lebensrettend ist, sind schädigende Effekte im Sinne einer Sauerstofftoxizität bei hohen Sauerstoffkonzentrationen bekannt. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die aktuellen Empfehlungen zur Sauerstoffdosis und -verabreichung. ABKÜR ZUNGEN ATP CO-Hb COPD DAMP Adenosintriphosphat Carboxyhämoglobin chronisch-obstruktive Lungen- erkrankung Danger associated molecular Pattern inspiratorische Sauerstofffraktion Hämoglobin High Flow Nasal Cannula FiO2 Hb HFNC NADPH-Oxidase Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid- Phosphat-Oxidase Stickoxid Nicht-ST-Strecken-Hebungsinfarkt pathogen associated molecular Pattern positiver endexspiratorischer Druck (arterieller) Sauerstoffpartial- druck reactive Oxygen Species (pulsoxymetrisch gemessene) Sauerstoffsättigung Valve integrated Pressure Regulator World Health Organization NO NSTEMI PAMP PEEP pO2/paO2 ROS SO2/SpO2 VIPR WHO Historie Bereits Leonardo da Vinci erkannte um 1500 n. Chr., dass bestimmte „Teile der Luft“ eine Verbrennung unterhalten können, während „andere Teile“ Lebewesen ersticken las- sen. Um 1771 wurde Sauerstoff von dem englischen Che- miker Joseph Priestley und dem deutsch-schwedischen Apotheker Carl Wilhelm Scheele unabhängig voneinander beschrieben. Die Sauerstoffgewinnung durch Verflüssi- gung gelang zunächst nur in kleinen Mengen, bis 1895 C. von Linde ein Verfahren zur Luftzerlegung entwickelte, das seit 1902 industriell zur Sauerstoffgewinnung ange- wendet wird. Mit dem 1889 durch J. H. Dräger und seinem Sohn Dr. B. Dräger zum Patent angemeldeten Lubeca- Ventil als Druckminderer stand die Möglichkeit der kon- trollierten Dosierung zur Verfügung [1]. Physiologische Grundlagen Sauerstoff ist physiologisch für den oxidativen Stoffwech- sel erforderlich und für Primaten lebensnotwendig. In der Atmungskette wird Sauerstoff durch die Cytochrom-c- Oxydase reduziert und trägt damit zum Aufbau eines mitochondrialen Transmembrangradienten für Protonen bei, der für die Synthese von Adenosintriphosphat (ATP) erforderlich ist. Steht nicht genügend Sauerstoff zur Verfügung, wird die Atmungskette unterbrochen und die Energiegewinnung auf die anaerobe Glykolyse be- schränkt. Klinisch kommt es bei protrahierter Hypoxie zur Laktatazidose und zur Nekrose hypoxiesensitiver Gewebe wie den Zellen des Zentralnervensystems. Im Blut wird Sauerstoff überwiegend an Hämoglobin ge- bunden transportiert, der physikalisch gelöste Sauerstoff ist unter normobaren Bedingungen zu vernachlässigen, wie aus der nachstehenden Formel hervorgeht. Demzu- folge führt die Erhöhung des Sauerstoffpartialdrucks (pO2) von 80 auf 130 mmHg nur zur zusätzlichen Lösung von 0,155 ml O2/dl Blut, während bei einer Sauerstoffsät- tigung (SO2) von 96 % und einem Hb-Wert von 14 g/dl bereits ca. 18,5 ml O2/dl Blut enthalten sind. Die Sauerstoffkonzentration (cO2) lässt sich über den Hämoglobingehalt und die Sauerstoffsättigung errech- nen: cO2 = 1,36 × Hb × SO2 + 0,0031 × pO2 mit cO2 [ml O2/dl Blut], Hb [g/dl], SO2 und pO2 [mmHg] 108 Grensemann J et al. Sauerstofftherapie in der… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 108–120 | © 2020. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung schenventils der Temperaturanstieg im Druckminderer geringgehalten, sodass die Kompressionswärme über eine längere Zeit an den Ventilkopf abgegeben werden kann und die Spitzentemperatur geringer ausfällt. „Danger associated molecular Patterns“ (DAMP) freige- setzt, die wiederum zusammen mit freien Sauerstoffradi- kalen zur weiteren Zellschädigung führen und somit ei- nen Circulus vitiosus unterhalten können [4]. Cave Sauerstoffflaschen und insbesondere deren Anschluss- gewinde dürfen niemals mit organischen Substanzen wie Öle oder Fette in Berührung kommen, die z. B. in Handcremes und ähnlichen Pflegeprodukten enthalten sein können. Ein durch Sauerstoffzufuhr unterhaltener Brand ist nur nach Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr zu löschen. Wird der Brand durch Sauerstoff aus einer Flasche unter- halten, ist es aufgrund der hohen Temperaturen zumeist nicht möglich, das Flaschenventil zu schließen, auch wenn dieses prinzipiell nach Erhitzung auf 800–1000 °C noch schließbar ist. Wird der Brand durch Sauerstoff aus einem Wandanschluss unterhalten, sollte die Notabsper- rung betätigt werden. Dabei ist zu beachten, dass meis- tens mehrere Bettplätze gleichzeitig von der Sauerstoff- zufuhr getrennt werden. Keinesfalls darf versucht werden, einen Metallbrand mit- tels Wasser zu löschen, da es katalytisch bei den hohen auftretenden Temperaturen zu einer Aufspaltung von Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff mit anschließender Knallgasreaktion und Ausbreitung des Brandes kommt. Aus den genannten Gründen bleibt dem Anwender im Fal- le des Brandes oft nur, den Patienten, weiteres Personal und sich selbst aus dem Gefahrenbereich zu entfernen und die Feuerwehr zu alarmieren. Cave Ein durch Sauerstoff unterhaltener Brand kann nur nach Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr gelöscht werden! Einen durch eine Sauerstoffflasche unterhal- tenen Brand niemals versuchen mit Wasser zu löschen! Sauerstofftoxizität Bereits wenige Jahre nach Einführung der Sauerstoffthe- rapie kamen Berichte über eine Sauerstofftoxizität auf, wo es unter hyperbarer Sauerstoffexposition zu Krämp- fen oder sogar zum Exitus kam [2] oder eine Sauerstoff- exposition zur Abnahme der Vitalkapazität und zu sub- sternalen Beschwerden führte [3]. Heute ist bekannt, dass es durch vermehrte freie Sauerstoffradikale („reacti- ve Oxygen Species“, ROS) zu einer Zellschädigung kommt, die in einer Apoptose oder Nekrose münden kann. Begünstigend wirken zusätzliche Faktoren wie z. B. eine Infektsituation, in der „pathogen associated molecu- lar Patterns“ (PAMP) freigesetzt werden. Durch die Apop- tose oder Nekrose werden weitere Mediatoren sowie Die Entstehung von freien Sauerstoffradikalen wird durch einen hohen Sauerstoffpartialdruck und eine erhöhte physikalische Lösung begünstigt. Applikation Sauerstoffinsufflation Die einfachste Applikationsform ist eine nasale Insuffla- tion, die über eine Nasensonde oder -brille erfolgt. Mit dieser Methode können bis zu 15 l/min appliziert werden, dadurch kann die inspiratorische Sauerstofffraktion (FiO2) in Abhängigkeit des Flusses auf ca. 25 % (1 L/min) bis 45 % (bei 6 bis 15 L/min, abhängig vom Atemminutenvolu- men) angehoben werden. Faustregel: FiO2 in % = 21 % + 3 × Fluss in l/min Eine etwas höhere FiO2 von bis zu ca. 55 % kann mittels einer Gesichtsmaske erreicht werden. Wird Sauerstoff mit 10–15 l/min in einen Reservoirbeutel geleitet, aus dem der Patient atmet, kann die FiO2 auf ca. 80–95 % an- gehoben werden [5]. Die tatsächliche FiO2 hängt jedoch immer vom Atemmi- nutenvolumen und vom Inspirationsfluss ab, da während der Inspiration Umgebungsluft eingeatmet werden kann. Ist der Reservoirbeutel Teil eines Rückatmungssystems (Kreissystem) mit Kohlendioxidabsorber, kann eine FiO2 von 1,0 erreicht werden. Im ambulanten Bereich stehen Demand-Systeme zur Verfügung, bei denen durch eine mit der Inspiration synchronisierte Abgabe Sauerstoff eingespart werden kann. High-Flow-Sauerstofftherapie Soll bei einem spontanatmenden Patienten die FiO2 wei- ter erhöht werden, muss der Sauerstofffluss soweit erhöht werden, dass er größer als der Inspirationsfluss des Patienten ist, damit bei der Einatmung keine Umge- bungsluft angesaugt werden kann. Dies ist bei der High- Flow-Sauerstofftherapie (auch „High Flow Nasal Cannu- la“-Therapie, HFNC) gegeben, mit der Flüsse bis zu 60 oder sogar 70 l/min erreicht werden. Da hierbei die physiologische Anfeuchtung und Erwär- mung der Atemluft nicht mehr durch den Patienten erfol- gen kann, ist eine externe Erwärmung und Anfeuchtung obligat. Zusätzlich lässt sich mittels dieses Verfahrens ein geringer positiver endexspiratorischer Druck (PEEP) über einen Staudruckeffekt im Pharynx erzielen, bei ge- schlossenem Mund beträgt der PEEP ca. 3 mbar, bei ge- 110 Grensemann J et al. Sauerstofftherapie in der… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 108–120 | © 2020. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Die Frage nach dem optimalen Sauerstoffpartialdruck für beatmete Intensivpatienten muss aktuell noch unbeant- wortet bleiben; unstrittig ist jedoch, dass eine Hyperoxie sicher keinen Benefit für diese Patientengruppe bietet. FAZIT Die aktuelle Leitlinienempfehlung eines Ziel-Sauer- stoffpartialdrucks zwischen 60 und 80 mmHg und ei- ner Sauerstoffsättigung von 90–94 % hat auch nach den zuletzt publizierten, in der Leitlinie für beatmete Intensivpatienten noch nicht berücksichtigten Publi- kationen Bestand und sollte unbedingt befolgt wer- den. Auch wenn aktuell der optimale Zielbereich für Sau- erstoff unklar ist, gibt es keinen Benefit einer Hyper- oxie. Myokardinfarkt Seit langem ist bekannt, dass Sauerstoff, mutmaßlich über die Antagonisierung des als Vasodilatator agieren- den Stickoxids (NO), am Koronarsystem vasokonstriktiv wirken kann. So konnte bei Patienten, bei denen koro- narangiografisch eine koronare Herzerkrankung ausge- schlossen wurde, unter einem Acetylcholin-Provoka- tions-Test in Verbindung mit der Atmung reinen Sauerstoffs ein Koronarspasmus ausgelöst werden, nicht aber bei Atmung von Raumluft [13]. Auf der anderen Seite erscheint es plausibel, das durch den Infarkt hypoxische Gewebe durch eine zusätzliche Sauerstoffgabe zu oxygenieren. Allerdings spricht die aktuelle Studienlage gegen diesen Ansatz, der, am ehes- ten durch die Ausbildung zusätzlicher freier Sauerstoffra- dikale, zu einem weiteren Untergang von Myokardgewe- be führt. In der prospektiv randomisierten AVOID-Studie bei Pa- tienten mit ST-Strecken-Hebungsinfarkt erhielt eine Gruppe nur Sauerstoff bei einer peripheren Sauerstoff- sättigung < 94 %, während die andere Gruppe eine feste Dosis von 8 l/min erhielt [14]. Die Gruppe mit fixer Sauer- stoffgabe hatte eine erhöhte Kreatinkinase, vermehrt Reinfarkte sowie Rhythmusstörungen und in einer Mag- netresonanztomografie ein halbes Jahr später eine grö- ßere Infarktgröße. In der DETO2X-AMI-Studie erhielt die Sauerstoffgruppe eine feste Dosis von 6 l/min Sauerstoff, die andere Grup- pe nur Sauerstoff bei einer peripheren Sättigung < 90 % [15]. Hier wurden auch Patienten mit Nicht-ST-Strecken- Hebungsinfarkten eingeschlossen (NSTEMI). Die Mortali- tät unterschied sich nicht, ebenso waren die Raten von Reinfarkten, Vorhofflimmern oder einem kardiogenen Schock nicht unterschiedlich. PR A XIS In Zusammenschau dieser beiden Studien muss pos- tuliert werden, dass auch beim Myokardinfarkt eine Hyperoxie schädlich sein kann, mindestens aber hat sie keinen Benefit. Daher sollte auch bei diesem Krankheitsbild eine zusätzliche Sauerstoffgabe un- terbleiben, solange die periphere Sauerstoffsätti- gung ≥ 90 % ist, wie zwischenzeitlich in den europä- ischen und amerikanischen Leitlinien empfohlen wird. Tritt im Rahmen eines Myokardinfarkts ein kardiogener Schock auf, empfiehlt die Anfang 2019 aktualisierte deutsche Leitlinie „Infarktbedingter kardiogener Schock“ weiterhin eine Sauerstoffgabe, um Sättigungswerte zwi- schen 94 und 98 % zu erreichen [16]. Diese Empfehlung beruht jedoch auf einem Expertenkonsens und kann nicht mit Daten belegt werden. Zudem wird der Leitlinie „Invasive Beatmung“ widersprochen, die einen Zielbe- reich zwischen 90 und 94 % vorschlägt, der sich zumin- dest aus retrospektiven Daten plausibel begründen lässt [17]. Insbesondere vor dem Hintergrund der Studien bei Myokardinfarkt mit potenziell negativen Effekten auf In- farktgröße und Reinfarkte sollte der klinisch gewählte Zielbereich im kardiogenen Schock mit Bedacht gewählt und auch hier eine Hyperoxie sicher vermieden werden. Merke Durch eine Hyperoxie kann das Infarktareal vergrößert werden. Reanimation Während einer Reanimation erhöht ein zunächst hoher Sauerstoffpartialdruck die Wahrscheinlichkeit, einen Spontankreislauf wiederherstellen zu können. Dies ist mutmaßlich durch eine optimierte Sauerstoffversorgung ischämischer Myokardzellen begründet. Im weiteren Ver- lauf jedoch scheint eine Hyperoxie die Mortalität zu stei- gern, wie zumindest durch retrospektive Auswertungen nahegelegt wird. Große prospektive Studien liegen bisher nicht zu diesem Thema vor. Daher sollte während einer Reanimation eine Beatmung mit reinem Sauerstoff erfolgen, nach Wieder- erlangung eines Spontankreislaufs dann jedoch die inspi- ratorische Sauerstofffraktion zügig reduziert werden. Welches der optimale Zielbereich ist, kann aktuell nicht beantwortet werden. Dennoch erscheint es plausibel, einen Zielbereich analog zum Myokardinfarkt anzuneh- men, auch wenn diese Theorie nicht durch Daten gedeckt ist. Sicher ist jedoch, dass eine Hyperoxie keinen Benefit bietet und unterbleiben sollte. 112 Grensemann J et al. Sauerstofftherapie in der… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 108–120 | © 2020. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Oxygenierung genügend Sauerstoff physikalisch zu lösen, sodass eine Sauerstoffversorgung auch ohne Per- fusion gewährleistet war. Leider konnte in der Zusam- menschau der Studien kein positiver Effekt für dieses Konzept belegt werden, sodass es aktuell nicht empfoh- len wird. Zuletzt wurde in mehreren prospektiv randomisierten Studien mit zusammen über 8300 Patienten eine konven- tionelle Sauerstoffgabe bei nichthypoxämischen Patien- ten mit ischämischen Schlaganfällen untersucht. Die größte Untersuchung davon war die SO2S-Studie mit allein über 8000 Patienten, in der eine Gruppe nur nachts, eine Gruppe kontinuierlich und eine Gruppe kei- nen Sauerstoff erhielt. In allen Gruppen wurde jedoch eine minimale Sauerstoffsättigung von 94 % aufrechter- halten. Einen Unterschied in Bezug auf das nach der mo- difizierten Rankin-Skala gemessene Outcome gab es nicht [21]. Merke Dieses Vorgehen hat auch Eingang in die Leitlinien gefunden, in denen empfohlen wird, bei ischämischem Schlaganfall eine Zielsauerstoffsättigung zwischen 94 und 98 % aufrechtzuerhalten. Denkbar wäre, dass es auch bei diesem Krankheitsbild zu einer Schädigung der Penumbra durch freie Sauerstoffra- dikale kommt und dass dementsprechend die optimale Zielsättigung unter dem aktuell empfohlenen Bereich anzusiedeln ist; dafür liegen aber bisher keine Daten vor. In Bezug auf traumatische Hirnblutungen liegen aktuell keine randomisierten Studien vor, und kürzlich wurde eine laufende Studie aufgrund langsamer Rekrutierung beendet (clinicaltrials.gov NCT01 201 291). Aus den vor- liegenden retrospektiven Auswertungen muss jedoch auch hier abgeleitet werden, dass eine Hyperoxie nicht zum Vorteil des Patienten ist und die Mortalität erhöhen kann. Postoperative Intensivpatienten Die World Health Organization (WHO) hat 2016 eine Empfehlung herausgeben, dass in der postoperativen Phase nach Eingriffen mit endotrachealer Intubation, wenn möglich, für 2–6 Stunden eine inspiratorische Sau- erstofffraktion von 0,8 aufrechterhalten werden sollte. Dies sollte die Rate von Wundinfekten senken. Diese Empfehlung wurde in den folgenden Jahren nach der Pu- blikation viel diskutiert, dennoch findet sich die Empfeh- lung, wenn auch im Empfehlungs- und Evidenzgrad abge- schwächt, auch in der aktualisierten Auflage von 2018 wieder. Für die Veränderung des Empfehlungsgrades war mit ausschlaggebend, dass eine Studie aufgrund mögli- cher gefälschter Daten zwischenzeitlich zurückgezogen wurde. Für die Theorie, dass ein erhöhter Sauerstoffpartialdruck die Rate von Wundinfekten senken soll, werden im We- sentlichen 2 Argumente angeführt: Da die Perfusion des Wundgebietes möglicherweise unzureichend ist, könnte durch eine Erhöhung des Sauerstoffpartialdrucks im Blut lokal der Sauerstoffpartialdruck optimiert werden. Zum Zweiten könnte die neutrophile, oxidative Immunabwehr verbessert werden. Dies geht auf die Affinität der für die Funktion der Neutrophilen wichtige Nicotinamid-Adenin- Dinukleotid-Phosphat (NADPH)-Oxidase für Sauerstoff zurück. Im infizierten Gewebe ist der Sauerstoffpartial- druck deutlich erniedrigt, sodass die NADPH-Oxidase nicht im optimalen Bereich arbeiten kann. Durch eine Erhöhung des Partialdrucks könnten somit optimierte Bedingungen für die neutrophile Immunabwehr geschaf- fen werden. Klinisch wurde eine Reihe von prospektiv randomisierten Studien durchgeführt, die diese Theorie untersucht ha- ben. Von den 4 größten Studien hierzu konnten 2 Studien die Rate von Wundinfekten ungefähr halbieren, während es in einer anderen Studie zu mehr als einer Verdoppe- lung der Wundinfektrate durch eine Hyperoxie kam. Die vierte große Studie zu diesem Thema, die PROXI-Studie, konnte keinen Unterschied in der Rate an Wundinfekten mehr feststellen [22]. In dieser Studie wurde auch die Rate an Atelektasen und Pneumonien untersucht, die in beiden Studienarmen gleich war. Interessanterweise liegt für diese Studie eine Post-hoc-Analyse vor, die zeigen konnte, dass die Gruppe, die intraoperativ mit einer inspi- ratorischen Sauerstofffraktion von 0,8 beatmet wurde, nach 3–5 Jahren ein deutlich erhöhtes Risiko hat für ▪ akute Koronarsyndrome (2,15-fach erhöht), ▪ Myokardinfarkt (2,86-fach erhöht) und ▪ Tod (1,22-fach erhöht) [23]. Somit erscheint eine intra- oder postoperative Hyperoxie nicht gerechtfertigt und sogar nach Jahren noch mit er- höhten Komplikationen verbunden zu sein. Kohlenmonoxidintoxikation Die Kohlenmonoxidintoxikation ist aktuell neben der laufenden kardiopulmonalen Reanimation das einzige Krankheitsbild, bei dem es erforderlich ist, Patienten ei- ner Hyperoxie zuzuführen. Kohlenmonoxid hat eine im Vergleich zu Sauerstoff ca. 200-fache Affinität zum Hämoglobinmolekül. Durch kompetitive Verdrängung des Sauerstoffs aus der Hämoglobinbindung und nach- folgender Besetzung der Bindungsstelle mit Bildung von sogenanntem Carboxyhämoglobin (CO-Hb) wird der Sau- erstofftransport gestört. Daraus lässt sich ableiten, dass sich durch eine Erhöhung des Sauerstoffpartialdrucks im Blut das Fließgleichgewicht zwischen Sauerstoff und Koh- lenmonoxid am Hämoglobin zugunsten von Sauerstoff verschieben lässt. 114 Grensemann J et al. Sauerstofftherapie in der… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 108–120 | © 2020. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung ▶ Tab. 1 Empfehlungen zur Sauerstofftherapie bei ausgewählten akuten Krankheitsbildern [6]. Krankheitsbild Empfehlung Fachgesellschaft niedrigste O2-Gabe, um SpO2 von 90–94 % bzw. paO2 von 60–80 mmHg zu erreichen AWMF/Deutsche Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin (DGAI) British Thoracic Society Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungs- medizin (DGP) European Society of Cardiology (ESC) und American Heart Association (AHA) European Society of Cardiology (ESC) und American Heart Association (AHA) Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung (DGK) beatmete Intensivpatienten akute Exazerbation der COPD Ziel-SpO2 88–92 % Ziel-SpO2 91–92 % Myokardinfarkt STEMI: O2-Gabe bei SpO2 < 90 % NSTEMI: O2-Gabe bei SpO2 < 90 % kardiogener Schock Ziel-SpO2 94–98 % Post-Reanimation O2-Gabe bei SpO2 < 94 %, Ziel: SpO2 94–98 % European Resuscitation Council (ESC) Schlaganfall keine O2-Routinegabe, aber SpO2 > 94 % anstreben American Stroke Association (ASA) niedrigste O2-Gabe, um SpO2 ≥ 94 % zu erreichen American Heart Association (AHA) Kohlenmonoxidintoxikation Gabe von 100 % Sauerstoff bis CO-Hb < 3 % Gabe von 100 % Sauerstoff, bis Patient symptom- frei ist, oberhalb CO-Hb von 25–30 % ist eine hyperbare Oxygenierung zu erwägen Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) Centers for Disease Control and Prevention (CDC) CO-Hb = Carboxyhämoglobin; FiO2 = inspiratorische Sauerstofffraktion; NSTEMI = Nicht-ST-Strecken-Hebungsmyokardinfarkt; O2 = Sauerstoff; paO2 = arterieller Sauerstoffpartialdruck; SpO2 = pulsoxymetrische Sauerstoffsättigung; STEMI = ST-Strecken-Hebungsmyokardinfarkt. Interessenkonflikt Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: Ja, von einer anderen Institu- tion (Pharma- oder Medizintechnikfirma usw.); Honorar/geld- werten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: Ja, von einer anderen Institution (Pharma- oder Medizintechnikfirma usw.); Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfän- ger: Ja, von einer anderen Institution (Pharma- oder Medizin- technikfirma usw.); Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/ Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Sponsor der Veranstal- tung): Ja; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht-Sponsor der Veranstal- tung): Nein. Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen JG: Mitglied der Kommission für Normung und technische Sicherheit der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI). CW: keine möglichen Interessenkonflikte. SK: Mitglied des Präsidiums der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensiv und Notfallmedizin (DGIIN). KERNAUSSAGEN ▪ Eine Hyperoxie kann die Mortalität und Morbidität erhöhen. ▪ Es sollte keine routinemäßige Anwendung von Sauerstoffapplikation bei nichthypoxämen Pa- tienten erfolgen. ▪ Eine Hyperoxie sollte nur bei speziellen Krank- heitsbildern wie z. B. der Kohlenmonoxidintoxika- tion therapeutisch eingesetzt werden. ▪ Die aktuellen Empfehlungen für den Zielbereich einer Sauerstoffgabe sind von der Grunderkran- kung abhängig. ▪ Um das Outcome der Patienten zu verbessern, sollte eine mit Schulungsmaßnahmen begleitete, konservative Oxygenierungsstrategie implemen- tiert werden. ▪ Aufgrund der brandfördernden Eigenschaften von Sauerstoff muss der Umgang mit der nötigen Umsicht erfolgen. Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungs- bestimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Jörn Gren- semann, Hamburg. 116 Grensemann J et al. Sauerstofftherapie in der… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 108–120 | © 2020. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung [23] Fonnes S, Gogenur I, Sondergaard ES et al. Perioperative hy- peroxia – Long-term impact on cardiovascular complications after abdominal surgery, a post hoc analysis of the PROXI trial. Int J Cardiol 2016; 215: 238–243 [26] Grensemann J, Simon M, Kluge S. Atemwegsicherung in der Intensiv- und Notfallmedizin – Was gibt es Neues? Med Klin Intensivmed Notfmed 2019; 114: 334–341. doi:10.1007/ s00063-018-0498-7 [24] Abernethy AP, McDonald CF, Frith PA et al. Effect of palliative oxygen versus room air in relief of breathlessness in patients with refractory dyspnoea: a double-blind, randomised controlled trial. Lancet 2010; 376: 784–793. doi:10.1016/ S0140-6736(10)61115-4 [25] Page D, Ablordeppey E, Wessman BT et al. Emergency de- partment hyperoxia is associated with increased mortality in mechanically ventilated patients: a cohort study. Crit Care 2018; 22: 9. doi:10.1186/s13054-017-1926-4 Bibliografie 10.1055/a-0948-8363 Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 108–120 DOI ISSN 0012-0472 © 2020. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany 118 Grensemann J et al. Sauerstofftherapie in der… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 108–120 | © 2020. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung Punkte sammeln auf CME.thieme.de Frage 6 Welche der folgenden Aussagen zum Myokardinfarkt ist korrekt? A Die Erhöhung der FiO2 führt zu einer vermehrten Ausschüt- tung von Stickoxid und damit zu einer Vasodilatation mit Opti- mierung der Koronarperfusion. Frage 9 Nur eine der folgenden Aussagen zur Kohlenmonoxidintoxikation ist korrekt. Welche? A Bei CO-Intoxikation verbietet sich eine Sauerstoffgabe wegen der Erhöhung freier Sauerstoffradikale. B Eine Sauerstoffgabe reduziert die Wahrscheinlichkeit für das B Bei CO-Intoxikation wird Sauerstoff kompetitiv von den Enzy- Auftreten von Rhythmusstörungen. men der Atmungskette verdrängt. C Eine Sauerstoffgabe beim akuten Myokardinfarkt führt durch die verbesserte Oxygenierung des ischämischen Gewebes zu einer Reduktion der Infarktgröße. C Bei CO-Intoxikation sollte eine normobare Oxygenierung bis zum Absinken des Carboxyhämoglobins unter 3 % fortgeführt werden. D Die Reinfarktrate kann durch eine moderate Hyperoxie ge- D Es kommt zur irreversiblen Bindung von CO an Hämoglobin in senkt werden. Form von Carboxyhämoglobin. E Bei einem Myokardinfarkt sollte nur Sauerstoff verabreicht E Jeder Patient mit CO-Intoxikation sollte unverzüglich einer werden, wenn die Sauerstoffsättigung kleiner als 90 % ist. hyperbaren Oxygenierung zugeführt werden. Frage 10 Welche Aussage ist richtig? A Bei der Präoxygenierung vor einer endotrachealen Intubation entsteht die Apnoetoleranz hauptsächlich durch eine Erhö- hung des physikalisch gelösten Sauerstoffs im Blut. B Die Applikation von Sauerstoff bei Hypoxie reduziert die Mor- talität. C Eine Beatmung mit reinem Sauerstoff ist unter normobaren Bedingungen bis zu ca. 6 h auf jeden Fall unschädlich. D Aufgrund der potenziell negativen Auswirkungen einer Sauer- stoffexposition sollte auf eine Präoxygenierung, z. B. vor einer endotrachealen Intubation, verzichtet werden. E Sauerstoff lindert im Rahmen einer Palliativtherapie eine Dys- pnoe. Frage 7 Was soll bei Patienten mit akut exazerbierter chronisch-obstrukti- ver Lungenerkrankung beachtet werden? A Eine Sauerstoffsättigung > 92 % sollte angestrebt werden. B Die Hyperkapnie-bedingte Desensibilisierung der peripheren Chemorezeptoren ist hauptsächlich für die Zunahme der Hyperkapnie durch eine Sauerstoffgabe verantwortlich. C Bei Patienten mit akut exazerbierter chronisch-obstruktiver Lun- generkrankung wird durch den Haldane-Effekt eine Abnahme der Hyperkapnie durch eine Veränderung des Ventilations-/ Perfusions-Verhältnisses beschrieben. D In einer Studie konnte durch eine Titration von Sauerstoff die Mortalität von Patienten mit akut exazerbierter chronisch- obstruktiver Lungenerkrankung gesenkt werden. E Bei Patienten mit akut exazerbierter chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung wird durch eine Hyperoxie der alveoläre Totraum reduziert. Frage 8 Für die postoperative Beatmung mit einer FiO2 von 80 % gilt welche der folgenden Aussagen? A Bisher konnte in allen Studien eine Reduktion der Wundinfekt- rate belegt werden. B Durch die Erhöhung des Sauerstoffpartialdrucks kommt es zur Komplementaktivierung mit verbesserter Immunabwehr. C Die WHO empfiehlt die postoperative Aufrechterhaltung einer Hyperoxie für mindestens 6 Stunden. D Bei nicht intubierten Patienten sollte die FiO2 über eine Maske mit Reservoir bei ca. 80 % gehalten werden. E In einer Studie war noch nach Jahren das Risiko für akute Koro- narsyndrome und Myokardinfarkte erhöht. 120 Grensemann J et al. Sauerstofftherapie in der… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 108–120 | © 2020. Thieme. All rights reserved.

Übersicht ▶ Tab. 1 Übersicht der Empfehlungen für das perioperative Management von Metformin. Internationale Empfehlungen Großbritannien/Irland Quelle Empfehlung Merck Serono GmbH, Fachinformation (2019) S3-Leitlinie „Therapie des Typ-2-Diabetes“ (2018 abgelaufen) French Society of Anaethesia (2018) Joint British Diabetes Societies (2016) Association of Anaesthe- tists of Great Britain and Ireland (2015) Pausieren vor Eingriff (Zeitpunkt nicht näher spezifiziert) und Ansetzen frühestens 48 h nach OP Absetzen 12 h vor und Ansetzen 48 h nach OP ▪ Absetzen in der Nacht vor OP, Ansetzen 48 h nach OP (nur bei eGFR > 60 ml/min/ 1,732) ▪ keine Unterbrechung der Therapie bei kleinen/ambulanten Eingriffen Fortführen bei eGFR > 60 ml/min/1,73 m2 bei ▪ fehlenden Risikofaktoren für AKI (nur bei kleineren chirurgischen Eingriffen) und ▪ max. 2 Einnahmezeitpunkten/Tag ▪ Fortführen bei eGFR > 60 ml/min/1,73 m2 ▪ Auslassen nur einer Mahlzeit bei eGFR > 50 ml/min/1,73 m2 nach dem Eingriff ▪ bei eGFR < 60 ml/min/1,73 m2 Pausieren am Tag der OP und Ansetzen frühestens 48 h später Das Wiederansetzen soll bei allen Empfehlungen erst nach Kontrolle der Nierenfunktion erfolgen! eGFR = geschätzte glomeruläre Filtrationsrate; AKI = acute kidney injury. S3-Leitlinie Die S3-Leitlinie „Therapie des Typ-2-Diabetes“ der Deut- schen Diabetes Gesellschaft (August 2013, gültig bis 01.08.2018) spricht sich aufgrund der kurzen Halbwerts- zeit (6,5 Stunden nach oraler Einnahme) für ein Absetzen der Metformin-Gabe 12 Stunden vor der Operation aus, ein erneutes Ansetzen sollte 48 Stunden nach der Opera- tion erfolgen. Auch hier wird eine Kontrolle der Nieren- funktion sowie die Sicherstellung einer oralen Nahrungs- aufnahme vorgegeben. Andere orale Antidiabetika sind im Vergleich hierzu erst am Tag der Operation abzuset- zen [7]. Die Leitlinie gibt dabei einen Querverweis auf die NVL „Nierenerkrankungen bei Diabetes im Erwachse- nenalter“ (September 2010, gültig bis 31.12.2017) [8] – die diesen Punkt interessanterweise aber gar nicht be- handelt, sondern lediglich das Management bei Kontrast- mittelgabe diskutiert. Merke Die deutschen Leitlinien schlagen ein genauer definier- tes Management vor, sind allerdings nicht mehr aktu- ell. Eine Überarbeitung ist im Laufe des Jahres 2020 an- gekündigt. Im Vergleich zu den obengenannten deutschen Empfeh- lungen raten die Joint British Diabetes Societies (JBDS) zu einer perioperativen Fortführung der Therapie ohne vor- herige Pausierung; Voraussetzung für dieses Vorgehen sind eine eGFR > 60 ml/min/1,73 m2 und das Fehlen wei- terer Risikofaktoren für eine AKI (z. B. Herz-/Niereninsuf- fizienz, Hypovolämie/Hypotension etc.). Lediglich bei 3-mal täglicher Metformin-Einnahme wird der Verzicht auf die Mittagsdosis empfohlen [9]. Die Aussagen bezie- hen sich dabei auf kleinere chirurgische Eingriffe, bei denen nur eine Mahlzeit ausgelassen werden muss und eine orale Nahrungsaufnahme direkt postoperativ wieder möglich ist. Hintergrund der Empfehlungen ist eine Fall-Kontroll-Stu- die mit 886 kardiochirurgischen Patienten, die durch- schnittlich 66 Jahre alt waren und zumeist einer Koronar- arterienbypass-Operation (CABG) unterzogen wurden. Hier zeigte sich kein nachteiliger Outcome unter Fortfüh- rung der Therapie [10]. Eine weitere Fall-Kontroll-Studie mit ausschließlich CABG-Eingriffen bei im Durchschnitt 57-jährigen Patienten konnte dies bestätigen [11]. KOMMENTAR Anzumerken ist jedoch, dass die Aussagekraft bei diesem Studienprotokoll bekanntermaßen gering ist, und dass man bei einer CABG-Operation nicht von einem kleineren chirurgischen Eingriff sprechen kann. Die Leitlinien der Association of Anaesthetists of Great Britain and Ireland aus dem Jahr 2015 raten zu einer durch- gehenden Einnahme von Metformin, wenn die eGFR nach dem Eingriff einen Wert von 50 ml/min/1,73 m2 übersteigt und höchstens eine Mahlzeit ausgelassen wird. Bei einer eGFR < 60 ml/min/1,73 m2 vor dem Eingriff soll die Thera- pie am Tag der Operation pausiert und erst nach 48 Stun- den wieder aufgenommen werden [12]. Frankreich Eine aktuelle Empfehlung der French Society of Anaes- thesia and Intensive Care Medicine lautet, die Metfor- min-Gabe ab der Nacht vor der Operation bis 48 Stunden postoperativ bei Überprüfung der Nierenfunktion auszu- setzen. Der Wiederbeginn der Therapie soll jedoch nur bei einer eGFR > 60 ml/min/1,73 m2 erfolgen; bei klei- neren oder ambulanten chirurgischen Eingriffen wird jedoch, analog zu den britischen Empfehlungen, keine Therapieunterbrechung vorgeschlagen [13, 14]. Die Au- toren nennen hier zwar die Messung der Nierenfunktion 122 Masur S et al. Metformin-Therapie bei operativen… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 121–127 | © 2020. Thieme. All rights reserved.

Übersicht Empfehlungen in Deutschland Kanada Fachinformation Bei geplanter intravaskulärer Gabe eines jodhaltigen Kon- trastmittels empfiehlt die Fachinformation von Metfor- min (z. B. Glucophage®) ein ähnliches Vorgehen wie beim perioperativen Management: Das Absetzen des Metformin soll „im Vorfeld oder zum Zeitpunkt des bildge- benden Verfahrens unterbrochen werden und darf frühes- tens 48 Stunden danach und nur dann wieder aufgenom- men werden, wenn die Nierenfunktion erneut kontrolliert wurde und sich als stabil erwiesen hat“. Das heißt, auch hier bleibt die Fachinformation (analog zum perioperati- ven Management) insbesondere bei der präinterven- tionellen Vorgehensweise sehr vage. Merke Die deutsche Fachinformation ist hier nur bedingt hilf- reich. Die deutsche (abgelaufene) Leitlinie schlägt ein vorsichtiges Vorgehen mit langer Therapiepause vor, bezieht sich aber auf veraltete Quellen. Nationale Versorgungsleitlinie Die im Jahr 2017 abgelaufene nationale Versorgungsleit- linie „Nierenerkrankungen bei Diabetes im Erwachsenen- alter“ bezieht sich hierzu auf die o. g. Fachinformation und empfiehlt eine Unterbrechung der Therapie über 48 Stunden vor und nach der diagnostischen Maßnahme [8]. Diese Diskrepanz ist möglicherweise auf die Aktuali- sierung der Fachinformationen zurückzuführen, obwohl die Vorgängerversion von 2004 (ähnlich zur jetzigen For- mulierung) lautet, dass „Metformin vor, während und bis 48 h nach der Untersuchung abgesetzt werden“ sollte. Dies kann trotz der abgelaufenen Leitlinie in der Praxis zu Verwirrungen führen. Die nationalen Versorgungsleitlinien werden derzeit überarbeitet und im Laufe des Jahres 2020 veröffentlicht. Hier bleibt abzuwarten, ob die Autoren sich eher den we- niger restriktiven Empfehlungen der anderen Leitlinien anschließen werden. Internationale Empfehlungen Internationale Quellen sprechen hierzu gänzlich andere Empfehlungen als die deutschen Quellen aus. Großbritannien Das Royal College of Radiologists ebenso wie die Joint Bri- tish Diabetes Societies empfehlen entgegen den deutschen Fachgesellschaften keine Therapieunterbrechung bei Kontrastmittelgabe, wenn die eGFR > 60 ml/min/1,73 m2 liegt [9, 16]. Bei einer niedrigeren Filtrationsrate ist das zeit- weise Pausieren des Metformin durch die behandelnde Klinik individuell zu prüfen. Die Canadian Association of Radiologists empfiehlt eine Therapieunterbrechung erst ab einer eGFR < 45 ml/min/1,73 m2. In diesem Fall soll eine Fortführung der Therapie erst 48 Stunden nach Kontrastmittelgabe erfolgen, wenn die Nierenfunktion stabil ist und keine weitere Kontraindikation vorliegt. Die Autoren diskutie- ren hier ausführlich die verschiedenen Bestimmungsme- thoden der Nierenfunktion und schlagen die MDRD- oder die Cockcroft-Gault-Formel vor sowie für Kinder die Schwartz- oder Counahan-Barratt-Formel [17]. ESUR Im Vergleich dazu äußert sich die European Society of Urogenital Radiology (ESUR) weniger strikt. Die Leitlinie [18] und eine dazugehörige Publikation [19] empfehlen ▪ in jedem Falle zunächst eine Dosisanpassung an die GFR analog zur deutschen Fachinformation, allerdings normiert auf eine Körperoberfläche von 1,73 m2 mittels CKD-EPI-Formel. ▪ bei jodhaltigen Kontrastmitteln, die intravenös oder in- traarteriell verabreicht werden und einem renalen Se- cond-Pass-Effekt unterliegen (Kontrastmittelapplika- tion z. B. über das rechte Herz, Pulmonalarterien, Extremitäten etc.), ein normales Fortführen der Thera- pie mit Metformin bei einer eGFR > 30 ml/min/1,73 m2. ▪ bei Patienten, die – intraarteriell ein Kontrastmittel mit renalem First- Pass-Effekt erhalten (Kontrastmittelapplikation z. B. in das linke Herz oder die Nierenarterien) oder – zum Zeitpunkt der Kontrastmittelgabe eine AKI aufweisen oder – deren eGFR < 30 ml/min/1,73 m2 beträgt, ein Pausieren der Metformin-Therapie mit Wiederan- setzen nach 48 Stunden, sofern sich die Nierenfunk- tion nicht deutlich verändert hat. Merke Diese Leitlinie differenziert als erste zwischen den verschiedenen Applikationsformen und -orten. Schweden Die Swedish Society of Uroradiology (SSUR) hat daraufhin eine Synopse zu ihren eigenen und den ESUR-Empfehlun- gen publiziert, in denen ein restriktiveres Vorgehen ver- langt wird [20]. ▪ Für Erwachsene wird die Bestimmung der Nierenfunk- tion über Cystatin C (und nicht Kreatinin) propagiert, diese sollte zudem den absoluten Wert darstellen und nicht auf eine Standard-Körperoberfläche von 1,73 m2 normiert sein. ▪ Es sollen nichtrenale Risikofaktoren berücksichtigt werden, wie z. B. Herzinsuffizienz, NSAR-Gebrauch, Sepsis oder Dehydratation. 124 Masur S et al. Metformin-Therapie bei operativen… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 121–127 | © 2020. Thieme. All rights reserved.

Übersicht KERNAUSSAGEN ▪ Die Evidenz zu beiden Fragestellungen ist trotz vieler Leitlinien gering, da diese sich hauptsäch- lich auf Konsensusempfehlungen stützen. ▪ Die Berechnung der Nierenfunktion wird unter- schiedlich vorgeschlagen oder nicht angegeben. Auch die deutsche Fachinformation gibt keine Methode vor. Je nach Formel kann dies dann zu unterschiedlichen Therapieentscheidungen führen. ▪ Für die Praxis lassen sich aktuell keine belastbaren Empfehlungen mit dem Ziel einer möglichst kurzen Therapieunterbrechung geben. ▪ Daher kann derzeit nur ein strikt konservativer Ansatz mit 48-stündiger Pausierung vor und nach beiden Maßnahmen empfohlen werden. ▪ Für die in dieser Übersicht genannten Situationen ist die Frage nach der richtigen Vorgehensweise noch nicht abschließend und mit Sicherheit beantwortet. Deshalb sollten weitere Studien durchgeführt werden. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkon- flikt besteht. Autorinnen/Autoren Sebastian Masur war Pharmazeut im Praktikum an der Medizini- schen Klinik VI (Direktor: Univ.-Prof. Dr. med. Cornelius Bollheimer) sowie der Apotheke der Uniklinik RWTH Aachen und ist derzeit als Apotheker in der Falken-Apotheke Düsseldorf tätig. Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Albrecht Eisert ist Chefapotheker an der Uniklinik RWTH Aachen und leitet die Arbeitsgruppe AMTS am Institut für Klinische Pharmakologie. Mathias Freitag ist Stationsapotheker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Medizinischen Klinik VI (Direktor: Univ.-Prof. Dr. med. Cornelius Bollheimer) sowie der Apotheke der Uniklinik RWTH Aachen. Korrespondenzadresse Mathias Freitag Uniklinik RWTH Aachen Medizinische Klinik VI (Klinik für Altersmedizin) Morillenhang 27 52074 Aachen Deutschland mfreitag@ukaachen.de Danksagung Diese Arbeit entstand vor dem Hintergrund der allgemeinen Förderung des Lehrstuhls für Altersmedizin an der Medizini- schen Fakultät der RWTH Aachen durch die Robert-Bosch- Stiftung (32.5.1140.0009.0). Wir möchten uns außerdem ganz herzlich bei Herrn Dr. med. Jonas Schmöe für die radio- logische und bei Frau Dr. med. Dipl.-Ing. (BA) Thea Laurentius und Herrn Univ.-Prof. Dr. med. Cornelius Bollheimer für die internistische Begutachtung sowie bei Frau Sabine Wedel für die Korrekturlesung des Manuskripts bedanken. Literatur [1] Tamayo T, Brinks R, Hoyer A et al. Prävalenz und Inzidenz von Diabetes mellitus in Deutschland. Dtsch Arztebl International 2016; 113: 177–182. doi:10.3238/arztebl.2016.0177 [2] Laurentius T, Freitag M, Eitner J et al. Glucose metabolism in older patients. Internist (Berl) 2019; 60: 133–140. doi:10.1007/ s00108-018-0542-y [3] Maznyczka A, Myat A, Gershlick A. Discontinuation of metfor- min in the setting of coronary angiography: clinical uncertainty amongst physicians reflecting a poor evidence base. EuroInter- vention 2012; 7: 1103–1110. doi:10.4244/eijv7i9a175 [4] Wagner J, Luber V, Lock JF et al. Perioperative handling of antidiabetic drugs. Chirurg 2018; 89: 103–107. doi:10.1007/ s00104-017-0527-8 [5] Merck Serono GmbH. Persönliche Korrespondenz: Anfragen mit Referenznummer DE-B-2020-129999 und DE-B-2020- 134556. Anfragedatum 17.03.2020 und 23.04.2020 [6] European Medicines Agency. Changes to the Product informa- tion as approved by the CHMP on 13 October 2016, pending endorsement by the European Commission. Annex III – Amendments to relevant sections of the Product Information. 2016. Im Internet (Stand 11.05.2020): www.ema.europa.eu/ en/documents/referral/metformin-article-31-referral- changesproduct-information_en.pdf [7] Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Nationale Versorgungs-Leitlinie Therapie des Typ-2-Diabetes. 2013. Im Internet (Stand: 11.05.2020): 1. Auflage, Version 4: www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/ nvl-001gl_S3_Typ-2-Diabetes-Therapie_2014-11-abgelaufen.pdf [8] BÄK, KBV, AWMF. Nationale Versorgungs-Leitlinie Nierenerkran- kungen bei Diabetes im Erwachsenenalter. 2010. zuletzt geän- dert September 2015. Im Internet (Stand 11.05.2020): 1. Auflage, Version 6: www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/ nvl-001dl_S3_Nierenerkrankungen_bei_Diabetes_Erwachsene_ 2015-09-abgelaufen.pdf 126 Masur S et al. Metformin-Therapie bei operativen… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 121–127 | © 2020. Thieme. All rights reserved.

Ultrastark 6-MAL JÄHRLICH Einstiegspreis für Neuabonnenten Diese Fachzeitschrift ist der Goldstandard: das meistgelesene interdisziplinäre Journal zum Thema Ultraschall, Bildqualität von höchster Güte und weg weisende wissenschaftliche Beiträge. Ob 4-D oder farbkodierte Doppler-Sonografie, ob Echokardiografie oder Pränataldiagnostik, ob Screening oder Notfallversorgung: UiM/EJU ist die führende interdisziplinäre Plattform für alle Ultraschallexperten. Alles zu neuen Techniken, Entwicklungen und Leitlinien plus Fortbildungsartikel und Kasuistiken mit anschaulichen Bildinterpretationen. www.thieme.de/ultraschall

Leserbrief ▶ Abb. 2 Relative Sterblichkeit (SMR-Punktschätzer mit 95 %-KI, geometrisch) in Nordrhein- Westfalen für Frauen und Männer gemeinsam: Mortalität an allen Todesursachen von Januar bis Oktober 2020 im Vergleich zur Mortalität 2016–2019. litäten in Deutschland sowie allen Bundes- ländern bestimmt. ▶ Abb. 2 zeigt beispiel- haft den Verlauf der SMR in Wochenauflö- sung, der der Zeile Nordrhein-Westfalen in ▶ Abb. 1 zugrunde liegt. Mecklenburg-Vorpommern hatte eine lange Periode (Januar bis April) von SMRs unter oder nahe 1, obwohl die SMRs an- stiegen – seit Mai/Juni auch mit Übersterb- lichkeiten. Geschätzte Trends in Mecklen- burg-Vorpommern zeigten bis Juni einen SMR-Anstieg von 2,5 % pro Monat oder 4 Wochen, der auch nach Adjustierung für Alter und Geschlecht beobachtet wur- de (immer p < 0,0005). Die Fallzahlen, SMRs und Konfidenzin- tervalle in Tabellenform, differenziert nach Alter und Geschlecht, pro Monat und Woche sowie gesamt bis Oktober 2020 zu Deutschland und zu allen Bundes- ländern sind als Supplementary Material online verfügbar. Diskussion Trotz der offensichtlichen Erhöhungen der Sterblichkeit im April/Mai in Assoziation mit COVID-19 und im August in Koinzi- denz mit einer Hitzewelle [7], entsprach in Deutschland die Mortalität von Januar bis Oktober im Jahr 2020 beinahe genau dem Durchschnittswert der vom Statisti- schen Bundesamt angebotenen Referenz- jahre 2016 bis 2019 (in denen sich Grippe- und Hitzewellen ereigneten). Dies bestä- tigt Befunde von Stang et al. [8]. Überein- stimmend mit [9] ergaben unsere Analy- sen eine für Männer erhöhte und für beide Geschlechter mit dem Alter anstei- gende relative Mortalität in 2020 (vgl. zu Limitationen die Ausführungen im Supple- ment). Auch bei Personen < 65 Jahre sahen wir einen gewissen SMR-Anstieg im April/ Mai, aber insbesondere auch im Zeitfens- ter der Hitzewelle im August [7]. Das Beispiel von Mecklenburg-Vorpom- mern kann veranschaulichen, wie Mortali- tätsanalysen Virustests ergänzen können und sollten [2, 3]: Bis April 2020 war die Mortalität dort nicht erhöht, wenn sie an- hand der SMR der Einzelmonate beurteilt wurde, und der SMR-Anstieg von März bis April war gering. Bei vergleichsweise we- nig dokumentieren Infektionen schlug die dortige Landesregierung Anfang Juli Ge- spräche zur Abschaffung der Masken- pflicht im Handel vor. Die Untersuchung der SMRs von Januar bis Juni zeigte für Mecklenburg-Vorpommern jedoch einen auffälligen linearen Trend zu steigenden SMRs, der zur Vorsicht hätte mahnen kön- nen. Bisher publiziert das Statistische Bun- desamt die Grunddaten mit einem Verzug von ca. 4 Wochen. Eine zeitnähere Bereit- stellung dieser Informationen ist ange- zeigt, wie z. B. durch EuroMOMO (https:// www.euromomo.eu/about-us/contact/) realisiert. Deutschland nimmt an diesem europäischen Projekt mit lediglich zwei Bundesländern teil (Hessen, Berlin). Um das der COVID-19-Pandemie zuzuschrei- bende Mortalitätsgeschehen angemessen analysieren zu können, sollten die Sterbe- daten differenziert nach Regionen, Ge- schlechtern, Altersgruppen und Todesur- sachen angeboten werden. In der Gesamtschau bieten unsere Aus- wertungen – erstmalig – für Frauen und Männer getrennt, für unterschiedliche Al- tersgruppen und für die einzelnen Bundes- länder für 10 Monate empirische Daten zu Änderungen der Sterblichkeit [1] während der SARS-CoV-2/COVID-19-Pandemie in Deutschland. Unter anderem aufgrund dessen, was in Italien, Spanien, Frankreich, dem UK und den USA durch überlastete Krankenhäuser dokumentiert wurde [10], kam es zu ausgeprägten Public-Health- Maßnahmen zur „Abflachung der epide- miologischen Kurve“ [10]. Zukünftige For- schungsarbeiten müssen klären, welche Bedeutung die ergriffenen Maßnahmen gegen COVID-19 für die derzeitigen Beob- achtungen haben [11]. Der weitere Ver- lauf und die gesundheitlichen Auswirkun- gen der Pandemie bleiben zudem nicht klar vorhersehbar [10], da sich Effekte nicht notwendigerweise darauf beschrän- ken, ob eine SARS-CoV-2-Infektion jetzt überlebt wird oder nicht. Aktuelle Sterb- lichkeitsdaten lassen z. B. Fragen zur Le- bensqualität und Lebenserwartung offen, die sich zu potentiellen mittel- und lang- fristigen Folgen von COVID-19 ergeben können [12]. Zusätzliches Material finden Sie unter https://doi.org/10.1055/a-1334-0586 Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. 130 Morfeld P et al. COVID-19: Wie änderte… Dtsch Med Wochenschr 2021; 146: 129–131 | © 2020. Thieme. All rights reserved.

Impressum DMW – Deutsche Medizinische Wochenschrift 146. Jahrgang Die DMW – Deutsche Medizinische Wochenschrift erscheint zweiwöchentlich (25 Ausgaben). ISSN (Print): 0012-0472 eISSN: 1439-4413 Tel.: +49 711 8931-464, Fax: +49 711 8931-470 E-Mail: manfred.marggraf@thieme-media.de Produktionsmanagement Tel.: +49 711 8931-523, Fax: +49 711 8931-393 E-Mail: Julia.Abbas@thieme.de geprüft Facharzt-Studie 2018 Copyright & Ownership Wenn nicht anders angegeben: © 2021. Thieme. All rights reserved. Die Zeitschrift DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift ist Eigentum von Thieme. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Schriftleiter M. Middeke, München (martin.middeke@thieme.de) Herausgeber M. Addo, Hamburg; M. D. Alscher, Stuttgart; M. von Berg- welt, München; G. Ertl, Würzburg; S. Frantz, Würzburg; C. Grohé, Berlin; G. Hintze, Bad Oldesloe; U. Janssens, Eschweiler; H. Lehnert, Salzburg; N. Marx, Aachen; E. Märker-Hermann, Wiesbaden; C. C. Sieber, Winterthur; R. Thimme, Freiburg; A. Ziegler, Davos Die Herausgeber sind nicht verantwortlich für die Rubrik „Forum der Industrie“ sowie für in der Zeitschrift enthal- tene Anzeigen und Beilagen. Verlag Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 301120, 70451 Stuttgart Tel.: +49 711 8931-0, Fax: +49 711 8931-298 www.thieme.de, www.thieme.de/dmw www.thieme-connect.de/products Web-App: www.thieme.de/eref-app Redaktion Sie erreichen die Redaktion unter: dmw.impressum@thieme.de V.i.S.d.P.: Lea-Marie Tröster, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart Verantwortlich für den Anzeigenteil Thieme Media Pharmedia Anzeigen- und Verlagsservice GmbH Manfred Marggraf, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 300880, 70448 Stuttgart Abonnentenservice Wir bitten unsere Abonnenten, Adressänderungen dem Abonnentenservice mitzuteilen, um eine reibungslose Zustellung der Zeitschrift zu gewährleisten. 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