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Inhalt AINS Januar 2023 · 58. Jahrgang: Seite 1 – 60 S. 13 S. 29 S. 40 S. 52 S. 56 2 Pathophysiologie der Sepsis Die Sepsis ist noch immer eines der bedrohlichsten Krankheitsbilder der modernen Medizin mit einer hohen Mortalitätsrate. Das zunehmende Wissen um die Komple- xität und Heterogenität der septischen Immunpathologie kann Wege eröffnen, zukünftig Sepsispatienten individueller – und somit erfolgreicher – behandeln zu können. Dieser Beitrag stellt den aktuellen Kenntnisstand der Pathophysiologie der Sepsis und des septischen Schocks dar. Bildquelle: © KH Krauskopf/Thieme. Diagnostik der Sepsis Sepsis tritt sowohl ambulant erworben als auch als Komplikation einer Kranken- hausbehandlung auf. Die Symptomatik ist meist unspezifisch und es fehlt ein diag- nostischer Goldstandard. Die differenzialdiagnostische Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern ist schwierig. Deshalb ist die (frühzeitige) Diagnose der Sepsis im- mer noch eine große Herausforderung für den Kliniker. Bildquelle: © KH Krauskopf/ Thieme. Therapie der Sepsis Die Behandlung von Patienten mit Sepsis gehört zu den anspruchsvollsten Auf- gaben auf der Intensivstation. Schon in der ersten Stunde der Versorgung müssen die richtigen therapeutischen Weichen gestellt werden. Neben der Sicherung der Vitalfunktionen sind antiinfektive Behandlungen einzuleiten und später anzupassen; zusätzliche Therapieoptionen müssen abgewogen werden. Hierzu benötigt man ein klares Konzept für das therapeutische Vorgehen. Bildquelle: © KH Krauskopf/ Thieme. Periphere Gabe von Vasopressoren Die Gabe von Katecholaminen/Vasopressoren ist eine der zentralen Notfallthera- pien bei kritisch erkrankten und/oder verletzten Patient*innen mit relevanter Hypo- tonie in der Notaufnahme und häufig auch in der Erstversorgung in der Intensiv- medizin. In dieser Rubrik finden Sie kompakte Zusammenfassungen der für Notauf- nahmen relevanten Aspekte aus aktuellen nationalen und internationalen Leitlinien. Bildquelle: © malajscy/stock.adobe.com. Wahlfach „Sinnhaftigkeit und Selbstfürsorge im Klinikalltag“ Wie können Rollenbilder bei zukünftigen Ärztinnen oder Ärzten schon im Studium thematisiert werden? Dieser Beitrag beschreibt einen Ansatz zur Vermittlung „Übergeordneter Kompetenzen“ aus dem neuen Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin NKLM 2.0. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

Neues aus der Forschung Fruchtbarkeit von Ärztin- nen: Unterschiede zwischen Fachrichtungen? Pfennig CL et al. A comparative analysis on fertility success among physician specialties. Acad Emerg Med 2022; 29: 792–794. doi:10.1111/acem.144 63 Ärztinnen und Ärzte sind einer Vielzahl physischer und psychischer Stressoren ausgesetzt – gleichzeitig wird die Me- dizin weiblich. Obgleich Untersuchun- gen darauf hindeuten, dass der ärzt- liche Beruf die Fertilität von Ärztinnen negativ beeinflussen könne, fehlen bis heute direkte Vergleiche zwischen den Fachrichtungen. Pfennig und Team wollten daher eine Lücke schließen, und haben Notfallmedizinerinnen mit Kolleginnen anderer Fächer verglichen. Der ärztliche Beruf geht nicht nur aufgrund der besonderen Arbeitszeiten mit 24-Stun- den-Diensten und Rufbereitschaft mit einer Vielzahl physischer und psychischer Stressoren einher. Da die Medizin zuneh- mend weiblicher wird, stellt sich auch die Frage nach möglichen Risiken für die Fer- tilität. Obgleich einige Statistiken bereits darauf hinweisen, dass Ärztinnen im Ver- gleich zur Allgemeinbevölkerung ein höhe- res Risiko für Unfruchtbarkeit haben könn- ten, fehlen bis heute Vergleiche entspre- chender Zahlen zwischen den einzelnen Fachrichtungen. Pfennig und Kollegium gehen aufgrund des besonderen Arbeitsplatzes und des he- rausfordernden Spektrums von Krankheits- bildern davon aus, dass insbesondere Not- fallmedizinerinnen besonders betroffen sein könnten, und stellen nun die Ergebnis- se einer entsprechenden Beobachtungs- studie vor. Die Untersuchung erfolgte in South Carolina, USA, im Zeitraum zwi- schen Dezember 2019 und April 2020. Ärz- tinnen aller registrierten Fachrichtungen wurden kontaktiert und konnten auf frei- williger Basis an der Befragung zur Fertilität teilnehmen. Sie wurden dabei im Rahmen der Instruk- tionen darauf hingewiesen, den Fragebo- gen nur dann vollständig auszufüllen, wenn sie einmal versucht hatten, schwan- tinnen mit der Fachrichtung Notfallmedizin brauchten darüber hinaus auch mehr Zeit, um schwanger zu werden und waren zum Zeitpunkt einiger Versuche auch ver- gleichsweise älter. Obgleich die Autorinnen und Autoren in ihrem Diskussionsteil auf verschiedene Li- mitierungen ihrer Untersuchung hinwei- sen, sehen sie in den oben beschriebenen Resultaten dennoch einen deutlichen Be- leg für den Nachteil von Ärztinnen im Be- reich der Notfallmedizin in Hinblick auf den eigenen Kinderwunsch. Sie betonen daher die hohe Bedeutung präventiver Maßnahmen zum Erhalt der Gesundheit und somit der Fertilität. FAZIT In dieser Beobachtungsstudie mit über 350 Notfallmedizinerinnen und Ärztinnen anderer Fachrichtungen zeigte sich nach Auswertung von Selbstauskünften bei den erst- genannten eine höhere Rate an Un- fruchtbarkeit als bei Kolleginnen mit anderen Fachgebieten. Trotz einiger Limitierungen betrachten die Auto- rinnen und Autoren ihre Ergebnisse als Beleg für die besondere Belas- tung von Notfallmedizinerinnen und betonen die große Bedeutung prä- ventiver Maßnahmen zum Erhalt von Gesundheit und Fertilität. Annika Simon, Braunschweig PDA mit geplanter Duraperforation nicht routinemäßig bei adipösen Schwangeren Tan HS et al. Quality of Labor Analgesia with Dural Puncture Epidural versus Standard Epidural Tech- nique in Obese Parturients: A Double-blind Ran- domized Controlled Study. Anesthesiology 2022; 136: 678–687. doi:10.1097/ALN.0000000000004 137 Die neuroaxiale Analgesie gilt aufgrund ihrer hervorragenden Wirksamkeit und des geringen Risikos von Nebenwirkun- gen als anerkannte Standardtechnik ▶ Abb. 1 Quelle: © Evrymmnt/stock. adobe.com ger zu werden. Im oben genannten Studi- enzeitraum verschickten die Autorinnen und Autoren 4-mal E-Mails zur Erinnerung, um die Ärztinnen zur Teilnahme zu moti- vieren. Für die statistische Auswertung griff die Forschungsgruppe vor allem auf deskriptive Berechnungen und eine Va- rianzanalyse zurück und verglich die Ergeb- nisse der Notfallmedizinerinnen mit denen der Kolleginnen aus anderen Bereichen. Fertilität beeinträchtigt Insgesamt nahmen 354 Ärztinnen an dem Survey teil, die entsprechende Rate an Rückantworten konnte auf 42 % beziffert werden. Nach Ausschluss aller Ärztinnen, die in ihrem Leben keinen Schwanger- schaftsversuch unternommen, verblieben 262 Teilnehmerinnen. Mit 86 % hatten die meisten Ärztinnen eine abgeschlossene Ausbildung zur Fachärztin, das mittlere Al- ter konnte auf 40 Jahre beziffert werden, die Frauen arbeiteten zum Zeitpunkt der Studie durchschnittlich 6 Jahre im Kran- kenhaus. In 84 % aller Versuche waren die Ärztinnen nach eigenen Angaben erfolgreich und wurden schwanger, wobei das Forschungs- team für Notfallmedizinerinnen eine gerin- gere Erfolgsrate von nur 73 % berechnen konnten. Der Unterschied zu Kolleginnen anderer Fächer war hoch signifikant. Ärz- 4 Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

Neues aus der Forschung Bei allen Patienten wurden innerhalb von 1 h nach der Randomisierung und 24 h nach Aufnahme in die Studie 2 Blutkultu- ren abgenommen. Mikrobiologische Pro- ben wurden vom Nasen-Rachen-Raum, der Haut, der Axilla, aus dem Rektum bzw. Stuhl, dem Urin und der Trachea bzw. dem Bronchialsekret entnommen und an 7 und Tag 14 wiederholt, um das Ausmaß des Candida-Kolonisierungs-Index (CCI) fest- zustellen. Die Patienten wurden nach dem Zufalls- prinzip im Verhältnis 1 : 1 einer von 2 Vor- gehensweisen zugewiesen: ▪ In Gruppe 1 (n = 172) wurden den Pa- tienten innerhalb von 1 h nach Rando- misierung und 24 h nach Aufnahme in die Studie 2 Blutproben abgenommen und auf die BDG-Konzentrationen hin untersucht. Als positiv für eine Candida- sepsis galt ein Wert ≥ 80 pg/ml, darauf- hin wurde sofort eine gezielte Candida- therapie begonnen. Bei nur einem posi- tiven BDG-Ergebnis und fehlendem Nachweis von Candida in der Blutkultur wurde die Therapie wieder abgesetzt. ▪ In Gruppe 2 (n = 167) erhielten alle Teil- nehmer die übliche gezielte Standard- therapie gemäß den Kulturergebnissen. Patienten mit Nachweis von Candida in Blutkulturen, Biopsien oder üblicherweise sterilen Gewebeflüssigkeiten wurden auf jeden Fall antimykotisch behandelt, unab- hängig von ihrem BDG-Wert. Als primären Endpunkt wählten die For- scher die Sterblichkeit bis Tag 28. Beide Gruppen waren ähnlich zusammengesetzt, und sowohl in Gruppe 1 als auch in Gruppe 2 war ein vorangegangener intraabdomi- neller Eingriff der Hauptrisikofaktor für eine invasive Candidose. Bei insgesamt 15 Patienten (4) war bereits die 1. Blutkultur candidapositiv, am häufigsten wurde Can- dida albicans nachgewiesen. Innerhalb von 96 h nach Aufnahme in die Studie waren es dann 48 Patienten (14,2 %). Bei 6 Patien- ten wies die PCR Candida nach, aber nur die Hälfte der Patienten zeigte entspre- chende invasive Symptome. Nach 48 h waren ▪ 58 Patienten der Gruppe 1 (33,7 %) und ▪ 51 Patienten der Gruppe 2 (30,5 %) gestorben; das entsprach keinem signifi- kanten Unterschied. Auch die Analyse mehrerer vorab spezifizierter Subgruppen (nach BDG-Konzentration, Schwere der Er- krankung und Zahl der Risikofaktoren für eine Candidasepsis, Ergebnis von Blutkul- tur und PCR sowie CCI) ergab keinen Vor- teil für eine der untersuchten Subgruppen. Insgesamt erhielten die Patienten der Gruppe 1 ihre Antimykotika im Schnitt etwa 4-mal so schnell (1,1 vs. 4,4 Tage) wie die Kontrollgruppe, in beiden Gruppen im Mittel etwa 10 Tage lang. Der CCI war insgesamt gering (im Median in beiden Gruppen 0,2, ohne Veränderung während des Studienverlaufs.) FAZIT Nach diesen Daten bietet bei Candi- dasepsis die an der BDG-Konzentra- tion ausgerichtete Therapie keinen Vorteil im Hinblick auf die Sterblich- keit, fassen die Autoren zusammen. Das gilt sowohl für die Gesamt- kohorte als auch für ausgewählte Subgruppen. Möglicherweise könnte man aber laut dieser Studie Patien- ten mit besonders hohem Risiko ermitteln, um gezieltere weitere Untersuchungen durchzuführen. Elke Ruchalla, Bad Dürrheim Allgemeiner Abbau bei ITS-behandelten COVID-19- Überlebenden Taniguchi L et al. Patient-Centered Outcomes Fol- lowing COVID-19: Frailty and Disability Transitions in Critical Care Survivors. Crit Care Med 2022; 50: 955–963. doi:10.1097/CCM.0000000000005488 Zu Beginn der COVID-19-Pandemie standen Vorgehensweisen zur optima- len Behandlung der Kranken im Vor- dergrund. Mit dem allmählichen Ab- flauen der akuten Situation nahm das Interesse an Langzeitergebnissen zu: Wie geht es Patienten, die wegen einer Coronavirusinfektion erfolgreich auf In- tensivstationen (ITS) behandelt worden waren, ein Vierteljahr nach Entlassung aus der Klinik? Das haben Taniguchi et al. untersucht. Die Wissenschaftler nahmen zunächst 1028 Patienten aus 2 prospektiven Studien (CO-FRAIL, EPICCoV) in ihre Arbeit auf. Von ihnen starb mehr als die Hälfte bis Tag 90 nach Krankheitsbeginn (n = 585, 57 %). Von den überlebenden 443 Patienten wur- de der Großteil direkt nach Hause entlas- sen (83 %), 77 (17 %) wurden in Pflegeein- richtungen verlegt, und 15 (1,5 %) starben nach der Entlassung aus der Klinik. Letzt- lich gingen die 428 an Tag 90 noch leben- den Patienten in die Auswertung ein. Ihr Durchschnittsalter betrug 64 Jahre, gut die Hälfte waren Männer (57 %), der durch- schnittliche SAPS-3-Wert hatte 59 betra- gen (SAPS: Simplified Acute Physiology Score), die Hälfte von ihnen war maschinell beatmet worden. Bei ihnen untersuchten die Forscher an Tag 90 2 Parameter im Vergleich zu den Wer- ten 2–4 Wochen vor der Infektion: ▪ die Gebrechlichkeit („Frailty“) mithilfe der Clinical Frailty Scale (CFS; 1–9 Punk- te, stärkere Gebrechlichkeit bei höheren Werten) sowie ▪ die Fähigkeit zur Ausführung von All- tagsaktivitäten (0–15 Punkte; grund- legende Tätigkeiten wie etwa Anziehen und Körperpflege; fortgeschrittene Tä- tigkeiten wie etwa Einkaufen oder Ko- chen, Mobilität wie Herumgehen oder Aufstehen von einem Stuhl) Als gebrechlich werten die Mediziner Pa- tienten mit CSF-Werten ≥ 5, eine Einschrän- kung bei Alltagsaktivitäten definierten sie bei einem Katz-Index ≥ 1 (0: Patienten ma- ximal auf Unterstützung angewiesen; 6: Patienten vollkommen unabhängig). 6 Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

In eigener Sache VIELEN DANK! Das vorliegende Heft leitet den 58. Jahrgang der AINS ein. Wir möchten uns bei allen bedanken, die unsere Zeitschrift gelesen oder an ihren fachlichen Inhalten mitgewirkt haben: Herzlichen Dank für Ihr Interesse, für Ihr Engagement und Ihr Vertrauen! Ein ganz besonderer Dank gilt all jenen, die uns bei den zahlreichen Begutachtungsverfahren unterstützt haben, und auf deren Exper- tise und große Sorgfalt wir uns jederzeit verlassen konnten – namentlich sind dies: ▪ Grietje Beck, Wiesbaden ▪ Karin Becke-Jacobi, Nürnberg ▪ Berthold Bein, Hamburg ▪ Michael Bernhard, Düsseldorf ▪ Tobias Bingold, Frankfurt/Main ▪ Sina Coldewey, Jena ▪ Vera von Dossow, Bad Oeynhausen ▪ Andreas Drust, Magdeburg ▪ Uwe Ebmeyer, Magdeburg ▪ Jan-Hendrik Egberts, Hamburg ▪ Frank Fideler, Tübingen ▪ Dania Fischer, Heidelberg ▪ Matthias Fischer, Göppingen ▪ Benjamin Friedrichson, Frankfurt/Main ▪ Kristina Fuest, München ▪ Ulf Guenther, Oldenburg ▪ Martin Jöhr, Adligenswil/Schweiz ▪ Bettina Jungwirth, Ulm ▪ Jost Kaufmann, Köln ▪ Clemens Kill, Essen ▪ Marian Kukucka, Berlin ▪ Joji B. Kuramatsu, Erlangen ▪ Lorenz Lampl, Ulm ▪ Winfried Meißner, Jena ▪ Martina Nowak-Machen, Ingolstadt ▪ Mareike Otto, Lübeck ▪ Joachim Pfefferkorn, Stuttgart ▪ Tim Rahmel, Bochum ▪ Jochen Renner, Kiel ▪ Daniel Reuter, Rostock ▪ Katharina Röher, Hamburg ▪ Christoph Rosenthal, Berlin ▪ Jan Rossaint, Münster ▪ Thomas Saller, München ▪ Stefan Schaller, Berlin ▪ Flora Scheffenbichler, Ulm ▪ Robert Schier, Köln ▪ Markus N. Schreiber, Ulm ▪ Sebastian Schulz-Stübern, Freiburg ▪ Robert Sümpelmann, Hannover ▪ Ulrich Schwemmer, Neumarkt i. d. OPf. ▪ Sascha Treskatsch, Berlin ▪ Nana-Maria Wagner, Münster ▪ Bernhard Walder, Genf/Schweiz ▪ Markus Weigand, Heidelberg ▪ Martin Welte, Darmstadt ▪ Julius Wermelt, Frankfurt/Main Ganz gleich, ob Sie der AINS nun lesend, schreibend, mit Ihrer Begutachtungskompetenz oder ganz einfach in Freundschaft verbunden sind: Wir wünschen Ihnen allen ein erfolgreiches Jahr 2023! Herausgeberschaft und Verlag 8 Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

Einführung | Topthema Sepsis 2023: Status idem oder neue Perspektiven in Diagnostik und Therapie? Gernot Marx Die Sepsis wurde 2018 das letzte Mal als Topthema in der AINS behandelt. Eine Suche bei PubMed zu Sepsis liefert zwischen 2019 und 2022 bereits wieder 48 572 Treffer. Ein klares Indiz, dass die das Thema nichts an Relevanz und Bedeutung für die Inten- sivmedizin und die Patienten verloren hat. Die Coronapandemie und die schwerkranken COVID-19- Patienten waren in der öffentlichen Wahrnehmung das vorherrschende Thema in den vergangenen 2 Jahren, aber wir haben auf unseren Intensivstationen sehr viele Patienten mit Sepsis behandelt, darunter auch viele COVID-19-Patienten. Es erscheint also mehr als ange- bracht, die Sepsis wiederum als Topthema auszuwählen. Erfreulicherweise gibt es zahlreiche neue Ansätze in Diag- nostik und Therapie der Sepsis. Auch das „Post intensive Care Syndrome“ rückt zunehmend in den Fokus der Ver- sorgung und Forschung. Neue Diagnoseverfahren In der Diagnostik sind neue Verfahren verfügbar, z. B. das Next-Generation Sequencing (NGS) zur schnellen Erre- geridentifikation und potenziellen Bestimmung von Resis- tenzgenen. Die Performance sowie die klinische Relevanz dieser NGS-basierten Erregerdiagnostik bei Patienten mit Verdacht auf bzw. manifester/m Sepsis/septischem Schock im Vergleich zum „Goldstandard“ der kulturbasierten Er- regerdiagnostik wird aktuell in einer prospektiven, obser- vierenden, nicht interventionellen und multizentrischen Studie des translationalen intensivmedizinischen For- schungsnetzwerkes der DGAI TiFOnet (www.tifonet.de) untersucht [1]. Die Patientenrekrutierung ist bereits ab- geschlossen, und die Ergebnisse werden zeitnah erwartet. Im TiFOnet wird bereits gegenwärtig in einer multizentri- schen, randomisierten und kontrollierten Interventions- studie die konsequente Folgefragestellung in diesem The- menbereich untersucht: Kann auf Basis einer NGS-basier- ten Erregerdiagnostik eine Outcome-Verbesserung bei Pa- tienten mit Sepsis/septischem Schock durch antiinfektive Therapieoptimierung erreicht werden [2]? Neue therapeutische Ansätze Es sind auch therapeutische neue Ansätze verfügbar. Ein innovativer Ansatz ist der Einsatz einer antikörperbasier- ten Therapie von septischen Patienten mit Adrecizumab. Dies ist ein monoklonaler Antikörper, der das vasoaktive Peptidhormon Adrenomedullin spezifisch bindet, ohne dessen biologische Aktivität zu reduzieren. Der therapeu- tische Ansatz liegt darin, die Gefäßintegrität z. B. in der Sepsis zu verbessern. In einer multinationalen Observa- tionsstudie wurden bei 583 Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock Adrenomedullin-Plasmaspiegel bei Aufnahme und am Tag nach Aufnahme gemessen [3]. Es zeigte sich, dass die frühen Adrenomedullin-Spiegel und deren frühzeitige Veränderungen sich eignen, um das Überleben und die Reversibilität des septischen Multi- organversagens vorhersagen zu können. Die Sicherheit und Verträglichkeit von Adrecizumab konnte auch bei Pa- tienten mit septischem Schock in einer prospektiven ran- domisiert kontrollierten Interventionsstudie gezeigt wer- den [4]. Die Gabe des monoklonalen Antikörpers Adreci- zumab führte zu einer Erhöhung der Plasmaspiegel des bioaktiven Adrenomedullin. Der Mode-of-Action konnte also in dieser Studie bestätigt werden. Telemedizin und künstliche Intelligenz Neue innovative Möglichkeiten in der Diagnostik und The- rapie in der Sepsis werden auch durch die Telemedizin und Digitalisierung/künstliche Intelligenz eröffnet. So konnte in einer der größten Telemedizinstudien Europas „TELnet@NRW“ u. a. in einem prospektiv und randomi- siert kontrollierten Studienansatz bei über 10 000 Inten- sivpatienten eine Verbesserung der Behandlungsqualität nachgewiesen werden, insbesondere in der Behandlung der Sepsis, der Staphylokokken-Bakteriämie sowie des akuten Lungenversagens. Ebenso konnte die Sepsismor- talität in TELnet@NRW um 5 % gesenkt werden; dieses Er- gebnis war allerdings statistisch nicht signifikant [5]. Die- se Verbesserungen konnten durch ein 24/7-ärztliches Ver- 10 Marx G. Sepsis 2023: Status ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 10–12 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

Einführung | Topthema Interessenkonflikt BBraun Melsungen, Biotest und Adrenomed haben die Durch- führung wissenschaftlicher Projekte von Gernot Marx finanziell unterstützt. Unabhängig hiervon hat Gernot Marx Honorare im Rahmen von Vortragstätigkeiten von den Firmen BBraun Melsungen, Biotest, Philips und Kairos erhalten und ist Berater von BBraun Melsungen, Adrenomed und 4Teen4. Gernot Marx ist Mitgründer der Clinomic Group GmbH. Autorinnen/Autoren Univ.-Prof. Dr. med. Gernot Marx Univ.-Prof. Dr. med. Direktor der Klinik für Ope- rative Intensivmedizin und Intermediate Care an der Uniklinik RWTH Aachen. Er ist u. a. Prä- sident der Deutschen Interdisziplinären Vereini- gung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesell- schaft für Telemedizin, Sprecher des wissenschaftlichen Ar- beitskreises Intensivmedizin und Mitglied des engeren Präsi- diums der DGAI. Korrespondenzadresse Univ.-Prof. Dr. med. Gernot Marx Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care, Uniklinik RWTH Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen gmarx@ukaachen.de Literatur [1] Brenner T, Decker SO, Grumaz S et al. Next-generation se- quencing diagnostics of bacteremia in sepsis (Next GeneSiS- Trial): Study protocol of a prospective, observational, noninter- ventional, multicenter, clinical trial. Medicine 2018; 97: e9868. doi:10.1097/MD.0000000000009868 [2] Brenner T, Skarabis A, Stevens P et al. TIFOnet Critical Care Trials Group. Optimization of sepsis therapy based on patient- specific digital precision diagnostics using next generation se- quencing (DigiSep-Trial)-study protocol for a randomized, con- trolled, interventional, open-label, multicenter trial. Trials 2021; 22: 714. doi:10.1186/s13063-021-05667-x [3] Mebazaa A, Geven C, Hollinger A et al. Circulating adrenome- dullin estimates survival and reversibility of organ failure in sepsis: the prospective observational multinational Adrenome- dullin and Outcome in Sepsis and Septic Shock-1 (AdrenOSS- 1) study. Crit Care 2018; 22: 354. doi:10.1186/s13054-018-2 243-2 [4] adrenomedullin Laterre PF, Pickkers P, Marx G et al. Safety and tolerability of non-neutralizing adrecizumab (HAM8 101) in septic shock patients: the AdrenOSS-2 phase 2a biomarker-guided trial. Intensive Care Med 2021; 47: 1284– 1294. doi:10.1007/s00134-021-06537-5 antibody [5] Marx G, Greiner W, Juhra C et al. An innovative telemedical network to improve infectious disease management in critical- ly ill patients and outpatients: a stepped-wedge, cluster ran- domized controlled trial (TELnet@NRW). J Med Internet Res 2022; 24: e34098. doi:10.2196/34098 [6] Ghalati PF, Samal SS, Bhat JS et al. Critical Transitions in Inten- sive Care Units: A Sepsis Case Study. Sci Rep 2019; 9: 12888. doi:10.1038/s41598-019-49006-2 [7] Bundesministerium für Bildung und Forschung. Projekt „DIS- TANCE: Krankheitsverläufe nach intensivmedizinischer Be- treuung besser vorhersagen, gezielter therapieren“. Zugriff am 08. Dezember 2022 unter: https://www.gesundheitsfor- schung-bmbf.de/de/distance-krankheitsverlaufe-nach-inten- sivmedizinischer-betreuung-besser-vorhersagen-13 021.php Bibliografie Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 10–12 DOI 10.1055/a-1978-4 321 ISSN 0939-2661 © 2023. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70 469 Stuttgart, Germany 12 Marx G. Sepsis 2023: Status ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 10–12 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung | Topthema Von der Erstbeschreibung bis zur Sepsis-3-Definition Der Begriff „Sepsis“ beruht auf dem altgriechischen „σηψιζ“, was übersetzt so viel bedeutet wie „Fäulnis“. Die erste Verwendung in einem medizinischen Kontext geht auf den griechischen Philosophen und Dichter Homer zu- rück, der vor über 2700 Jahren den Begriff in einem seiner Bücher verwendete. Etwa 400 Jahre vor Christus beschrieb Hippokrates von Kos, der als Vater der modernen Medizin gilt, ein „Fieber, das verursacht wird, durch eine Materie, die fault“ [1]. Er war zudem einer der ersten, der antisep- tische Therapiemöglichkeiten wie z. B. Alkohol aus Wein und Essig beschrieb [2]. Somit gehört die Sepsis zu den ältesten beschriebenen Krankheiten, allerdings ist ihre Pa- thophysiologie bis heute noch nicht in Gänze verstanden. Unser heutiges Verständnis der Sepsis fußt definitiv nicht mehr auf Schriften von Hippokrates und Homer: Im Jahr 1972 beschrieb der US-amerikanische Immunologe Lewis Thomas im New England Journal of Medicine: „It is our re- sponse […] that makes the disease. Our arsenals for fighting off bacteria are so powerful […] that we are more in danger from them than the invaders.” [3] Im Jahr 1991 versuchte eine Konsensuskonferenz amerikanischer Fach- gesellschaften pragmatisch eine klinische Nähe zu errei- chen: Die Sepsis wurde als immunologische Reaktion (Sys- temic inflammatory Response Syndrome, SIRS) auf eine Infektion und somit als Immunpathologie definiert (Sep- sis-1) [4]. Bei der Überprüfung der Definition im Rahmen einer erneuten Konsensuskonferenz im Jahr 2001 wurden keine grundlegend neuen Konzepte eingebracht. Die Sep- sis wurde weiterhin als lebensbedrohlicher Zustand postu- liert, welcher durch eine Reaktion des Organismus auf eine Infektion ausgelöst wird, die körpereigene Gewebe und Organstrukturen schädigt (Sepsis-2) [5]. In den Mit- telpunkt des wissenschaftlichen Diskurses rückte eine zu- nehmende Diskussion über eine zu geringe Sensitivität und Spezifität der SIRS-Kriterien, welche die Grundlage für das damalige Sepsisverständnis bildeten. Hiernach wird beispielsweise einer von 8 Patienten mit Sepsis nicht korrekt erkannt, während wiederum andere Patienten SIRS-Kriterien erfüllen, ohne an einer Sepsis zu leiden [6]. Unter Berücksichtigung dieser potenziellen Schwächen des SIRS-basierten Diagnosekonzepts und der damit ver- bundenen Risiken für kritisch kranke Patienten wurde 2014 eine erneute Konsensuskonferenz ins Leben geru- fen. Ihr Ziel war es, eine evidenzbasierte neue Definition der Sepsis zu erarbeiten. Merke Im Februar 2016 wurden im Rahmen der Sepsis-3-Defi- nition die lebensbedrohlichen Organdysfunktionen in- folge einer dysregulierten Immunantwort auf dem Bo- den einer Infektion als neue Definition der Sepsis heran- gezogen [7]. Diese Organdysfunktionen werden mithilfe des SOFA- Scores (SOFA: Sequential bzw. Sepsis-related Organ Fail- ure Assessment) [8] eruiert. Die Definition des septischen Schocks – als schwerste Unterform der Sepsis – wurde gebunden an zirkulatorisch-metabolische Parameter wie Blutdruck, Volumen- und Katecholamintherapie sowie das Serum-Laktat [7]. Sepsis – ein äußerst heterogenes Erkrankungsbild Die aktuelle Studienlage zeigt, dass die Sepsis ein hoch- gradig heterogenes Krankheitsbild darstellt, in welchem sowohl pro- als auch antiinflammatorische Prozesse teil- weise reaktiv überlagernd ablaufen. Dies kann sich kli- nisch in Form eines flexibel-dynamischen Korridors zwi- schen Zytokinsturm und maximaler Immunsuppression bemerkbar machen [9]. Organdysfunktionen bzw. -versa- gen stellen die gemeinsame Endstrecke dieser dysregu- lierten Immunreaktion dar, deren zugrunde liegende Pa- thophysiologie wie nachfolgend dargestellt zusammenge- fasst werden kann. Erregerinvasion Normalerweise schützen unsere Epithelien durch orts- ständige Enzyme und Schleim mit antimikrobiellen Aktivi- täten (z. B. im Darm) vor einer Translokation von mikro- biellen (bakteriell/viral/fungal) Erregern in ansonsten ste- rile Bereiche hinter der Barriere. Bei einer Barrierestörung kann z. B. Endotoxin aus der Zellwand gramnegativer aerober Bakterien in das Blut übergehen. Isoliertes Endotoxin wirkt nicht direkt toxisch, kann aber eine Reihe inflammatorischer Reaktionen auslösen [10]. Nun können Zellen der angeborenen Immunabwehr wie z. B. Makrophagen mithilfe von Pattern Recognition Re- ceptors (PRRs) endogene und exogene Molekülmuster er- kennen und nachfolgend Zellen aktivieren (s. „Info – Was sind PRRs?“). INFO Was sind PRRs? Zellen mit PRRs zählen zum angeborenen unspezifi- schen Immunsystem. Sie sind in der Lage, hochspe- zifisch evolutionär konservierte Strukturen ver- schiedensten Ursprungs zu erkennen. Prominente Vertreter der PRRs sind z. B. die Toll-like-Rezeptoren (TLR) und die Familie der C-Typ-Lektin-Rezeptoren (CLR). Zudem gehören die „retinoic acid inducible gene 1-like“-Rezeptoren (RLR) und „nucleotide- binding oligomerization domain-like“-Rezeptoren (NLR) zu den PRRs [11]. 14 Gregorius J, Brenner T. Pathophysiologie der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 13–27 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung | Topthema ▶Tab. 1 „Bad Guys“: proinflammatorische Mediatoren der Sepsis. Name Hauptwirkungen IL-1β IL-6 IL-8 IL-3 IL-18 TNF-α NG [32], Akute-Phase-Proteine [33], IL-6 ↑ [34], Thrombozytenaktivierung [35], COX-2-Induktion (Fieber) [36] Rekrutierung und Aktivierung von NG [37], Stimulation von T- und B-Zellen (Transfer angeborenes in erworbenes Immunsystem) [38], Mastzellstimulation [39] Rekrutierung von NG, Unterstützung der NG-Degranulierung [40] und Expression von Adhäsionsmolekülen [41]; restaurative, proangiogenetische Effekte [42] Notfallmyelopoese, hohe Plasmaspiegel korrelieren mit höherer Mortalität [43] induziert zellvermittelte Immunabwehr, IFN-γ-Sezernierung durch T-Zellen, NK-Aktivierung [44] CRH ↑, Appetit ↓, Fieberauslösung, Akute-Phase-Proteine ↑, Insulinresistenz ↑, Chemotaxis ↑ [45, 46, 47, 48] Komplement- system gemeinsame Endstrecke: Membrane Attack Complex → Lyse + proinflammatorischer Trigger [49], Komplementfaktor C5a: Kontraktion glatter Muskelzellen, Permeabilität in Kapillarbett ↑, Histaminliberation ↑, Makrophagen- und NG- Stimulierung ↑, ICAM-1- und Tissue-Factor-Expression auf Endothelzellen, Vermittlung hyperaktiver Proinflammation (früh) und Immunparalyse (via ERK 1/2; spät) [50, 51] Gerinnungs- system diffuse Aktivierung des Gerinnungssystems: Endothelzellschaden, Faktorenverbrauch mit der Gefahr der DIC (Mortalität ↑), endogene Antikoagulanzien (z. B. Protein C) ↓ [52], Thrombin kann z. B. C5a proteolytisch aktivieren [53] COX-2 = Cyclooxygenase 2; CRH = Corticotropin-Releasing-Hormon; DIC = disseminierte intravasale Gerinnung; ERK 1/2 = extrazellulär regulierte Kinase 1/2; ICAM-1 = Intercellular Adhesion Molecule 1; IFN-γ = Interferon-γ; IL = Interleukin; NG = neutrophile Granulozyten; NK = natürliche Killerzelle; TNF-α = Tumornekrosefaktor-α Die septische Immunreaktion am Beispiel von Lipopolysacchariden Gramnegative Erreger enthalten in ihrer äußeren Zell- membran Lipopolysaccharide (Endotoxin). Gebunden an das plasmatisch vorliegende LPS-binding Protein (LBP) können diese von TLR-4 mithilfe von CD-14 (CD: Cluster of Differentiation) und MD-2 (MD: Myeloid Differentiation Factor) erkannt werden [19, 54]. Von der Zellmembran ausgehend kann TLR-4 nun einen TLR-adapter-molecule (TIRAP)/myeloid Differentiation primary Response Gene (MyD88)-vermittelten Signalweg induzieren. Dieser führt zu einer Aktivierung von Nuclear Factor κB (NF-κB) und der Produktion proinflammatorischer Zytokine wie z. B. IL-6, IL-12, IL-1β und TNF-α. Nach Phosphoinositid-3-Kina- se-(PI3K-)abhängigem Transfer des aktivierten Rezeptor- komplexes ins Endosom wird ein TRIF (Interferon-β)/TRIF- related Adaptor Molecule-(TRAM-)Signalweg initiiert, der vor allem antiinflammatorische Gene aktiviert (wie z. B. IL-10) [55]. Ein weiterer zur Pyroptose – eine inflammato- rische Form des programmierten Zelltods – führender Signalweg wird über intrazellulär auftretendes LPS einge- leitet: Dieses aktiviert die Caspase 11, welche in Anwesen- heit des Inflammasoms (s. „Info“) die strukturelle Integri- tät der Zelle auflöst [56]. Zudem spaltet Caspase 1 die Vorläufermoleküle von IL-1β und IL-18 – pro-IL1β und pro-IL-18 – was zu ihrer Aktivierung und Sezernierung führt [57]. INFO Das Inflammasom Das Inflammasom beschreibt Multiprotein-Plattfor- men, die auf einen bestimmten Stimulus hin (z. B. DAMPs und PAMPs im Kontext der Sepsis) gebildet werden. Im Detail besteht ein aktiviertes Inflamma- som aus 2–3 Proteinkomplexen: einem Inflamma- som-Sensormolekül, das – wenn es aktiviert wird – die Effektorprotease Caspase 1 direkt oder indirekt über das Adaptormolekül ASC (apoptosis-associ- ated speck-like protein containing a C-terminal caspase recruitment domain) bindet [58]. Das in unserem Kontext bekannteste Inflammasom-Sen- sormolekül ist das NLRP3, welches ein gleichnami- ges Inflammasom induziert [59]. Caspase 1 kann neben der oben beschriebenen Aktivierung und Sezernierung proinflammatorischer Zytokine auch Gasdermin D prozessieren. Dieses ist ebenfalls in der Lage, Poren in der Zellmembran zu generieren und nachfolgend zur oben beschriebenen Pyropto- se zu führen [60]. Frühe Phase – beteiligte Zellen Angeborenes Immunsystem Unser angeborenes Immunsystem stellt eine erste „Bar- riere“ für eindringende Erreger dar. So finden sich z. B. in der Haut gewebsständige dendritische Zellen und Makro- phagen. Im Blut zirkulieren in diesem Kontext vor allem neutrophile Granulozyten (NG) und Monozyten. So kön- 16 Gregorius J, Brenner T. Pathophysiologie der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 13–27 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung | Topthema ▶ Abb. 2 Inflammatorischer Glykokalyxschaden: Die proinflammatorischen Zytokine TNF-α und IL-1 sowie ROS aktivieren Heparana- se und Metalloproteasen, welche der Glykokalyx nachhaltigen Schaden zufügen können [73]. Dies begünstigt einen intravasalen Flüssigkeitsverlust sowie eine septische Mikrozirkulationsstörung. IL-1 = Interleukin 1; ROS = reaktive Sauerstoffspezies; TNF-α = Tu- mornekrosefaktor-α. Sepsis/septischer Schock und Organdysfunktion Somit ergeben sich fulminante Makro- wie auch Mikrozir- kulationsstörungen, die für sich alleine und in Kombina- tion eine lebensbedrohliche Gefahr für die Oxygenierung und somit die Organfunktion darstellen. Die hieraus resul- tierenden Organdysfunktionen sind essenzielle Bestand- teile der aktuell gültigen Sepsisdefinition (Sepsis-3). Ein guter Verlaufsparameter für die Oxygenierung der end- stromnahen Zellen ist das im Rahmen der anaeroben Gly- kolyse anfallende Laktat. Merke Laktat entsteht immer dann, wenn nicht ausreichend Sauerstoff für die Atmungskette bereitgestellt werden kann. Daher ist die Definition des septischen Schocks mit einem Serum-Laktat von > 2,0 mmol/l im Blut ver- bunden. Daten aus der Surviving Sepsis Database zeigen, dass auch ohne eine bestehende Hypotension (Makroperfu- sion) ein Laktat von > 4 mmol/l mit einem schlechteren Überleben einhergeht [74]. Spätphase – Antiinflammation und Immunparalyse Im Gegensatz zur Initialphase der Sepsis überwiegt in den zeitlich später gelegenen Abschnitten typischerweise eine antiinflammatorische Immunitätslage, in der nach wie vor der größere Patientenanteil verstirbt [75]. In dieser Phase dominieren antiinflammatorische und immunmodulatori- sche Zytokine wie z. B. IL-10, TGF-β (Transforming Growth Factor β), IL-4 und IL-13. In diesem Zusammenhang sollte u. a. auch der IL-1-Rezeptor-Antagonist (IL-1Ra) erwähnt werden, der die Bindung der proinflammatorischen Zyto- kine IL-1α und IL-1β durch Besetzung des IL-1-Rezeptors verhindert. Somit ergibt sich eine immunsuppressive Im- munitätslage, die für eine Eskalation persistierender und die Entstehung neuer Infektionsherde prädestiniert. Eine Übersicht über antiinflammatorische Mediatoren der Sep- sis gibt ▶ Tab. 2. Aufgrund eines fließenden und patien- tenindividuellen Übergangs der Dominanz von pro- zu antiinflammatorischen Zytokinen ist es schwierig, Patien- ten klinisch eindeutig einer Immunitätslage (Hyperinflam- mation vs. Immunsuppression) zuzuordnen (▶ Abb. 3). Zelluläre Veränderungen bei Sepsis/septischem Schock Eine Sepsis geht typischerweise mit zellulären Verände- rungen einher. Diese umfassen ▪ die numerische Zusammensetzung der Zellpopulatio- nen im Blut, ▪ die Oberflächenbeschaffenheit der Zellmembran so- wie ▪ die Empfindlichkeit (= Toleranz) einzelner Immunzellen gegenüber Sepsismediatoren. 18 Gregorius J, Brenner T. Pathophysiologie der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 13–27 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung | Topthema dendritischer Zellen. Zudem nimmt die Zahl der CD8+- und CD4+-T-Zellen ab, was einen kritischen Einschnitt in die endogenen Abwehrfunktionen darstellt [86]. Shedding von Oberflächenrezeptoren Shedding beschreibt einen Mechanismus, bei dem Zellen bestimmte Membranproteine abschnüren oder durch be- stimmte Enzyme, wie z. B. Metalloproteasen (ADAM- 10 = A Disintegrin and Metalloproteinase Domain-con- taining Protein 10) [87], gezielt von der Zelloberfläche ab- spalten. Im Rahmen der Sepsis gibt es Hinweise darauf, dass sich Zielzellen durch dieses sog. „Shedding“ gezielt von auf der Plasmamembran liegenden Immunrezeptoren wie PRRs trennen (z. B. sRAGE = Soluble Receptor for ad- vanced Glycation End-products [88] oder sTREM-1 = Solu- ble triggering Receptor expressed on myeloid Cells 1 [89]). Die Bindung im Blut zirkulierender Liganden an die- se sog. „Decoy-Rezeptoren“ führt dann zu einer Inaktivie- rung dieser Liganden. Die Datenlage hierzu erscheint je- doch lückenhaft und bedarf tieferer wissenschaftlicher Beleuchtung. Endotoxintoleranz Durch vorherige Aktivierung, z. B. mittels LPS, können sich Makrophagen und Monozyten endogen inaktivieren und somit nach erneuter Stimulation keine Zytokine mehr se- zernieren [90]. Hierbei spielt vor allem die durch wieder- kehrende TLR-4-Stimulation verursachte herabgesetzte NF-κB-Aktivität eine zentrale Rolle [91]. Der daraus resul- tierende anerge Zustand stellt eine immunologische Para- lyse der Zelle dar. Diese legt den Grundstein für eine anti- inflammatorische Immunlage bis hin zu einem kompen- satorischen antiinflammatorischen Response-Syndrom (CARS) [92]. Exkurs: Pathophysiologie der viralen Sepsis Im Rahmen einer „normalen“ viralen Infektion werden Vi- ruspartikel durch phagozytierende antigenpräsentierende Zellen, wie z. B. dendritische Zellen oder Makrophagen, phagozytiert. Proinflammatorische Zytokine (hier v. a. IL- 12, IFN-γ/β) werden durch oben beschriebene Mechanis- men ausgeschüttet und Virusantigene auf der Oberfläche präsentiert. Diese Zytokine fördern die Differenzierung von T-Zellen zu TH1- und CD8+-T-Zellen. TH2-Zellen för- dern klassischerweise die humorale Immunantwort, wo- hingegen TH1- und CD8+-T-Zellen vor allem an der zellulä- ren Immunantwort beteiligt sind. Hierdurch können in in- fizierten Zellen Apoptose induziert, durch Ausschüttung von Perforinen infizierte Zellen geschädigt oder die Bil- dung reaktiver Sauerstoffspezies in Phagozyten gefördert werden. Zudem wird die Antikörperproduktion angeregt, um Viruspartikel zu opsonisieren und somit leichter elimi- nieren zu können. Zum Ende der Virusinfektion entstehen T-Gedächtniszellen, um im Falle einer erneuten Infektion eine schnelle adaptive Immunantwort anbieten zu kön- nen [93]. Im Rahmen einer viralen Sepsis werden analog zu den oben beschriebenen Mechanismen proinflammatorische Zytokine ausgeschüttet. Diese fördern jedoch nicht direkt die TH1-vermittelte zelluläre Immunantwort (z. B. IL-6, IL- 8, TNF-α) auf oben beschriebenem Wege. Durch diese ausbleibende Translation erschöpfen sich die verbleiben- den T-Zellen. Es zeigt sich eine fehlgeleitete proinflamma- torische Immunitätslage, verbunden mit der Unfähigkeit, das Virus gezielt über zelluläre Mechanismen zu eliminie- ren [93].Typischerweise liegen eine exzessive Inflamma- tion und Immunsuppression zugleich vor. Die Immunsup- pression lässt sich u. a. an einer Apoptoseinduktion in T-, B- und dendritischen Zellen sowie einer Expansion regula- torischer T-Zellen (Treg) erkennen [94]. Cave Aktuellste Studien deuten darauf hin, dass die virale Sepsis im klinisch-diagnostischen Setting durch den feh- lenden Nachweis in der konventionellen Blutkultur häu- fig unterrepräsentiert ist [95]. Virale Sepsis durch SARS-CoV-2 Eine Metaanalyse zeigte erst vor Kurzem, dass 77,9 % der an COVID-19 erkrankten Patienten auf der Intensivstation die Sepsis-3-Kriterien erfüllen. Ein Acute Respiratory Dis- tress Syndrome (ARDS) zeigte sich hier als häufigste Or- gandysfunktion (87,5 %). Ein septischer Schock gemäß Sepsis-3 lag bei 36,4 % der untersuchten intensivmedizi- nischen Patientenkohorte vor. Die intensivmedizinische Gesamtmortalität in Höhe von 33 % bei COVID-19 (bei in- vasiv beatmeten Patienten sogar 42 %) unterstreicht die Gefährlichkeit dieser viralen Erkrankung [96]. Der Viruseintritt in die Zelle wird durch den mit dem Virus interagierenden ACE-2-Rezeptor (ACE-2: Angiotensin-con- verting Enzyme 2) vermittelt. Die sepsisdefinierenden Organdysfunktionen bei einer COVID-19-Erkrankung er- geben sich zum einen durch einen direkten zytotoxischen Effekt des Virus selbst (DAMPs ↑) [97]. Zum anderen be- ruhen sie auf einem endothelialen Zellschaden mit einer sich daraus ergebendenThromboinflammation (▶ Abb. 4). Zudem induziert das Virus eine T-Zell-Depletion und stört das Interferon-Signaling, sodass sich eine hyperaktive, proinflammatorische und dysregulierte Immunsituation darstellt (v. a. IL-6, TNF-α ↑). Bedingt durch eine Interna- lisierung des ACE-2-Rezeptors nach Viruseintritt kommt es zu einer schwerwiegenden Störung des Renin-Angio- tensin-Aldosteron-Systems (RAAS). Daraus ergeben sich eine gesteigerte Gefäßpermeabilität und Vasokonstriktion und ein fibrotischer Gewebeumbau wird begünstigt [98]. Des Weiteren gibt es eine Korrelation zwischen der Schwere der COVID-19-Erkrankung und der Aktivierung des bereits oben erwähnten Anaphylatoxins C5a: Dies zeigt die Bedeutung der Komplementaktivierung im Rah- 20 Gregorius J, Brenner T. Pathophysiologie der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 13–27 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung | Topthema KERNAUSSAGEN ▪ Sepsis ist definiert als eine schwerwiegende dys- regulierte Immunantwort auf dem Boden einer Infektion, aus der eine Endorganstörung resul- tiert. ▪ Im Zentrum der septischen Pathophysiologie steht zu Beginn ein sog. Zytokinsturm, der maß- geblich durch die Antwort des angeborenen Im- munsystems getragen wird. Im Verlauf kann sich eine eher immunparalytische Situation einstel- len. ▪ Exogene PAMPs und endogene DAMPs akti- vieren sog. PRRs, welche mannigfaltige Down- stream-Pathways aktivieren und die weitere Im- munantwort bahnen. ▪ Die Sepsis ist weder ein reines pro- noch anti- inflammatorisches Krankheitsbild. Vielmehr lau- fen pro- und antiinflammatorische Prozesse stets parallel zueinander ab, sodass die immuno- logische Gesamtsituation je nach Ausprägungs- grad der einzelnen Komponenten patientenindi- viduell und zeitabhängig deutlich differiert. ▪ Der septische Schock zeichnet sich durch eine kombinierte Störung sowohl der Makro- als auch der Mikrozirkulation aus. Die hieraus resultieren- den Oxygenierungsstörungen bedingen die sep- sisdefinierenden Endorganstörungen. ▪ Das Wissen um die Heterogenität der septischen Immunpathologie muss bei der Konzeption zu- künftiger Sepsisstudien sowie der Therapiepla- nung des individuellen Sepsispatienten Berück- sichtigung finden. Das Ziel ist es, eine zuneh- mende Individualisierung der Sepsistherapie zu erreichen! Interessenkonflikt Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: ja, von einer anderen Institu- tion (Pharma- oder Medizintechnikfirma usw.); Honorar/geld- werten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: ja, von einer anderen Institution (Pharma- oder Medizintechnikfirma usw.); Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfän- ger: ja, von einer anderen Institution (Pharma- oder Medizin- technikfirma usw.); Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/ Partner, Ehepartner, Kinder) an im Bereich der Medizin aktiven Firma: ja; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehe- partner, Kinder) an zu Sponsoren dieser Fortbildung bzw. durch die Fortbildung in ihren Geschäftsinteressen berührten Firma: ja Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Thorsten Brenner ist Mitglied des DIVI-Präsidiums, des Vor- standes des Forschungszentrums der DGAI und des SepNet- Vorstandes sowie Stellv. Sprecher der SIS-Sektion der DIVI und der AG Immunologie des TIFOnet der DGAI. Jonas Gregorius gibt an, dasss kein Interessenkonflikt besteht. Autorinnen/Autoren Jonas Gregorius Assistenzarzt an der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Universitätsklinikum Essen. Klinische als auch grundlagenwissen- schaftliche intensivmedizinische Forschungs- schwerpunkte: Antwort des angeboren Immun- systems bei Sepsis und die NG-basierte Erreger- diagnostik. Univ.-Prof. Dr. med. Thorsten Brenner, MHBA Direktor der Klinik für Anästhesiologie und In- tensivmedizin am Universitätsklinikum Essen. Wissenschaftliche Schwerpunkte: angeborene Immunantwort bei Sepsis sowie innovative Erre- gerdiagnostik bei kritisch kranken Patienten auf der Intensivstation. Korrespondenzadresse Univ.-Prof. Dr. med. Thorsten Brenner, MHBA Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Essen (AöR) Hufelandstraße 55 45147 Essen Deutschland thorsten.brenner@uk-essen.de Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizie- rungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestim- mungen: Univ.-Prof. Dr. med. Thorsten Brenner, Essen Literatur [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] Schuster HG, Müller-Werdan U. Definition und Diagnose von Sepsis und Multiorganversagen. Schuster HG, Werdan K (eds.). Intensivtherapie bei Sepsis und Multiorganversagen. 3 ed. Heidelberg: Springer; 2000: 3–26 Funk DJ, Parrillo JE, Kumar A. Sepsis and septic shock: a his- tory. Crit Care Clin 2009; 25: 83–101. doi:10.1016/j.ccc.2008. 12.003 Thomas L. Germs. N Engl J Med 1972; 287: 553–555. doi:10.1 056/NEJM197209142871109 Anonymous. American College of Chest Physicians/Society of Critical Care Medicine Consensus Conference: definitions for sepsis and organ failure and guidelines for the use of innova- tive therapies in sepsis. Crit Care Med 1992; 20: 864–874 Levy MM, Fink MP, Marshall JC et al. 2001 SCCM/ESICM/ACCP/ ATS/SIS International Sepsis Definitions Conference. Crit Care Med 2003; 31: 1250–1256. doi:10.1097/01.Ccm.000005045 4.01978.3b Kaukonen KM, Bailey M, Pilcher D et al. Systemic inflamma- tory response syndrome criteria in defining severe sepsis. N Engl J Med 2015; 372: 1629–1638. doi:10.1056/NEJMoa1 415236 Singer M, Deutschman CS, Seymour CW et al. The Third Inter- national Consensus Definitions for Sepsis and Septic Shock (Sepsis-3). JAMA 2016; 315: 801–810. doi:10.1001/jama.201 6.0287 22 Gregorius J, Brenner T. Pathophysiologie der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 13–27 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

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Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 13–27 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung | Topthema Punkte sammeln auf CME.thieme.de Diese Fortbildungseinheit ist In der Regel 12 Monate online für die Teilnahme verfügbar. Unter https://cme.thieme.de/CXJUD7W oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests und zum Artikel. Sie finden dort auch den genauen Einsendeschluss. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführliche Anleitung. Wir wünschen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! VNR 2760512023163510597 Frage 1 Welchen Score nutzt man zur Eruierung der Organdysfunktionen im Rahmen der Sepsis-3-Definition? A SOFA B SAPS II C NACA-Score D ICDSC E NRS Frage 2 Welcher der folgenden Rezeptoren gehört nicht zu den PRRs (Pattern Recognition Receptors)? A TLR-4 (Toll-like-Rezeptor 4) B RLR (Retinoic Acid inducible Gene 1-like Receptor) C NLR (Nucleotide-binding Oligomerization Domain-like Recep- tor) D ACE-2-Rezeptor (ACE-2: Angiotensin-converting Enzyme 2) E CLR (C-Typ-Lektin-Rezeptor) Frage 3 Durch welchen PRR werden Lipopolysaccharide (LPS) erkannt? A CLR B NLR C TLR-4 D TLR-2 E RAGE (Receptor for advanced Glycation End-products) Frage 4 Was gehört zu den klassischen proinflammatorischen Boten- stoffen? A IL-10 (IL: Interleukin) B TGF-β (Transforming Growth Factor β) C IL-4 D IL-1β E sTNF-R (löslicher Tumornekrosefaktor-Rezeptor) Frage 5 Was ist kein Grund für die eingeschränkte Makroperfusion beim septischen Schock? A PRR-vermittelte Vasodilatation B Capillary Leakage C negativ inotrope Wirkung von TNF-α (Tumornekrosefaktor-α), IL-1β und C5a D disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) E septische Kardiomyopathie Frage 6 Die immunparalytische Phase der Sepsis ist vor allem durch das Überwiegen antiinflammatorischer Botenstoffe gekennzeichnet. Welcher zählt hierzu? A IL-1 B IL-6 C IL-8 D IL-3 E TGF-β Frage 7 Was zählt nicht zu den zellulären Veränderungen im Rahmen einer Sepsis? A Mutation B Expansion C Depletion D Shedding E Endotoxintoleranz Frage 8 Was zeigen an COVID-19 erkrankte Patienten auf der Intensivsta- tion, welche die Sepsis-3-Kriterien erfüllen, als häufigste Organ- dysfunktion? A akutes Nierenversagen B Kreislaufversagen C ARDS (Acute respiratory Distress Syndrome) D akutes Leberversagen E Thrombozytopenie 26 Gregorius J, Brenner T. Pathophysiologie der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 13–27 | © 2023. Thieme. All rights reserved. ▶ Weitere Fragen auf der folgenden Seite …

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CME-Fortbildung | Topthema Klinische Symptomatik Oft präsentiert sich die Klinik der Sepsis nicht so eindeutig wie im geschilderten Fallbeispiel, was die differenzialdiag- nostische Abgrenzung zu anderen Krankheitsbildern er- schwert. Klinische Symptome können in unterschiedlicher Kombination und Reihenfolge auftreten. Die wichtigsten sind in ▶ Tab. 1 dargestellt. Einige Symptome sind spezi- fisch für einen bestimmten Infektionsfokus oder be- stimmte Organdysfunktionen. Insbesondere bei älteren oder immungeschwächten Patienten kann die klinische Symptomatik trotz schwerer Erkrankung gering ausge- prägt sein. ▶Tab. 1 Häufige klinische Sepsissymptome. Symptome Kreislauf Atmung Niere Haut Tachykardie, Hypotonie, schwache Pulse, verlängerte Rekapillarisierung Dyspnoe, erhöhte Atemfrequenz, Zyanose, Rasselgeräusche, Husten Oligurie, Anurie, Dysurie Blässe oder Rötung, Marmorierung (▶ Abb. 1), Petechien Temperatur Fieber oder Hypothermie1, Schüttelfrost allgemein schweres Krankheitsgefühl oder Schmerzen Stoffwechsel Blutzuckerentgleisung 1 Es wird eine Messung der Körperkerntemperatur oder mittels Infrarotthermometer in Ohr oder Mund empfohlen [3]. ▶ Abb. 1 Ausgeprägte Marmorierung der Beine als Zeichen der schweren Mikrozirkulationsstörung im septischen Schock. (Quelle: Sackarnd J. Vom kardiologischen Notfall bis zur Herzoperation – ein Fallbericht. intensiv 2021; 29: 254–267) Der qSOFA-Score (qSOFA = quick Sequential Organ Failure Assessment) [4] kann als Screeninginstrument außerhalb der Intensivstation helfen, Patienten mit einem hohen Ri- siko für ein schlechtes Outcome zu identifizieren. FALLBEISPIEL Ein 50-jähriger Patient wird vom Rettungsdienst in die Notaufnahme verbracht. Als Vorerkrankung liegt ein Diabetes mellitus Typ 2 vor, der Blutzucker liegt bei 19 mmol/l. Der Patient ist wach, aber ver- langsamt, tachykard und blass. Die vom Rettungs- dienst gemessene Körpertemperatur beträgt 38,9 °C, der Blutdruck liegt bei 95 mmHg systolisch und die Atemfrequenz bei 28/min. Der qSOFA liegt somit bei 3 Punkten. Sie stellen die Verdachtsdiag- nose einer Sepsis. INFO qSOFA-Score ▪ veränderter mentaler Status, Glasgow Coma Scale (GCS) ≤ 14 ▪ systolischer Blutdruck < 100 mmHg ▪ Atemfrequenz ≥ 22/min Bei mind. 2 erfüllten Kriterien gilt der Score als po- sitiv. Patienten mit einem qSOFA von 2 bzw. 3 hatten in der Va- lidierungsstudie [4] eine 3-fach bzw. 14-fach höhere Sterblichkeit im Vergleich zu Krankenhauspatienten, die max. 1 Kriterium erfüllten. Häufig haben diese Patienten eine Sepsis, aber auch andere Ursachen sind möglich. Ein positiver qSOFA begründet somit nur den Verdacht auf 30 Thomas-Rüddel D. Diagnostik der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 29–38 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung | Topthema einer Analyse des gesamten bakteriellen Genmaterials in einer Blutprobe basieren, klinische Relevanz gewinnen. Hiermit können auch bisher unbekannte oder nicht kulti- vierbare Pathogene nachgewiesen werden [5, 9]. Weitere mikrobiologische Diagnostik Von jedem vermuteten oder möglichen Fokus sollte eben- falls mikrobiologisches Material eingesendet werden [3]. Dies umfasst am häufigsten Urin und Sputum bzw. Tra- chealsekret. Je nach klinischem Befund und Fokus sind auch Wundabstriche bzw. intraoperative entnommene Materialien, Abszesspunktate bzw. Proben aus steril ange- legten Drainagen sowie Liquor mikrobiologisch zu unter- suchen [3]. Eine routinehafte Beprobung aller möglichen Lokalisationen, auch wenn für diese kein Infektionsver- dacht besteht, ist nicht zielführend [3]. Abhängig vom Immunstatus, dem epidemiologischen Umfeld sowie der Frage, ob es sich um eine ambulante oder nosokomiale Infektion handelt, sind insbesondere bei Patienten mit pulmonalem Fokus Viren, Pilze und aty- pische Erreger in die mikrobiologische Differenzialdiag- nostik einzubeziehen [7]. Eine umfassende Abhandlung dieser Thematik ist jedoch nicht Fokus dieses Artikels. FALLBEISPIEL Fortsetzung In der klinischen Untersuchung und Anamnese fin- det sich kein Hinweis auf den Infektionsfokus. Der Urinstix ist unauffällig, in der Röntgenaufnahme des Thorax besteht der V. a. ein Infiltrat. Die darauf- hin veranlasste CT-Diagnostik von Thorax und Ab- domen bestätigt eine Pneumonie, ein intraabdomi- neller Fokus besteht nicht. Die venöse Blutgasana- lyse zeigt ein Laktat von 3,5 mmol/l, der Patient be- nötigt Katecholamine. Mit der Diagnose eines septi- schen Schocks bei Pneumonie wird er auf die Inten- sivstation aufgenommen. Initiale Fokussuche Eine rasche Fokussuche und wann immer möglich Fokus- sanierung sind zentrale Bausteine einer erfolgreichen Sep- sistherapie [10]. Ein nicht sanierter Fokus ist auch bei op- timaler antiinfektiver und supportiver Therapie mit einem schlechten Outcome assoziiert. Eine Übersicht über die möglichen Infektionsfokusse gibt die folgende Infobox. Das Akronym LUCCAASS kann als Merkhilfe dienen. INFO Mögliche Infektionsfokusse (LUCCAASS) ▪ Pneumonie (Lung) ▪ Urosepsis (Urine) ▪ zentrales Nervensystem (Cns) ▪ Endokarditis (Cardiac) ▪ Abdomen (Abdomen) ▪ Gelenke (Arthritis) ▪ Haut & Wunden (Skin) ▪ Wirbelsäule (Spine) ▪ Katheter & Ports ▪ primäre Bakteriämie Die Sensitivität konventioneller Röntgenaufnahmen sowie der Sonografie bei der Fokusdiagnostik sind begrenzt. Eine CT mit arterieller und venöser Kontrastmittelphase erlaubt deutlich bessere Aussagen zu pulmonalen oder in- traabdominellen und retroperitonealen Infektionsherden [10]. Sie kann als primäres bildgebendes Verfahren zur Fokussuche angewendet werden oder im Rahmen einer Stufendiagnostik erst bei verbleibenden Unklarheiten nach der konventionellen Bildgebung und Sonografie er- folgen. Dies ist u. a. abhängig von Verfügbarkeit und Kos- ten, dem klinischen Zustand des Patienten, relativen Kon- traindikationen gegen eine Kontrastmittelgabe und loka- len Gepflogenheiten. Die transthorakale Echokardiografie kann eine Endokarditis nicht ausschließen, große Vegeta- tionen oder neue Klappeninsuffizienzen sind jedoch hin- weisend für einen kardialen Fokus. In der Mehrzahl der Sepsisfälle sollte eine sichere Diagnose des Infektions- fokus in den ersten Stunden gelingen. Merke Die häufigsten Infektionsherde sind Lunge, Abdomen, Urosepsis und Knochen-/Weichteil-/Wundinfekte. Die Auftretenshäufigkeiten unterscheiden sich je nach Pa- tientenkollektiv. Eine Spondylodiszitis wird mittels CT nicht sicher erfasst, ein MRT der Wirbelsäule ist hier deutlich sensitiver. Bei unklarem Fokus oder persistierend hohen Entzündungs- werten sollte dies insbesondere bei positiver Anamnese, meist mit Rückenschmerzen, in Erwägung gezogen wer- den. Auch der Nachweis einer Endokarditis (▶ Abb. 3) er- fordert eine weitergehende Diagnostik. Hierbei nimmt die transösophageale Echokardiografie eine zentrale Stel- lung ein. Insbesondere bei positiven Blutkulturen mit typi- schen Erregern, neuen Herzgeräuschen oder Klappen- insuffizienzen, Vorhandensein von Herzklappenprothesen oder embolischen Schlaganfällen in Kombination mit einer Sepsis sollte diese niedrigschwellig erfolgen. Bei persistierender Sepsis mit unklarem Fokus können, so- fern verfügbar, nuklearmedizinische Verfahren zur Fokus- suche eingesetzt werden. Diese sind in Einzelfällen auch 32 Thomas-Rüddel D. Diagnostik der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 29–38 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung | Topthema Merke Sowohl eine Leukozytose als auch eine Leukopenie (durch Verbrauch und Migration der Leukozyten aus dem Blut zum Fokus) können Zeichen einer Sepsis sein. Procalcitonin Procalcitonin (PCT) steigt 2–4 h nach auslösendem Ereig- nis an und erreicht den höchsten Wert nach 12–24 h [10]. PCT gilt allgemein als relativ spezifischer Sepsismarker und ist in Deutschland weit verbreitet. Die mittlere Sensi- tivität und Spezifität für die Unterscheidung einer Sepsis von Inflammation nicht infektiöser Genese bei Intensivpa- tienten liegt unter 80 %, bei großer Heterogenität zwi- schen einzelnen Studien. Dies bedeutet bei einer biomar- kergestützten Diagnose, dass es bei mehr als jedem 5. Pa- tienten zu einer Fehleinschätzung käme. Dies liegt deut- lich unter der Performance hochsensitiver Troponintests für die Diagnose des Myokardinfarktes [15]. Ein Teil der beobachteten Heterogenität erklärt sich ver- mutlich daraus, dass die Höhe der PCT-Werte bei einer Sepsis u. a. stark von Erreger und Infektionsfokus abhän- gen [16]. Bei urogenitalem und abdominellem Fokus so- wie Escherichia coli, anderen Enterobakterien und Strep- tokokken als Erreger sind im Mittel deutlich höhere Werte zu beobachten [16]. Die Leitlinie der „Surviving Sepsis Campaign“ rät von einer Verwendung zur Diagnosestel- lung ab, die deutsche S 3-Leitlinie zur Sepsis spricht PCT wie allen anderen Biomarkern auch nur eine unterstützen- de und ergänzende Rolle in der Diagnosestellung zu [3, 17]. C-reaktives Protein Das C-reaktive Protein (CRP) wird bei jeder akuten und chronischen Inflammationen als Akute-Phase-Protein frei- gesetzt. Bei akuten Infektionen steigt es im Mittel erst 6– 10 h nach Beginn der Infektion und somit später als PCT an [14]. Es fällt mit einer Halbwertszeit von 48 h auch deutlich langsamer ab [14]. Insbesondere nach operati- ven Eingriffen ist es daher zur Diagnose einer Sepsis nur bedingt geeignet [10, 14]. Ein fehlender Abfall unter The- rapie deutet jedoch meist auf ein Therapieversagen hin, z. B. bei unsaniertem Fokus oder unzureichender Wirk- samkeit der Antibiose [10]. Interleukin-6 Interleukin-6 (IL-6) zeigt von den etablierten Biomarkern die schnellste Kinetik. Dabei ist jedoch kein relevanter Un- terschied zwischen Infektion und Inflammation nicht in- fektiöser Genese zu beobachten [9, 14]. Die IL-6-Werte sind auch stark von einem Polymorphismus des IL-6-Pro- moters abhängig, was ihre Interpretation zusätzlich er- schwert [14]. Cave Alle etablierten Infektionsmarker sind auch bei einer In- flammation nicht infektiöser Ursache erhöht. Biomarker zur Therapiesteuerung Diagnoseausschluss Aufgrund der wenig spezifischen Symptomatik der Sepsis wird bei vielen Patienten unter der Verdachtsdiagnose Sepsis eine Therapie begonnen, ohne dass die Diagnose gesichert ist. Bei unauffälligen Biomarkern, insbesondere bei einem PCT < 0,25 ng/ml, ist die Diagnose einer Sepsis extrem unwahrscheinlich und die antibiotische Therapie kann rasch wieder beendet werden [14]. Bei sehr akutem Krankheitsbeginn ist aufgrund der erwähnten Kinetik je- doch eine 2. Bestimmung nach 12–24 h für die Entschei- dung hilfreich. Verkürzung der Antibiotikatherapie Ein Abfall des PCT zeigt eine erfolgreiche Sepsistherapie durch antimikrobielle Therapie und ggf. Fokussanierung an. Bei einem deutlichen Abfall des PCT ist es daher si- cher, die Antibiotikatherapie vorzeitig zu beenden. Dies wirkt sich günstig auf Kosten, Resistenzentwicklung und Nebenwirkungen aus. Sogar die Mortalität wird durch kürzere Therapiedauern reduziert. Am besten untersucht ist ein Algorithmus, bei dem bei einem PCT < 0,5 ng/ml bzw. < 80 % des Ausgangswertes die Antibiose beendet wird. Hiermit kann die Therapie im Mittel um ca. 2–2,5 Tage verkürzt werden [18, 19]. Die Daten beziehen sich jedoch größtenteils auf Patienten mit respiratorischen In- fekten. Für bestimmte Infektionsherde, z. B. Endokarditis, und bestimmte Erreger, insbesondere Staphylokokken, sind aber unabhängig vom PCT-Verlauf längere Therapie- dauern erforderlich. FALLBEISPIEL Fortsetzung Sechs Wochen nach der initialen Vorstellung wird der Patient mit einer Verschlechterung des Allge- meinzustandes, erhöhten Entzündungswerten und einer neu aufgetretenen Ataxie aus einer Rehabilita- tionsklinik an Ihr Haus zurückverlegt. Ein Fokus- suche, auch mittels CT, bleibt ohne wegweisende Befunde, es wachsen jedoch erneut Staphylokokken in der Blutkultur. Fremdanamnestisch erfahren Sie, dass der Patient gegenüber seinen Angehörigen in der Rehaklinik über Rückenschmerzen geklagt hat. Die MRT-Diagnostik zeigt eine Spondylodiszitis so- wie mehrere (embolische) Infarkte im Kleinhirn. In der transösophagealen Echokardiografie sieht der Kardiologe eine vegetationsverdächtige Struktur an der Mitralklappe (▶ Abb. 3). Mit V. a. eine Endokar- ditis mit septischen Embolien sowie eine Spondylo- diszitis verlegen Sie den Patienten zur weiteren Ver- sorgung an ein geeignetes Haus. 34 Thomas-Rüddel D. Diagnostik der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 29–38 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung | Topthema [15] Sethi A, Bajaj A, Malhotra G et al. Diagnostic accuracy of sensi- tive or high-sensitive troponin on presentation for myocardial infarction: a meta-analysis and systematic review. Vasc Health Risk Manag 2014; 10: 435–450. doi:10.2147/VHRM.S63416 [16] Thomas-Rüddel DO, Poidinger B, Kott M et al. Influence of pathogen and focus of infection on procalcitonin values in sep- sis patients with bacteremia or candidemia. Crit Care 2018; 22: 128. doi:10.1186/s13054-018-2050-9 [17] Evans L, Rhodes A, Alhazzani W et al. Surviving sepsis cam- paign: international guidelines for management of sepsis and septic shock 2021. Intensive Care Med 2021; 47: 1181–1247. doi:10.1007/s00134-021-06506-y [18] Schuetz P, Wirz Y, Sager R et al. Effect of procalcitonin-guided antibiotic treatment on mortality in acute respiratory infec- tions: a patient level meta-analysis. Lancet Infect Dis 2018; 18: 95–107. doi:10.1016/S1473-3099(17)30592-3 [19] de Jong E, van Oers JA, Beishuizen A et al. Efficacy and safety of procalcitonin guidance in reducing the duration of antibiotic treatment in critically ill patients: a randomised, controlled, open-label trial. Lancet Infect Dis 2016; 16: 819–827. doi:10.1 016/S1473-3099(16)00053-0 Bibliografie Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 29–38 DOI 10.1055/a-1813-2293 ISSN 0939-2661 © 2023. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70 469 Stuttgart, Germany 36 Thomas-Rüddel D. Diagnostik der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 29–38 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung | Topthema Punkte sammeln auf CME.thieme.de Fortsetzung … Frage 7 Welche Aussage zur mikrobiologischen Diagnostik trifft zu? A Es sollten möglichst viele Materialien aus allen Körperregio- nen zur mikrobiologischen Diagnostik eingeschickt werden. Frage 9 Welche Aussage zu Biomarkern in der Sepsisdiagnostik ist rich- tig? A Ein bei Symptombeginn normwertiges PCT schließt eine Sep- B Eine Liquorpunktion ist in der Diagnostik einer Sepsis nie indi- sis aus. ziert. B Der Einfluss von Promoterpolymorphismen erschwert die kli- C Respiratorisches Material sollte immer mittels Bronchoskopie nische Interpretation von IL-6-Werten. gewonnen werden. C C-reaktives Protein ist gut geeignet, zwischen einer Infektion D Insbesondere bei immunsupprimierten Patienten sollten Pilze und einer sterilen Inflammation zu unterscheiden. als Erreger in der Diagnostik mitadressiert werden. D Der Verlauf der Leukozyten unter Therapie ist gut geeignet, E Blutkulturen sind nur bei Verdacht auf eine Kathetersepsis er- den Therapieerfolg zu beurteilen. forderlich. Frage 8 Welche Aussage zur Fokussuche trifft zu? A Eine Spondylodiszitis kann im CT sicher ausgeschlossen wer- den. B Eine unauffällige transthorakale Echokardiografie schließt eine Endokarditis aus. E Die meisten in der Literatur beschriebenen Sepsisbiomarker sind in großen Studien untersucht. Frage 10 Welche generelle Aussage zur Diagnose der Sepsis ist richtig? A Aufgrund der unspezifischen Symptomatik erfolgt die initiale Diagnosestellung leitliniengerecht über die Messung von Bio- markern. C Die Sonografie ist der CT-Diagnostik bei abdominellen Infek- B Die meisten Sepsismarker können gut zwischen einer Infek- tionsfokussen in der diagnostischen Sensitivität überlegen. tion und einer sterilen Inflammation differenzieren. D Solange die Antibiose resistenzgerecht ist, hat die Fokussanie- C Da Sepsis eine seltene Erkrankung ist, sind Überlegungen zur rung keinen Einfluss auf das Behandlungsergebnis. Diagnostik von eingeschränkter Relevanz. E Eine CT-Diagnostik des Thorax liefert häufig zusätzliche Infor- mationen, die sich aus dem Röntgenbild des Thorax nicht er- geben haben. D Fokussuche und wenn möglich Fokussanierung sind ein we- sentlicher Baustein einer erfolgreichen Sepsisbehandlung. E In den verfügbaren Leitlinien ist die Rolle von Biomarkern in der Diagnostik der Sepsis präzise definiert. 38 Thomas-Rüddel D. Diagnostik der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 29–38 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung | Topthema Therapie der Sepsis Frank Bloos Quelle: © KH Krauskopf/Thieme. Die Behandlung von Patienten mit Sepsis gehört zu den anspruchsvollsten Aufgaben auf der Intensivstation. Schon in der ersten Stunde der Versorgung müssen die rich- tigen therapeutischen Weichen gestellt werden. Neben der Sicherung der Vitalfunk- tionen sind antiinfektive Behandlungen einzuleiten und später anzupassen; zusätz- liche Therapieoptionen müssen abgewogen werden. Hierzu benötigt man ein klares Konzept für das therapeutische Vorgehen. FALLBEISPIEL Aufnahmesituation auf der Intensivstation Eine 68-jährige Patientin wird mit akutem Abdo- men in die Notaufnahme eingewiesen. Die Patien- tin ist initial desorientiert, aber ansonsten kardio- respiratorisch stabil. Laut Rettungsdienst bestehen ein arterieller Hypertonus sowie ein oral eingestell- ter Diabetes mellitus. Während der Diagnostik ver- schlechtert sich der Zustand zunehmend, sodass man sich direkt nach der CT-Untersuchung ohne weitere Maßnahmen für die sofortige Aufnahme auf die Intensivstation entscheidet. Bei Aufnahme auf die Intensivstation ist die Patientin somnolent, aber erweckbar, sowie tachypnoeisch mit einer Sauerstoffsättigung von 90 % unter 3 l Sauerstoff per Nasensonde. Der arterielle Blutdruck beträgt 85/60 mmHg bei einer Sinustachykardie von 130/ min. Die Körpertemperatur liegt bei 38,9 °C. Im rechten Handrücken befindet sich eine Venenver- weilkanüle. 40 Bloos F. Therapie der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 40–50 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung | Topthema Tatsächlich gibt es einen zeitlichen Zusammenhang zwi- schen Verzögerung der initialen Antibiotikatherapie und der Sterblichkeit [5]. Inwieweit genau die 1 h wirklich ein- gehalten werden muss, ist Gegenstand der aktuellen Dis- kussion. Es soll aber bei aller Diskussion nicht der Eindruck vermittelt werden, dass man sich bei der Behandlung der Sepsis Zeit lassen sollte. Insbesondere bei Patienten mit septischem Schock sollte auf eine rasche Antibiotikagabe geachtet werden. Starre Antibiotikaregimes sind jedoch nicht hilfreich. Vielmehr sollten bei der Wahl der Antibio- tika verschiedene Faktoren beachtet werden. PR A XIS Strategie zur Wahl der empirischen Antibiotika- therapie [4] ▪ Beachtung des Infektionsherds mit seinem typi- schen Erregerprofil und der Gewebegängigkeit der Antiinfektiva ▪ Beachtung der lokal prävalenten Erreger und deren Resistenzmuster ▪ Beachtung einer antimikrobiellen Vortherapie und Wechsel auf eine andere Klasse ▪ Vorliegen spezifischer Immundefekte ▪ Alter und Komorbiditäten des Patienten Typischerweise werden in dieser Indikation Carbapeneme oder Breitspektrumpenicilline mit Betalaktamase-Inhibitor (z. B. Piperacillin/Tazobactam) verwendet. Bei ambulant erworbenen Infektionen als Fokus kann auch ein Cephalo- sporin der 3. Generation zum Einsatz kommen. Je nach lokaler Resistenzlage kann die zusätzliche Gabe eines Fluorchinolons sinnvoll sein. Weiterhin sollte bei Patienten mit hohem Risikoprofil (z. B. septischer Schock, antibioti- sche Vortherapie) die Ergänzung mit einem Lipopeptid oder Glykopeptid geprüft werden, insbesondere wenn die Rate an Methicillin-resistentem Staphylococcus aureus hoch ist. Detaillierte Vorschläge zur empirischen Anti- biotikatherapie bei Sepsis können der Leitlinie der Paul- Ehrlich-Gesellschaft entnommen werden [6]. Bei einer empirischen antimikrobiellen Therapie sollte auch eine antimykotische Therapie erwogen werden. Sep- sispatienten mit einer unbehandelten invasiven Candida- Infektion (ICI) haben eine extrem hohe Sterblichkeit. Lei- der gibt es aktuell keine diagnostische Möglichkeit, eine invasive Candida-Infektion vor dem Vorliegen des mikro- biologischen Befundes einigermaßen sicher vorherzusa- gen. Die Indikationsstellung einer empirischen antimyko- tischen Therapie ist daher auch nicht eindeutig festgelegt. Europäische Fachgesellschaften empfehlen, bei nicht neu- tropenischen Patienten mit septischem Schock, Multi- organversagen und mindestens einer Candida-Kolonisie- rung außerhalb des Gastrointestinaltrakts eine empirische antimykotische Therapie mit einem Echinokandin zu be- ginnen [7]. Allerdings ist die Evidenz für diese Empfehlung gering. Bei einem infektiösen Fokus, der eine chirurgische Sanie- rung benötigt, ist eine alleinige Antibiotikatherapie nicht ausreichend. Eine chirurgische Fokussierung sollte 6–12 h nach Sepsisdiagnosestellung erfolgt sein. Dabei sollte man sich eher an dem 6-h-Fenster orientieren, da auch für die chirurgische Behandlung ein Zusammenhang zwi- schen Verzögerung und Prognose nachgewiesen wurde [8]. Alternativ kann auch eine interventionelle Fokussanie- rung in Kombination mit einem bildgebenden Verfahren (z. B. CT-gestützte Abszesspunktion) gewählt werden. PR A XIS Strategie der initialen antiinfektiösen Therapie ▪ sofortige i. v. Gabe eine Breitspektrumantibioti- kums ▪ vorbestehende intravaskuläre Zugänge prüfen und ggf. entfernen ▪ Implantate auf mögliche Infektionen untersu- chen und die Indikation einer Entfernung prüfen ▪ antimykotische Therapie mit Echinokandinen bei entsprechendem Risikoprofil ▪ interventionelle Fokussanierung ▪ chirurgische Fokussanierung innerhalb von 6 h Initiale Kreislaufstabilisierung Merke Der septische Schock geht mit einem schweren Volu- menmangel einher. Somit ist eine aggressive Volumen- substitution ein wichtiger Bestandteil der hämodyna- mischen Stabilisierung dieser Patienten. Vollelektrolytlösungen sind dabei das Mittel der 1. Wahl. In der Initialphase der Stabilisierung sind oft deutlich hö- here Dosierungen als 30 ml/kg notwendig, um eine Kreis- laufstabilisierung zu erreichen. Tatsächlich distanziert sich die Leitlinie der Deutschen Sepsis-Gesellschaft (DSG) von einer derart schematischen Dosierung, da die Evidenz für diese Dosisangabe unzureichend ist [4]. Die im „Sepsis- Bündel“ angegebene Startdosierung von 30 ml/kg sollte daher nur als grobe Orientierung dienen. Falls eine ausreichende Füllung des Intravasalraums mit kristalloiden Lösungen nicht zu erreichen ist, kann Hu- manalbumin als kolloidaler Volumenersatz verwendet werden. Die Gabe von Gelatine wird international unter- schiedlich bewertet. Während die Surviving Sepsis Cam- paign von einer Gelatinegabe abrät [9], sehen sowohl die deutschen Sepsis-Leitlinien als auch die S3-Leitlinie „Intra- vasale Volumentherapie bei Erwachsenen“ Gelatine als mögliche Alternative an [4, 10]. Insgesamt ist die Evidenz für die Verwendung von Albumin wie auch von Gelatine in der Sepsis als gering einzustufen. Hingegen sprechen 42 Bloos F. Therapie der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 40–50 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung | Topthema Therapeutisches Drug-Monitoring Die Antibiotikatherapie ist ein zentrales Element der Sep- sistherapie. Im Rahmen der Optimierung der Behandlung sollte nun auch die Dosierung der Antibiotika so gewählt werden, dass die Pathogene suffizient adressiert werden, jedoch eine zusätzliche Belastung durch Nebenwirkungen z. B. im Rahmen einer Überdosierung vermieden wird. Die in den Produktinformationen angegebenen Dosierungen sind nicht bei Intensivpatienten entwickelt worden; Pa- tienten mit Sepsis weisen aber z. B. durch das Kapillarleck andere Verteilungsvolumina auf, und Organdysfunktionen können die Elimination von Antibiotika beeinträchtigen. Andererseits kann im Rahmen einer hyperdynamen Kreis- lauflage die Medikamentenelimination auch erhöht sein [16]. Merke Standarddosierungen von Antibiotika können bei Sepsispatienten sowohl zu inadäquaten als auch zu übermäßig hohen Wirkspiegeln führen. In erster Linie sollte ein therapeutisches Drug-Monitoring (TDM) bei Antibiotika durchgeführt werden, die eine ge- ringe therapeutische Breite aufweisen und bei denen die Wirksamkeit eng an die Wirkspiegel gekoppelt ist. In die- sem Zusammenhang wird ein TDM mittels Tal- und Spit- zenspiegel für Glykopeptide und Aminoglykoside drin- gend empfohlen [6]. Auch für Betalaktam-Antibiotika wie Meropenem und Piperacillin/Tazobactam rückt ein TDM immer mehr in den Mittelpunkt der Diskussion. Die Mes- sung ist jedoch aufwendig, sodass sich ein TDM für die Antibiotika noch nicht flächendeckend in der klinischen Routine durchsetzen konnte. Im Internet stehen Tools zur Verfügung, mit denen sich eine adäquate Dosierung be- rechnen lässt [16]. PR A XIS Web-Tools für Dosierungsempfehlungen von Anti- biotika ▪ CADDy (Calculator to Approximate Drug Dosing in Dialysis): Antibiotikadosierungen für verschie- dene Nierenersatzverfahren (www.thecaddy.de) ▪ DOSING: Arzneimitteldosierungen (einschließ- lich Antibiotika) bei Niereninsuffizienz (https:// dosing.de) ▪ ClinCalc: Arzneimitteldosierungen für Aminogly- koside, Vancomycin und Colistin abhängig von Verabreichungsart, Nierenfunktion und Wirk- spiegel (https://clincalc.com/InfectiousDisease) Behandlung weiterer Organdysfunktionen Merke Ein Sepsispatient kann alle erdenklichen Organdysfunk- tionen entwickeln. Dies macht die Versorgung dieser Patienten so anspruchsvoll, denn jede Organdysfunk- tion muss nach aktuellem medizinischem Standard behandelt werden, um den Gesamterfolg nicht zu ge- fährden. Jedes Defizit in der Durchführung der Behandlungen auf der Intensivstation kann die durch die frühzeitige Einlei- tung einer antiinfektiösen Therapie und die frühzeitige hä- modynamische Stabilisierung erzielten Vorteile in Bezug auf die Sterblichkeit zunichtemachen. Aus diesem Grund geben die Leitlinien umfassende Empfehlungen zur inten- sivmedizinischen Versorgung von Sepsispatienten [4]. Die Box unten enthält jene Therapieempfehlungen, die von der Deutschen Sepsis-Gesellschaft (DSG) mit dem Empfehlungsgrad „stark“ bewertet wurden und daher auch in der Praxis Anwendung finden sollten. Eine detail- lierte Ausführung dieser Empfehlungen geht über die spe- zielle Sepsistherapie hinaus und würde den Rahmen die- ser Übersicht sprengen. Daher soll für weitere Details an dieser Stelle auf die Empfehlungen der DSG verwiesen werden [4]. Zusätzliche Therapien Die bisher beschriebenen Therapieansätze haben die Be- handlung der sepsisauslösenden Infektion sowie der Or- gandysfunktionen als Endstrecke der Sepsis adressiert. Ein wichtiger Bestandteil der Pathophysiologie der Sepsis ist jedoch auch die inadäquate Wirtsantwort. Trotz einer Vielzahl von neuen Behandlungsansätzen auf diesem Gebiet mit entsprechenden Studien ist es in den letzten Dekaden nicht gelungen, hier ein durch Studien gut abge- sichertes therapeutisches Konzept zu entwickeln. Ledig- lich aktiviertes Protein C hatte eine Zulassung für die The- rapie der Sepsis. Diese Substanz wurde jedoch 2011 nach Neubewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses wieder vom Markt genommen. Problematisch in diesem Zusammenhang ist, dass bisher untersuchte Behandlungskonzepte davon ausgingen, dass die inflammatorische Wirtsantwort in der Sepsis bei je- dem Patienten ähnlich abläuft. Tatsächlich lassen sich aber laborchemisch durchaus unterschiedliche Reaktions- muster erkennen, sodass eigentlich eine individuelle The- rapie sinnvoller erscheinen würde. Diese „Precision Medi- cine“ im Sinne einer biomarkergestützten Immuntherapie ist jedoch zurzeit noch nicht mit konkreten Behandlungs- empfehlungen hinterlegt [17]. Im Folgenden werden einige Therapieansätze beschrie- ben, die zum Teil auch in der klinischen Praxis angewen- 44 Bloos F. Therapie der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 40–50 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

CME-Fortbildung | Topthema einer kürzlich erschienenen Metaanalyse zeigte die Einzel- gabe von Vitamin C durchaus einen kleinen Therapievor- teil [22]. Allerdings ist die Datengrundlage für eine The- rapieempfehlung hier nicht ausreichend. Aktuell spielt die „Metabolic Resuscitation“ in der Sepsistherapie keine Rolle. Sonstige Verfahren Die Pathophysiologie der Sepsis wird wesentlich von der Wirtsantwort auf eine Infektion bestimmt. Bakterielle Toxine und Zytokine spielen dabei eine zentrale Rolle. Die- se Substanzen durch Blutreinigungsverfahren zu entfer- nen ist ein faszinierender Ansatz. Die aktuellen Leitlinien sehen jedoch keine ausreichende Evidenz, dass diese Ver- fahren in der klinischen Praxis eingesetzt werden sollten [4, 9]. So führte eine Endotoxinentfernung mit einer Poly- myxin-B-Hämoadsorption nicht zu einem besseren Über- leben. Auch für das in Deutschland eingesetzte Verfahren der Hämoadsorption konnte trotz zahlreicher positiver Fallberichte in den bisher durchgeführten randomisierten Studien ein Wirksamkeitsnachweis im Sinne einer Prog- noseverbesserung nicht erbracht werden [23]. Immunglobuline werden bei Sepsispatienten wegen ihrer pleiotropen Effekte auf die Pathogenese und auf die Wirtsantwort eingesetzt. Auch vom Routineeinsatz von Immunglobulinen raten die gegenwärtigen Leitlinien der DSG und der Surviving-Sepsis-Campaign dennoch ab [4, 9]. Zwar zeigt eine aktuelle Metaanalyse durchaus einen Vorteil sowohl für polyklonale als auch für Immunglobu- lin-M-angereicherte polygonale Immunglobuline [24], je- doch ist die Qualität der zugrunde liegenden Studien un- zureichend. Qualitativ hochwertige Studien zu diesem Aspekt fehlen also. Deeskalation FALLBEISPIEL Deeskalation Am 2. postoperativen Tag erfolgt bei schmutzigen Drainagen eine Second-Look-Operation, bei der noch einmal eine Lavage notwendig wird. In der Blutkultur und dem intraabdominellen Abstrich fin- den sich Escherichia coli mit unauffälligem Resis- tenzmuster. Die Antibiotikatherapie wird resistenz- gerecht auf Ceftriaxon deeskaliert. Die Infektwerte fallen nun zeitgerecht. Da sich in den kommenden Tagen auch der Vasopressorbedarf reduzieren lässt und die Patientin eine kumulative Plus-Bilanz von 18 l aufweist, wird über die Dialyse eine Negativie- rung begonnen. Während die Nierenfunktion im weiteren Verlauf wieder einsetzt, gestaltet sich die Entwöhnung von der Beatmung schwierig, sodass die Patientin nach 2 fehlgeschlagenen Intubationen schließlich tracheotomiert wird. Die nun wache, aber wegen einer Critical-Illness-Neuropathie/Myo- pathie in ihrer Motorik deutlich eingeschränkte Patientin kann dann einer Frührehabilitation zuge- führt werden. Antimikrobielle Therapie Merke Eine empirische antimikrobielle Therapie sollte auf ein wirksames Antibiotikum mit schmalem Spektrum de- eskaliert werden, sobald das verursachende Pathogen mit seinem Resistenzmuster identifiziert worden ist. Eine Deeskalation der Antibiotikatherapie zur spezifischen Behandlung der nachgewiesenen Pathogene gilt bei Sep- sispatienten als ein sicheres Vorgehen. Daher sollten die mikrobiologischen Befunde täglich auf die Möglichkeit einer Deeskalation gesichtet werden. In der Regel kann eine antimikrobielle Therapie nach 7–10 Tagen beendet werden. Die Verwendung von Biomarkern kann im Sinne einer individualisierten Behandlung zur Findung des ad- äquaten Zeitpunkts der Beendigung der Antibiotikathera- pie helfen. Der zeitliche Verlauf der Procalcitonin-Konzen- trationen ist in diesem Zusammenhang am besten unter- sucht. Die Entscheidung zur Beendigung der Antibiotikatherapie sollte zwar nicht allein auf der Basis eines Biomarkers fal- len, sondern immer auch gemeinsam mit einer klinischen Bewertung erfolgen. Jedoch empfehlen sowohl die ame- rikanischen als auch die deutschen Sepsis-Leitlinien, die Dauer der Antibiotikagabe bei adäquat fallenden Procalci- tonin-Konzentrationen frühzeitig zu beenden. Ähnliche Daten gibt es auch zum C-reaktiven Protein, dessen zeit- gerechter Abfall hinweisend für eine adäquate Antibioti- katherapie sein kann. Eine Empfehlung der aktuellen Leit- linien zur Steuerung der Antibiotikatherapie bei Sepsis mittels C-reaktivem Protein gibt es bisher jedoch nicht. Merke Bestimmte Infektionen (z. B. Endokarditis) oder Infek- tionen mit bestimmen Pathogenen (z. B. Staphylococ- cus aureus, Candida spp.) machen eine längere antimi- krobielle Therapie notwendig. De-Resuscitation Während der Akutbehandlung einer Sepsis kann es zu einer erheblichen i. v. Volumenzufuhr mit entsprechend hohen kumulativen Plus-Bilanzen kommen. Während ei- nerseits die Volumengabe ein elementarer Baustein der Kreislaufstabilisierung im septischen Schock ist, so sind hohe Bilanzen andererseits mit einer hohen Sterblichkeit assoziiert [13]. Eine von vornherein zurückhaltende Volu- mentherapie bei der initialen Kreislaufstabilisierung ist ein diskutiertes Konzept, konnte aber noch keinen Vorteil zei- 46 Bloos F. Therapie der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 40–50 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

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CME-Fortbildung | Topthema Punkte sammeln auf CME.thieme.de Fortsetzung … Frage 6 Welche Aussage zum therapeutischen Drug-Monitoring (TDM) bei Sepsis ist richtig? A Ein TDM bei Sepsis ist generell nicht notwendig, da die Stan- darddosierungen der Produktinformation zu adäquaten Wirk- spiegeln führen. B Dosierungen von Aminoglykosid- und Glykopeptidantibiotika Frage 9 Welche Aussage zur Therapie der Sepsis ist richtig? A Zur Standardtherapie gehört die Kombinationstherapie mit Hydrokortison, Thiamin und Vitamin C. B Mit Beginn der Antibiotikatherapie sollte zeitgleich auch eine Behandlung mit Immunglobulinen durchgeführt werden. C Randomisierte Studien zeigen, dass Hämoadsorption die sollten mittels TDM gesteuert werden. Prognose von Sepsispatienten verbessert. C Ein TDM bei Sepsis ist sinnvoll, weil Standarddosierungen der D Eine Thromboseprophylaxe ist nicht indiziert, da die Gerin- Antibiotika immer zu einer Unterdosierung führen. nung ohnehin beeinträchtigt ist. D Eine hyperdyname Kreislauflage führt zu hohen Wirkspiegeln. E Ein TDM für Meropenem lässt sich einfach mit einem bettsei- tigen Schnelltest realisieren. E Die Leitlinien empfehlen die Gabe von Hydrokortison beim septischen Schock, obwohl randomisierte Studien wider- sprüchliche Ergebnisse lieferten. Frage 7 Welche Aussage zur Flüssigkeitsbilanzierung bei Sepsis ist richtig? A Nach erfolgreicher Kreislaufstabilisierung sollte so bald wie möglich auf eine negative Flüssigkeitsbilanzierung umgestellt werden. Frage 10 Welche Aussage zur weiteren Kreislaufstabilisierung im Anschluss an die initiale Schockbehandlung ist richtig? A Bei der Volumentherapie wird immer eine ausgeglichene Bilanz angestrebt. B Eine hohe Flüssigkeitsbilanz ist mit einer besseren Über- B Die Volumentherapie sollte sich an dynamischen Verfahren lebensrate assoziiert. C Es ist belegt, dass eine restriktive Volumengabe bereits in der initialen Versorgung die Prognose günstig beeinflusst. D Bei Verwendung von kristalloiden Lösungen spielt die Flüssig- keitsbilanzierung keine Rolle. (z. B. Leg-Raise-Test) orientieren. C Wenn mit Noradrenalin keine ausreichende Kreislaufstabilisie- rung erreichbar ist, so ist Adrenalin oder Dopamin die übliche Zweitlinienbehandlung. D Bei der weiteren Kreislaufstabilisierung wird vornehmlich mit E Bei Verwendung von kolloidalen Lösungen spielt die Flüssig- kolloidalen Lösungen gearbeitet. E Engmaschige Messungen der Laktatkonzentration sind nicht sinnvoll, da die Laktat-Clearance nicht mit der Prognose des Patienten assoziiert ist. keitsbilanzierung keine Rolle. Frage 8 Welche Aussage zur Antibiotikatherapie im weiteren Verlauf der Sepsis ist richtig? A Eine Antibiotikatherapie mit breitem Spektrum sollte generell für 14 Tage erfolgen. B Die Sicherheit einer resistenzgerechten Deeskalation ist nicht erwiesen. C Bei mikrobiologischem Erregernachweis sollte die Antibio- tikatherapie resistenzgerecht deeskaliert werden. D Bei einer Infektion mit Staphylococcus aureus sollte die Anti- biotikagabe bereits nach 7 Tagen generell beendet werden. E Bei einem Anstieg der Procalcitonin-Konzentration kann die Antibiotikatherapie sicher beendet werden. 50 Bloos F. Therapie der Sepsis ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 40–50 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

Leitlinien in der Praxis Periphere Gabe von Vasopressoren Martin Fandler, Lennert Böhm Die Gabe von Katecholaminen/Vasopressoren ist eine der zentralen Notfalltherapien bei kritisch erkrankten und/oder verletzten Patient*innen mit relevanter Hypotonie in der Notaufnahme und häufig auch in der Erstversorgung in der Intensivmedizin. In dieser Rubrik finden Sie kompakte Zusammenfassungen der für Notaufnahmen rele- vanten Aspekte aus aktuellen nationalen und internationalen Leitlinien. ABKÜR ZUNGEN PVK SOP periphere Venenverweilkanüle Standard Operating Procedure Einleitung Lange Jahre war die Katecholamingabe auch im Akutfall streng auf zentralvenöse Zugänge beschränkt, was bei Notfallpatient*innen häufig initial kaum oder nur mit rele- vanter Zeitverzögerung möglich ist. Die vorliegende Emp- fehlung/Leitlinie aus dem Vereinigten Königreich gibt kla- re Empfehlungen zur periphervenösen Gabe und auch für den Fall einer Extravasation dieser hochpotenten Substan- zen bei kritisch Kranken [1]. Die Leitlinie betont, dass eine (insbesondere initiale) periphervenöse Gabe von Kate- cholaminen sicher ist und bezieht sich hierzu auf ein aktu- elles systemisches Review von 1382 Patient*innen [2]. Auch wenn diese Leitlinie sich primär auf die Intensivme- dizin bezieht, sind viele Aussagen gut auf die professionel- le Versorgung im Schockraum übertragbar. Ergänzend zur Leitlinie wird im folgenden Artikel eine Tabelle mit in Deutschland üblichen Dosierungen und Verdünnungen von Noradrenalin und Adrenalin angefügt. SOPs/Vorgaben Eine zentrale Vorgabe der Leitlinie ist die notwendige Vor- haltung von SOPs/Vorgaben für die periphervenöse Gabe von Vasopressoren. Diese sollten u. a. die Dosis, Verdün- nung, Wahl des periphervenösen Zugangs, regelmäßige klinische Kontrolle und Dokumentation des Zugangs, so- wie den Umgang mit akuter Extravasation klar ausweisen und auf die relevanten Unterschiede zur zentralvenösen Gabe hinweisen. Ebenso soll für die periphervenöse Gabe von Vasopresso- ren ein Perfusor bzw. Infusomat genutzt werden. Zugangsweg und -wahl Für die periphervenöse Gabe von Vasopressoren sollte zu- mindest eine 20 G-PVK genutzt werden. Als Lage wird ins- besondere der (Unter)Arm proximal des Handgelenks empfohlen. Bei wachen Patient*innen sollten Stellen mit aktiver Flexion (z. B. Ellenbeuge) vermieden werden, da hier eine Okklusion der Vene bei Bewegung/Beugung und damit eine verringerte Medikamentenapplikation möglich ist. Die mehrfache Punktion sollte vermieden werden, nach Punktion sollte nach erfolgreicher Aspiration eine Bolusgabe von 5–10 ml NaCl 0,9 % zur Lagekontrolle erfol- gen. Ebenso sollte die Anlage von zumindest einer weiteren PVK erfolgen, um notfalls schnell den Zugangsweg anpas- sen bzw. ändern zu können. „Midline-Katheter“ könnten – bei vorhandener Expertise und Ausrüstung – als Alterna- tive von peripheren Verweilkanülen erwogen werden. Während keine konklusive Evidenz für ein erhöhtes Auf- treten von Komplikationen bei längerer Infusionsdauer besteht, ist dies zumindest nach allgemeiner Logik nach- vollziehbar. Die Leitlinie gibt keine klare Vorgabe, wie lan- ge die Vasopressor-Gabe periphervenös erfolgen soll/ darf. Für die klinische Praxis sollte aus Sicht der Autoren spä- testens bei erwartbar prolongiert (> 2 h) dauernder Gabe von Vasopressoren oder höheren Laufraten/höherer Konzentra- tion der Medikamente eine rasche zentralvenöse Katheter- anlage erwogen werden. Eine initiale Gabe von Vasopresso- ren sollte jedoch bei bestehender Indikation – so ein zentral- venöser Zugang nicht sofort etabliert wird/werden kann – keinesfalls durch die Anlage des zentralvenösen Zugangs ver- zögert werden. 52 Fandler M, Böhm L. Periphere Gabe von ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 52–54 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

Leitlinien in der Praxis ERGÄNZUNGEN Aus der klinisch-praktischen Erfahrung lässt sich be- stätigen, dass periphere Vasopressor-Gabe bei einem „guten“ Venenzugang meist sicher und er- folgreich durchgeführt werden kann. Einige Aspek- te sind dabei zu beachten: ▪ Wenn eine periphere Katecholamingabe begon- nen wird, sollte zeitnah auch eine arterielle Druckmessung etabliert werden. ▪ Je nach Lage (siehe Leitlinienempfehlung) ist das „Abknicken“ entweder der betroffenen Extremi- tät oder der Infusionsleitung rasch geschehen. Die Infusionsleitungen sollten daher regelmäßig und bei Änderung der Hämodynamik kontrol- liert werden. ▪ Keine parallele Infusion von Medikamenten über den „Katecholamin-Zugang“! Durch parallele Volumengabe oder Injektionen kann sonst ein unbeabsichtigter Bolus des Katecholamins ver- abreicht werden. Je nach verwendetem Infu- sionssystem kann es auch zu einem „Rückstau“ des Katecholamins in die andere Infusion kom- men. Insbesondere bei höherer Konzentration sind die tatsächlich verabreichten Volumina sehr gering, so dass es einige Zeit brauchen kann, bis sich die Infu- sion den Weg durch etwaige Dreiwegehähne und die Venenverweilkanüle „gebahnt“ hat – daher scheint für die periphervenöse Notfalltherapie eine stärkere Verdünnung (bsp. 1 mg/50 ml) zumindest initial sinnvoller. Ggf. kann in kritischen Situationen bei Infusionsbeginn ein gezielter Bolus im exakten Volumen des genutzten Dreiwegehahns/Verweil- kanüle appliziert werden. PR A XISTIPP In akut kritischen Situationen, z. B. falls noch kein Perfusor verfügbar ist, kann ein „Push Dose Pres- sor“ zur schnellen Blutdrucktherapie hilfreich sein: Nach Verdünnung von 1 mg Noradrenalin in 100 ml NaCl 0,9 % Gabe von 1–2 ml Boli (entspricht 10– 20 µg Noradrenalin). Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Autorinnen/Autoren Dr. med. univ. Martin Fandler Dr. med. univ., Facharzt Innere Medizin, Zusatz- bezeichnung Notfallmedizin sowie Klinische Akut- und Notfallmedizin. Oberarzt Interdiszipli- näre Notaufnahme am Klinikum Bamberg. Gründer „Nerdfallmedizin“. Dr. med. Lennert Böhm Dr. med. (Univ. Szeged), Jahrgang 1984, Fach- arzt für Anästhesiologie, Zusatzweiterbildung Notfallmedizin, Klinische Akut- und Notfall- medizin, Palliativmedizin. Leitender Oberarzt der Zentralen Notaufnahme des Universitäts- klinikums Düsseldorf. Korrespondenzadresse Dr. med. univ. Martin Fandler Interdisziplinäre Notaufnahme und Aufnahmestation Sozialstiftung Bamberg Buger Str. 80 96049 Bamberg Deutschland martin.fandler@me.com Literatur [1] Clark S, Barton G, Dean P et al. Guidance For: The use of Vaso- pressor Agents by Peripheral Intravenous Infusion in Adult Crit- ical Care Patients. Version 1.1. Intensive Care Society 2022. Zu- griff am 11. August 2022 unter: https://ics.ac.uk/resource/pe- ripheral-vasopressor-guide.html [2] Tian DH, Smyth C, Keijzers G et al. Safety of peripheral admin- istration of vasopressor medications: A systematic review. Emerg Med Australas 2020; 32: 220–227. doi:10.1111/1742-6 72313406 Bibliografie Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 52–54 DOI 10.1055/a-1994-4767 ISSN 0939-2661 © 2023. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70 469 Stuttgart, Germany 54 Fandler M, Böhm L. Periphere Gabe von ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 52–54 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

Fokus Wahlfach „Sinnhaftigkeit und Selbstfürsorge im Klinikalltag“ Kristina Gottfried, Sandra Kurz Wie können Rollenbilder bei zukünftigen Ärztinnen oder Ärzten schon im Studium thematisiert werden? Dieser Beitrag beschreibt einen Ansatz zur Vermittlung „Übergeordneter Kompetenzen“ aus dem neuen Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin NKLM 2.0. Einführung Klinisch tätige Ärztinnen und Ärzte arbeiten in einem komplexen Berufsfeld mit großer Verantwortung. In vie- len Krankenhäusern und Arztpraxen besteht eine ange- spannte Situation bedingt durch eine hohe Arbeitsdichte bei gleichzeitig zunehmender Personalknappheit [1, 2]. Zugleich sind die Mitarbeitenden einer hohen physischen und psychischen Belastung ausgesetzt. Langfristig kann dies zu Frustration, Unzufriedenheit und Erkrankungen unter den Mitarbeitenden führen [3], was die Rahmenbe- dingungen des Arbeitsalltags weiter verschärft. Im Sinne einer mittel- und langfristig zufriedenstellenden Berufsausübung sind systemische Faktoren von großer Bedeutung für die Zufriedenheit und Gesundheit der Mit- arbeitenden. Genauso wichtig sind individuelle und per- sönliche Faktoren, die dazu beitragen, im Berufsalltag ein resilientes Verhalten zu entwickeln und aufrechtzuerhal- ten. Dies sind Voraussetzungen für eine gute und sichere Patientenversorgung. Eine Sensibilisierung hierfür muss bereits während des Studiums erfolgen [4]. Der Nationale Kompetenzbasierte Lernzielkatalog Medizin NKLM 2.0 beinhaltet das Kapitel VIII „Übergeordnete Kompetenzen“. Dieses thematisiert unter anderem folgende Aspekte, mit denen sich Absol- ventinnen und Absolventen während des Medizinstu- diums auseinandergesetzt haben sollen [5]: ▪ Kommunikationsfähigkeit ▪ Prozesse der Übertragung und Gegenübertragung ▪ Feedback ▪ Auswirkungen von Teamdynamiken ▪ künftige Rolle als Ärztin/Arzt in der Gesellschaft sowie als Führungskraft ▪ Führungskompetenz ▪ Selbstreflexion und Selbsterkenntnis ▪ eigene Stärken und Schwächen analysieren ▪ Gesundheit und Wohlergehen als Voraussetzung einer professionellen Berufsausübung, Erkennen möglicher Zeichen physischer und psychischer Belastung INFO Nationaler Kompetenzbasierter Lernzielkatalog Medizin Der Nationale Kompetenzbasierte Lernzielkatalog Medizin (NKLM) beschreibt ein Kerncurriculum für Absolventinnen und Absolventen des Medizinstu- diums. Er wurde im Auftrag des Medizinischen Fa- kultätentags (MFT) und der Gesellschaft für Medizi- nische Ausbildung (GMA) erarbeitet und erstmals 2015 veröffentlicht. Er beinhaltet diejenigen Kom- petenzen, die Medizinstudierende während ihres Studiums erworben haben sollten. Mehr Informa- tionen unter: https://nklm.de/ Bisher erfolgt die Auseinandersetzung mit diesen Aspek- ten am ehesten implizit durch Selbsterfahrung während Praktika oder Famulaturen bzw. im Praktischen Jahr. Die übrige Ausbildung zur Ärztin bzw. zum Arzt basiert wei- terhin vor allem auf formellen Lernerfahrungen im Sinne eines faktenorientierten, lernintensiven Curriculums. Die Novellierung der Approbationsordnung führt derzeit an vielen Fakultäten zu einer Reformierung der Studienord- nungen. Dies stellt eine Chance dar, diese Themen in Lehrveranstaltungen auch als explizite Kursinhalte abzu- bilden. Das Wahlfach „Sinnhaftigkeit und Selbstfürsorge im Kli- nikalltag“ ist eine Veranstaltung an der Universitätsmedi- zin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Angebo- ten wird es durch die Rudolf Frey Lernklinik in Zusammen- arbeit mit der Klinik für Anästhesiologie. Es soll Studieren- den die Möglichkeit geben, sich intensiv mit den oben aufgeführten „Übergeordneten Kompetenzen“ auseinan- derzusetzen. Das Wahlfach lädt dazu ein, diese Denk- 56 Gottfried K et al. Wahlfach „Sinnhaftigkeit und ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 56–59 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

Fokus PR AK TISCHES BEISPIEL Erarbeitung Kompetenzhaus Den Studierenden wurde zunächst das CanMEDS-Rollenmodell des Royal College of Physicians and Surgeons of Canada [9] vor- gestellt. Aus diesem Modell wurden verschiedene Kompetenz- bereiche abgeleitet im Sinne eines Kompetenzhauses [10]. Dieses sieht eine Untergliederung in Fachkompetenzen als Fundament, Sozialkompetenzen und Methodenkompetenzen als Mittelbau und personale Kompetenzen und Werte als Dach vor. Es folgte eine Brainstorming-Phase, in der die Studierenden Fähigkeiten auf Moderationskarten sammelten, die aus ihrer Sicht ein „Perfekter Arzt/Ärztin“ aufweisen sollte. Im nächsten Schritt wurden die Kompetenzen durch die Studierenden sortiert und die individuell als „Top 3“ empfundenen Fähigkeiten mithilfe einer farblichen Markierung gewichtet. So entstand eine Übersicht (▶ Abb. 1), mit der die Studierenden sich in einer Diskussion anhand von Leitfra- gen weiter auseinandersetzten: ▪ Wie gewichtest du verschiedene Kompetenzen für den Arztberuf? Welche findest du besonders wichtig? Welche findest du weni- ger wichtig? Warum? ▪ In welchen Bereichen siehst du deine persönlichen Stärken? ▪ In welchen Bereichen möchtest du dich noch weiterentwickeln? ▶ Abb. 1 Erarbeitung eines „Kompetenzhauses“ für Ärztinnen und Ärzte mit Gewichtung der Kompetenzen durch die Teilnehmenden (orangefarbene Punkte). Die Abschlussbefragung und die Kursevaluation ergaben eine große Wertschätzung für den offenen Austausch, die Kursatmosphäre und die intensiven Diskussionen. Die Teilnehmenden wünschten sich noch mehr praktische Tipps für die Umsetzung von Selbstfürsorge in ihrem Stu- dien- und Berufsalltag. Insgesamt waren die Teilnehmen- den sehr zufrieden mit dem Kurs. Eine genauere quantita- tive Analyse, z. B. zur unterschiedlichen Selbsteinschät- zung vor und nach dem Kurs, war bei der kleinen Teilneh- mendengruppe methodisch nicht möglich. Diskussion Für die Konzipierung des Kurses waren folgende Leit- gedanken maßgebend: Das Empfinden von Sinnhaftigkeit und Zufriedenheit im Berufsalltag erleichtert die langfris- tige Ausübung des Berufs als Ärztin bzw. Arzt bei einem erwartbar langen Erwerbsleben. Zudem sind sie wichtige Voraussetzungen für eine qualitativ hochwertige und si- chere Krankenversorgung. Aus persönlicher Erfahrung fin- det sich im Berufsalltag selten Zeit zu reflektieren, worin individuelle Stärken bestehen und welche Wertvorstellun- gen das eigene Handeln bzw. die Bewertung des persönli- chen Umfelds bestimmen. Entsprechend resultierte da- raus die Überlegung, angehenden Ärztinnen und Ärzten schon während ihres Medizinstudiums die Möglichkeit zu geben, sich mit diesen persönlichen Fragen auseinander- zusetzen. Die freiwillige Teilnahme ermöglichte eine mo- tivierte Teilnehmendengruppe, die größtenteils schon Be- rufserfahrung aus dem Gesundheitswesen mitbrachte. Entsprechend erkenntnisreich gestalteten sich der Erfah- rungsaustausch und die intensiven Gruppendiskussionen. Der erstmalige zeitliche Vorbereitungsaufwand war für eine kleine Teilnehmendengruppe hoch, erneute Durch- führungen mit weiteren Gruppen sind jedoch in Zukunft deutlich zeitökonomischer möglich. Es bleibt die Frage, wie eine größere Anzahl an Studierenden von einem ver- gleichbaren Angebot profitieren könnte bzw. wie die The- menauswahl auch bei anderen Lehrveranstaltungen im- plementiert werden kann. Die neue Approbationsord- nung bietet in jedem Fall die Chance, diesen zwischen- menschlichen Kompetenzen deutlich mehr Gewicht in der Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten zu geben. 58 Gottfried K et al. Wahlfach „Sinnhaftigkeit und ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2023; 58: 56–59 | © 2023. Thieme. All rights reserved.

Impressum Anästhesiologie Intensivmedizin Notfallmedizin Schmerztherapie (AINS) 58. Jahrgang Die Anästhesiologie Intensivmedizin Notfallmedizin Schmerztherapie (AINS) erscheint mit 12 Ausgaben in 10 Heften pro Jahr. ISSN (Print): 0939-2661 eISSN: 1439-1074 Copyright & Ownership Wenn nicht anders angegeben: © 2023. Thieme. All rights reserved. Die Zeitschrift AINS ist Eigentum von Thieme. Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany Herausgeber*innengremium Prof. Dr. M. Adamzik, Bochum; Prof. Dr. Dr. T. Hachen- berg, Magdeburg; Prof. Dr. W. Koppert, Hannover; Prof. Dr. G. Marx, Aachen; Prof. Dr. P. Meybohm, Würzburg; Prof. Dr. P. Rosenberger, Tübingen; Prof. Dr. J. Scholz, Kiel; Prof. Dr. C. Spies, Berlin; Prof. Dr. F. Wappler, Köln; Prof. Dr. H. Wulf, Marburg; Prof. Dr. Dr. K. Zacharowski, Frankfurt/ Main. Die Herausgeber*innen sind nicht verantwortlich für die Rubrik „Forum der Industrie“ sowie für in der Zeitschrift enthaltene Anzeigen und Beilagen. Verlag Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 301 120, 70451 Stuttgart Tel.: + 49 7 11 89 31-0, Fax: + 49 7 11 89 31-2 98 www.thieme.de, www.thieme.de/ains www.thieme-connect.de/products Web-App: www.thieme.de/eref-app Redaktion Sie erreichen die Redaktion unter: ains.impressum@thieme.de V. i. S. d. P.: Sabine Görlich-Gündüz, Rüdigerstraße 14, 70 469 Stuttgart Verantwortlich für den Anzeigenteil Thieme Media Pharmedia Anzeigen- und Verlagsservice GmbH Andreas Schweiger, Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart oder Postfach 30 08 80, 70448 Stuttgart Tel.: + 49 7 11 89 31-2 45, Fax: + 49 7 11 89 31-4 70 E-Mail: andreas.schweiger@thieme-media.de Produktionsmanagement Tel.: + 49 7 11 89 31-4 98, Fax: + 49 7 11 89 31-3 93 E-Mail: anne.lichtenheldt@thieme.de Abonnent*innenservice Wir bitten unsere Abonnent*innen, Adressänderungen dem Abonnent*innenservice mitzuteilen, um eine rei- bungslose Zustellung der Zeitschrift zu gewährleisten. 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Grundsätzlich werden nur solche Manuskripte angenom- men, die noch nicht anderweitig veröffentlicht oder zur Veröffentlichung eingereicht worden sind. Bitte beachten Sie: Wir können keine Abbildungen anneh- men, die bereits in Büchern, Zeitschriften oder elektro- nischen Produkten anderer Anbieter publiziert worden sind oder an denen ein Dritter Nutzungsrechte hat (z. B. Arbeitgeber*innen). Der Grund: Auch gegen Lizenzge- bühr ist es kaum noch möglich, die Nutzungsrechte in dem für uns erforderlichen Umfang zu erhalten. Bitte zah- len Sie deshalb keine Lizenzgebühren (z. B. bei „Rights- Link“/Copyright Clearance Center) – auch die Standard- Lizenzverträge von „Creative Commons“ sind für eine Publikation leider nicht ausreichend. Diese Zeitschrift bietet Autor*innen die Möglichkeit, ihre Artikel gegen Gebühr in Thieme connect für die allge- meine Nutzung frei zugänglich zu machen. 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