Perspektiven | Ergotherapeutische Modelle 46 Bedarf an einem neuen Paradigma → Die ergotherapeutischen Modelle haben sich im Laufe der Zeit den Veränderungen der Gesell schaft, des Gesundheitswesens und des Berufes angepasst. In dieser Zeit hatte jedes Paradig ma seine eigenen Theorien und Modelle – ent sprechend dem jeweiligen Denken und der jeweiligen politischen Situation. In der ergo therapeutischen Literatur wird von drei Para digmen gesprochen [4]: Modelle und Theorien wurden aus westlicher Perspektive entwickelt. → das Paradigma der Betätigung (ca. 1920– 1950) → das mechanistische oder reduktionistische Paradigma (ca. 1950–1980) → das heutige Paradigma (seit ca. 1980) International wächst der Bedarf an einem neuen Paradigma. Es soll den Fokus verstärkt auf eine diversere Gesellschaft und auf interprofessio nelle Zusammenarbeit mit nicht medizinischen Arbeitsfeldern legen. Zum Beispiel Architektur, Städteplanung, Politik, aber auch mit Gemein den und der Technologie. Von der westlichen Kultur geprägt → Der zeit kommen in der Regel ergotherapeutische Theorien und Modelle westlicher Herkunft zum Einsatz [2]. Sie wurden meist von erwach senen weißen Frauen ohne Beeinträchtigung aus der Mittelklasse entwickelt, die im nord westlichen Teil der Welt aufgewachsen sind, Englisch sprechen und in der Regel aus west- licher Perspektive denken und handeln. Auch die überwiegende Forschung findet durch Kol legen mit demselben Hintergrund im nord westlichen Teil der Welt statt [2]. Wenn man bedenkt, dass ca. 80 Prozent der Menschen mit einer Beeinträchtigung nicht in diesem Teil der Welt leben, wird klar, dass ergotherapeutische Modelle und Assess ments bei Klienten mit einem diversen kultu rellen Hintergrund nicht immer passen können [5]. Dessen sind wir uns im Berufsalltag jedoch häufig nicht bewusst. Tatsächlich können Menschen aus anderen Teilen der Welt einen ungewohnten Blick auf die Welt haben, anders über Gesundheit und Krankheit denken sowie unterschiedliche Nor men und Werte vertreten. Sie sind möglicher weise von ihrer Religion beeinflusst, anders sozialisiert, an ein anderes Gesundheitssystem gewohnt, haben ungewohnte gesellschaftliche Gebräuche sowie einen für uns ungewöhnlichen sozialen, ökonomischen und politischen Status. Kritisch hinterfragen → Wir sollten dafür sensibilisiert sein, dass die gängigen Theorien und Modelle von der westlichen Kultur geprägt sind, und sie daher kritisch hinterfragen. Die anglokanadische Ergotherapeutin Karen Whalley Hammell hat innerhalb der Ergotherapie bahnbrechende Arbeit geleistet und mit ihrem kritischen Blick sehr zum Nach denken angeregt. In vielen Publikationen und Vorträgen warf sie beispielsweise die Frage auf, warum Ergotherapie wichtig sein soll für unsere Gesellschaft. Ihr Ziel war es, eine wich tigere, relevantere und wertvollere Ergothera pie für die Gesellschaft zu gestalten. Das „Social Model of Disability“ [6, 7] war für Hammell eine Offenbarung und unterstützte ihre Auffassung, dass die Probleme, mit denen Menschen mit einer Beeinträchtigung konfron tiert sind, mehr mit ihren ungleichen Möglich keiten und Ressourcen als mit ihren körper- lichen Bedingungen zu tun haben. „Kritisches Denken und neue Perspektiven schaffen“ ist das übergeordnete Ziel ihrer Arbeit. Kritisches Denken ist wesentlich, um evidenzbasierte, sozial relevante und kulturell sichere Ergotherapiepraxis, forschung, theo rien und ausbildung zu entwickeln. 80 % der Menschen mit Beeinträchtigung leben nicht in der westlichen Welt. Philosophen behaupten, dass jeder Mensch ohne kritisches Denken unbewusst in ein bestehendes System integriert wird und sich den Ideen und Praktiken anpasst, die den Sta tus quo aufrechterhalten [8]. Im Gegensatz dazu versuchen kritische Denker, den Status quo in Frage zu stellen. Sie möchten auf decken, warum er entsteht und inwiefern er bestimmten sozialen Gruppen zugutekommt oder sie benachteiligt [9]. Daher möchte ich dafür plädieren, Philosophie als Bestandteil des ergotherapeutischen Unterrichts aufzuneh men. Studierende sollen lernen, kritisch und aus verschiedenen Perspektiven zu denken. Ohne kritisches Denken gibt es keine Weiterentwicklung. Kulturspezifische Annahmen → Fast alle ergotherapeutischen Modelle umfassen die drei Betätigungsbereiche Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit. Das gab unserem Beruf lange Zeit eine sinnvolle inhaltliche Struktur. Im Laufe der Zeit begann Whalley Hammell jedoch, diese drei Bereiche in Frage zu stellen. Sie erkannte, dass sie nicht für alle Klienten sinnvoll waren. In den Bauerngemein schaften, in denen sie arbeitete, spielte Freizeit beispielsweise keine Rolle. Damit möchte sie deutlich machen, dass es viele unangefochtene kulturspezifische Annahmen in unserem Beruf gibt, die exportiert werden, als würden sie „Wahrheiten“ darstellen [10]. Verbesserung von Gesundheit erfordert Verbesserung der Menschenrechte → Viele Ergotherapie Theoretiker gehen davon aus, dass Menschen ihre täglichen Aktivitäten aus wählen und gestalten. Aus einer west lichen Perspektive ist das sehr gut nachvollziehbar. Aber sind wir uns darüber bewusst, dass dies eindeutig ein Kennzeichen für lediglich einen Teil der Weltbevölkerung ist? Die Mehrheit der Menschen tut einfach, was zu tun ist, wozu sie gezwungen ist oder wozu sie die (einge schränkte) Möglichkeit hat. Armut, Frauen feindlichkeit, Patriarchate, Rassismus, Klassizis mus und Altersdiskriminierung schränken die realen Möglichkeiten der Mehrheit der Weltbe völkerung ein, ihre Fähigkeiten einzusetzen [2]. Nicht nur Whalley Hammell, sondern auch andere Ergotherapeuten wie Townsend, Wil cock, Whiteford, Iwama, Kantartzis, Kronen berg, Ramugondo etc. sind davon überzeugt, dass die Verbesserungen von Gesundheit und Wohlbefinden nur mit Verbesserungen der Menschenrechte erreicht werden können. . t z t ü h c s e g h c i l t h c e r r e b e h r U . e p p u r G e m e h T i : n o v n e d a e g r e l t n u r e H 0 2 / 2 s i x a r p o g r e