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AINS Anästhesiologie 9 September 2025 Intensivmedizin Notfallmedizin Schmerztherapie Seite 453–516 60. Jahrgang Topthema Katastrophen- medizin Schmerztherapie ▪ Schmerztherapie bei Phantomschmerz Mythen & Fakten ▪ Dexamethason – Risikofaktor für Wundheilungsstörung und Hyperglykämie? © EKH-Pictures/stock.adobe.com
EINFACH PRAKTISCH 4 AUSGABEN PRO JAHR Einstiegspreis für Neuabonnenten! inkl. DIGITALZUGANG aktuelle Ausgabe und Archiv Allgemeinmedizin up2date bietet Ihnen während und nach der Weiterbildung strukturierte Fortbildung speziell für die Hausarztpraxis: Fortbildung, die dem Praxisalltag entspricht: symptomorientiert, ausgehend von „Beratungsanlässen“ und mit konkreten Handlungs- und Therapieempfehlungen „Best Practice“ auf die eigenen Patienten übertragen: Fallbeispiele veranschaulichen das Gelernte, Flussdiagramme fassen wichtige Abläufe auf einen Blick zusammen Strukturiert das gesamte Fach erschließen: aktuelles, leitliniengerechtes Praxiswissen, orientiert am Curriculum Allgemeinmedizin shop.thieme.de
Editorial Board Prof. Dr. med. Michael Adamzik ist Direktor die Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie am Universitätsklinikum Knapp- schaftskrankenhaus Bochum, Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Behand- lung der Sepsis und des akuten Lungenversagens. Prof. Dr. med. Grietje Beck ist Direktorin der Klinik für Anästhesiologie, operative In- tensiv- und Schmerzmedizin des Universitätsklinikums Mannheim. Darüber hinaus vertritt sie seit 2023 als Prä- sidentin des BDA die berufspolitischen Interessen ihrer Fachgruppe. Prof. Dr. med. Wolfgang Koppert ist Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensiv- medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Er ist Sprecher des wissenschaftlichen AK Schmerzmedizin und Landesvorsitzender der DGAI in Niedersachsen sowie Mit- glied des Präsidiums der Dt. Schmerzgesellschaft (DGSS), deren Präsident er 2011 – 2012 war. Prof. Dr. med. Dr. h. c. Jens Scholz, ML ist CEO des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein und Mitglied der Leopoldina der Nationalen Akademie der Wis- senschaften. Er war Mitglied im DGAI-Vorstand sowie Vor- sitzender des wissenschaftlichen Komitees und des AK Not- fallmedizin der DGAI. MBA an der Hochschule St. Gallen/ Schweiz, Ehrendoktorwürde der Universität Belgrad/Serbien. Prof. Dr. med. Claudia Spies, ML ist Direktorin der Kliniken für Anästhesiologie und Opera- tive Intensivmedizin an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum und Campus Mitte. Sie ist Präsidiumsmitglied der Arbeitsgemeinschaft der Wis- senschaftl. Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Prof. Dr. med. Vera von Dossow ist Direktorin des Instituts für Anästhesiologie und Schmerz- therapie am Herz- und Diabeteszentrum NRW, Bad Oeyn- hausen, Ruhr-Universität Bochum. Seit 2024 ist sie Mitglied des AWMF-Präsidiums, Vorsitzende der ständigen AWMF- Leitlinienkommission und Vorstandsmitglied der Ärzte- kammer Ostwestfalen-Lippe. Prof. Dr. med. Gernot Marx, FRCA Prof. Dr. med. Frank Wappler ist Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care an der Uniklinik RWTH Aachen. Seit 2025 ist er Präsident der DGAI und Präsidiumsmitglied des BDA. Darüber hinaus ist er u. a. Vorstandsvorsitzender der Dt. Gesellschaft für Telemedizin und 1. Sprecher des wis- senschaftlichen AK Intensivmedizin DGAI. Von 2021–2022 war er Präsident der DIVI. Prof. Dr. med. Patrick Meybohm ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie des Uniklinikum Würzburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Intensivmedizin, klinische Studien sowie Patient Blood Management. Prof. Dr. med. Peter Rosenberger, ML ist Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensiv- medizin am Universitätsklinikum Tübingen. Zu seinen For- schungsschwerpunkten gehören die Immunologie sowie grundlegende Mechanismen einer Entzündungsreaktion, des akuten Lungenversagens und einer Sepsis. ist Direktor der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin am Klinikum der Universität Witten/Her- decke, Krankenhaus Köln-Merheim, sowie Chefarzt der Abteilung für Kinderanästhesie am Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße, Köln. Er ist Mitglied des engeren Prä- sidiums der DGAI, deren Präsident er von 2021–2022 war. Prof. Dr. med. Hinnerk Wulf ist Direktor der Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Philipps-Uni- versität Marburg. Er war von 2002 – 2014 DGAI-Landesvor- sitzender in Hessen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Regionalanästhesie und postoperative Schmerztherapie. Prof. Dr. Dr. med. Kai Zacharowski, ML, FRCA, FESAIC ist Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie am Universitätsklinikum Frankfurt/ Main der Goethe-Universität. Er ist Landesvorsitzender der DGAI in Hessen und Vorstandsvorsitzender der Lohfert Stif- tung. Forschungsschwerpunkte: Sepsis, angeborene Im- munität und Ischämie-Reperfusions-Syndrom. Expert*innenpanel Felix Balzer, Berlin Christiane Beck, Hannover Berthold Bein, Hamburg Johannes Bickenbach, Aachen Elmar Biermann, Nürnberg Alexander Brack, Würzburg Michael Bucher, Halle Hartmut Bürkle, Freiburg Sina Coldewey, Jena Vera von Dossow, Bad Oeynhausen Leopold Eberhart, Marburg Uwe Ebmeyer, Magdeburg Dania Fischer, Heidelberg Jan-Thorsten Gräsner, Kiel Jürgen Graf, Frankfurt/Main Matthias Grünewald, Hamburg Helene Häberle, Tübingen Klaus Hahnenkamp, Greifswald Bettina, Jungwirth, Ulm Udo X. Kaisers, Ulm Clemens Kill, Essen Peter Kranke, Würzburg Lorenz A. Lampl, Ulm Klaus Markstaller, Augsburg Andreas Meißner, Nordhorn Martina Nowak-Machen, Ingolstadt Joachim Pfefferkorn, Stuttgart Andrea Pfundstein, Nürnberg Heike Rittner, Würzburg Jan-Patrick Roesner, Rostock Stefan Schaller, Berlin Thomas Schnider, St. Gallen Tobias Schürholz, Aachen Ullrich Schwemmer, Neumarkt i. d. OPf. Thomas Standl, Solingen Barbara Sinner, Innsbruck Andrea Steinbicker, Köln Frank Stüber, Bern Nana-Maria Wagner, Würzburg Andreas Walther, Stuttgart Evelyn Weis, Nürnberg Thomas Wurmb, Würzburg Christian Wunder, Stuttgart Alexander Zarbock, Münster Verlag Georg Thieme Verlag KG Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart Postfach 30 11 20, 70451 Stuttgart www.thieme-connect.de/products http://www.thieme.de/ains Listungen Science Citation Index Expanded Medline, Embase, Scopus Organschaften DGAI ÖGARI Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 453
Inhalt AINS September 2025 · 60. Jahrgang: Seite 453 – 516 S. 467 S. 479 S. 493 S. 504 S. 512 454 Prähospitale Katastrophenmedizin und Zivilschutz Bei Großschadenslagen und Katastrophen sind abgestimmte und trainierte Konzep- te erforderlich, um sowohl den Eigenschutz für Einsatzkräfte zu gewährleisten als auch die maximal mögliche Zahl an Patienten zu retten. Trotz eines phasenweisen Ungleichgewichts von vorhandenen und benötigten Ressourcen ist eine prioritäten- orientierte Versorgung wichtiges Ziel. Der Beitrag beschreibt das prinzipielle Vor- gehen bei einem Massenanfall von Notfallpatienten. Bildquelle: © EKH-Pictures/ stock.adobe.com. Innerklinisches Management eines Massenanfalls von Verletzten (MANV) In Deutschland verursachten zuletzt mehrere relevante, besondere Einsatzlagen einen Massenanfall von Patienten. Naturkatastrophen und Gefahrenlagen wie Ter- ror oder Amok sind charakterisiert durch ein unerwartetes, zeitgleiches Aufkom- men einer hohen Anzahl an Verletzten. Krankenhäuser spielen eine zentrale Rolle bei ihrer Bewältigung. Um sich auf derartige Ereignisse vorzubereiten, sind sie gesetzlich dazu verpflichtet, eine Krankenhausalarm- und -einsatzplanung zu ent- wickeln. Bildquelle: © Denys Rudyi/stock.adobe.com. Sicherheit von Krankenhäusern im Rahmen von Katastrophen, Krisen und Kriegen Im Rahmen von Katastrophen, Krisen und Kriegen rückt die medizinische Versorgung der Bevölkerung in den Fokus. Gesundheitssysteme und mit ihnen die Krankenhäuser werden durch die Auswirkungen der Schadenslage einer besonderen Belastungs- situation ausgesetzt. Zum einen steigt die Patientenzahl sprunghaft an, zum anderen sind die Krankenhäuser in ihrer Behandlungskapazität und Funktionalität einge- schränkt oder gar komplett ausgefallen. Bildquelle: © KH Krauskopf/Thieme. Schmerztherapie bei Phantomschmerz Phantomschmerzen betreffen einen Großteil der amputierten Patient*innen und stellen eine komplexe interdisziplinäre Herausforderung dar. Der Beitrag bietet einen strukturierten Überblick zu Pathophysiologie, Risikofaktoren und differenzial- diagnostischen Aspekten. Im Fokus stehen präventive und therapeutische Maßnah- men – von regionalanästhesiologischen Verfahren über medikamentöse Strategien bis hin zu psychologischen und physikalischen Ansätzen. Dexamethason – Risikofaktor für Wundheilungsstörung und Hyperglykämie? Die aktuelle Konsensus-Leitlinie zum Management postoperativer Übelkeit und Er- brechen (PONV) empfiehlt einen freizügigen Einsatz antiemetischer Kombinations- therapien. Insbesondere Dexamethason erscheint hierzu geeignet; im klinischen Alltag wird es bei Patienten mit Diabetes mellitus jedoch nur zurückhaltend ein- gesetzt, da Hyperglykämien und Wundheilungsstörungen befürchtet werden. In diesem Beitrag werden diesbezügliche Studienergebnisse näher beleuchtet. Bild- quelle: © Evgeniy Kalinovskiy/stock.adobe.com Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Magazin Fortbildung 456 In eigener Sache | Unverzichtbar für die Fort- und 464 Einführung Topthema | Medizin in Katastrophen- und Weiterbildung Katrin Stauffer Zivilschutz Thomas Wurmb, Patrick Meybohm, Maximilian Kippnich 458 Neues aus der Forschung | Subarachnoidalblutung: Bluttransfusionen eher restriktiv oder liberal? Elke Ruchalla 458 Neues aus der Forschung | Marathonlauf: Plötzlicher Herzstillstand bei Männern über 60 Jahre am häufigsten Ulrike Brünjes phenmedizin und Zivilschutz Maximilian Kippnich, Chris Speicher, Björn Hossfeld, Patrick Meybohm, Thomas Wurmb 467 CME-Fortbildung Topthema | Prähospitale Katastro- 460 Neues aus der Forschung | ADAPT-Sepsis Studie: Tägliche PCT-Bestimmung reduziert Antibiotikatherapiedauer Ulrike Brünjes 461 Neues aus der Forschung | Ärztlich geführte Teams in der präklinischen Versorgung verbessern Outcome Benedikt Lampl 462 Neues aus der Forschung | Paravertebraler Block überlegen Benedikt Lampl 479 CME-Fortbildung Topthema | Innerklinisches Manage- ment eines Massenanfalls von Verletzten (MANV) Chris Speicher, Thomas Wurmb, Patrick Meybohm, Maximilian Kippnich 493 Fortbildung | Sicherheit von Krankenhäusern im Rahmen von Katastrophen, Krisen und Kriegen Thomas Wurmb, Chris Speicher, Björn Hossfeld, Felix Kolibay, Patrick Meybohm, Maximilian Kippnich 504 Fortbildung | Schmerztherapie bei Phantomschmerz Christine Gaik, Moritz Erk, Christian Volberg 512 Mythen & Fakten | Dexamethason – Risikofaktor für Wundheilungsstörung und Hyperglykämie? Manuel Wenk, Christina Massoth Service 516 Impressum Covergestaltung: © Thieme Bildnachweis Cover: © EKH-Pictures/stock.adobe.com ALLES ONLINE LESEN Mit der eRef lesen Sie Ihre Zeitschrift: online wie offline, am PC und mobil, alle bereits er- schienenen Artikel. Für Abonnenten kostenlos! https://eref.thieme.de/WYA7G JETZT FREISCHALTEN Sie haben Ihre Zeitschrift noch nicht freigeschaltet? Ein Klick genügt: www.thieme.de/eref-registrierung Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 455
In eigener Sache Unverzichtbar für die Fort- und Weiterbildung Thieme-Umfrage zeigt: Medizinische Fachzeitschriften stehen an erster Stelle Medizinische Fachzeitschriften bleiben für die Fort- und Weiterbildung das wichtigste Medium. Dies ergab eine umfassende Marktforschung, die Thieme 2024 unter über 1400 Fachärzt*innen, Ärzt*innen in Weiterbildung und medizinischem Fach- personal durchgeführt hat. Die Studie zeigt deutlich: Trotz des Anstiegs digitaler An- gebote sind klassische Fachzeitschriften für die Zielgruppen in allen Altersstufen nach wie vor essenziell. Zunächst aber ein herzlicher Dank an Sie, liebe Leserinnen und Leser. Viele von Ihnen haben an unserer Befragung teilgenom- men. Ihre Rückmeldungen sind von un- schätzbarem Wert und helfen uns, unsere Angebote kontinuierlich zu verbessern und optimal auf Ihre Bedürfnisse abzustimmen. Fachgesellschaften und Berufsverbände im Fokus Im Fokus der Befragung standen Ihre Be- dürfnisse, Erwartungen und Wünsche – und zwar hinsichtlich der Leistungen von Fachgesellschaften und Berufsverbänden. Unser Ziel war es, herauszufinden, wie wir bei Thieme diese Organisationen und da- mit auch Sie als Ärztin oder Arzt, als medi- zinisches Fachpersonal oder als Person in Aus- und Weiterbildung bestmöglich mit unseren Angeboten unterstützen können. Befragt wurden Fachärzt*innen, Ärzt*in- nen in Weiterbildung sowie medizinisches Fachpersonal. Im Mittelpunkt der Befra- gung standen Fragen wie: Welche Angebo- te und Serviceleistungen von Fachgesell- schaften und Berufsverbänden sind beson- ders attraktiv? Welche sind unverzichtbar für die Mitglieder? Und welche Angebote würden die Bedürfnisse und Interessen von neuen Mitgliedern treffen? Mit über 1400 Rückmeldungen haben wir eine belastbare Datenbasis erhalten. Fachzeitschriften: Essenziell für Fort-/Weiterbildung Begleitung auf dem Weg zur fachärztlichen Prüfung Die Ergebnisse sind deutlich: Das wichtigs- te Angebot von Fachgesellschaften und Berufsverbänden sind Angebote zur per- sönlichen Fort- und Weiterbildung der Mit- glieder. Dafür nutzen viele dieser Organi- sationen Fachzeitschriften als zentrales In- strument. Doch ist dies noch zeitgemäß? Ja! Die aktuelle Umfrage bestätigt, dass dieser Weg unverändert richtig ist: Unter den verschiedenen Angeboten zur persön- lichen Fort- und Weiterbildung stehen me- dizinische Fachzeitschriften auf Platz 1 – noch vor digitalen Wissensportalen und Online-Webinaren on demand auf Platz 2 und 3 (siehe ▶ Abb. 1). Es freut uns sehr, dass Fachzeitschriften unverändert eine tragende Säule der ärzt- lichen Aus-, Fort- und Weiterbildung sind – und die Bedürfnisse der Ärztinnen und Ärzte auch weiterhin optimal erfüllen. Das bestätigt, wie wertvoll hier die enge Zusammenarbeit von Thieme mit über 140 Fachgesellschaften und Berufsverbän- den ist. Besonders bemerkenswert ist übri- gens: Auch bei den Ärzt*innen in Weiterbil- dung – also der kommenden Generation – rangieren Fachzeitschriften ganz oben. Ein entscheidender Faktor für die Mitgliedschaft Die Umfrage zeigt auch eindrücklich, wie stark die Bindung der Mitglieder an die Ver- bände mit dem Zugang zu Fachzeitschrif- ten verknüpft ist. 43 % der befragten Mit- glieder gaben an, dass sie ohne den Bezug der Fachzeitschrift potenziell ihre Mitglied- schaft kündigen würden. Fast die Hälfte der bisherigen Nichtmitglieder würde sich durch eine Fachzeitschrift zur Mitglied- schaft motivieren lassen. Fachzeitschriften vermitteln also nicht nur Wissen, sondern stärken auch die Mitgliederbindung. Gleich- zeitig können sie neue Mitglieder erschlie- ßen – das macht sie für Fachgesellschaften und Berufsverbände so wertvoll. Für die ärztliche Weiterbildung erwarten die Befragten zudem Angebote für die Vor- bereitung auf die Facharztprüfung, wie Prü- fungsprotokolle oder Prüfungsfragen inkl. Antworten sowie Curricula (siehe ▶ Abb. 2). Bei Thieme begleiten wir Ärztinnen und Ärzte aus vielen Fachgebieten mit unseren Curricula durch die Weiterbildung – von Tag 1 an bis zur Facharztprüfung. Oft arbeiten wir hier ebenfalls eng mit der je- weiligen Fachgesellschaft oder dem Berufs- verband zusammen. Orientierung/Sichtbarkeit Neben dem Bereitstellen von Fort- und Weiterbildungsangeboten erwarten Ärztin- nen und Ärzte von Fachgesellschaften und Berufsverbänden vor allen Dingen auch die Erstellung von Leitlinien sowie die Vertre- tung des Fachs in der Politik und das Sicht- barmachen in der Öffentlichkeit. Aus Sicht der Befragten sind dies die zentralen Auf- gaben von Fachgesellschaften und Berufs- verbänden. Gemeinsam stark: Passgenaue Lösungen entwickeln Insgesamt hat die Befragung klar gezeigt, wie wichtig es ist, sich auf die wichtigsten Angebote und Aufgaben zu fokussieren und Lösungen für die Herausforderungen im medizinischen Berufsalltag zu bieten. Denn damit unterstützen wir Sie alle, die sich täglich für eine gute Patient*innenver- sorgung einsetzen, in Ihrer Fort- und Wei- terbildung und in Ihrer Arbeit mit den Pa- tient*innen. Gleichzeitig stärken wir damit die Fachgesellschaften und Berufsverbände in ihrer Rolle als Interessenvertretungen. Daher wollen wir gemeinsam mit den Ver- bänden unsere Angebote passgenau wei- terentwickeln – auf Basis belastbarer Daten und im engen Austausch. Katrin Stauffer, Senior Director Medical Publishing & Information Services Medicine, Thieme 456 Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Das wichtigste Angebot für die berufl iche Fort- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten 0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 % Medizinische Fachzeitschriften inkl. Online-Zugriff (Inhalte zur Fort- und Weiterbildung, CME, Wissenschaft etc.) Digitales Wissensportal für schnelle, verlässliche Informationen bei med. Fragen im Arbeitsalltag Online-Webinare/-kurse aufgezeichnet (on demand) Live-Online-Webinare/-kurse App mit den aktuellen Leitlinien eLearning- bzw. blended-learning-Angebote Jahreskongress oder kleinere regionale Veranstaltungen Informationen auf der Homepage der Fachgesellschaft/des Berufsverbands Persönliche Beratung zu rechtlichen Themen & Haftung Präsenzkurse/-seminare Videos von Kongressvorträgen Persönliche Beratung zu Verträgen & Abrechnung Veranstaltungen zu nicht-medizinischen Themen (z.B. Recht, Abrechnung, Führung, Management) Newsletter der Fachgesellschaft/des Berufsverbands Persönliche Beratung zu Führung & Management 86 % 76 % 73 % 68 % 66 % 65 % 63 % 61 % 60 % 55 % 54 % 49 % 47 % 41 % 37 % „Schauen wir uns nun konkrete Angebote für die berufl iche Fort- und Weiterbildung an, die von einigen Fachgesellschaften oder Berufsverbänden z.T. kostenlos bzw. vergünstigt angeboten werden. Bitte geben Sie für jedes Angebot an, wie wichtig es Ihnen ist bzw. wäre, sollte es Ihre Gesellschaft nicht anbieten.“ Skala von 1 = über- haupt nicht wichtig bis 5 = sehr wichtig. Es sind die Top2-Werte (Skalenwert 4 & 5) angegeben. Ausgewertet ist die Subgruppe der ärztlich tätigen Personen (n = 665). Podcasts 27 % ▶ Abb. 1 Medizinische Fachzeitschriften stehen auf Platz 1 unter den Angeboten von Fachgesellschaften und Berufsverbänden für die Fort- und Weiterbildung der Ärztinnen und Ärzte. 86 % der Befragten geben an, dass ihnen dieses Angebot sehr wichtig oder wichtig (Top2-Box) ist. Das wichtigste Angebot für die ärztliche Weiterbildung zur Fachärztin/zum Facharzt 0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 % Prüfungsprotokolle von vergangenen Facharztprüfungen Prüfungsfragen inkl. Antworten als Vorbereitungstraining auf die Facharztprüfung Curriculum begleitend zur Facharztweiterbildung mit allen relevanten Inhalten Angebote zum praktischen Training von Fertigkeiten/Skills Intensiv-/Kompaktkurse online Lernpläne zur strukturierten Prüfungsvorbereitung Intensiv-/Kompaktkurse in Präsenz Persönliche Beratung zu allen Fragen rund um die Weiterbildung Training mit echten Patient*innenfällen als Prüfungssimulation Hilfe beim Finden der passenden Klinik: Klinikvergleich hinsichtl. Weiterbildungskonzepten & Arbeitsbedingungen Mentor*innenprogramme Hospitationen 89 % 88 % 86 % 85 % 83 % 76 % 75 % 70 % 63 % 54 % 48 % 42 % Karriereförderung durch persönliche Kontakte zu Klinikdirektor*innen 33 % „Manche Fachgesellschaften oder Berufsverbände bieten für Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung eigene Angebote z.T. kostenlos bzw. vergünstigt an. Bitte geben Sie für jedes dieser Angebote an, wie wichtig es Ihnen ist bzw. wäre, sollte es Ihre Gesellschaft nicht anbieten.“ Skala von 1 = überhaupt nicht wichtig bis 5 = sehr wichtig. Es sind die Top2-Werte (Skalenwert 4 & 5) angegeben. Ausgewertet ist hier die Subgruppe der Medizin- Studierenden sowie Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung (n=131). ▶ Abb. 2 Für die ärztliche Weiterbildung wünschen sich die Befragten Angebote zur Vorbereitung auf die Facharztprüfung, wie Prüfungsprotokolle, Prüfungsfragen oder Intensiv-/Kompaktkurse online und begleitende Curricula sowie Angebote zum praktischen Training. Mehr als 80 % der Befrag- ten geben an, dass ihnen diese Angebote sehr wichtig oder wichtig (Top2-Box) sind. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 457
Neues aus der Forschung Subarachnoidalblutung: Bluttransfusionen eher restriktiv oder liberal? English SW et al. Liberal or Restrictive Transfusion Strategy in Aneurysmal Subarachnoid Hemor- rhage. N Engl J Med 2025; 392: 1079–1088. DOI: 10.1056/NEJMoa2410962 Subarachnoidalblutungen als Folge ei- nes rupturierten intrakraniellen Aneu- rysmas führen häufig zum Tod, in der Literatur schwanken die Zahlen zwi- schen 8,3 und 66,7 %. Dabei betreffen diese Blutungen vor allem junge Men- schen mit einem größeren Anteil von Frauen. Und wenn es zu einer Erholung kommt, sind permanente neurologi- sche Beschränkungen keine Seltenheit. Da die betroffenen Patienten häufig anä- misch sind, erhalten sie meist mehr oder weniger Bluttransfusionen im Verlauf. Eine randomisierte klinische multizentrische Stu- die aus Nordamerika und Australien hat bei 742 Patienten mit akuter Subarach- noidalblutung aufgrund eines Aneurysmas (sonstige Blutungen waren nicht zulässig) und einer Ausgangs-Hämoglobinkonzen- tration ≥ 10 g/dl nun untersucht, ob unter- schiedliche Transfusionsstrategien zu die- sen Outcomes beitragen. Die Mediziner teilten, in Abhängigkeit vom Schwellen- wert für die Gabe von Erythrozytenkonzen- traten, nach dem Zufallsprinzip im Verhält- nis 1 : 1 die Patienten ein: ▪ In Gruppe 1 (liberale Transfusionsstrate- gie) erhielten die Patienten ab einem Schwellenwert der Hämoglobinkonzen- tration ≤ 10 g/dl Erythrozytenkonzen- trate, während ▶ Abb. 1 Subarachnoidalblutungen – wie vorgehen in Bezug auf Bluttransfusionen? Quelle: Linn J. MRT. In: Forsting M, Jansen O, Hrsg. Referenz Radiologie – Gehirn. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2022. DOI: 10.1055/b000000039 gradigen funktionellen Beeinträchtigung, die eine selbstständige Lebensführung aus- schließt. Sekundäre Endpunkte umfassten u. a. den Functional Independence Measure (FIM), der in 6 Kategorien die Selbststän- digkeit des Patienten beurteilt. Die Lebens- qualität bewerteten die Forscher mithilfe des European Quality of Life 5 Dimensions, 5 Level (EQ-5D-5L) und einer visuellen Analogskala von 0 (schlechtestmöglicher Zustand) bis 100 (optimaler Zustand). Die Auswertung ergab bei den 725 verfüg- baren Patienten ▪ in Gruppe 1 nach 12 Monaten einen Rankin-Punktwert ≥ 4 bei 122 der 364 Patienten (33,5 %) und ▪ in Gruppe 2 einen Wert ≥ 4 bei 136 der ▪ in Gruppe 2 (restriktive Transfusions- 341 Patienten (37,7 %), strategie) erst bei Hämoglobinkonzen- trationen ≤ 8 g/dl Erythrozytenkonzen- trate transfundiert wurden. Diese Intervention wurde über insgesamt 21 Tage nach der Aufnahme in die Klinik durchgeführt. das entsprach keinem statistisch signifi- kanten Unterschied. Ähnliche Ergebnisse fanden sich für die sekundären Endpunkte, in verschiedenen Subgruppen und auch bei Sensitivitätsana- lysen. Als primären Endpunkt definierten die Wis- senschaftler ein ungünstiges neurologi- sches Ergebnis in Monat 12, definiert als ≥ 4 Punkte auf der modifizierten Rankin- Skala (mRS); das entspricht einer hoch- Die Dauer der maschinellen Beatmung, die Dauer der Behandlung auf der Intensiv- station und die stationäre Behandlung ins- gesamt waren in beiden Gruppen ähnlich lang. FAZIT Nach diesen Daten führt eine groß- zügige Transfusionsstrategie bei Patienten mit einer aneurysmabe- dingten Subarachnoidalblutung nach 12 Monaten nicht zu neurolo- gisch schlechteren Outcomes als eine restriktive Strategie, fassen die Autoren zusammen. Zukünftige Stu- dien sollten diese Vergleiche aber auch verfeinern und weitere Patient- related Outcomes verwenden, um auch geringfügigere neurologische Defizite erkennen zu können. Dr. Elke Ruchalla, Bad Dürrheim Marathonlauf: Plötzlicher Herzstillstand bei Männern über 60 Jahre am häufigsten Manabe T et al. Sudden cardiac arrest during mar- athons among young, middle-aged and senior run- ners. Resuscitation 2024; 204: 110415. DOI: 10.1 016/j.resuscitation.2024.110415 Obwohl Bewegung eine Fülle von physischen und psychischen Vorteilen bietet, birgt sie auch Risiken, das Schlimmste ist ein plötzlicher Herz- Kreislauf-Stillstand. In Ausdauer-Stra- ßenläufen kommt das in 0,5–1,8 Fällen pro 100 000 Teilnehmern vor, 5-mal häufiger sind Männer betroffen. Die vorliegende Studie befasst sich mit der Beziehung zwischen der Inzidenz des plötzlichen Herzstillstands in den ver- schiedenen Altersklassen der Teilneh- mer. Für Männer über 60 Jahre besteht im Ver- gleich zu Frauen und jüngeren Alters- gruppen während eines Marathonlaufs ein größeres Risiko einen plötzlichen Herz- Kreislauf-Stillstand zu erleiden. Das ist das Ergebnis der prospektiven Beobachtungs- studie von T. Manabe und Kollegen vom Sports Medicine Research Center der Keio Universität in Yokohama, Japan. Seit 2011 sammelt der medizinische Ausschuss der Japan Association of Athletics Federation (JAAF) prospektiv Daten der Läufer, die bei 458 Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
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Neues aus der Forschung JAAF-zertifizierten Marathonläufen einen plötzlichen Herzstillstand erlitten. Nach je- dem dieser Läufe schicken die Forscher einen Fragebogen an den jeweiligen Ver- anstalter, um die Inzidenz des plötzlichen Herz-Kreislauf-Stillstands bei dem Lauf zu erfahren. Einen plötzlichen Herz-Kreislauf- Stillstand definierten die Forscher als plötz- lichen Kollaps, der die Basismaßnahmen der Reanimation inklusive Herzdruckmas- sage und die Nutzung eines automatischen externen Defibrillators (AED) erforderte. Berücksichtigt wurde der Zeitraum von Start bis eine Stunde nach Beendigung des Laufes. Als Teilnehmer eines Laufes galten alle Personen, die die Startlinie überquert hatten. Läufe, bei den Informationen über Alter oder Geschlecht nicht zugänglich wa- ren, schlossen die Forscher aus der Aus- wertung aus. Bezüglich des Alters kate- gorisierten die Mediziner die Teilnehmer in 4 Gruppen: < 40 Jahre (< 40 s), 40–49 Jahre (40 s), 50–59 Jahre (50 s), ≥ 60 Jahre (≥ 60 s). Im Beobachtungszeitraum von April 2011 bis März 2019 fanden 516 JAAF-zertifizier- te Marathonläufe statt. 4 099 177 Personen nahmen teil, davon waren 78,6 % Männer. Insgesamt 37,4 % der Teilnehmer gehör- ten der Altersgruppe < 40 s an, 34,7 % der Altersgruppe 40 s, 19,6 % der Altersgruppe 50 s und 8,3 % der Altersgruppe ≥ 60 s. Ins- gesamt erlitten 69 Personen einen plötz- lichen Herz-Kreislauf-Stillstand, 66 davon waren Männer. Die Gesamtinzidenz des plötzlichen Herz-Kreislauf-Stillstands lag da- mit bei 1,7/100 000 Teilnehmern (Inzidenz bei Männer 2,1/100 000, bei Frauen 0,3/ 100 000). Die Überlebensrate betrug ins- gesamt 98,6 %. Das mediane Alter der Per- sonen mit plötzlichem Herz-Kreislauf-Still- stand betrug 53 Jahre. Nach Altersgruppen aufgeschlüsselt erlitten in den Gruppen < 40 s und 40 s jeweils 0,9/100 000 Per- sonen einen plötzlichen Herz-Kreislauf- Stillstand, in der Gruppe der 50 s waren es 2,6/100 000 und in der Gruppe ≥ 60 s erlit- ten 5,5/100 000 Läufern einen plötzlichen Herz-Kreislauf-Stillstand. Die 3 reanimier- ten Frauen waren < 50 Jahre alt und trugen damit nicht zum Trend der Zunahme von Herz-Kreislauf-Stillstand in höherem Alter bei. FAZIT Die in der Studie ermittelte Gesamt- inzidenz an Herz-Kreislauf-Stillstän- den von 1,7/100 000 Marathonläu- fern entspricht den in früheren Stu- dien beobachteten Ergebnissen. Männer ≥ 60 Jahre hatten das höchs- te Risiko während eines Marathon- laufs einen plötzlichen Herz-Kreislauf- Stillstand zu erleiden – die Autoren empfehlen für diese Altersgruppe vor der Teilnahme an einem Mara- thonlauf einen vom medizinischen Komitee der JAAF entwickelten, Checklisten-basierten Selbsttest durchzuführen. Ulrike Brünjes ADAPT-Sepsis Studie: Tägliche PCT-Bestimmung reduziert Antibiotika- therapiedauer Dark P. et al. Biomarker-Guided Antibiotic Duration for Hospitalizes Patients With Suspected Sepsis, The ADAPT-Sepsis Randomizes Clinical Trial. JAMA 2025; 333: 682–693. DOI: 10.1001/jama.2024.2 6458 International herrscht Einigkeit über eine zeitgerechte und adäquate Anti- biotikatherapie bei septischen Patien- ten, die optimale Therapiedauer ist aber weiter unklar. Für die Therapie- steuerung über den Biomarker Procal- citonin (PCT) besteht nur eine schwa- che Empfehlung für die klinische Pra- xis. Die vorliegende Studie vergleicht Therapieprotokolle mit täglichen CRP- bzw. PCT-Messungen mit einer üblichen Standardtherapie ohne diese Marker. Die Antibiotikatherapiedauer von kritisch kranken Patienten auf der Intensivstation lässt sich sicher reduzieren, wenn die Therapiesteuerung mithilfe täglicher PCT- Messungen erfolgt. Eine CRP-basierte The- rapiesteuerung ist gegenüber einer Stan- dardtherapie nicht effektiv. Das ist das Ergebnis der Antibiotic Treat- ment in Hospitalised Patients With Sus- pected Sepsis (ADAPT)-Studie der For- schergruppe um P. Dark von der Univer- sität Manchester, United Kingdom. Die Forscher schlossen an 41 Intensiv- stationen Großbritanniens alle Patienten ≥ 18 Jahre, welche mit der Verdachtsdiag- nose Sepsis aufgenommen wurden und deren antibiotische Therapie vor höchstens 24 Std. begonnen hatte und erwartungs- gemäß mindestens für weitere 72 Std. not- wendig war, in die Studie ein. Als Aus- schlusskriterien galten eine geplante Anti- biotikatherapiedauer von > 21 Tagen, eine schwere Kompromittierung des Immun- systems, welche nicht durch die Sepsis hervorgerufen war, geplante IL-6-Therapie und vermuteter Therapieabbruch innerhalb von 24 Std. bei infauster Prognose. Primär wollten die Forscher herausfinden, ob engmaschige PCT- und CRP-Bestim- mungen effektiv sind, also, ob es zu ei- ner Reduktion der Antibiotikatherapietage kommt. Dabei untersuchten sie gleich- zeitig die Sicherheit der Therapie – als Pa- rameter hierfür nutzen die Forscher die 28-Tage-Mortalität. Sekundäre Studienzie- le beinhalteten unter anderem die Antibio- tikatherapiedauer für die initiale Sepsis- phase und die 90-Tage-Mortalität. Alle Patienten erhielten eine tägliche Blut- abnahme bis die Antibiotikatherapie be- endet wurde bzw. alternativ bis zur Kran- kenhausentlassung bzw. bis zum Tod. Im PCT- bzw. CRP-Arm der Studie bestimmten die Forscher die jeweiligen Biomarker in- nerhalb der ersten 24 Std. nach Beginn der Antibiotikatherapie und danach täglich. Eine starke Empfehlung, die Antibiotika- therapie zu stoppen, erging bei einem PCT < 0,25 µg/l beziehungsweise einem CRP < 25 mg/l. In der Standardtherapiegruppe ohne tägliche Biomarkerbestimmung rich- tete sich die antibiotische Therapie nach den geltenden NHS bzw. Antibiotic-stew- ardship-Empfehlungen und z. B. der Leuko- zytenzahl. Zur Auswertung kamen 898 Patienten in der PCT-Gruppe, 892 Patienten in der CRP- Gruppe und 905 Patienten in der Standard- gruppe. Die demografischen Daten unter- schieden sich nicht, das mittlere Alter be- trug 60,2 Jahre, 60,3 % der Patienten waren männlich. Der mittlere Acute Physiology 460 Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Ärztlich geführte Teams in der präklinischen Versor- gung verbessern Outcome Lavery MD et al. Benefits of targeted deployment of physician-led interprofessional pre-hospital teams on the care of critically Ill and injured pa- tients: a systematic review and meta-analysis. Scand J Trauma Resusc Emerg Med 2025; 33: 1. DOI: 10.1186/s13049-024-01298-8 Traditionell liegt in vielen Ländern der Schwerpunkt bei der Behandlung kri- tisch kranker oder verletzter Patienten auf dem schnellen Transport der Pa- tienten in Krankenhäuser, wo sie von interprofessionellen Teams unter der Leitung von Ärzten versorgt werden. Trotz dieses Modells und erheblicher Verbesserungen der Überlebensraten der Patienten im Krankenhaus hat sich die Gesamtsterblichkeitsrate aufgrund von Traumata und kritischen Krankhei- ten wie Herzstillstand jedoch kaum ver- ändert, da die Mehrheit der Todesfälle weiterhin eintritt, bevor die Patienten im Krankenhaus eintreffen. In den letz- ten 3 Jahrzehnten haben präklinische Systeme zunehmend ärztliches Fach- personal beinhaltet. Diese Teams kön- nen frühzeitige klinische Entscheidun- gen treffen und vor Ort medizinische Interventionen vornehmen, die über den Rahmen der Rettungssanitäterpra- xis hinausgehen, und gleichzeitig die Notwendigkeit eines schnellen Trans- ports ins Krankenhaus auf der Grund- lage individueller Patientenbedürfnisse abwägen. Im vorliegenden Artikel der kanadischen Autoren um Lavery werden die Vorteile eines ärztlich geführten interprofessionel- len Versorgungsmodells im Vergleich zu einem Modell bewertet, bei dem Sanitäter die Versorgung präklinisch allein leisten. Die Autoren führten ein systematisches Review und eine Metaanalyse anhand der PRISMA-Richtlinien durch. Die Artikel wur- den durch eine systematische Suche in den Datenbanken PubMed, Medline und Scopus sowie Literaturreferenzen identifi- ziert. Der Suchzeitraum wurde auf 2010 bis Juli 2024 eingegrenzt, nur auf Englisch publizierte Artikel mit verfügbarem Voll- text wurden berücksichtigt. Ergebnisse 2296 Artikel wurden in den Online-Daten- banken und 86 in anderen Quellen ge- funden. Allerdings erfüllten nur 23 Artikel die Einschlusskriterien der Studie. Eine ge- poolte Analyse der in diesen Studien be- richteten Ergebnisse zeigte, dass das Mor- talitätsrisiko bei Patienten, die eine prä- klinische Versorgung durch interprofessio- nelle Teams unter der Leitung von Ärzten erhielten, im Vergleich zu Patienten, die nur durch Rettungssanitäter versorgt wur- den, deutlich reduziert war (adjustierte OR: 0,80; 95 %-KI: 0,68–0,91; p = 0,001). Die Überlebensrate kritisch kranker oder verletzter Patienten, die vor dem Kranken- hausaufenthalt von diesen Teams versorgt wurden, war im Vergleich zu denen, die nur von Rettungssanitätern versorgt wur- den, erhöht (adjustierte OR: 1,49; 95 %-KI: 1,31–1,69; p < 0,00001). FAZIT Die Ergebnisse der Metaanalyse deu- ten nach Aussage der Autoren auf eine signifikante Verbesserung der Mortalität und des Überlebens kri- tisch kranker oder verletzter Patien- ten hin, die von interprofessionellen Teams unter ärztlicher Leitung be- treut wurden. Darüber hinaus zeigte eine Subgruppenanalyse, dass so- wohl Patienten mit außerklinischem Herzstillstand als auch solche mit schwerem Trauma Überlebensvor- teile hatten, wenn ein Arzt im präkli- nischen Versorgungsteam war. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Ergebnisse ihrer Untersu- chung die Notwendigkeit unterstrei- chen, die gezielte Einführung ärzt- lich geführter interprofessioneller Teams in präklinischen Systemen in Betracht zu ziehen, in denen diese bislang fehlen. PD Dr. med. Benedikt Lampl, Regensburg ▶ Abb. 1 Quelle: © KH Krauskopf and Chronic Health Evaluation (APACHE)-II- Score betrug 17,3. Bezüglich der Effektivi- tät kam es in der PCT-Gruppe verglichen mit der Standardgruppe zu einer signifikan- ten Reduktion der Dauer der Antibiotika- therapie im 28-Tage-Beobachtungszeitraum (9,8 vs. 10,7 Tage; p = 0,01). Zwischen der Standardgruppe und der CRP-Gruppe be- stand kaum ein Unterschied (10,6 vs. 10,7 Tage; p = 0,79). Auch bezogen auf die initiale Sepsisperiode war in der PCT-ge- steuerten Therapiegruppe eine kürzere Antibiotikatherapiedauer im Vergleich zur Standardgruppe (7 vs. 8,1 Tage) und zur CRP-gesteuerten Gruppe (7,4 Tage) zu ver- zeichnen. Die 28-Tage-Mortalität der PCT- Gruppe unterschied sich nicht signifikant von den beiden anderen Gruppen (Stan- dard: 19,4 %; PCT: 20,9 %; CRP: 21,1 %) wobei die erhöhte Mortalität in der CRP- Gruppe als nicht schlüssig beurteilt wurde. Auch in der 90-Tage-Mortalität bestanden in den 3 Gruppen keine Unterschiede (Stan- dard: 25,5 %; PCT: 25,6 %; CRP: 26,4 %). FAZIT Ein Therapieprotokoll mit täglichen PCT-Messungen reduziert die Dauer der Antibiotikatherapie bei septischen Patienten signifikant um durch- schnittlich 0,9 Tage gegenüber einem Standardtherapieprotokoll ohne PCT-Bestimmung. Die Sicher- heit wird durch die reduzierte Thera- piedauer nicht beeinflusst, sichtbar an der sich in den Therapiegruppen nicht unterscheidenden 28- bzw. 90- Tage-Mortalität. Ein CRP-gelenktes Therapieprotokoll hat keine Vorteile gegenüber der Standardtherapie. Ulrike Brünjes Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 461
Neues aus der Forschung Paravertebraler Block überlegen Gabriel RA et al. Paravertebral versus Pectoralis-II (Interpectoral and Pectoserratus) Nerve Blocks for Postoperative Analgesia after Nonmastectomy Breast Surgery: A Randomized, Controlled, Obser- ver-masked Noninferiority Trial. Anesthesiology 2024; 141: 1039–1050. DOI: 10.1097/ALN.00000 00000005207 Eine Brustoperation führt häufig zu erheblichen Schmerzen und dem Ein- satz von Opioiden in der unmittelbaren postoperativen Phase. Eine initial unzu- reichende Schmerzlinderung kann mit dem Auftreten persistierender oder chronischer postoperativer Schmerzen verbunden sein. Paravertebrale Ner- venblockaden wurden bereits vor Jahr- zehnten als wirksame analgetische Maßnahmen nach einer Brustoperation identifiziert. Obwohl erhebliche Kom- plikationen selten sind, können als un- erwünschte Ereignisse ein Pneumotho- rax, eine intrathekale Ausbreitung des Lokalanästhetikums oder neuraxiale Hämatome auftreten. In jüngerer Zeit wurden mehrere Nerven- blockaden in der Faszienebene beschrie- ben, die bei der Mammachirurgie angewen- det werden können. Die meisten davon haben theoretisch Vorteile, da die relativ tiefe Nadelpenetration in unmittelbarer Nähe der Neuroachse vermieden wird, die bei paravertebralen Nervenblockaden er- forderlich ist. Eine dieser Blockaden ist der Pectoralis-II-Block, der eine Injektion zwi- schen dem M. pectoralis major und dem M. pectoralis minor kombiniert (Anästhesie der lateralen und medialen pektoralen Ner- ven) sowie zwischen dem M. pectoralis mi- nor und dem M. serratus (interpektorale bzw. Pecto-Serratus-Ebene-Blockade). Die meisten früheren Studien zur Mastektomie ergaben kaum signifikante Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen. Ob dies auch für Nicht-Mastektomie-Eingriffe gilt, ist bislang unbekannt. In der Studie von Gabriel et al. aus Kalifor- nien wurden Teilnehmerinnen, die sich einer uni- oder bilateralen Brustoperation ohne Mastektomie unterzogen, randomi- siert einer Pectoralis-II- oder paravertebra- len Blockade (90 mg Ropivacain pro Seite für beide Verfahren) zugeteilt. Chirurgen und Aufwachraumpersonal wurden bei der Zuweisung der Behandlungsgruppe ver- blindet, und die Teilnehmer wurden nicht über ihre Behandlungsgruppe informiert. Beim Pectoralis-II-Block wurde Ropivacain 0,3 % (30 ml) pro Seite injiziert, bei der paravertebralen Blockade Ropivacain 0,5 % (9 ml in jeder der beiden Ebenen) pro Sei- te. Die Autoren stellten die Hypothese auf, dass Pectoralis-II-Blockaden zu einer nicht geringeren Analgesie (numerische Bewer- tungsskala) und einem nicht geringeren kumulativen Opioidverbrauch im Opera- tions- und Aufwachraum führen würden (duale primäre Endpunkte). Die Studie besaß mit n = 100 ausreichend Power, die angestrebte Teilnehmerzahl wurde jedoch auf n = 150 angehoben, um einer mög- lichen höheren Variabilität Rechnung zu tragen. Ergebnisse Im Aufwachraum waren die Schmerzwerte bei Pectoralis-II (n = 60) höher als bei Teilnehmerinnen mit Teilnehmerinnen mit paravertebralen Blockaden (n = 59): Im Median 3,3 (IQR: 2,3–4,8) gegenüber 1,3 (IQR: 0–3,6; 95 %-KI: 0,5–2,6; p < 0,001). Ebenso waren die intravenösen Morphin- äquivalente in der Pectoralis-II-Gruppe hö- her: 17,5 (IQR: 12,5–21,9) gegenüber 10,0 mg (IQR: 10–20; 95 %-KI: 0,1–7,5; p = 0,004). In keiner der Gruppen wurden unerwünschte Ereignisse im Zusammen- hang mit den verwendeten Verfahren be- obachtet. Die Studie wurde nach der Re- krutierung von 119 Teilnehmerinnen (79 % der geplanten Anzahl) vorzeitig beendet, da die behandelnden Chirurgen klinisch den Eindruck hatten, dass ein ungewöhn- lich hoher Prozentsatz der Patientinnen eine zu geringe Analgesie erhielt. FAZIT Nach einer Brustoperation ohne Mastektomie fanden die Autoren bei paravertebralen Blockaden auf 2 Ebenen im Vergleich zu Pectoralis- II-Blockaden eine bessere Analgesie und einen geringeren Opioidbedarf. Diese Ergebnisse unterscheiden sich von den Befunden der meisten Stu- dien an Patientinnen mit Mastekto- mie, bei denen kaum ein signifikan- ter Unterschied zwischen den bei- den Verfahren festgestellt wurde. Der Grund für die Diskrepanz bleibt nach Aussage der Autoren ungeklärt. Somit sind weitere Studien erforder- lich, um die Vor- und Nachteile der beiden Ansätze besser herauszu- arbeiten. PD Dr. med. Benedikt Lampl, Regensburg 462 Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
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Einführung | Topthema Medizin in Katastrophen- und Zivilschutz Thomas Wurmb, Patrick Meybohm, Maximilian Kippnich Die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung einer Gesellschaft in Katastro- phen, Krisen und Kriegen ist eine essenzielle Herausforderung. Ohne ein resilientes Gesundheitssystem, das aus robusten Komponenten besteht, wird dies nicht gelin- gen. Dass wir auch in hochtechnisierten Ländern wie z. B. Deutschland anfällig sind für die Auswirkungen von Kri- sen, hat die SARS-CoV-2-Pandemie sehr deutlich gezeigt. Genauso konnten wir aber sehen, dass wir in der Lage sind, auf eine weltweite Krise entschlossen zu reagieren und diese erfolgreich zu bewältigen. Ebenso konnten wir lernen, dass gerade das Fach Anästhesiologie mit seinen wichtigen Säulen Intensiv- und Notfallmedizin eine zen- trale Rolle sowohl in der medizinischen Versorgung der Patienten als auch im übergeordneten Pandemiemanage- ment gespielt hat. In den Jahren nach der Pandemie hat sich die Sicherheits- lage auf unserer Welt verschlechtert. Neben der Gefähr- dung durch Umweltrisiken sind vermehrt Terrorismus und Krieg in den Fokus gerückt. Diese Risiken betreffen uns alle und zu deren Bewältigung braucht es die ganze Gesell- schaft. Der Medizin und damit auch dem Fach Anästhesio- logie wird dabei allerdings eine wesentliche Bedeutung zukommen. Der Zusammenbruch eines Gesundheitssys- tems wird Menschenleben kosten, die Bevölkerung ver- unsichern, Einfallstore für Desinformation öffnen und eine Gesellschaft destabilisieren. Dies gilt es unbedingt zu ver- hindern und dabei sind alle medizinischen Berufe und in besonderem Maße die Fächer der Akutmedizin gefordert. Eine Auseinandersetzung mit diesem Thema und eine Vorbereitung auf entsprechende Schadensereignisse ist daher von größter Bedeutung. Die Folgen von Katastro- phen im Rahmen von Naturereignissen oder Unfällen kön- nen sehr lange spürbar sein und sind für die betroffenen Menschen von einschneidender Relevanz. Die Ereignisse selbst hingegen finden zumeist in einem überschaubaren zeitlichen und örtlichen Rahmen statt, was für Planung, Vorbereitung und Einsatzdauer ein wichtiger Umstand ist. Anders verhält es sich bei Terroranschlägen und Kriegen. Hier ist eine intrinsische Absicht, maximalen Schaden an- zurichten, charakteristisch und speziell bei Kriegen ist die Zeitspanne oft unüberschaubar. Diese Charakteristika ma- chen eine Vorbereitung in besonderem Maße komplex und die Gefährdung der Einsatzkräfte und der Zivilgesell- schaft erschweren die Lage erheblich. Umso mehr sind wir zur Vorbereitung verpflichtet. Gesetzliche Grundlagen, Strategien, Konzepte, Zuständig- keiten, all dies sind wichtige Themen im Rahmen der Pla- nung. Während des Einsatzes und der Lagebewältigung kommt es allerdings darauf an, dass die Opfer eine retten- de medizinische Versorgung in der richtigen Zeit, im rich- tigen Umfang und am richtigen Ort erhalten. Dies muss allen Diskutanten, die an Planungen und Vorbereitungen beteiligt sind, stets bewusst sein. Der Luxus einer Vor- bereitungszeit endet mit dem Eintreten eines Ereignisses. Dann muss es gelingen, die Versorgungsstrategien lage- bedingt anzupassen, den Umgang mit knappen oder feh- lenden Ressourcen zu beherrschen und letztlich die medi- zinische Versorgung der Bevölkerung so lange wie mög- lich aufrechtzuerhalten. Das Ereignis wird mutmaßlich dann am besten beherrscht, wenn die Vorbereitung effek- tiv war. Nur so lässt sich ein Gesundheitssystem koordi- niert durch eine Krise lenken. Das Wissen um Zusammenhänge, Einsatzkonzepte und Problemkonstellationen ist wichtig. Mit dem Ziel, diese Wissensgrundlagen zu vertiefen, haben wir dieses AINS- Topthema „Katastrophenmedizin und Zivilschutz“ gestal- tet. Wir haben insgesamt 3 Beiträge ausgewählt, die wesentliche Aspekte der medizinischen Bewältigung von Krisen, Kriegen und Katastrophen beleuchten. Präklinisches Management Der erste Beitrag von Kippnich et al. [1] beschäftigt sich mit dem präklinischen Management. Die Autoren geben einen Überblick über die Grundlagen von Katastrophen- und Zivilschutz. Gesetzliche Regelungen, Führungsstruk- turen, Einsatztaktik, entsprechende Einsatz-Einheiten und das wichtige Thema Sichtung werden adressiert. Eine be- sondere Beachtung findet auch die zivile Verteidigung im Rahmen eines NATO-Bündnisfalls. 464 Wurmb T et al. Katastrophenmedizin und Zivilschutz ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 464–465 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Innerklinische Management Autorinnen/Autoren Der zweite Beitrag behandelt das innerklinische Manage- ment eines Massenanfalls von Patienten. Speicher et al. zeigen die aktuellen Elemente der Krankenhausalarm- und Einsatzplanung und beschreiben anhand von Beispielen deren praktische Umsetzung [2]. Grundsätzliche Aspekte der Planung werden genauso betrachtet wie die Etablie- rung einer Klinikeinsatzleitung und die Durchführung von Übungen. Sicherheit von Krankenhäusern Der dritte Beitrag befasst sich mit einem bisher wenig be- achteten Aspekt: der baulichen Sicherheit und der struk- turellen Robustheit von Krankenhäusern und Gesund- heitseinrichtungen. In der alltäglichen Arbeit verlassen wir uns auf intakte Gebäudestrukturen, Strom- und Wasser- versorgung, die Verfügbarkeit von Sauerstoff und anderen medizinisch essenziellen Versorgungsgütern. Was aber geschieht, wenn die kritische Infrastruktur Krankenhaus selbst von den Auswirkungen einer Katastrophe betroffen oder Ziel eines Sabotageaktes oder auch eines bewaff- neten Angriffs geworden ist. Wie kann man Krankenhäu- ser sicherer machen, damit sie ihren Auftrag der Patien- tenversorgung auch unter widrigen Bedingungen erfüllen können? Wurmb et al. geben einen sehr strukturierten Überblick über diese Problematik und führen den Leser mit Beispielen und konkreten Erkenntnissen durch ein komplexes, aber hochrelevantes und aktuelles Thema [3]. Mit diesem Topthema möchten wir Sie dazu anregen, sich mit dem Thema der medizinischen Bewältigung von Kri- sen und Kriegen auseinanderzusetzen. Die Erweiterung des Grundlagenwissens ist uns hierbei genauso wichtig wie die Herstellung eines Praxisbezuges. Am Ende sind wir alle dazu aufgerufen, unser Gesundheitssystem resilienter zu gestalten und auf außergewöhnliche Schadenslagen vor- zubereiten. Ziel ist dabei immer, die medizinische Versor- gung in einer Krise so lange wie möglich aufrechtzuerhal- ten. Hierbei ist jeder Einzelne gefordert und je besser die gemeinsame Vorbereitung, desto eher können auch au- ßergewöhnliche Schadensereignisse bewältigt werden. Ihr Thomas Wurmb, Patrick Meybohm und Maximilian Kippnich Prof. Dr. med. Thomas Wurmb Seit 2015 Universitätsprofessor für Notfall- und Katastrophenmedizin und Leiter der gleichna- migen Sektion an der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedi- zin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würzburg. Stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Krankenhaus-Einsatzpla- nung (DAKEP) e. V. Prof. Dr. med. Patrick Meybohm Seit 2020 Direktor der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedi- zin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würzburg. Vorstandsmitglied Deutsche Sepsis- gesellschaft (DSG) und Network for the Ad- vancement of Patient Blood Management, Haemostasis and Thrombosis (NATA). Schwerpunkte: Intensiv- medizin, Patient Blood Management. PD Dr. med. Maximilian Kippnich Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Anäs- thesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würz- burg. Zusatzbezeichnung Notfallmedizin, Inten- sivmedizin und Ärztliches Qualitätsmanagement. Notarzt auf dem RTH CHRISTOPH 18, Leitender Notarzt in Stadt und Landkreis Würzburg. Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Thomas Wurmb Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würzburg Oberdürrbacher Str. 6, 97080 Würzburg, Deutschland Wurmb_T@ukw.de Literatur [1] [2] Kippnich M, Speicher C, Hossfeld B et al. Prähospitale Katastro- phenmedizin und Zivilschutz. Anästhesiol Intensivmed Notfall- med Schmerzther 2025; 60: 467–478. DOI: 10.1055/a-2582-8 352 Speicher C, Wurmb T, Meybohm et al. Innerklinisches Manage- ment eines Massenanfalls von Verletzten (MANV). Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 479–491. DOI: 10.1055/a-2593-3516 [3] Wurmb T, Speicher C, Hossfeld B et al. Sicherheit von Kranken- häusern unter den Bedingungen von Katastrophen, Krisen und Kriegen. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 493–502. DOI: 10.1055/a-2582-6896 Interessenkonflikt Bibliografie Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 464–465 DOI 10.1055/a-2651-5754 ISSN 0939-2661 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany Wurmb T et al. Katastrophenmedizin und Zivilschutz ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 464–465 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 465
VERSORGUNG AUF HÖCHSTEM NIVEAU Qualitätssicherung durch Standards: Eine umfassende Zusammenstellung von SOPs im Fachgebiet Anästhesiologie der Berliner Charité. Profitieren Sie vom Know-how einer der größten Universitätskliniken Europas und holen Sie sich direkt umsetzbare Handlungsempfehlungen. • Anästhesie: Verfahren, Checklisten, Dosierungsangaben, postoperatives Management etc. • Intensivmedizin: diagnostisches Vorgehen, therapeutische Prinzipien • Schmerztherapie: bewährte Therapiestrategien und Behandlungsmethoden • Notfallmedizin: Symptome, Diagnostik und Therapie • Kompakte und übersichtliche Darstellungsweise zum gezielten Nachschlagen. Buch + Online-Version in der eRef ISBN 978 3 13 243250 5 shop.thieme.de . 9 9 4 3 A R H , t r a g t t u t S r e t s i g e r s l e d n a H d n u - z t i S , G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . t e n h c e r e b r e t i e w n e t s o k d n a s r e V n e d n e l l i a f n a e d n e d r e w ] D l [ b a h r e ß u a n e g n u r e f e i L i e B . n e t l a h e b r o v r e m ü t r r I d n u n e g n u r e d n ä s i e r P
CME-Fortbildung | Topthema Prähospitale Katastrophenmedizin und Zivilschutz Maximilian Kippnich, Chris Speicher, Björn Hossfeld, Patrick Meybohm, Thomas Wurmb Quelle: © EKH-Pictures/stock.adobe.com. Bei Großschadenslagen und Katastrophen sind abgestimmte und trainierte Konzepte erforderlich, um sowohl den Eigenschutz für Einsatzkräfte zu gewährleisten als auch die maximal mögliche Zahl an Patienten zu retten. Trotz eines phasenweisen Ungleichgewichts von vorhandenen und benötigten Ressourcen ist eine prioritäten- orientierte Versorgung wichtiges Ziel. Der Beitrag beschreibt das prinzipielle Vorgehen bei einem Massenanfall von Notfallpatienten. Hintergrund Katastrophen ereignen sich weltweit und halten sich an keine Gesetzmäßigkeiten. Sie stellen die betroffenen Menschen und Regionen vor oftmals unlösbare Probleme. Ursachen für Katastrophen sind vielfältig: Unfälle, Terror- anschläge, Stromausfall, Brände, Explosionen, Extrem- wetter, Überflutungen, Erdbeben und Dürren gehören zu einer unvollständigen Aufzählung. Die Katastrophenmedi- zin wird dabei von einem phasenweisen Ungleichgewicht von vorhandenen und benötigten Ressourcen beherrscht. Diverse Faktoren, wie eine mögliche Gefährdung für die Helfer, unzugängliches Gelände oder auch zerstörte Infra- struktur erhöhen die Komplexität enorm. Für den einzelnen Patienten kann dies eine Konzentration der medizinischen Versorgung auf lebensbedrohliche Zustände bedeuten. Oberste Ziele katastrophenmedizinischer Versorgungs- konzepte sind die Gewährleistung einer prioritätenorien- tierten Versorgung möglichst vieler Patienten und eine zügige Rückkehr zur Individualmedizin. Ziel dieses Bei- trags ist es, die Grundlagen präklinischer katastrophen- medizinischer Konzepte zu erörtern und darüber hinaus diese unter dem Gesichtspunkt von Zivilschutzlagen zu beleuchten. Merke Die Katastrophenmedizin wird in Zukunft auch in Deutschland an Bedeutung gewinnen. Kippnich M et al. Prähospitale Katastrophenmedizin und ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 467–478 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 467
CME-Fortbildung | Topthema Organisationsebenen Mögliche Schadenslagen Katastrophenschutz Im föderalen Bundesstaat Deutschland bauen die Hilfe- leistungssysteme aufeinander auf. So werden Alltagsereig- nisse wie Brände oder Verkehrsunfälle durch den Ret- tungsdienst und die Feuerwehren auf kommunaler Ebene geregelt. Großschadens- und Katastrophenlagen – lokal, regional und auch überregional – liegen je nach Ausdeh- nung im Verantwortungsbereich der Kreis- oder Bezirks- regionen bzw. der Bundesländer. Auf Anforderung eines oder mehrerer Bundesländer unterstützt der Bund bei Schadenslagen (Amts- und Katastrophenhilfe). Sowohl der Rettungsdienst als auch der Katastrophen- schutz liegen in der Verantwortlichkeit der Länder. Über- steigt ein Großschadensereignis durch die Vielzahl der Betroffenen oder durch eine teil- oder gänzlich zerstörte Infrastruktur die Möglichkeiten einer Kommune, einer Stadt oder eines Landkreises, kann durch diese der Kata- strophenfall ausgerufen werden. Der Katastrophenschutz baut auf dem Regelrettungsdienst auf. Dies geschieht durch das Hinzuziehen taktischer Einheiten, die sich vor- wiegend aus ehrenamtlichen Kräften generieren. Geregelt wird dieses Vorgehen in den jeweiligen Rettungsdienst- gesetzen bzw. ihren Ausführungsverordnungen und Kata- strophenschutzgesetzen der jeweiligen Bundesländer. Zivilschutz Der Zivilschutz liegt in der Zuständigkeit des Bundes und ordnet sich in das Gesamtsystem der Nationalen Sicher- heitsstrategie ein [1]. Diese umfasst die Rahmenrichtlinie Gesamtverteidigung, die Strategie zur Stärkung der Resi- lienz gegenüber Katastrophen und die Deutsche Nachhal- tigkeitsstrategie. Die Gesamtverteidigung wiederum setzt sich aus der zivilen und der militärischen Verteidigung zu- sammen. Beide sind in den jeweiligen Konzeptionen be- schrieben und festgelegt. Die zivile Verteidigung umfasst nichtmilitärische Maß- nahmen im Rahmen der Gesamtverteidigung. Diese sind in folgende Hauptaufgabenbereiche unterteilt: ▪ Aufrechterhaltung der Staats- und Regierungsgewalt ▪ Versorgung der Bevölkerung und der Streitkräfte mit Gütern und Leistungen ▪ Unterstützung der Streitkräfte ▪ Zivilschutz Ein wesentlicher Bestandteil des Zivilschutzes ist u. a. der Schutz der Gesundheit. Dabei bauen die Vorbereitungen für die zivile Verteidigung im Bevölkerungsschutz auf den Planungen für die friedensmäßige Krisenbewältigung auf. Dies bedeutet auch, dass katastrophenmedizinische Struk- turen, Einheiten und Strategien in Zivilschutzlagen ange- wandt werden können und auch müssen [2]. Bei einem Massenanfall von Notfallpatienten (MAN) ist eine Vielzahl von Patienten unmittelbar zu versorgen. In der Regel handelt es sich dabei um zeitlich und räumlich begrenzte Lagen. Exemplarisch sind hier der Flugzeug- absturz bei der Ramstein Air Show vom August 1988 oder das ICE-Unglück von Eschede 1998 zu nennen [3, 4]. Eine Besonderheit stellen sog. lebensbedrohliche Einsatz- lagen wie Amok oder Terror dar, bei denen eine unmittel- bare Gefahr für Hilfskräfte besteht. Bei solchen Lagen ste- hen die sofortige Rettung aus dem Gefahrenbereich, wel- cher sich auf den Wirkkreis eines Täters bezieht, sowie der Schutz der Rettungskräfte im Vordergrund [5, 6, 7]. Das einsatztaktische und katastrophenmedizinische Vorgehen wird bestimmt durch die Sicherheitslage sowie die Dyna- mik der Situation. Die Bewertung der Lage sowie die Ge- samteinsatzführung obliegen der Polizei [8]. Weitere, katastrophenmedizinisch relevante Schadens- lagen sind ausgedehnte und zeitlich prolongierte Lagen, die nicht nur Teile der Bevölkerung, sondern auch kriti- sche Infrastrukturen selbst (wie Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, Strom- und Wasserversorgung etc.) betreffen können. Eingeschränkte Funktionalität und Ka- pazität des Rettungsdiensts und der Krankenhäuser bei gleichzeitig erhöhtem Bedarf an medizinischer Hilfeleis- tung waren beim Hurrikan Katrina im Jahr 2005 oder auch im Rahmen der SARS-CoV-2-Pandemie 2020 zeitweise die größte Herausforderung [9, 10]. Eine Einteilung der verschiedenen Schadenlagen in Schutz- und Versorgungsstufen (I–IV) wurde vom Bun- desamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) vorgenommen (▶ Tab. 1). Hier sind die zur Bewälti- gung vorgesehenen Kräfte und die jeweiligen Zuständig- keiten (Landkreise/kreisfreie Städte, Bundesländer oder Bund) beschrieben [11]. Die genannten Szenarien sind auch im Rahmen von be- waffneten Konflikten und Kriegen denkbar. Bei einem Luft- angriff beispielsweise kann es innerhalb kürzester Zeit zu einer Vielzahl von (Schwerst-)Verletzten und Toten kom- men. Darüber hinaus spielen Gefahren durch chemische, biologische oder radiologische Stoffe noch eine wichtige Rolle. Denkbar sind auch (Cyber-)Angriffe auf kritische Infra- strukturen, die zu einem Ausfall von Stromversorgung, Wasser oder Kommunikationssystemen führen. Das Aus- maß der Schadensereignisse und deren zeitliche Ausdeh- nung übersteigt möglicherweise die nicht Kriegerischen um ein Vielfaches. 468 Kippnich M et al. Prähospitale Katastrophenmedizin und ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 467–478 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Schutzziele und Problemstellung Unabhängig vom Schadensereignis sollten alle Überle- gungen und Maßnahmen auf die Erreichung folgender Schutzziele abzielen: ▪ Eigenschutz ▪ Rettung möglichst Vieler Problematisch, insbesondere in der Initialphase, sind hier- bei folgende Aspekte: ▪ Informationsdefizite und mögliche Gefahren ▪ unübersichtliche Zahl an Patienten mit unklarer Verlet- zungsschwere ▪ Ressourcenmangel ▪ hoher Workload und Stress In ▶ Abb. 1 ist der zeitliche Verlauf der genannten Aspek- te dargestellt. Im Folgenden werden katastrophenmedi- zinische Aspekte beleuchtet und Strategien erörtert, die dazu beitragen sollen, die Schutzziele bestmöglichst zu erreichen. Medizinische und organisatorische Einsatzführung Katastrophenmedizinische Einsätze erfordern eine über- geordnete Führungsstruktur. Die Einsatzkräfte müssen gezielt und koordiniert ihre lagebezogenen Aufträge er- halten. Der Gesamteinsatz muss zwischen den unter- schiedlichen Behörden und Organisationen abgestimmt werden. Die Lage muss ständig dargestellt und bewertet werden, um die richtigen Schlüsse zum Einsatz einer ad- äquaten Bewältigungsstrategie zu ziehen. International und national differieren die Führungssyste- me. Es besteht weder Konsens, noch gibt es eine Evidenz, ob es überlegene Führungssysteme gibt. In einem sys- tematischen Review haben sich Rimstad und Braut den Fragen gewidmet, welche Aufgaben Führungskräfte und -systeme haben, und ob die Performance im Einsatz dar- stellbar und messbar ist. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Erfahrung und Kompetenz der Einsatzlei- ter die entscheidenden Faktoren sind. Weder das System an sich noch die verfügbaren Pläne oder auch übergeord- nete Strukturen können diese ersetzen [12]. Im Katastrophenfall gelten in Deutschland klar definierte Führungsstrukturen. Diese sind in den Katastrophen- schutzgesetzen der Länder festgeschrieben. Merke Ein bundesweit einheitliches Dokument zum Thema Führung und Leitung im Einsatz ist die Feuerwehr- dienstvorschrift 100 (FwDv100) [13]. ▶Tab. 1 Einteilung von Schadenslagen in Versorgungsstufen (Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe; nach Daten aus [11]). Versorgungs- stufe Beschreibung Schutzziele (Auszug) 1 2 3 4 normierter alltäg- licher Schutz standardisierter, flächendeckender Grundschutz Hilfeleistung für individuelle Not- fälle Hilfeleistung für Schadensereignis- se in einem Zuständigkeitsbereich (Kreis, kreisfreie Stadt) erhöhter Schutz für gefährdete Regionen und Einrichtungen Hilfeleistung für Schadensereignis- se, die nicht mit dem Potenzial des Grundschutzes abzudecken sind Sonderschutz mithilfe von Spezialkräften Hilfeleistung für Schadensereignis- se, die von Art und Umfang her nicht ausschließlich auf Stufe 3 bewältigt werden können Ressourcen Informationen unversorgte Patienten Workload/Stress Zeit ▶ Abb. 1 Problemstellungen bei Großschadenslagen im zeitlichen Verlauf. Die rettungsdienstliche Einsatzführung obliegt in der Re- gel einer ärztlichen und einer nichtärztlichen Führungs- kraft. Je nach Bundesland sind diese einer Gesamteinsatz- leitung unterstellt. In Bayern und Schleswig-Holstein bei- spielsweise bildet sich die medizinische Einsatzführung aus einem Leitenden Notarzt (LNA) und einem Organi- satorischen Leiter (OrgL). Sie arbeiten eng und vertrau- ensvoll als sog. Sanitätseinsatzleitung (SanEL) zusam- men. Während der LNA die medizinische Lagebeurteilung durchführt, die Einsatzschwerpunkte festlegt und die Erstversorgung koordiniert (im Regelfall, ohne sich selbst an der unmittelbaren Patientenversorgung zu beteiligen), ist der OrgL für die Raumordnung, Personal- und Material- planung sowie die Gewährleistung einer gerichteten Transportkette verantwortlich [14]. Je nach örtlicher und taktischer Gliederung des Einsatzes werden Einsatzabschnittsleiter eingesetzt, die in enger Abstimmung mit der Einsatzleitung selbstständig Aufträ- Kippnich M et al. Prähospitale Katastrophenmedizin und ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 467–478 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 469
CME-Fortbildung | Topthema ge abarbeiten. Auch hier kann eine Besetzung aus ärzt- licher und nichtärztlicher Führungskraft sinnvoll sein (z. B. „ärztlicher und organisatorischer Abschnittsleiter Patien- tenablage“). Die Abarbeitung eines Einsatzes erfolgt in Deutschland Hilfsorganisations- und Behörden-übergrei- fend nach der Dienstvorschrift 100. Hierin ist beispiels- weise der Führungsvorgang geregelt, welcher aus Lage- feststellung (Erkundung und Kontrolle), Planung (Beurtei- lung und Entschluss) und Auftragserteilung besteht. Die- ser sog. Führungskreislauf ist angelehnt an den aus dem Qualitätsmanagement bekannten „Plan-Do-Check-Act“- Zyklus (PDCA-Zyklus). Um auch in der Initialphase eine zügige und zielgerichtete Bewältigung der Schadenslage zu ermöglichen, muss so früh wie möglich durch ersteintreffende Kräfte die Ein- satzführung übernommen werden, um bis zum Eintreffen der Einsatzleitung erste Maßnahmen koordiniert in die Wege zu leiten (Führungsfunktion des ersteintreffenden Notarztes und des ersteintreffenden Notfallsanitäters). Bei komplexen Einsatzlagen mit mehreren Führungs- ebenen (Einsatzleitung, Einsatzabschnittsleitung, Unter- abschnittsleitung) gibt die oberste Führungsebene die Rahmenbedingungen vor und erteilt Aufträge zur Errei- chung der übergeordneten Einsatzziele, während die nachgeordneten Führungsebenen konkretere Aufträge an die Einsatzkräfte erteilen. Während beispielsweise die Ein- satzleitung ausreichend Rettungsmittel für den Bereitstel- lungsraum nachalarmiert, erfolgt die konkrete Anforde- rung und Disposition eines bestimmten Rettungstrans- portwagens durch die Abschnittsleiter von Patientenabla- ge und Bereitstellungsraum. Neben den medizinischen und organisatorischen Fähigkei- ten von Einsatz- und Führungskräften sind insbesondere bei Großschadenslagen auch nicht-technische Fähigkei- ten essenziell. Auch in solchen Lagen müssen die Crisis- Resource-Management-Grundsätze gelebt werden. Hie- runter zählen u. a. eine klare und effektive Kommunika- tion, die Eingliederung ins Führungssystem als Führungs- kraft oder als gutes Teammitglied sowie strukturierte Lagebesprechungen. Sind in dynamischen Einsatzphasen mehrere kritische Entscheidungen zu treffen, sollten die entscheidenden Führungskräfte in einer Lagebesprechung ein gemeinsames Lagebild herstellen („Shared-Mental“- Modell), Einsatzaufträge formulieren und diese verteilen (nach dem „Ten-for-ten“-Prinzip, kurze „Pause“ zur struk- turierten Planung der nächsten Schritte). ▪ A – Atemgifte ▪ A – Angstreaktion ▪ A – Ausbreitung ▪ A – Atomare Strahlung ▪ C – Chemische Stoffe ▪ E – Erkrankung/Verletzung ▪ E – Explosion ▪ E – Einsturz ▪ E – Elektrizität FALLBEISPIEL Im Rahmen eines Hochhausbrands kommt es zu einem Massenanfall von Verletzten. In der Initial- phase findet durch die gemeinsame Einsatzleitung von Feuerwehr und Rettungsdienst eine strukturier- te Gefahrenanalyse statt. Es wird festgestellt, dass wesentliche Gefahren von Rauch- und Gasentwick- lung aufgrund des Brandes ausgehen (Atemgifte, Ausbreitung, Chemische Stoffe, Explosion). Durch den Brand selbst ist das Gebäude einsturzgefähr- det, auch elektrische Leitungen können frei liegen (Einsturz, Elektrizität). Im Zuge der Evakuierung durch verrauchte Treppenhäuser kann es zu Angst- reaktionen kommen, und initial unverletzt Betroffe- ne können durch Rauchgasinhalation verletzt wer- den (Angstreaktion, Erkrankung/Verletzung). Diese verschiedenen Gefahren können für Patienten, Be- troffene und Helfende bestehen. Deshalb müssen sie in der Initialphase strukturiert analysiert und an die über- geordnete Führungsstelle rückgemeldet werden. Die sog. GAMS-Regel ist dann die einfachste Methode, die ersten taktischen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr an der Ein- satzstelle einzuleiten: Gefahren erkennen, Absichern, Menschenrettung, Spezialkräfte anfordern. Ein weiterer essenzieller Bestandteil der initialen Lage- erkundung ist die Einschätzung der Verletzten- und Be- troffenenzahlen sowie deren Verletzungsschwere. Diese Aspekte werden ausführlich in den Abschnitten „Sich- tungsprozess“ und „Initiierung einer gerichteten Trans- portkette“ beleuchtet. Darüber hinaus beinhaltet die Lageerkundung auch räumliche Aspekte, die für die Struk- turierung des Einsatzes in Einsatzabschnitte wichtig sind. Die Einsatzführung kann nur Entscheidungen auf Basis der aktuell vorliegenden Informationen treffen. Dabei ist zu beachten, dass diese nicht immer dem aktuellen Stand der Lage entsprechen. Lageerkundung und Gefahrenanalyse Wesentlicher Bestandteil der Lageerkundung sollte die Analyse der Gefahren an der Einsatzstelle sein. Zu beach- ten sind hierbei vor allem die im AAAACEEEE-Schema zu- sammengefassten Gefahren: Das Informationsmanagement könnte durch 2 Maßnah- men optimiert werden: ▪ Einbezug neuer Techniken wie Drohnen, Roboter, Satellitenbilder ▪ klare Führungsstrukturen mit engmaschigen, vordefi- nierten Meldewegen 470 Kippnich M et al. Prähospitale Katastrophenmedizin und ... 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Um in komplexen Einsatzsituationen strukturiert und zielgerichtet Entscheidungen treffen zu können (trotz komplexer Informationslage und -defiziten), muss eine regelmäßige Reevaluation der Lage und der getroffenen Entscheidungen auf verschiedenen Führungsebenen statt- finden. Als Algorithmus im Führungsvorgang kann der sog. Füh- rungskreislauf Hilfe leisten, der wiederholt durchlaufen werden sollte [13]: ▪ Lagefeststellung durch Erkundung ▪ Planung durch Lagebeurteilung ▪ Entschluss und Befehlsgebung inklusive erneuter Lage- feststellung zur Kontrolle Sichtungsprozess Merke Die Sichtung ist ein wichtiges Werkzeug der Katastro- phenmedizin. Grundlage des beschriebenen Vorgehens bilden die Er- gebnisse der 6., 7. und 8. Sichtungs-Konsensus-Konferenz des BBK [15, 16]. Die einzelnen Schritte des Sichtungspro- zesses umfassen die Ersteinschätzung, die Vorsichtung, die Sichtung und die weitere medizinische Versorgung (▶ Tab. 2). Ersteinschätzung Um möglichst früh eine Vorstellung von der Anzahl der exponierten Personen zu erhalten, sollte unmittelbar nach Eintreffen der ersten Rettungskräfte eine Ersteinschät- zung erfolgen. Je nach Lage kann diese Ersteinschätzung durch nicht medizinische Einsatzkräfte erfolgen, z. B. durch die Polizei bei Lebensbedrohlichen Einsatzlagen (LebEL). Die Ersteinschätzung ist definiert als Ersteindruck der Lage durch eine Einsatzkraft in der Phase des ersten Augen- scheins, mit der Abschätzung der Anzahl der exponierten Personen und einer Gefahrenanalyse als Grundlage für eine Lagemeldung an eine übergeordnete Stelle [16]. Das Ergebnis der Ersteinschätzung bildet die Grundlage für weitere taktische Entscheidungen, u. a. für die Ressour- cenplanung, und daraus resultierend eine Nachforderung von weiteren Einsatzmitteln. Vorsichtung Im Anschluss an die Ersteinschätzung erfolgt algorithmen- basiert die Vorsichtung durch darin geschulte Einsatzkräf- te. Die Vorsichtung ist definiert als vorläufige standardi- sierte medizinische Zustandsbeurteilung, die von Ärzten oder hierfür geschulten nichtärztlichen Einsatzkräften durchgeführt wird und auf die eine ärztliche Sichtung folgt [16]. ▶Tab. 2 Sichtungsprozess (8. Sichtungs-Konsensus-Konferenz; nach Daten aus [16]). Stufe im Sich- tungsprozess Definition 1. Erstein- schätzung 2. Vorsichtung 3. Sichtung Ersteindruck der Lage durch eine Einsatzkraft in der Phase des ersten Augenscheins, mit Abschätzung der Anzahl der exponierten Personen und einer Gefahrenanalyse als Grund- lage für eine Lagemeldung an eine übergeordnete Stelle vorläufige standardisierte medizinische Zustandsbeurteilung, die von Ärzten oder hierfür geschulten Notfallsanitätern durchgeführt wird und auf die eine ärztliche Sichtung folgt ärztliche Beurteilung und Entscheidung über Priorität der medizinischen Versorgung von Patienten hinsichtlich Art und Umfang der Behandlung sowie Zeitpunkt, Art und Ziel des Transports 4. weitere medizinische Versorgung Merke Das Ziel der Vorsichtung ist die schnellstmögliche Iden- tifizierung von vital bedrohten Patienten. Lagebedingt werden lebensrettende Sofortmaßnahmen durchge- führt, es erfolgen eine eindeutige Kennzeichnung und der Start der gerichteten Transportkette. Prinzipiell stehen verschiedene Algorithmen mit ausrei- chend diagnostischer Güte zur Verfügung [17]. Die Aus- wahl des anzuwendenden Algorithmus erfolgt auf regio- naler Ebene, ein bundeseinheitlich konsentierter (Vor-) Sichtungsalgorithmus existiert nicht. Durch die Vorsich- tung sollen Patienten mit der höchsten Behandlungs- und Transportpriorität identifiziert werden. Dies sind in der Regel Patienten der Sichtungskategorie (SK) 1 Rot. Die Vorsichtung kann je nach Personalressourcen ärztlich oder nichtärztlich erfolgen. Wichtiger Bestandteil der Vor- sichtung ist die Durchführung lebensrettender Sofortmaß- nahmen. Diese umfassen hier das Stillen lebensbedroh- licher Blutungen, das Freihalten der Atemwege und die Lagerung (z. B. stabile Seitenlage). Sichtung Obligat ärztlich erfolgt dann an der Patientenablage, dem Behandlungsplatz oder in Ausnahmefällen erst im Kran- kenhaus die eigentliche Sichtung. Sichtung ist definiert als ärztliche Beurteilung und Entscheidung über die Priori- tät der medizinischen Versorgung von Patienten hinsicht- lich Art und Umfang der Behandlung sowie Zeitpunkt, Art und Ziel des Transports [16]. Hierzu gehören eine stan- dardisierte Zuordnung in die jeweilige Sichtungskatego- rie, lebensrettende Sofortmaßnahmen und die Kennzeich- nung Toter. Kippnich M et al. Prähospitale Katastrophenmedizin und ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 467–478 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 471
CME-Fortbildung | Topthema Merke Die Sichtung ist ein dynamischer Prozess und erfordert eine regelmäßige Reevaluation. Hierbei werden alle, auch noch nicht vorgesichtete exponierte Personen, ge- sichtet, gekennzeichnet, registriert und dokumentiert. Sind Patienten mit chemischen, biologischen oder radio- aktiven Stoffen kontaminiert, erfolgt unter adäquaten Schutzmaßnahmen zunächst die Priorisierung der Dekon- tamination und erst im Verlauf eine Vorsichtung oder Sichtung. Allerdings sollte schon im Gefahrenbereich eine Ersteinschätzung im Sinne des Sichtungsprozesses durch- geführt werden. Gleiches gilt für die Durchführung von lebensrettenden Sofortmaßnahmen, sofern dies indiziert und unter Beachtung des Eigenschutzes möglich ist. Bei konventionellen Großschadensereignissen geht man von folgender Verteilung der Sichtungskategorien aus: 20 % Rot, 30 % Gelb und 50 % Grün. Bei lebensbedrohli- chen Einsatzlagen kann die Verteilung deutlich abwei- chen, und es ist mit einer höheren Zahl an Patienten der Sichtungskategorie Rot zu rechnen [16]. FALLBEISPIEL Aufgrund einer Extremwetterlage mit Starkregen kollidiert ein Reisebus auf der Autobahn mit meh- reren Kleinfahrzeugen. Das ersteintreffende Ret- tungsmittel ist ein Hilfeleistungslöschfahrzeug der ortsansässigen Freiwilligen Feuerwehr. Es wird un- mittelbar nach Eintreffen eine Lagemeldung abge- setzt. Neben dem Reisebus sind noch 4 weitere PKWs involviert, insgesamt gibt es ca. 30 Verletzte, davon mehrere in Fahrzeugen eingeklemmt oder eingeschlossen (Ersteinschätzung). Zeitnah erreichen 2 Rettungstransportwagen die Einsatzstelle, wovon einer die Vorsichtung über- nimmt. Nach dem mSTART-Sichtungsalgorithmus ergibt sich folgendes Ergebnis: insgesamt 32 Pa- tienten, davon 6 der Sichtungskategorie Rot, 8 der Sichtungskategorie Gelb und 18 gehfähige Patien- ten (Sichtungskategorie Grün) (Vorsichtung). Nach Rettung der Patienten aus dem Gefahren- bereich findet an der Patientenablage, die durch nachrückende Rettungsmittel etabliert wurde, eine ärztliche Sichtung statt (Sichtung). Auf Basis dieser werden dann die Notfallbehandlungen an der Ein- satzstelle priorisiert und die Abtransporte organi- siert. Raumordnung und Initiierung einer gerichteten Transportkette Als Konsequenz der (Vor-)Sichtung sollte für alle Patienten eine gerichtete Transportkette etabliert werden [16]. Die- se führt die Patienten an definierten Versorgungspunkten (Patientenablage) zusammen. Dadurch wird die Über- sichtlichkeit verbessert, und die unmittelbaren Versor- gungsmöglichkeiten werden optimiert. Patienten der Sichtungskategorie I Rot, die eine vor Ort unstillbare Blutung haben, müssen mit Transportpriorität in eine geeignete Behandlungseinrichtung verlegt werden. Soforttransporte sollten durch die vorläufige Einsatzfüh- rung etabliert und durch den ersteintreffenden Notarzt priorisiert werden. Dies impliziert eine enge Abstimmung mit der Rettungsleitstelle sowie die Vorverständigung eines Schockraumteams der Zielklinik. In der Regel wird dann im Einsatzverlauf bei einem Mas- senanfall von Verletzten/Erkrankten eine sog. Patienten- ablage eingerichtet, welche die Konzentrierung von Ma- terial und Personal zum Ziel hat. Die Patientenablage ermöglicht die strukturierte Lagerung von Patienten auf begrenztem Raum und wird an der Grenze zum Gefah- renbereich aufgebaut. Dies kann ein geeigneter Ort der (Vor-)Sichtung sowie der notfallmedizinischen Erstversor- gung sein. Durch einen Notarzt wird die Behandlungs- und Trans- portreihenfolge ständig evaluiert und festgelegt. Der Ab- ruf der Fahrzeuge für den Transport erfolgt vom Rettungs- mittelhalteplatz bzw. vom Bereitstellungsraum. Die Zu- sammenführung von Transportmittel und Notfallpatient sowie die Zuweisung der Zielklinik werden durch eine Ein- satzabschnittsleitung organisiert. Diese sog. Transport- organisation setzt sich durch eine ärztliche und eine nichtärztliche Führungskraft zusammen und verfügt über ständig aktualisierte Informationen über vorhandene Transport- und Klinikressourcen. Exemplarisch ist eine ge- richtete Transportkette im ▶ Abb. 2 dargestellt. Patientenversorgung und Transport in geeignete Behandlungseinrichtungen Die notfallmedizinische Versorgung am Einsatzort richtet sich nach den dort verfügbaren personellen und materiel- len Ressourcen. Prinzipiell ist bei ausreichender Transport- und Klinikkapazität das zügige Verbringen der Notfall- patienten in eine geeignete Behandlungseinrichtung einer (zeit-)aufwendigen Versorgung vor Ort vorzuziehen. Die Gesamtstrategie und damit auch der Patientenstrom müssen jedoch an die jeweilige Lage angepasst werden. So muss beispielsweise bei einem Erdbeben mit zerstör- 472 Kippnich M et al. Prähospitale Katastrophenmedizin und ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 467–478 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
▶ Abb. 2 Gerichtete Transportkette vom Schadensort bis ins Krankenhaus. Quelle: Servicezentrum Medizin-Informatik (SMI)/Thomas Wurmb, Uni- versitätsklinikum Würzburg. ter Infrastruktur und nur eingeschränkt funktionsfähigen Krankenhäusern eine andere Strategie verfolgt werden [18] als bei einer lokalisierten lebensbedrohlichen Einsatz- lage oder einem Unfall mit einem Massen-Transportmittel [19]. Merke Bei den eingeleiteten Maßnahmen ist nicht nur der un- mittelbare Ressourceneinsatz, sondern auch die daraus resultierende Personal- und Materialbindung zu beden- ken. Unter katastrophenmedizinischen Gesichtspunkten ist deshalb nicht nur die gesamte Einsatzstrategie anzupas- sen. Vielmehr müssen lageabhängig auch die üblichen anerkannten medizinischen Standards modifiziert werden [20, 21]. Die Versorgungsstrategien sollten primär auf die Behebung akut lebensbedrohlicher Zustände und die Durchführung von lebensrettenden Sofortmaßnahmen zielen. Für Traumapatienten beispielsweise umfassen die- se im Wesentlichen die Therapie der Hämorrhagie, eines Spannungspneumothorax und einer Hypoxie [22, 23]. Merke Die Behandlungsprinzipien der katastrophenmedizini- schen Erstversorgungskonzepte müssen schnell, ein- fach, sicher und effektiv sein. Hierzu zählt u. a. auch die Blutstillung mittels eines Tour- niquets [24], die Sicherung des Atemwegs mit einfachen Hilfsmitteln und die Lagerung. In Bayern wurden im Rah- men der Vorbereitung auf lebensbedrohliche Einsatzlagen alle Notfallrettungsmittel mit speziellen Sets (sog. REBEL- Sets) ausgerüstet, mit denen die katastrophenmedizini- sche Erstversorgung dieser Zustände erfolgen kann [25]. Auch die Versorgung von internistischen oder mit chemi- schen, biologischen oder radioaktiven Substanzen konta- minierten Patienten stellt eine katastrophenmedizinische Herausforderung dar. Hier können die gleichen Grund- regeln angewandt werden wie für traumatologische Pa- tienten beschrieben: schnelle, einfache, sichere und effek- tive Behebung unmittelbar lebensbedrohlicher Zustände. Merke Die obersten Ziele der einsatztaktischen Bemühungen sind die Gewährleistung einer adäquaten Erstversor- gung möglichst vieler Patienten und die zügige Rück- kehr zur Individualmedizin bei jedem Patienten. Kippnich M et al. Prähospitale Katastrophenmedizin und ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 467–478 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 473
CME-Fortbildung | Topthema Kritische Betrachtung konventioneller Einsatzkonzepte Trotz der oben beschriebenen und gut strukturierten Konzepte ist augenscheinlich, dass in den Analysen und Aufarbeitungen realer Einsätze und Übungen regelmäßig die gleichen Probleme genannt und identifiziert werden. In einem systematischen Review untersuchten Schorscher et al. die „Lessons learned“ aus weltweiten Terroranschlä- gen der Jahre 2001–2018 [26]. Die Autoren fanden in 68 Publikationen 616 „Lessons learned“. Diese Lektionen wurden geclustert und über die Jahre nach ihrer Häufig- keit der Nennungen sortiert. Das Ergebnis war überra- schend. Trotz des langen Zeitraums von 17 Jahren blieben die genannten Lektionen konstant. Die Schlussfolgerung der Autoren war, dass es sich nicht um „Lessons learned“, sondern um „Lessons identified“ handelte. Es gibt also offenbar kein Erkenntnis-, sondern ein Umset- zungsproblem. In Anbetracht der Tatsache allerdings, dass sich immer wieder die gleichen Erkenntnisse wieder- holen und es sich um hochkomplexe, schwer planbare Einsatzlagen handelt, könnte man auch zu dem Schluss kommen, dass vorgesehene Einsatzkonzepte zwar ange- wandt wurden, für spezifische Einsatzlagen aber nicht passend waren und die Umsetzung der Konzepte in hoch- dynamischen Lagen die Einsatzkräfte an die Grenzen des Machbaren führte. Diese Überlegung führt zu dem Schluss, dass die aktuellen Schadenslagen, Solingen, Mag- deburg, Aschaffenburg, München und Mannheim, dies- bezüglich analysiert werden müssen, um eventuell die Einsatzkonzeptionen zu überarbeiten und im Sinne des PDCA-Zyklus zu überprüfen und ggf. anzupassen. Entspre- chende Auswertungsprozesse sind bereits in Gang, und es wurden schon erste Ergebnisse veröffentlicht [27]. gungen, vermehrten Cyberangriffen und Sabotage- akten. Alle 3 genannten Faktoren können direkte und indirekte Auswirkungen auf die Strukturen des Zivil- und Katastrophenschutzes haben. ▪ Phase 3 (Bündnisverteidigung und Übergang zur Landesverteidigung): Artikel 5 des NATO-Vertrags ist aktiviert, und es kommt zu Kampfhandlungen. Deutschland wird zum Aufmarschgebiet von NATO- Truppen. ▪ Phase 4 (Landesverteidigung): Es kommt zu Kampf- handlungen auf deutschem Territorium. Im Rahmen von Kampfhandlungen, sei es in Phase 3 und/ oder Phase 4, ist mit einer Vielzahl an Patienten zu rech- nen. In Falle der Bündnisverteidigung ist derzeit von bis zu 1000 Patienten pro Tag für Deutschland auszugehen [28]. Diese Patienten müssen koordiniert verteilt werden. Dies erfordert Führungsstrukturen, einheitliche Lagebilder über verfügbare Ressourcen, klare Kommunikationswege, Transportkapazität und letztlich die Behandlungskapazitä- ten. Hier spielen zum einen die Krankenhäuser eine he- rausragende Rolle, aber genauso bedeutend sind die Transportkapazitäten und dies nicht nur zu Land, sondern auch zu Wasser und in der Luft. Hinzu kommen Flüchtlingsbewegungen und eine mögli- che Zerstörung kritischer Infrastruktur. Es ergeben sich also ein komplexes Zusammenspiel aus zerstörter Infra- struktur, Kampfhandlungen, hoher Bedrohung der Be- völkerung und der Einsatzkräfte sowie ein hoher bis sehr hoher Bedarf an medizinischen Versorgungskapazitäten. Diese mögliche Herausforderung gilt es anzunehmen und das deutsche Gesundheitssystem, den Katastrophen- so- wie den Zivilschutz für die Bewältigung einer solchen Lage zu rüsten. Weiterführende Überlegungen im Rahmen der zivilen Verteidigung Die zivile Verteidigung und darin eingeordnet der Zivil- schutz rücken aktuell in den Fokus. Hierbei sind alle Pha- sen 1–4 für das Gesundheitswesen von Relevanz [1]: ▪ Phase 1 (hybride Bedrohung): Hierzu zählen Desinfor- mationskampagnen, Spionage und Cyberattacken. Für die Gesundheitssysteme sind vor allem Cyberattacken von Bedeutung. ▪ Phase 2: (Krise, militärischer Aufmarsch an NATO- Grenzen): Es kommt u. a. zu ersten Flüchtlingsbewe- Fazit für die Praxis Konzepte zur Bewältigung von Katastrophenschutz- und Zivilschutzlagen bauen auf eine ganzheitliche Beteiligung von Mitarbeitenden im Gesundheitssystem. Insbesondere unserem Fachgebiet mit seinen verschiedenen Facetten in Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerz- medizin wird hierbei eine herausragende Rolle zukom- men. Eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden Prinzipien der prähospitalen Katastrophenmedizin und des Zivilschutzes ist aus diesem Grund nicht nur wichtig, sondern zwingend notwendig. 474 Kippnich M et al. Prähospitale Katastrophenmedizin und ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 467–478 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
KERNAUSSAGEN ▪ Die Katastrophenmedizin steht komplexen An- forderungen gegenüber und wird in Zukunft eine zunehmende Rolle spielen. ▪ Katastrophenmedizin ist dominiert durch ein phasenweises Ungleichgewicht von vorhande- nen und benötigten Ressourcen. ▪ Diverse Faktoren, wie eine mögliche Gefährdung für die Helfer, unzugängliches Gelände oder auch zerstörte Infrastruktur, erhöhen die Kom- plexität enorm. ▪ Für den einzelnen Patienten kann dies eine Kon- zentration der medizinischen Versorgung auf lebensbedrohliche Zustände bedeuten. ▪ Oberstes Ziel katastrophenmedizinischer Ver- sorgungskonzepte ist die Gewährleistung einer prioritätenorientierten Versorgung möglichst vieler Patienten und die zügige Rückkehr zur Individualmedizin. ▪ Einsatzkonzepte müssen einfach gestaltet sein, damit sie gut zu schulen und im Einsatz an- wendbar sind. Sie müssen im Ereignisfall an die tatsächliche Lage angepasst werden. Interessenkonflikt PD Dr. med. Björn Hossfeld Oberstarzt. Klinischer Direktor der Klinik für Akut- und Notfallmedizin und stv. Leiter des Departments AINS am Bundeswehrkrankenhaus Ulm. Leitender Arzt der RTH Station CHRIS- TOPH 22. Notarzt auf dem RTH CHRISTOPH 22. Mehrfache Teilnahme an Auslandseinsätzen der Bundeswehr in Afghanistan, Kosovo, Kongo, Libanon, Niger und Mali. Vorstandsvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der in Bayern tätigen Notärzte e. V. (agbn). 2. Sprecher der AG „Taktische Medizin“ des Wissenschaftlichen AK Notfallmedizin der DGAI. Prof. Dr. med. Patrick Meybohm Seit 2020 Direktor der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedi- zin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würzburg. Vorstandsmitglied Deutsche Sepsis- gesellschaft (DSG) und Network for the Ad- vancement of Patient Blood Management, Hae- mostasis and Thrombosis (NATA). Schwerpunkte: Intensivme- dizin, Patient Blood Management. Prof. Dr. med. Thomas Wurmb Seit 2015 Universitätsprofessor für Notfall- und Katastrophenmedizin und Leiter der gleichna- migen Sektion an der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedi- zin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würzburg. Stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Krankenhaus-Einsatzpla- nung (DAKEP) e. V. Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vor- teil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/in- terner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Ge- schäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht‐Sponsor der Veranstaltung): nein; Patent/Ge- schäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Sponsor der Veranstaltung): nein Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Bayerisches Rotes Kreuz, Deutsche Arbeitsgemeinschaft Krankenhaus Einsatzplanung e.V., BAND e.V. Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Thomas Wurmb Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würzburg Oberdürrbacher Str. 6 97080 Würzburg Deutschland Wurmb_T@ukw.de Autorinnen/Autoren Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen PD Dr. med. Maximilian Kippnich Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Anäs- thesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würz- burg. Zusatzbezeichnung Notfallmedizin, Inten- sivmedizin und Ärztliches Qualitätsmanagement. Notarzt auf dem RTH CHRISTOPH 18, Leitender Notarzt in Stadt und Landkreis Würzburg. Chris Speicher Jahrgang 1995. 2014–2021 Medizinstudium an der Université du Luxembourg und der medizi- nischen Fakultät der Julius-Maximilians-Univer- sität Würzburg. Promotion 2025. Seit 2022 Weiterbildung an der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedi- zin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würzburg. Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestim- mungen: Prof. Dr. med. Thomas Wurmb, Würzburg, Deutsch- land Literatur [1] Deutscher Bundestag. Drucksache 20/10476 des Deutschen Bundestags – Bericht zur Risikoanalyse für den Zivilschutz 2023. Zugriff am 04. Juli 2025 unter: https://dserver.bundes- tag.de/btd/20/104/2010476.pdf [2] Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Ge- setz über den Zivilschutz und die Katastrophenhilfe des Bun- des. Zugriff am 04. Juli 2025 unter: https://www.gesetze-im- internet.de/zsg/ [3] Martin TE. The Ramstein Airshow Disaster. J Royal Army Med Corps 1990; 136: 19–26. DOI: 10.1136/jramc-136-01-03 Kippnich M et al. Prähospitale Katastrophenmedizin und ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 467–478 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 475
CME-Fortbildung | Topthema [4] Oestern HJ, Hüls E, Quirini W et al. Facts concerning the Eschede disaster. Unfallchirurg 1998; 101: 813–816. DOI: 10.1 007/s001130050344 [5] Wurmb T, Kowalzik B, Rebuck J et al. Bewältigung von beson- deren Bedrohungslagen. Notfall Rettungsmed 2018; 21: 664– 672. DOI: 10.1007/s10049-018-0516-6 [6] Hossfeld B. Zusammenarbeit von Rettungskräften und Sicher- heitsbehörden bei bedrohlichen Lagen. Anästh Intensivmed 2017; 58: 573–583 [7] Wurmb T, Franke A, Schorscher N et al. Emergency response to terrorist attacks: results of the federal-conducted evaluation process in Germany. Eur J Trauma Emerg Surg 2020; 46: 725– 730. DOI: 10.1007/s00068-020-01347-8 [8] Wurmb T, Kurz S, Schwarzmann G et al. Application of quality indicators and critical lessons learned assessment as a research approach for the evaluation of rescue missions during terrorist attacks. Sci Rep 2024; 14: 25087. DOI: 10.1038/s41598-024-7 6267-3 [9] McSwain NE. Disaster response. 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Punkte sammeln auf CME.thieme.de Die Teilnahme an dieser Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate möglich, solange ein aktives Abonnement besteht. Unter https://eref.thieme.de/CXQL6WI oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests und zum Artikel. Sie finden dort auch den genauen Einsendeschluss. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführliche Anleitung. Wir wünschen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! VNR 2760512025167572622 Frage 1 Welche Aussage zum Massenanfall von Notfallpatienten und Betroffenen ist falsch? A Es herrscht ein Ungleichgewicht zwischen vorhandenen und benötigten Ressourcen. B Die Begriffe Massenanfall und Katastrophe sind synonym zu gebrauchen. C Die Patientenanzahl beim Massenanfall übersteigt die Anzahl der Patienten, die sonst durch den Regelrettungsdienst zu versorgen sind. D Je nach Größe kann der Gesamteinsatz in verschiedene Ein- satzabschnitte gegliedert sein. E Es gibt länderspezifische Handlungsanweisungen und Richt- linien für einen Massenanfall. Frage 2 Was ist keine typische Problemstellung bei Großschadenslagen in der Initialphase? A Überschuss an Rettungsmitteln B unversorgte Patienten C Informationsdefizit D hoher Workload E Stress Frage 3 Aus welchen Komponenten besteht die „gerichtete Transport- kette“? A Schockraum – Operationssaal – Aufwachraum – (Über- wachungs-)Station B Spineboard – Schaufeltrage – Vakuummatratze – Patienten- fahrtrage C Patientenablage – Behandlungsplatz – Rettungsmittelhalte- platz – Krankenhaus D Notarzteinsatzfahrzeug – Krankentransportwagen – Ret- tungstransportwagen – Rettungstransporthubschrauber E First Responder – Polizei – Feuerwehr – Rettungsdienst Frage 4 Welcher der genannten Punkte gehört nicht zum Sichtungspro- zess (gemäß der 8. Sichtungs-Konsensuskonferenz des Bundes- amts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe)? A Ersteinschätzung B Vorsichtung C Primary und Secondary Survey D Sichtung E weitere medizinische Versorgung Frage 5 Wozu dient das „AAAACEEEE“-Schema? A Einschätzung von Gefahren an der Einsatzstelle B strukturiertes Vorgehen in der Polytraumaversorgung C Detektion reversibler Ursachen beim Herz-Kreislauf-Stillstand D Raumordnung bei Großschadensfällen E Evaluation des Atemwegs vor Narkoseeinleitung Frage 6 Auf welcher Ebene sind Rettungsdienst und Katastrophenschutz in Deutschland gesetzlich geregelt? A Landkreise und kreisfreie Städte B Regierungsbezirke C Bundesländer D Bundesrepublik Deutschland E Europäische Union Frage 7 Wem obliegt in der Regel die initiale Einsatzführung bei einem Großschadensereignis aus rettungsdienstlicher bzw. sanitäts- dienstlicher Sicht? A Feuerwehrkommandant B Bürgermeister C Polizeiführer D Führer der Schnelleinsatzgruppe E ersteintreffender Notarzt und ersteintreffender Notfallsani- täter Kippnich M et al. Prähospitale Katastrophenmedizin und ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 467–478 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 477 ▶ Weitere Fragen auf der folgenden Seite …
CME-Fortbildung | Topthema Punkte sammeln auf CME.thieme.de Fortsetzung … Frage 8 Welche Aussage zum Zivil- und Katastrophenschutz ist richtig? A Sowohl der Katastrophenschutz als auch der Zivilschutz lie- gen im Verantwortungsbereich der Bundesländer. B Im Zivilschutz- und Katastrophenfall unterstützen sich Bund Frage 9 Welcher der genannten Aspekte gehört nicht zu den nicht-mili- tärischen Maßnahmen im Rahmen der Gesamtverteidigung? A Aufrechterhaltung der Staats- und Regierungsgewalt B Versorgung der Bevölkerung und der Streitkräfte mit Gütern und Länder gegenseitig mit Ressourcen. und Leistungen C Auch Alltagsereignisse werden durch die Katastrophenschutz- gesetzgebung berücksichtigt. D Der Bevölkerungsschutz liegt ausschließlich in Verantwortung C Unterstützung der Streitkräfte D Zivilschutz E Beteiligung an Kampfhandlungen im Ausland der Gesundheitsämter. E Infrastrukturbetreiber gehören nicht zum gesamtstaatlichen Sicherheitssystem. Frage 10 Was versteht man unter „lebensbedrohlichen Einsatzlagen“? A Amok und Terror B Lungenarterienembolie und Herzinfarkt C Wohnhausbrand und Busunfall D Hochwasser und Starkregen E Stromausfall und Wasserrohrbruch 478 Kippnich M et al. Prähospitale Katastrophenmedizin und ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 467–478 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
CME-Fortbildung | Topthema Innerklinisches Management eines Massenanfalls von Verletzten (MANV) Chris Speicher, Thomas Wurmb, Patrick Meybohm, Maximilian Kippnich Quelle: © Denys Rudyi/stock.adobe.com In Deutschland verursachten zuletzt mehrere relevante, besondere Einsatzlagen einen Massenanfall von Patienten. Naturkatastrophen und Gefahrenlagen wie Terror oder Amok sind charakterisiert durch ein unerwartetes, zeitgleiches Aufkommen einer hohen Anzahl an Verletzten. Krankenhäuser spielen eine zentrale Rolle bei ihrer Bewältigung. Um sich auf derartige Ereignisse vorzubereiten, sind sie gesetzlich dazu verpflichtet, eine Krankenhausalarm- und -einsatzplanung zu entwickeln. ABKÜR ZUNGEN BBK Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Digital Enhanced Cordless Telecommuni- cations Intermediate Care Unit Intensivstation Krankenhausalarm- und -einsatzplanung Krankenhauseinsatzleitung Krankenhausinformationssystem DECT IMC IST KAEP KEL KIS KonTraG Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich Kritische Infrastrukturen Leitender Arzt Sichtung KRITIS LArS MANV Massenanfall von Verletzten MedEL Medizinischer Einsatzleiter OpEL SK ZNA ZONK Operative Krankenhauseinsatzleistung Sichtungskategorie Zentrale Notaufnahme Zentraler Operativer Notfallkoordinator Speicher C et al. Innerklinisches Management eines ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 479–491 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 479
CME-Fortbildung | Topthema Hintergrund Die rezenten Anschläge auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg im Dezember 2024 (299 Verletzte, darunter 86 schwer verletzte Patienten und 6 Tote) [1] sowie auf der ver.di-Demonstration in München im Februar 2025 (37 Schwerverletzte, 2 Tote) [2] und die Amokfahrt in der Mannheimer Fußgängerzone im März 2025 (11 Schwer- verletzte, 2 Tote) [3] unterstreichen, welche Rolle Kran- kenhäusern bei der Versorgung der Betroffenen in sol- chen Situationen zukommt. Ein Massenanfall von Verletzten (MANV), hervorgerufen durch besondere Einsatzlagen, wie Großschadenslagen oder (Natur-)Katastrophen, bzw. lebensbedrohliche Ein- satzlagen, wie Terror, Geiselnahme und Amok, führt zu einem unerwarteten, zeitgleichen Aufkommen einer ho- hen Anzahl an Verletzten und zeichnet sich durch erheb- liche Auswirkungen auf die betroffenen Menschen und Regionen aus. Merke Ein MANV zeichnet sich zu Beginn durch ein Missver- hältnis an Patientenaufkommen und verfügbaren Res- sourcen aus. Solche Extremsituationen stellen nicht nur die prähospi- talen Versorgungsstrukturen (Feuerwehr, Rettungsdienst, Polizei, usw.), sondern auch die involvierten Krankenhäu- ser vor große Herausforderungen. Gerade zu Beginn sol- cher Ereignisse überschreitet die Anzahl an Verletzten die initial zur Verfügung stehenden Ressourcen (Personal, Material, Bettenkapazitäten usw.). Beeinträchtigungen der Funktionalität von Krankenhäusern führen zu erheblichen Versorgungsengpässen und zu einer Störung der öffentli- chen Sicherheit. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophen- hilfe (BBK) zählt Krankenhäuser daher zu den 10 Sektoren der kritischen Infrastruktur (KRITIS), die es zu schützen gilt. Um eine optimale Versorgung des Patientenaufkom- mens sowie die Aufrechterhaltung des Krankenhausbe- triebs sicherstellen zu können, müssen Krankenhäuser systematische, koordinierte Vorgehensweisen entwickeln und bereithalten. Krankenhäuser sind vom Gesetzesgeber dazu verpflichtet, eine Krankenhausalarm- und -einsatz- planung (KAEP) zu erstellen. Merke Krankenhäuser sind gesetzlich dazu verpflichtet, eine Krankenhausalarm- und -einsatzplanung zur Vorberei- tung auf besondere Einsatzlagen zu entwickeln [4, 5, 6, 7, 8]. Vorbereitung auf den Krisenfall – Krankenhausalarm- und -einsatzplanung Grundlagen Um bestmöglich auf besondere Einsatzlagen vorbereitet zu sein, müssen Krankenhäuser eine Krankenhausalarm- und -einsatzplanung (KAEP) erstellen. Die in der KAEP de- finierten Prozesse dienen der Sicherstellung der Patien- tenversorgung sowie dem Schutz des Krankenhauses. Um die Patientenversorgung möglichst lange aufrechterhal- ten zu können, enthält die KAEP klare Regeln zur Ressour- cenverteilung, Rollenverteilung und Kommunikation im Krisenfall [6, 9]. Die rechtlichen Grundlagen der KAEP er- geben sich u. a. aus den Landeskrankenhausgesetzen, den Katastrophenschutzgesetzen der Länder sowie dem Ge- setz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmens- bereich (KonTraG) [4, 9]. Die KAEP gliedert sich in ereignisspezifische Pläne (für MANV, chemische, biologische und radiologische/nuklea- re (CRBN-)Lagen, Ausfall der Strom- oder Wasserversor- gung usw.) und enthält Checklisten sowie standardisierte Arbeitsanweisungen, welche die Darstellung von Ressour- cen- und Personalmanagement, Raumordnung und Ver- antwortlichkeiten ermöglichen. Der Erstellung einer KAEP geht eine ausgiebige Risikoanalyse voraus, welche darauf abzielt, potenzielle Risiken und Gefahren für das Kranken- haus zu identifizieren [4, 6, 9, 10]. Merke Das konsequenzbasierte Modell [11] richtet den Fokus auf die Auswirkungen von Schadensereignissen auf die Funktionsfähigkeit eines Krankenhauses und eignet sich daher besonders zur Erstellung der Alarm- und Einsatz- planung. Unabhängig von der Art des auslösenden Ereignisses las- sen sich 2 primäre Konsequenzen identifizieren: ▪ Überlastung der Versorgungskapazitäten ▪ Beeinträchtigung der Funktionalität des Krankenhau- ses Beide Konsequenzen stehen in einer wechselseitigen Ab- hängigkeit zueinander und beeinflussen sich gegenseitig. Das zeitgleiche Aufkommen einer hohen Anzahl an Patien- ten führt zu einer akuten Überbeanspruchung der verfüg- baren Ressourcen (Personal, Material, Räumlichkeiten). Dies kann wiederum eine Einschränkung der Funktionali- tät des Krankenhauses zu Folge haben. Eine Störung der Funktionalität liegt dann vor, wenn die originären Aufgaben eines Krankenhauses nicht mehr vollständig oder überhaupt nicht mehr erfüllt werden können. Dies kann sowohl durch bauliche oder technische Störungen als auch durch materielle und personelle Eng- pässe bedingt werden. Derartige Zustände sind durch die 480 Speicher C et al. Innerklinisches Management eines ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 479–491 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Beeinträchtigung der Behandlung bereits aufgenomme- ner als auch neu eintreffender Patienten mit einer erhöh- ten Gefährdung der Patientensicherheit assoziiert. Merke Die Maßnahmen der KAEP zielen darauf ab, die Patien- tenversorgung möglichst lange auf dem Level einer kompensierten Krisenversorgung aufrechterhalten [4, 12]. Vor diesem Hintergrund ist es essenziell, in der KAEP ge- eignete Maßnahmen zu definieren, die eine Anpassung des Versorgungsangebots an den aktuellen Versorgungs- bedarf ermöglichen. Darüber hinaus sind solche Maßnah- men festzulegen, die der Wiederherstellung der beein- trächtigten Betriebsfähigkeit dienen [4, 6, 9, 10, 11, 13]. PR A XIS Erweiterte Maßnahmen der KAEP Um eine Überlastung der Versorgungskapazität zu vermeiden, sind im Vorfeld Maßnahmen festzule- gen, die darauf abzielen, das Patientenaufkommen medizinisch angemessen versorgen zu können, z. B.: ▪ Raumordnung, ▪ Regelung der Patientenströme, ▪ Einrichtung eines Sichtungsplatzes, ▪ Durchführung einer strukturierten klinischen Sichtung, ▪ Personalmanagement (Alarmierung von dienst- freiem Personal), ▪ Material- und Ressourcenmanagement, ▪ Einrichtung einer Krankenhauseinsatzleitung [12]. Durch das Ergreifen der in der KAEP definierten erweiter- ten Maßnahmen wird, trotz initial defizitärer Ressourcen (Personal, Material, Räumlichkeiten), eine individualmedi- zinische Versorgung nach anerkannten Standards weitest- gehend ermöglicht. Um eine flächendeckende Verfügbar- keit der KAEP im Ereignisfall zu gewährleisten, sollte diese sowohl in gedruckter Form als auch in einer digitalen Ver- sion vorliegen [4]. PR A XIS Bereitstellung des ereignisspezifischen Plans Der ereignisspezifische Plan für den MANV inklusive der dazugehörigen Auftragsblätter/Verfahrens- anweisungen kann elektronisch im Intranet oder als App zur Verfügung gestellt werden. Zudem sind in kritischen Bereichen wie Notaufnahme, Intensiv- station und Stabsraum Printversionen vorzuhalten. Alarmierung und Aktivierung Das klinische Management eines MANV beginnt mit der Aktivierung der in der KAEP definierten Prozesse. Üblicher- weise meldet die örtliche zuständige Rettungsleitstelle (telefonisch und/oder digital) das Auftreten eines MANV (inkl. Lagebild und falls bekannt die zu erwartende Anzahl an Patienten) an die hiervon absehbar betroffenen Kran- kenhäuser. Zusätzlich können auch interne Mechanismen greifen (Eigenmeldung durch Personal bei hoher Anzahl unangekündigter Selbsteinweisungen). PR A XIS Meldewege Die KAEP sollte konkrete Meldewege definieren und folgende Fragen klären: Wie erfolgt die Mel- dung? Wie wird intern auf diese reagiert? Falls etab- lierte, 24/7 erreichbare Meldewege vorhanden sind (z. B. Koordination eines klinikinternen Reanima- tionsalarms), kann auf diese zurückgegriffen wer- den. Die nach Aktivierung des Alarm- und -einsatz- plans in Kraft tretenden Protokolle involvieren eine Vielzahl an Fachabteilungen (Logistik, Technik, Not- aufnahme, OP-Bereich, Intensivstationen usw.) [9, 10, 13]. Aufbau einer Führungsstruktur – Krankenhauseinsatzleitung Neben der Patientenversorgung fallen Koordinierungs- und Leitungsaufgaben an, deren Größenordnung und Verantwortungsbereich weit über den klinischen Routine- betrieb hinausreichen. Die zügige Etablierung einer hand- lungsfähigen und weisungsbefugten Führungsstruktur ist daher für das weitere Krisenmanagement entscheidend. Diese sich initial und ad hoc bildende Einsatzleitung wird als Operative Krankenhauseinsatzleitung (OpEL) bezeich- net und setzt sich in der Regel aus der vor Ort befindli- chen Dienststruktur zusammen [4, 9, 12, 14]. PR A XIS Operative Krankenhauseinsatzleitung (OpEL) Die Zusammensetzung der OpEL ist im MANV-Plan definiert und orientiert sich an den fachlichen Be- sonderheiten der MANV-Lage. Die Mitglieder der OpEL müssen umgehend verfügbar und ihre Zu- sammensetzung interdisziplinär sein. In der Regel setzt sich die OpEL aus nachfolgendem Personenkreis zusammen: ▪ Arzt der Zentralen Notaufnahme (ZNA) ▪ Arzt der Anästhesiologie ▪ Arzt der Unfallchirurgie ▪ eine Pflegekraft der ZNA ▪ ein Mitarbeiter des technischen Dienstes ▪ ein Mitarbeiter der Logistik Speicher C et al. Innerklinisches Management eines ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 479–491 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 481
CME-Fortbildung | Topthema Die Zusammensetzung der OpEL kann je nach ört- lichen Gegebenheiten oder bestehender Gefahren- lage um weitere Personengruppen erweitert wer- den. Die Mitglieder der OpEL sollten entsprechend ihrer Funktion mit Westen gekennzeichnet sein. Die Leitung der OpEL muss im Vorfeld geregelt sein und wird als Medizinischer Einsatzleiter (MedEL) bezeichnet. Die OpEL kommt in der Regel an einem vordefinierten Ort (z. B. der Zentralen Notaufnahme) zusammen, an wel- chem Führungsmittel wie Telefone und Dokumentations- mittel vorgehalten werden. Die OpEL organisiert und ko- ordiniert anschließend alle notwendigen Maßnahmen zur Behandlung der Patienten [4, 9, 12, 14]. Merke Die OpEL koordiniert und organisiert alle patienten- nahen Maßnahmen und setzt sich ad hoc aus sofort verfügbaren Mitgliedern des ärztlichen, pflegerischen, technischen und logistischen Dienstes zusammen. PR A XIS Aufgaben der Operativen Krankenhauseinsatz- leitung (OpEL) Der OpEL obliegt die Koordination der folgenden operativen bzw. patientennahen Maßnahmen: ▪ Etablierung einer Kommunikationsstruktur ▪ Führung des medizinischen und organisatori- schen Einsatzgeschehens in den Akutbehand- lungsbereichen (ZNA, OP, Intensivstationen) ▪ Festlegung der Raumordnung (Etablierung des Sichtungsplatzes sowie der Behandlungsberei- che gemäß Sichtungskategorie) ▪ Alarmierung der Krankenhauseinsatzleitung (KEL) bei weiter aufwachsenden Ereignissen ▪ Ausübung der Gesamteinsatzleitung bis zur Übernahme durch die KEL und anschließende Lageberichterstattung [14] Stellt die OpEL im Rahmen der Lagebeurteilung fest, dass die Behandlungskapazität akut überschritten wird, eine teilweise oder vollständige Beeinträchtigung der Funktio- nalität des Krankenhauses vorliegt oder es sich um ein öffentlich wirksames Ereignis handelt, so ist eine stabs- ähnliche Führungsstruktur, die Krankenhauseinsatzleitung (KEL), einzurichten. Diese übernimmt als übergeordnete Instanz die Gesamteinsatzleitung und die Gesamtverant- wortung für den Einsatz. Die KEL sollte nach Katastrophen- schutz-Dienstvorschrift 100 arbeiten. Die OpEL führt den operativen Teil des Einsatzes weiter und kommuniziert engmaschig mit der Stabsfunktion S3 der KEL [4, 9, 14]. PR A XIS Krankenhauseinsatzleitung (KEL) und Stabs- funktionen Die KEL setzt sich aus dem Leiter/der Leiterin der KEL sowie dem Krisenstab mit den Stabsfunktionen S1–S6 zusammen, die folgende Aufgabenfelder umfassen [9]: ▪ S1 – Personal/Sicherstellung Arbeitsfähigkeit Stab: Bereitstellung von Personal, Organisation des Führungsstabs ▪ S2 – Lage: Lagefeststellung und -darstellung, Einsatzdokumentation ▪ S3 – Einsatz: Lagebeurteilung, Einsatzdurchfüh- rung, Vorbereitung strategischer Entscheidun- gen, Kommunikation mit MedEL/OpEL ▪ S4 – Versorgung: Planung, Organisation und Bereitstellung aller Versorgungsgüter ▪ S5 – Presse und Medienarbeit: interne und externe Kommunikation, Ansprechpartner für Medien ▪ S6 – Informationstechnologie und Kommuni- kation: Planung, Organisation, Bereitstellung und Durchführung des technischen Informa- tions- und Kommunikationseinsatzes Die KEL ordnet die Nachalarmierung von dienstfreiem Personal sowie Maßnahmen zur hausinternen Verkehrs- regelung und Gebäudesicherung an, ermittelt freie bzw. freiwerdende Bettenkapazitäten (auf Normal- sowie In- tensivstationen) und kümmert sich um die Sicherstellung der Logistik (Medikamente, Verbrauchsmaterial, Blutpro- dukte, Verpflegung usw.) [14]. PR A XIS Windmühlen-Modell Zur Lagevisualisierung kann z. B. das im Rahmen der Coronapandemie entwickelte und in Bayern verwendete Windmühlen-Modell [4, 15] verwendet werden, welches anhand der 3 Komponenten Per- sonal, Raum und Material das Verhältnis von Kapa- zität zu Bedarf abbildet. Kommunikationsstruktur Etablierte, klar definierte und gut strukturierte Kommu- nikations- und Führungsstrukturen sind ein kritisches Ele- ment zur Bewältigung von MANV-Lagen. Verlässliche Kommunikationswege (z. B. DECT-Telefonie mit den ein- zelnen Funktionsträgern fest zugeordneten Nummern, WLAN-Telefonie, Funkgeräte, Messenger, E-Mail) zwischen den beteiligten Einheiten und Funktionsbereichen ermög- lichen eine effiziente Gestaltung der Abläufe, eine be- darfsadaptierte Nutzung der verfügbaren Ressourcen und 482 Speicher C et al. Innerklinisches Management eines ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 479–491 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
vermeiden Verzögerungen bei der Behandlung von Pa- tienten. Es sollte im Vorfeld genau festgelegt werden, wer mit wem kommuniziert. Es kann beispielsweise eine Leitungs- person pro Behandlungsbereich definiert werden. Die Kommunikation mit dem MedEL läuft dann ausschließlich über diese. Eine Führungsassistenz kann dem MedEL bei der Verarbeitung der Informationslage als Unterstützung dienen. Der Krisenstab sorgt zudem durch regelmäßige Lagebesprechungen und Informationsupdates dafür, dass alle Teams auf dem aktuellen Stand bleiben. Auch nach außen ist eine enge Koordination mit Rettungs- diensten, Leitstellen und gegebenenfalls anderen Kliniken erforderlich, um Kapazitäten zu schaffen, Patientenströ- me gezielt zu lenken und den weiteren Zustrom besser einschätzen zu können. PR A XIS Kommunikation nach außen Wichtige Kommunikationsaspekte stellen die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie die Ange- hörigeninformation und -betreuung dar, welche über die KEL koordiniert werden. Über Social- Media-Netzwerke können Informationen mit der Öffentlichkeit geteilt werden (z. B. Hinweise über die aktuelle Lage und mögliche, sich hieraus erge- bende Behandlungseinschränkungen, Hinweise zur Angehörigenbetreuung etc.) [4, 6, 10, 16]. Logistik, Ressourcen- und Personalmanagement Merke Da die unerwartete, hohe Anzahl an Patienten schnell zu kritischen Versorgungs- und Kapazitätsengpässen führt, ist eine präzise Steuerung der logistischen und personellen Ressourcen in MANV-Lagen erforderlich. Anfällig für Engpässe sind zu Beginn der Lage vor allem die Behandlungskapazitäten, die apparative Diagnostik (Schnittbildgebung) und Ressourcen wie Labor-/Diagnos- tikmaterial, Wundversorgungsmaterial sowie im weiteren Verlauf die Bettenkapazitäten auf Normal- und Intensiv- stationen und Ressourcen wie Medikamente, Blutkonser- ven und chirurgische Instrumente. Die KEL sollte durch eine lageabhängige Anpassung der Behandlungskapazitäten eine bestmögliche Ressourcen- aktivierung und -nutzung ermöglichen. Dies wird bei- spielsweise durch die Mobilisierung von im Vorfeld bevor- ratetem Material, das Einstellen von elektiven Eingriffen, die Verlegung und/oder Entlassung von Patienten ermög- licht, was wiederum zu freiwerdenden Betten- und Be- handlungskapazitäten führt. Merke Um personellen wie materiellen Engpässen vorzubeu- gen, bedarf es vonseiten der KEL und OpEL einer lage- abhängigen Anpassung der Behandlungskapazitäten. Durch Nachalarmierung und Akquise von dienstfreiem Personal kann personellen Engpässen vorgebeugt und zeitgleich das sich bereits im Einsatz befindende Personal entlastet werden. Es empfiehlt sich dabei, bereits im Vor- feld eine Übersicht über das akut mobilisierbare Personal zu erstellen. Die Alarmierung von dienstfreiem Personal obliegt dabei in der Regel der KEL. Zunächst werden die vorhandenen Personalressourcen (z. B. Rufdienste) aus- geschöpft. Sollte dies nicht ausreichen, muss dienstfreies Personal alarmiert werden. Dies geschieht am besten über einen digitalen Alarmierungsserver, in dessen Da- tenbank die Erreichbarkeiten (z. B. Mobiltelefonnummer, E-Mail-Adresse) der Mitarbeiter hinterlegt sind. Im Zuge der Personalplanung muss zudem berücksichtigt werden, dass sich MANV-Lagen unter Umständen über Tage hinweg ziehen können. Eine gut durchdachte Schichtplanung ist daher essenziell, um den Dienstbetrieb sowie die kontinuierliche Patientenversorgung über meh- rere Tage hinweg aufrechterhalten bzw. sicherstellen zu können und einer Personalerschöpfung vorzubeugen. PR A XIS Personalsammelstelle Die Etablierung einer Personalsammelstelle zur Ein- und Ausgangsregistrierung der Mitarbeitenden er- laubt es, auch bei länger andauernden Lagen, den Überblick über frei verfügbares Personal zu behal- ten. Neben der Nachalarmierung von medizinischem Personal sollte zudem frühzeitig an die Alarmierung der für den Kli- nikbetrieb essenziellen, nichtmedizinischen Bereiche (z. B. Labor, Transfusionsmedizin, Apotheke, Materiallager, Rei- nigungskräfte) gedacht werden. Die Integration von Auf- tragsblättern in die KAEP, welche die Aufgaben der jewei- ligen Behandlungsbereiche und Funktionen zusammen- fassen, kann das Personal unterstützen und Prozesse wie Sichtung, Kommunikation und organisatorische Abläufe erleichtern. PR A XIS Auftragsdatenblätter In die KAEP integrierte Auftragsdatenblätter, wel- che die Aufgaben der verschiedenen Funktionen und Behandlungsbereiche visualisieren, dienen dem Personal als Unterstützung zur Bewältigung der anfallenden Aufgaben. Speicher C et al. Innerklinisches Management eines ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 479–491 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 483
CME-Fortbildung | Topthema ▶Tab. 1 Sichtungskategorien (SK) bei einem Massenanfall von Verletzten/ Erkrankten und sich daraus ergebende Behandlungsdringlichkeit [19]. Sichtungs- kategorie Beschreibung Konsequenz SK I (rot) akute vitale Bedrohung Sofortbehandlung SK II (gelb) schwer verletzt/erkrankt dringliche Behandlung SK III (grün) leicht verletzt/erkrankt nicht dringliche Behandlung SK IV (blau) ohne Überlebenschance abwartende Behandlung/ palliative Versorgung* * Die SK IV wird in der Regel erst im Zuge der Reevaluation bei Feststellung einer „aussichtslosen“ Situation vergeben. Da entsprechende Lagen sowohl für das für das Personal als auch für Patienten und Angehörige ein hohes psycho- soziales Belastungspotenzial darstellen, sollte ein Angebot zur psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) eingerich- tet werden, um so Belastungsfolgen vorzubeugen bzw. diese frühzeitig zu erkennen und entsprechende Hilfe an- zubieten [4, 6, 7, 9, 10, 16, 17, 18]. Raumordnung, Registrierung und Dokumentation Raumordnung Um einen geordneten Einsatzablauf zu ermöglichen, ist es wichtig, eine Raumordnung festzulegen. Dabei ist ins- besondere die Regelung der ankommenden Patienten- ströme von Bedeutung. Bei der Gestaltung der Raumord- nung gilt es, die örtlichen (gebäudetechnischen) Gege- benheiten und einsatztaktischen Überlegungen der jewei- ligen Krankenhäuser zu berücksichtigen. Es muss vorab definiert sein, wie und wo die Patienten im Krankenhaus aufgenommen werden. Zudem muss die Lokalisation des Sichtungspunkts und der Behandlungsbereiche für die Pa- tienten der Sichtungskategorien I–III (▶ Tab. 1) festgelegt werden. Merke Die Etablierung einer vorab definierten Raumordnung ist für einen geordneten Einsatzablauf essenziell. Da ein kontinuierlicher Patientenzustrom zu einer Über- schreitung der initial vorgehaltenen Behandlungskapazi- täten führen kann, ist es notwendig, die Raumordnung gemäß vordefinierter Versorgungsstufen anzupassen. So können zur Schaffung weiterer Behandlungskapazitäten beispielsweise Aufwachräume und Narkosearbeitsplätze im OP-Trakt zur Behandlung und Überwachung von Pa- tienten herangezogen werden. ▶ Abb. 1 zeigt exemplarisch die Raumordnung am Uni- versitätsklinikum Würzburg. Da neben einem hohen Pa- tientenaufkommen auch mit einer großen Anzahl an in- formationssuchenden Angehörigen zu rechnen ist, sollte zudem eine Anlaufstelle zur Angehörigeninformation und -betreuung eingerichtet werden [4, 9, 10, 19, 20]. PR A XIS Sichtungspunkte und Behandlungsbereiche Der 1. Sichtungspunkt sollte möglichst nah am Eintreffort der Patientenströme gelegen sein (z. B. im Flur/Vorraum zwischen Liegendanfahrt und Behandlungsbereich der ZNA). Zudem sollte ein 2. Sichtungspunkt, z. B. an der Krankenhauspforte, eingerichtet werden, um „Selbsteinweiser“ bzw. Patienten, die das Krankenhaus fußläufig erreichen, ebenfalls zu erfassen [16]. Als roter Behandlungsbereich können z. B. die Schockräume, als gelber Bereich die Kabinen der Zentralen Notaufnahme und als grüner Bereich Un- tersuchungsräume einer Poliklinik herangezogen werden. Registrierung, Aufnahme und Dokumentation Eine lückenlose und nachvollziehbare Dokumentation ist unerlässlich, um jederzeit den Überblick über den Status und die Behandlung jedes Patienten zu behalten. Merke Alle Notfallpatienten müssen bei Eintreffen im Kranken- haus registriert und in das Krankenhausinformations- system (KIS) aufgenommen werden. Um diesen Prozess beim MANV zu erleichtern, können im elektronischen Aufnahmesystem vordefinierte Fallnum- mern (z. B. MANV 001–MANV 200) hinterlegt werden, die im Ereignisfall aktiviert werden können. Die genauen, vollständigen Patientendaten können dann zu einem spä- teren Zeitpunkt in der KIS ergänzt werden. Vorgedruckte Klebeetiketten und Patientenarmbänder können diesen Vorgang erleichtern [4, 6, 9, 10]. Alle eintreffenden Patienten werden mittels Registrier- bogen (digital oder Papier) erfasst, und die klinikinterne Fallnummer wird mit der Nummer der präklinischen Sich- tungskarte verknüpft. Dies ist entscheidend für die spä- tere Identifikation, Zuordnung und Nachverfolgung der Patienten [10, 16]. Whiteboards, die an die jeweilige Krankenhausstruktur angepasst sind und die Abbildung von Raumordnung, Personalzuordnung und Patientenflüssen ermöglichen, bieten der KEL und OpEL eine übersichtliche und aktuelle Visualisierung des Einsatzgeschehens über den gesamten Einsatzverlauf hinweg [4, 6, 16]. 484 Speicher C et al. Innerklinisches Management eines ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 479–491 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
▶ Abb. 1 Raumordnung und Patientenfluss gemäß den Eskalationsstufen 1–3 des MANV-Plans am Universitätsklinikum Würzburg (Quelle: Servicezentrum Medizin-Informatik (SMl)/Thomas Wurmb, Universitätsklinikum Würzburg). In Eskalationsstufe 1 findet die Behandlung zunächst in den Räumlichkeiten der Zentralen Notaufnahme (ZNA) und in der chirurgi- schen Poliklinik statt. Bei Überschreiten der dort vorgehaltenen Behandlungskapazitäten ist eine sukzessive Erhöhung der Eskala- tionsstufen möglich. So wird die Versorgung bei Stufe 2 zusätzlich in die Aufwachräume und bei Stufe 3 in den OP-Trakt (OP-Säle, Narkose-Ein- und -Ausleitung) verlagert [10]. PAS = perioperative Anästhesie-Station/Aufwachraum. PR A XIS Whiteboard Um der KEL und OpEL einen Gesamtüberblick über die Einsatzlage zu ermöglichen, kann die Verwen- dung eines spezifischen, an die jeweilige Kranken- hausstruktur angepassten, magnetischen White- boards hilfreich sein. Diese Tafel bildet idealerweise farbkodiert die Raumordnung, die Behandlungs- bereiche, den Patientenfluss sowie die Personal- zuordnung ab (▶ Abb. 2). Durch den Einsatz von Magnetschildern, welche die nummerierten Patienten (z. B. MANV 001–MANV 200) und die behandelnden Personen/Funktionen der entsprechenden Fachabteilungen abbilden, kann auf dem Whiteboard, welches farblich-kodiert die Raumordnung wiedergibt, eine Zuordnung der Patienten und Behandlungsteams erfolgen. Dies bietet der KEL/OpEL über einen längeren Zeitraum hinweg die Möglichkeit zur Erfassung und Verfol- gung der Patienten und Personalressourcen sowie je nach Konfiguration eine zentrale Übersicht über freie Bettenkapazitäten, Verfügbarkeit von Ressour- cen und aktuelle Sichtungskategorien. Das Whiteboard ist bewusst analog gehalten, um eine Abhängigkeit von digitalen Medien (störanfäl- lig!) zu vermeiden! Sichtung und Priorisierung Klinische Sichtung Wenn die Anzahl der zu versorgenden Patienten die Be- handlungskapazitäten akut überschreitet, stellt die Sich- tung ein geeignetes Instrument dar, um die Patienten nach ihrer Behandlungsdringlichkeit (▶ Tab. 1) zu kate- gorisieren und die anschließende Behandlung zu priori- sieren. Ziel der Sichtung ist es, eine bedarfsgerechte Behandlung und situationsgerechte Nutzung der initial begrenzten Ressourcen zu gewährleisten [4, 5, 21]. Merke Ziel der Sichtung ist die Priorisierung der Patienten ent- sprechend ihrer Behandlungsdringlichkeit anhand der Einteilung in die Sichtungskategorien SK I – rot, SK II – gelb und SK III – grün. Speicher C et al. Innerklinisches Management eines ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 479–491 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 485
CME-Fortbildung | Topthema ▶ Abb. 2 Whiteboard zur Planung und Visualisierung des Einsatzgeschehens bei hohem Patientenaufkommen. Abgebildet werden sämtliche Behandlungsbereiche der Eskalationsstufen 1–3 (siehe Raumordnung bzw. ▶ Abb. 1) sowie das zur Verfügung stehende Personal (Quelle: Prof. Wurmb, Universitätsklinikum Würzburg). Zur Durchführung der Sichtung sollen vordefinierte und trainierte Sichtungsalgorithmen verwendet werden (z. B. der „Berliner Sichtungsalgorithmus für den Massenanfall von Verletzten“ [22]). Folgende Anforderungen sollte der angewendete Sich- tungsalgorithmus erfüllen: ▪ eindeutige Festlegung auf eine Sichtungskategorie ▪ Orientierung am (x)ABCDE-Schema ▪ zuverlässige Identifizierung (Vermeidung von Über- und Untertriage) ▪ geringer Zeitaufwand ▪ einfache Anwendung ▪ einfaches Erlernen ▪ Einbezug möglichst vieler Altersgruppen Merke Zur klinischen Sichtung sollen an das xABCDE-Schema angelehnte Algorithmen verwendet werden. Alle Patienten müssen einer Eingangssichtung unterzogen werden (Zeitansatz pro Patient 30–90 s) und entspre- chend der ermittelten Sichtungskategorie (▶ Tab. 1) den jeweiligen Behandlungsbereichen zugeführt werden [4, 5, 19, 23, 24]. Durch Einteilen der Patienten in die entspre- chenden Sichtungskategorien und die Priorisierung der Behandlung wird eine optimale Verteilung der eintreffen- den Patientenströme auf die vorhandenen Ressourcen si- chergestellt. Die Sichtung sollte durch ein sichtungserfahrenes und -trainiertes Team, bestehend aus Arzt/Ärztin, Pflegekraft und Dokumentationsassistenz, erfolgen [4, 10, 19, 23]. PR A XIS Das in der Sichtung eingesetzte Klinikpersonal soll- te optisch, beispielsweise durch Westen, gekenn- zeichnet werden [14]. Auf Eigenschutz ist zu ach- ten. Ausreichend persönliche Schutzausrüstung (Schutzkittel, Handschuhe, Mundschutz, Brille usw.) muss zur Verfügung stehen. Es wird empfohlen, eine ärztliche Abschnittsleitung für die Sichtung einzuteilen, welche in der Notfall-/Katastrophen- medizin erfahren ist und über ausreichend Kenntnisse zu Diagnostik und Therapie der zu erwartenden Verletzungs- muster verfügt. Als Akronym für diese Abschnittsleitung hat sich zunehmend der LArS (Leitender Arzt Sichtung) durchgesetzt [4, 19, 25]. Der LArS hat die Gesamtüber- sicht über den Sichtungsprozess. Oberstes Ziel des LArS ist es, die kritisch instabilen Patienten der SK I zu identifi- zieren und diese priorisiert dem entsprechenden Behand- lungsbereich zuzuführen. Im Rahmen der Eingangssich- tung können lebensrettende Sofortmaßnahmen (Stillen lebensbedrohlicher Blutungen, Freihalten der Atemwege, Thoraxentlastungspunktion usw.) durchgeführt werden [4, 10]. 486 Speicher C et al. Innerklinisches Management eines ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 479–491 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Merke Die Sichtung sollte durch ein sichtungserfahrenes Team, bestehend aus mindestens einem Arzt, einer Pflegekraft und einer Dokumentationsassistenz erfolgen. Die Sichtung ist zudem ein dynamischer Prozess, welcher sich über die gesamte Dauer des Ereignisses erstreckt und eine Kennzeichnung, Registrierung, Dokumentation sowie regelmäßige Reevaluation erfordert [9, 19]. Behandlungspriorisierung entsprechend den Sichtungskategorien Neben den bereits beschriebenen Führungspositionen OpEL und KEL empfiehlt es sich beim MANV die Funktion eines Zentralen Operativen Notfallkoordinators (ZONK) einzurichten. Um eine effektive Notfallbehandlung der vi- tal bedrohten Patienten zu gewährleisten, gilt es die Indi- kation und Reihenfolge für Operationen/Interventionen sowie erforderlicher diagnostischer Maßnahmen zu koor- dinieren. Dies ist Aufgabe des ZONK. Hierfür erhält der ZONK alle relevanten Informationen aus der Sichtungs- zone und definiert anschließend die für die weitere Ver- sorgung notwendigen Ressourcen (Art und Umfang des Behandlungsteams, Qualifikationen, Ausmaß der operati- ven bzw. medizinischen Versorgung, notwendige Diagnos- tik etc.) sowie die anschließend voraussichtlich erforder- liche Betreuung (Schockraum, OP, IMC, Intensivstation). Königsdorfer et al. [14] beschreiben die chirurgisch-ope- rativen Versorgungskonzepte beim MANV. Merke Der ZONK steuert durch Priorisierung der Patienten- behandlung und Disposition der zur Verfügung stehen- den Ressourcen die erforderliche Notfalldiagnostik und -therapie der Patienten der SK I und II. Der ZONK trägt die fachlich-medizinische Verantwortung für die Notfallbehandlung der Patienten der SK I und II. Er arbeitet in enger Abstimmung mit dem MedEL, welcher wiederum mit der KEL kommuniziert und für die Bereit- stellung der benötigten Behandlungsressourcen verant- wortlich ist und somit dem ZONK die Umsetzung der lageabhängigen priorisierten Behandlung ermöglicht. So können die zentralen Prozesse der Notfallversorgung beim MANV „Sichtung, Priorisierung, Disposition und Rea- lisierung“ sichergestellt werden [4, 9, 14, 23, 25]. Merke Der ZONK ist für die Notfallbehandlung der Patienten aus ärztlich-fachlicher Sicht zuständig und disponiert lageabhängig die freien oder neu geschaffenen Ressour- cen. Evaluation und Schulung der KAEP Nach Beendigung einer MANV-Lage ist eine strukturierte Einsatznachbesprechung unabdingbar, um die stattgehab- ten Prozesse (z. B. Kommunikation, Ressourcenmanage- ment, Raumordnung) zu überprüfen und ggf. anzupassen. Merke Die KAEP bedarf einer stetigen Reevaluation und Anpas- sung. Um alle beteiligten Akteure (Präklinik und Klinik) aufei- nander abzustimmen und auf den Ernstfall vorzubereiten sowie um bestehende Alarm- und Einsatzpläne auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen, hat sich die regelmäßige Durchführung von Übungsszenarien etabliert. So kann die Durchdringung der KAEP evaluiert werden, und es kön- nen mögliche Schwachstellen identifiziert und behoben werden, bevor sich diese im Realeinsatz aufzeigen. Derartige Übungen erfordern eine sorgfältige und zeit- intensive Planung, die mit einem hohen organisatorischen Aufwand verbunden ist. Es sollten vorab klare Übungsziele definiert werden, deren Erreichung durch kundige Beob- achter und strukturierte Auswertungen überprüft werden kann. In der Regel finden solche Übungen im laufenden Betrieb statt, um die Einsatzfähigkeit unter realistischen Bedingungen zu testen. Wenn jedoch gezielt einzelne Elemente der KAEP (Raum- ordnung, Kommunikationsstruktur, Patientenregistrierung, Sichtung usw.) überprüft werden sollen, kann eine Durch- führung außerhalb des Regelbetriebs sinnvoll sein. Spei- cher et al. [10] liefern ein Beispiel für die Durchführung einer MANV-Übung zur Evaluation der KAEP. Die Ergeb- nisse solcher Übungen helfen dabei, Schwachstellen der Krankenhausalarm- und -einsatzplanung aufzudecken, die- se fortlaufend weiterzuentwickeln und die Aktualität zu gewährleisten. Dabei handelt es sich um einen kontinuier- lichen Prozess: Die KAEP muss regelmäßig an neue Er- kenntnisse oder vergangene Ereignisse angepasst und im Anschluss erneut überprüft werden. Merke Um die Compliance und Sicherheit der Mitarbeiter im Umgang mit den vorhandenen Plänen zu erhöhen, soll- ten regelmäßig Schulungen im Bereich Sichtung, Kom- munikation und Krisenmanagement stattfinden. So wird eine erfolgreiche Krisenbewältigung ermöglicht [6, 9, 10, 16, 19]. Fazit für die Praxis Ein MANV stellt Krankenhäuser vor enorme personelle, materielle und logistische Herausforderungen. Eine wirk- same Bewältigung der Lage erfordert eine klare Alarm- Speicher C et al. Innerklinisches Management eines ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 479–491 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 487
CME-Fortbildung | Topthema und Einsatzplanung mit spezifischen Verfahrensanweisun- gen, u. a. zur Führungsstruktur, zum Personalmanagement und zur Ressourcensteuerung. Nur durch regelmäßige Übungen und Schulungen sowie eine kontinuierliche An- passung der in der KAEP definierten Prozesse bleibt eine bestmögliche Vorbereitung der Krankenhäuser auf ent- sprechende Lagen gewährleistet. KERNAUSSAGEN ▪ Ein Massenanfall von Verletzten (MANV) stellt Krankenhäuser vor vielschichtige organisatori- sche, medizinische und ethische Herausforde- rungen. ▪ Eine wirksame Bewältigung solcher Situationen setzt eine umfassende Vorbereitung voraus. Dazu gehören eine etablierte Krankenhaus- alarm- und -einsatzplanung, regelmäßige Schu- lungen und Übungen sowie eine klar definierte Führungs- und Kommunikationsstruktur. ▪ Ein effektives Krisenmanagement, das auf kon- tinuierliche Prozessoptimierung ausgerichtet ist, bildet die Grundlage für eine erfolgreiche Reak- tion auf MANV-Lagen. ▪ Interdisziplinäre Zusammenarbeit, eindeutig zu- gewiesene Verantwortlichkeiten und eingespiel- te Abläufe ermöglichen die bestmögliche Ver- sorgung einer großen Zahl von Patienten trotz initial begrenzter Ressourcen. ▪ Regelmäßig stattfindende MANV-Übungen sind unerlässlich, um Mitarbeitende auf den Ernstfall vorzubereiten und bestehende Pläne auf Schwachstellen zu prüfen. ▪ Die KAEP muss als dynamischer Prozess verstan- den werden, der durch regelmäßige Schulungen, praktische Übungen sowie fortlaufende Evaluie- rung und Anpassung aufrechterhalten wird. Interessenkonflikt Erklärung zu finanziellen Interessen Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vor- teil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/in- terner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Ge- schäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht‐Sponsor der Veranstaltung): nein; Patent/Ge- schäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Sponsor der Veranstaltung): nein Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Autorinnen/Autoren Dr. med. Chris Speicher Jahrgang 1995. 2014–2021 Medizinstudium an der Université du Luxembourg und der medizi- nischen Fakultät der Julius-Maximilians-Univer- sität Würzburg. Promotion 2025. Seit 2022 Weiterbildung an der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedi- zin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würzburg. Prof. Dr. med. Thomas Wurmb Seit 2015 Universitätsprofessor für Notfall- und Katastrophenmedizin und Leiter der gleichna- migen Sektion an der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedi- zin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würzburg. Stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Krankenhaus-Einsatzplanung (DAKEP) e. V. Prof. Dr. med. Patrick Meybohm Seit 2020 Direktor der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedi- zin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würzburg. Vorstandsmitglied Deutsche Sepsis- gesellschaft (DSG) und Network for the Ad- vancement of Patient Blood Management, Haemostasis and Thrombosis (NATA). Schwerpunkte: Intensiv- medizin, Patient Blood Management. PD Dr. med. Maximilian Kippnich Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Anäs- thesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würzburg. Zusatzbezeichnung Notfallmedizin, Intensivmedizin und Ärztliches Qualitätsmana- gement. Notarzt auf dem RTH CHRISTOPH 18, Leitender Notarzt in Stadt und Landkreis Würzburg. Korrespondenzadresse Dr. med. Chris Speicher Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würzburg Oberdürrbacher Str. 6 97080 Würzburg Deutschland speicher_c@ukw.de Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestim- mungen: Dr. med. Chris Speicher, Würzburg, Deutschland 488 Speicher C et al. Innerklinisches Management eines ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 479–491 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Literatur [1] Mitteldeutscher Rundfunk (mdr). Anschlag in Magdeburg: 86 Schwerstverletzte und über 1.200 Betroffene. 2024. Zugriff am 25. Februar 2025 unter: https://www.mdr.de/nachrichten/ sachsen-anhalt/magdeburg/magdeburg/anschlag-weihnachts- markt-verletzte-opfer-betroffene-zahlen-102.html [2] [3] tagesschau.de. Anschlag in München: Zweijähriges Kind und seine Mutter gestorben. 2025. Zugriff am 06. März 2025 un- ter: https://www.tagesschau.de/inland/muenchen-anschlag- tote-100.html Südwestrundfunk (SWR). Nach Amokfahrt in Mannheim: Haft- befehl wegen Mordes erlassen. 2025. Zugriff am 06. März 2025 unter: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttem- berg/mannheim/auto-fahrt-mannheim-innenstadt-parade- platz-todesfahrt-100.html [4] Wurmb T, Scholtes K, Kolibay F et al. Krankenhausalarm- und -einsatzplanung – Krisenvorbereitung und Krisenbewältigung. Notaufnahme up2date 2021; 3: 283–295. DOI: 10.1055/a-121 6-3698 [5] Heller AR, Neidel T, Klotz PJ et al. 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CME-Fortbildung | Topthema Punkte sammeln auf CME.thieme.de Die Teilnahme an dieser Fortbildungseinheit ist in der Regel 12 Monate möglich, solange ein aktives Abonnement besteht. Unter https://eref.thieme.de/CXQNUVK oder über den QR-Code kommen Sie direkt zur Startseite des Wissenstests und zum Artikel. Sie finden dort auch den genauen Einsendeschluss. Sollten Sie Fragen zur Online-Teilnahme haben, finden Sie unter https://cme.thieme.de/hilfe eine ausführliche Anleitung. Wir wünschen viel Erfolg beim Beantworten der Fragen! VNR 2760512025167574859 Frage 1 Welche der folgenden Aussagen bezüglich der Erstellung einer Krankenhausalarm- und -einsatzplanung (KAEP) trifft zu? A Die rechtliche Grundlage ist für alle Bundesländer einheitlich durch Gesetze und Verordnungen des Bundes geregelt. B Besondere Vorkehrungen sind nicht notwendig, da sich das Patientenaufkommen bei besonderen Einsatzlagen nur un- wesentlich von jenem im Regelbetrieb unterscheidet. C Die KAEP gliedert sich in der Regel in ereignisspezifische Pläne. D Das Windmühlen-Modell eignet sich zur Erstellung einer KAEP, da sich hierdurch Schwachstellen in der Krankenhaus- organisation aufdecken lassen. E Die Erstellung einer KAEP ist freiwillig, Krankenhäuser sind hierzu nicht verpflichtet. Frage 2 Welche Aussage zum Massenanfall von Verletzten (MANV) ist richtig? A Ein MANV wird ausschließlich durch Naturkatastrophen oder Frage 4 Welcher der nachfolgenden Personen oder Strukturen obliegt im Falle eines MANV die Gesamteinsatzleitung? A dem Chefarzt der Zentralen Notaufnahme B der Krankenhauseinsatzleitung (KEL) C dem Leitenden Notarzt (LNA) D dem Klinikdirektor E dem Pflegedirektor Frage 5 Welche der folgenden Aufgaben gehört typischerweise nicht zum Zuständigkeitsbereich der Krankenhauseinsatzleitung (KEL)? A Einrichtung des Sichtungsplatzes und der Behandlungs- bereiche gemäß Sichtungskategorie B Organisation des Führungsstabs und Bereitstellung von Personal C Lagefeststellung und -darstellung sowie Einsatzdokumenta- tion D Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Angehörigen- Verkehrsunfälle verursacht. betreuung B Ein MANV liegt erst dann vor, wenn es mind. 100 Patienten E Planung, Organisation und Bereitstellung von Versorgungs- an einer Schadensstelle gibt. gütern C Krankenhäuser sind in der Regel mind. 1-mal monatlich mit einem MANV konfrontiert. D Zu Beginn herrscht meist ein Ungleichgewicht von vorhande- nen und benötigten personellen und materiellen Ressourcen. E Krankenhäuser spielen bei der Bewältigung eines MANV eine untergeordnete Rolle. Frage 3 Welcher der nachfolgenden Personen oder Strukturen obliegt im Falle eines MANV die Koordination der patientennahen Maßnah- men? A dem Chefarzt der Zentralen Notaufnahme B der Krankenhauseinsatzleitung (KEL) C dem Leitenden Notarzt (LNA) D dem Klinikdirektor E der medizinischen bzw. operativen Krankenhauseinsatz- leitung (MedEL/OpEL) Frage 6 Welche der folgenden Aufgaben gehört am ehesten zum Auf- gabenbereich des Zentralen Operativen Notfallkoordinators (ZONK)? A leitende ärztliche Person der klinischen Sichtung B Auskunft gegenüber der Presse über die bisherige Anzahl an aufgenommenen, behandelten und verstorbenen Patienten C Übernahme der Gesamtverantwortung des Einsatzgesche- hens, bis die KEL aktiv wird D Indikationsstellung von Notfallbehandlungen sowie Disposi- tion der Ressourcen (Diagnostik, Operation/Intervention, Intensivbetten) E Organisation und Überwachung der Einhaltung von Ruhe- zeiten des sich im Einsatz befindenden Personals 490 Speicher C et al. Innerklinisches Management eines ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 479–491 | © 2025. Thieme. All rights reserved. ▶ Weitere Fragen auf der folgenden Seite …
Punkte sammeln auf CME.thieme.de Fortsetzung … Frage 7 Welche Aussage zur klinischen Sichtung ist falsch? A Die klinische Sichtung sollte algorithmusbasiert erfolgen. B Patienten der Sichtungskategorie I – Rot – gelten als akut vital Frage 9 Welche der folgenden Aussagen ist falsch? A Die elektronische Aufnahme der Patienten ins Krankenhaus- informationssystem ist unwichtig. bedroht und benötigen eine Sofortbehandlung. B Die Festlegung einer Raumordnung ist wichtig für einen C Lebensrettende Sofortmaßnahmen wie die Anlage eines Tour- niquets zur Stillung einer spritzenden arteriellen Blutung sind aus Zeitgründen zwingend zu unterlassen. D Der Sichtungsprozess sollte in der KAEP geregelt sein. E Die Sichtungskategorie IV wird in der Regel erst im Zuge der Reevaluation bei Feststellung einer „aussichtslosen“ Situation vergeben. Frage 8 Sichtungsalgorithmen sollen eine Reihe an Anforderungen erfül- len. Welcher der nachfolgenden Punkte gehört nicht dazu? A eindeutige Festlegung auf eine Sichtungskategorie B Orientierung am SAMPLER-Schema C zuverlässige Identifizierung (Vermeidung von Über- und Untertriage) D geringer Zeitaufwand E einfach anzuwenden und zu erlernen strukturierten Behandlungsprozess. C Die Raumordnung sollte Behandlungsbereiche für die ver- schiedenen Sichtungskategorien beinhalten. D Einer akuten Überlastung des Krankenhauses kann durch eine gute Raumordnung entgegengewirkt werden. E Die Verwendung eines Whiteboards, welches die Patienten- ströme, die Personalbindung und die Behandlungsbereiche abbildet, hilft der OpEL, den Überblick über die Lage zu be- halten. Frage 10 Welche der folgenden Aussagen trifft zu? A Schulungen der KAEP unter den Mitarbeitern tragen nur sel- ten zu einer erfolgreichen Bewältigung eines MANV bei. B Die KAEP sollte nur über das Intranet bzw. im Klinik-Netzwerk abrufbar sein, eine Verbreitung in Papierform ist aus umwelt- technischen Gründen obsolet. C MANV-Übungen sollten niemals im laufenden Betrieb statt- finden, um die reellen Patienten nicht zu gefährden. D Auftragsblätter und Personallaufkarten führen lediglich zu Verwirrung unter dem Personal und sollten daher nicht genutzt werden. E Die KAEP ist als dynamischer Prozess zu verstehen und bedarf einer ständigen Reevaluation und Anpassung. Speicher C et al. Innerklinisches Management eines ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 479–491 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 491
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Fortbildung | Topthema Sicherheit von Krankenhäusern im Rahmen von Katastrophen, Krisen und Kriegen Thomas Wurmb, Chris Speicher, Björn Hossfeld, Felix Kolibay, Patrick Meybohm, Maximilian Kippnich Quelle: © KH Krauskopf/Thieme. Im Rahmen von Katastrophen, Krisen und Kriegen rückt die medizinische Versorgung der Bevölkerung in den Fokus. Gesundheitssysteme und mit ihnen die Krankenhäuser werden durch die Auswirkungen der Schadenslage einer besonderen Belastungssitua- tion ausgesetzt. Zum einen steigt die Patientenzahl sprunghaft an, zum anderen sind die Krankenhäuser in ihrer Behandlungskapazität und Funktionalität eingeschränkt oder gar komplett ausgefallen. Hintergrund Krankenhäuser stellen eine wesentliche Grundlage der Daseinsvorsorge der Bevölkerung eines Landes dar. Ihre Kernaufgabe besteht in der medizinischen Versorgung der Menschen in der Region des Krankenhausstandorts. Um diese Aufgabe verlässlich erfüllen zu können, müssen bestimmte Faktoren gegeben sein: Zum einen muss eine Behandlungskapazität gewährleistet werden, die entschei- dend von der Funktionalität des Krankenhauses abhängt. Dieser Zusammenhang wird im konsequenzbasierten Mo- dell der Krankenhaus-Alarm- und -Einsatzplanung aus- führlich dargestellt [1]. Zum anderen ist in einer tieferen Detailebene die Verfügbarkeit von Personal, Material und Behandlungsraum die entscheidende Größe bei der Auf- rechterhaltung der Funktionalität und Behandlungskapa- zität [2, 3]. Diesem Dreiklang kann eine 4. Komponente hinzugefügt werden: die technischen Systeme. Hierzu zählen im Wesentlichen die Versorgung des Krankenhau- ses mit elektrischer Energie, Wärme, Wasser, Abwasser, medizinischen Gasen und der Informationstechnologie (IT). Wurmb T et al. Sicherheit von Krankenhäusern ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 493–502 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 493
Fortbildung | Topthema Gefährdung von Krankenhäusern Krankenhäuser selbst werden im Rahmen von Katastro- phen, Krisen und Kriegen vielfältigen Bedrohungen und Herausforderungen ausgesetzt. Dies lässt sich anhand von einigen Fallbeispielen demonstrieren. Fallbeispiele Katastrophen im Rahmen von Naturereignissen Die Analyse eines Erdbebens in Indien 2001 zeigte einen weitestgehenden Kollaps der Krankenhäuser im Scha- densgebiet. Die meisten Opfer wurden durch improvisier- te militärische Feldkrankenhäuser versorgt. 2008 gab es in der Provinz Sichuan in China ein verhee- rendes Erbeben, bei dem die Hälfte aller Gesundheitsein- richtungen zerstört oder schwer beschädigt wurden. Ins- gesamt wurden 374 216 Menschen verletzt, von denen über 100 000 stationär behandelt wurden [4]. 2011 erschütterte ein schweres Erdbeben die Stadt Christ- church in Neuseeland. Hierbei wurde das einzige regiona- le Akutkrankenhaus schwer beschädigt, konnte aber die Versorgung der Bevölkerung mit Unterstützung weiterer nicht-akutmedizinischer Krankenhäuser und hausärztli- chen Strukturen weiter aufrechterhalten. Insgesamt wur- den mehr als 6000 Menschen verletzt und 142 davon im Christchurch Hospital behandelt [5]. Bei dem schweren Erdbeben im Februar 2023 in der Tür- kei und Syrien berichten Gökmen und Uluöz über die Ver- sorgung von über 3600 Patienten in den ersten Wochen nach dem Ereignis durch das Adana City Training and Research Hospital. Im Unterschied zu den Beispielen aus Christchurch und Indien wurde das Krankenhaus selbst nicht beschädigt und war im Wesentlichen durch die er- höhte Anzahl von Patienten gefordert, was durch eine notfallplangemäße Steigerung der Behandlungskapazität bewältigt werden konnte [6]. Die medizinische Versorgung in der Stadt New Orleans, die 2005 durch den Hurrikan Katrina getroffen wurde, war an zentralen Krankenhäusern der Stadt massiv eingeschränkt. Neben den Auswirkungen des Sturms war die Überflutung das größte Problem. Bei einer Wasserstandshöhe von bis zu 3,5 m waren etwa 80 % der Stadt überflutet, der Strom und damit die Energieversorgung großflächig ausgefallen, und die Kommunikation war zusammengebrochen. Einzel- ne Krankenhäuser waren über 5 Tage von der Außenwelt abgeschnitten. Evakuierungen wären nötig gewesen, konnten aber nicht durchgeführt werden [7]. Amok, Terrorismus, bewaffnete Konflikte und Krieg Es sind aber nicht nur Naturgefahren, die Krankenhäuser akut bedrohen können. Immer wieder werden Kranken- häuser Ziel eines terroristischen Anschlags oder Amok- laufs und werden in bewaffneten Konflikten oder Kriegen direkt angegriffen. Ein Schutz von medizinischen Einrich- tungen durch völkerrechtliche Konventionen kann nach den Erfahrungen aus den jüngsten Konflikten und Kriegen sowie nach weltweit wiederkehrenden, gezielten terroris- tischen Anschlägen auf Krankenhäuser nicht mehr ange- nommen werden. Im Gegenteil, Krankenhäuser werden konkret zu Angriffszielen. In der Zeit seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine wurden bis 24.02.2025 laut Weltgesundheits- organisation 2263 Angriffe auf die Gesundheitsversorgung registriert, darunter waren 1882 Angriffe auf Kranken- häuser. Bei den Angriffen wurden 205 Menschen getötet und 703 verletzt. Die Angriffe wurden überwiegend mit schweren Waffen durchgeführt [8]. Es gibt aber auch andere Beispiele, welche die Bedrohung von Krankenhäusern in bewaffneten Konflikten und Krie- gen zeigen. So berichtete das Western Galilee Hospital über den direkten Raketenbeschuss des Krankenhauses im Rahmen des 2. Libanon-Krieges 2006 [9]. Auch das Rambam Medical Center in Haifa berichtet über fortge- setzten Raketenbeschuss der Einrichtung während dieses Krieges [10, 11]. In Israel und im Libanon wurden im Rahmen des jüngsten Konflikts seit Oktober 2023 bis 17.02.2025 laut dem World Health Organization (WHO) „Surveillance System for Attacks on Health Care“ 52 (Israel) bzw. 72 (Libanon) Angriffe auf das Gesundheitssystem, davon 22/20 auf Krankenhäuser, registriert. Hierbei sind 117 Tote und 129 Verletzte aufgeführt [8]. Über die Zahlen im Gazastreifen liegen auf dieser Seite keine Informationen vor. Allerdings gibt es Berichte der WHO, z. B. über das Al-Shifa Kranken- haus in Gaza-Stadt, welches im Rahmen von Kampfhand- lungen zerstört wurde und für eine medizinische Versor- gung nicht mehr zur Verfügung steht [12]. Neben bewaffneten Konflikten sind terroristische Anschlä- ge auf die Gesundheitsversorgung weltweit eine konstan- te Bedrohung, mit stetiger Zunahme seit 2001. In einem Übersichtsartikel aus dem Jahr 2021 von Cavaliere et al. [13] wurden Terroranschläge auf Gesundheitseinrichtun- gen von 1970 bis 2018 zusammengetragen. Die Autoren berichten über 2322 Attacken auf die Gesundheitsversor- gung im Allgemeinen, davon 901 Angriffe auf Kranken- häuser. Die häufigsten Kampfmittel waren Bomben, Zer- störung der Infrastruktur oder bewaffnete Überfälle [13]. 57 % der registrierten Anschläge fanden nach 2001 statt. Ein besonders aufsehenerregender terroristischer Anschlag auf ein Krankenhaus war der Angriff auf eine Geburtsklinik in Kabul im Jahr 2020. Hierbei wurden 16 schwangere Frauen, 2 Neugeborene und ein Mitarbeiter getötet [14]. In Deutschland ist es bisher zu keinen vergleichbaren An- schlägen gekommen. Dennoch gab es auch hier bewaff- nete Attacken auf das Personal. Als Beispiel zu nennen 494 Wurmb T et al. Sicherheit von Krankenhäusern ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 493–502 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
sind die tödlichen Schüsse auf einen Arzt im Berliner Ben- jamin-Franklin-Krankenhaus 2016, die Schüsse auf einen Arzt im Dortmunder St. Josefs Hospital im Jahr 2018 und der Schusswaffengebrauch eines Patienten im oberfränki- schen Naila. Gewalttätige Angriffe auf Krankenhausperso- nal gibt es überdies in zunehmendem Maße. Von 2019 bis 2022 stieg die Zahl der Gewalttaten in klinischen Ein- richtungen um 20 % [15]. Zu erwähnen ist hier auch das jüngste Ereignis am Universitätsklinikum Düsseldorf, bei dem ein Patient das Krankenhauspersonal mit einem Mes- ser bedrohte und letztlich von der Polizei gewaltsam ge- stoppt wurde [16]. Systematische Betrachtung der Gefährdung Die Gefährdung für Krankenhäuser kann aus folgenden 2 Perspektiven betrachtet werden. Bedrohung durch Naturgefahren Krankenhäuser können selbst in einem Katastrophenge- biet liegen. Durch die damit einhergehende Zerstörung ist die Funktionalität und konsekutiv auch die Behand- lungskapazität eingeschränkt oder ausgefallen. Laut Pan American Health Organization (PAHO) unter- scheidet man geologische, meteorologische, hydrologi- sche, klimabedingte und biologische Gefährdungen [17]: ▪ geologische Bedrohung: Erdbeben, Vulkanausbruch, Erdrutsch, Tsunami ▪ meteorologische Bedrohung: Stürme, Starkregen- ereignisse ▪ hydrologische Bedrohung: Hochwasser, Sturzflut, Sturmflut ▪ klimabedingte Gefahren: extreme Hitze, Trockenheit, Anstieg der Meeresspiegel, Brände ▪ biologische Gefahren: Epidemie, Pandemie, lebens- mittelassoziierte Erkrankungen Menschengemachte Bedrohungen Hierzu zählen die Gefährdung durch den Ausfall oder die Dysfunktion technologischer Komponenten, gesellschaft- liche Faktoren sowie kriminelle und kriegerische Akte: ▪ technologische Risiken: – Ausfall der Energieversorgung, Wasserver- und -entsorgung, Wärme, Kühlung, medizinische Gase, Materialversorgung (und Lieferketten) – IT-Infrastruktur – Brände – Gefahren durch chemisch, biologisch und radio- nukleare Stoffe ▪ gesellschaftliche Risiken: – soziale Unruhen – Streik – Flüchtlingsbewegungen etc. ▪ kriminelle und kriegerische Akte: – Angriffe auf Krankenhauspersonal – Sabotage (einschließlich Cyberattacken) – Amok – terroristische Anschläge – Bündnis- und Landesverteidigung/Krieg Sicherheit an Krankenhäusern Die vorangegangenen Ausführungen machen deutlich, dass es geboten ist, sich intensiv mit der Sicherheit von Krankenhäusern zu beschäftigen. Dies muss auf allen rele- vanten Ebenen geschehen. Gemeint sind hier die zustän- digen Ministerien und Behörden auf der politischen Ebe- ne, die Träger der Krankenhäuser sowie die Krankenhaus- leitungen auf der administrativen Ebene; aber auch die gesetzlichen und privaten Krankenkassen dürfen nicht ausgeschlossen werden. Sicherheit hat viele Facetten und Aspekte. Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Krankenhaus Einsatzplanung (DAKEP e. V.) hat beispielsweise in einem Positionspapier die bau- liche Sicherheit an Krankenhäusern im Hinblick auf Terro- rismus, Amok sowie Bündnis- und Landesverteidigung hervorgehoben [18]. Neben diesen Aspekten sind es aber auch organisatorische und betriebliche Faktoren, die einen positiven Effekt auf die Erhöhung von Sicherheit haben können. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass eine umfängliche Krankenhaus-Alarm- und -Einsatzplanung (KAEP) mit kla- ren Zuständigkeiten für deren Etablierung und Fortschrei- bung, der Aufbau von Führungsstrukturen im Ereignisfall, die Schulung von Krankenhauspersonal, die Durchführung von Trainings und Übungen, aber auch die Sicherstellung einer Finanzierung dieser Aufwände eine essenzielle Vo- raussetzung für die Bewältigung von besonderen Scha- denslagen darstellen. Ebenso ist das Vorhandensein einer Basissicherheit im alltäglichen Betrieb eine unverzichtbare Grundlage für einen bestmöglichen Schutz bei großen Schadenslagen [18]. Hierzu zählen die Regelung von Zu- gangsberechtigungen, Mitarbeiterausweise, Schließsyste- me, kontrollierbare Zugänge etc. Merke Das Vorhandensein einer umfänglichen KAEP und die Etablierung einer basalen Sicherheitskultur sind essen- zielle Grundlagen, um Sicherheitskonzepte für große Schadenslagen aufzubauen. Die WHO und die PAHO definieren den Begriff „Safe Hos- pital“ folgendermaßen [17, 19]: Ein sicheres Krankenhaus ist eine Einrichtung, deren Dienste unmittelbar nach einer Naturkatastrophe mit maximaler Ka- pazität und innerhalb der gleichen Infrastruktur zugänglich und funktionsfähig bleiben. Der Begriff „sicheres Kranken- haus“ umfasst alle Gesundheitseinrichtungen, unabhängig von ihrem Komplexitätsgrad. Ein Krankenhaus ist „sicher“, wenn es das höchstmögliche Schutzniveau aufweist, wenn Wurmb T et al. Sicherheit von Krankenhäusern ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 493–502 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 495
Fortbildung | Topthema die Zugangswege zur Gesundheitseinrichtung offen sind und wenn die Wasserversorgung, die Stromversorgung und die Telekommunikation die Gesundheitseinrichtung weiterhin versorgen können, sodass die Kontinuität des Betriebs und die Fähigkeit, die zusätzliche Nachfrage nach medizinischer Versorgung zu bewältigen, gewährleistet sind.[17] nalausbildung und Schulungen, Materialbevorratung, das Vorhalten redundanter Systeme, dezidierte orga- nisatorische Sicherheitskonzepte (Vorhalten eines Si- cherheitsdienstes, Videoüberwachung, eingeschränkte und kontrollierte Zugangsberechtigungen für kritische Bereiche etc.). Die Ziele zur Errichtung sicherer Krankenhäuser sind laut Safe-Hospital-Index folgende [17]: ▪ Krankenhäuser in die Lage zu versetzen, während und nach Krisen und Katastrophen weiterhin zu funktionie- ren und ein angemessenes und nachhaltiges Niveau der Gesundheitsversorgung zu bieten, ▪ das Gesundheitspersonal, dessen Familien und die Pa- tienten zu schützen, ▪ die physische Integrität der Krankenhausgebäude, der Ausrüstung und der kritischen Krankenhaussysteme zu schützen, ▪ die Krankenhäuser sicher und widerstandsfähig gegen- über künftigen Risiken, einschließlich des Klimawan- dels, zu machen. Wesentliche Voraussetzung für die Erfüllung dieser Ziele ist die verlässliche Verfügbarkeit von Personal, Material und Raum sowie technischer Systeme [2, 3]. Diese 4 es- senziellen Komponenten müssen geschützt werden, um den Betrieb eines Krankenhauses auch unter extremen Bedingungen aufrechterhalten zu können. Daraus leitet sich direkt die Notwendigkeit ab, deren bestmögliche Si- cherheit an Krankenhäusern zu gewährleisten. Die WHO und die PAHO unterscheiden strukturelle Si- cherheit, nicht-strukturelle Sicherheit und als 3. Säule die organisatorisch-funktionellen Sicherheitsaspekte des Not- fall- und Krisenmanagements [17, 19]: ▪ Strukturelle Sicherheit: Hierunter sind gebäudebezo- gene Aspekte wie Lokalisation des Krankenhaues, die Bauweise, die Raumstruktur, die verwendeten Bau- materialien, tragende Säulen und Fundamente etc. subsumiert. ▪ Nicht-strukturelle Sicherheit: Nicht-strukturelle Ele- mente sind für das Funktionieren des Krankenhauses entscheidend. Architektonische Elemente gehören hier dazu, da sie nicht Teil des tragenden Systems der Krankenhausgebäude sind. Zugänglichkeit, Zufahrts- wege, Funktionselemente wie Türen, Fenster, aber auch kritische Versorgungsbereiche (Intensivstationen, Notaufnahmen, Operationssäle etc.) werden hierunter aufgeführt. Versorgungsleitungen (elektrische Energie, Wasser, Wärme etc.), die gesamte Entsorgung, Labore, IT-Infrastruktur, Materiallager, Materialnachschubwege etc. sind weitere Elemente, die zur nicht-strukturellen Sicherheit zählen. ▪ Organisatorisch-funktionelle Sicherheit: Hierunter sind alle organisatorischen Maßnahmen zusammenge- fasst, welche die Sicherheit an Krankenhäusern erhö- hen. Hierzu zählen die Alarm- und Einsatzpläne, Perso- Merke Die Sicherheit an Krankenhäusern kann man in struk- turelle, nicht-strukturelle und funktionell-organisatori- sche Sicherheit einteilen. Verbesserung der Sicherheit an Krankenhäusern Lektionen aus realen Fallbeispielen Die Erfahrungen aus vergangenen Katastrophen sind eine wichtige Quelle, um Maßnahmen zur Erhöhung der Si- cherheit und zur besseren Bewältigung bei zukünftigen Schadenslagen zu ergreifen. Der Erhalt der Behandlungs- kapazität und der Funktionalität von regionalen Kranken- häusern im Rahmen von Katastrophen, Krisen und Krie- gen ist essenziell. Wie die Auswertung großer überregionaler Katastrophen zeigt, erfolgt die medizinische Versorgung durch Feld- krankenhäuser, die im Zuge der internationalen Hilfe ein- treffen, in der Regel zu spät. So konnte in einer Studie von Von Schreeb et al. gezeigt werden, dass diese Krankenhäu- ser erst binnen 3–8 Tagen einsatzbereit waren. Keines der 43 analysierten Krankenhäuser erfüllte die WHO/PAHO- Kriterien zur notfallmäßigen Traumaversorgung [20]. Eine Analyse des Tsunami im Dezember 2004, der insge- samt 14 Länder in Asien getroffen hatte, sowie der Erdbe- ben 2003 in Bram, Iran, und 2005 in Kashmir, Pakistan, wurde von de Ville de Goyet vorgelegt und liefert wich- tige Erkenntnisse zur Lage der Krankenhäuser in diesen Krisengebieten. So folgerten die Autoren, dass strukturel- le Sicherheit ein wesentlicher Faktor für die Auswirkungen eines Erdbebens ist. Bei dem Erdbeben in Bram wurde die Infrastruktur der Gesundheitsversorgung fast vollständig zerstört, da sie der Gewalt der Erschütterungen nicht standhielt [21]. Gleichzeitig war es eine wesentliche Erkenntnis, dass die meisten der über 11 000 Schwerverletzten in den ersten 3 Tagen nach dem Beben durch das Militär ausgeflogen wurden. Die Feldkrankenhäuser, die im Rahmen der inter- nationalen Hilfe aufgebaut wurden, hatten mit der Versor- gung der Schwerverletzten nicht mehr viel zu tun, waren aber von entscheidender Bedeutung bei der allgemeinen Gesundheitsversorgung der Bevölkerung in den Wochen nach dem Erdbeben [21]. 496 Wurmb T et al. Sicherheit von Krankenhäusern ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 493–502 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Während der Tsunami 2004 verhältnismäßig wenig Scha- den an Gesundheitseinrichtungen verursachte, somit die regionale Versorgungsstruktur bestehen blieb und schlicht durch die Menge an Patienten überlastet war, kam es bei dem Erdbeben in Pakistan zu einer Zerstörung der ohne- hin schon sehr reduzierten medizinischen Infrastruktur, da das Erdbeben eine der ärmsten Regionen des Landes traf. Die medizinische Versorgung der Bevölkerung wurde in den darauffolgenden Monaten durch über 50 Hilfskran- kenhäuser übernommen. Dies führte zu einer substanziel- len Verbesserung, sogar im Vergleich zu dem Niveau vor der Katastrophe [21]. FAZIT Identifizierte Lektionen ▪ Die strukturelle Gebäudesicherheit ist ein we- sentlicher Faktor zur Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung in einem Katastrophen- gebiet. ▪ Die regionalen Behandlungskapazitäten sind die wichtigsten Faktoren für die Versorgung von Schwerverletzten. ▪ Hilfskrankenhäuser kommen für die Versorgung der Schwerverletzten zu spät, spielen aber eine wesentliche Rolle bei dem Aufbau einer medizi- nischen Basisversorgung in den Monaten nach einer Katastrophe. Eine andere Herausforderung entstand in New Orleans, USA, für die Krankenhäuser in der Folge des Hurrikans Katrina im Jahr 2005 [7]. An den Krankenhäusern selbst war durch den Sturm und die nachfolgende Überflutung der Stadt zwar selbst kein wesentlicher struktureller Scha- den entstanden. Durch die massiven Wassermengen wur- den jedoch einzelne Krankenhäuser zu Inseln, ohne Kon- takt zur Außenwelt. Ohne elektrische Energie, ohne eine ausreichende Wasserversorgung und ohne interne und externe Kommunikation waren die betroffenen Häuser von der Außenwelt abgeschnitten. Eine permanent etab- lierte Möglichkeit zur Evakuierung von Patienten und Per- sonal war nicht vorhanden [7]. Die Sturzflut 2021 in Deutschland verursachte ebenfalls massive Probleme für Krankenhäuser. Ein prominentes Beispiel ist die Überflutung der beiden Kellergeschosse des St.-Antonius Hospitals in Eschweiler und der damit verbundene Vollausfall des Krankenhauses, der eine voll- ständige Evakuierung notwendig machte [22]. Auch hier gab es einen vollständigen Ausfall der elektrischen Ener- gieversorgung und der IT. Allerdings konnte das Kranken- haus, im Gegensatz zu den Beispielen aus New Orleans, noch rechtzeitig evakuiert werden. FAZIT Identifizierte Lektionen ▪ Selbst bei erhaltener Gebäudestruktur kann es zu massiven Problemen für die Funktionalität von Krankenhäusern kommen. ▪ Durch fehlende Möglichkeiten zur Evakuierung können Krankenhäuser für einen längeren Zeit- raum auf sich selbst gestellt sein. ▪ Im Vordergrund stehen in solchen Situationen die fehlende Versorgung mit Strom, Wasser/ Abwasser, der Materialnachschub und die Ver- sorgung der Mitarbeiter. ▪ Die Kommunikation war zusammengebrochen und musste teils durch Läufer ersetzt werden (New Orleans). ▪ Die vorgeplanten Führungsstrukturen konnten nicht aufgebaut werden, da die Häuser von ex- tern nicht erreichbar waren (New Orleans). Es ist sicherlich eine große Herausforderung, für solche Schadensausmaße standardisierte Vorbereitungen zur Er- höhung der Sicherheit an Krankenhäuern zu treffen. Den- noch ist es von entscheidender Bedeutung, auch solche massiven Ausfälle in die Planungen mit einzubeziehen: ▪ Die Möglichkeit zur Kommunikation in solchen Lagen muss vorgedacht und gesichert werden. Vorgefertigte Meldebogen für Läufer, im Vorfeld definierte Kontakt- punkte und die Vordefinition von Meldeköpfen können hier als Beispiele genannt werden [23]. ▪ Die Versorgung mit elektrischer Energie und Wasser/ Abwasser muss auch für extreme Belastungen gehär- tet werden. ▪ Evakuierungskapazitäten müssen im Vorfeld vorge- plant und bereitgestellt werden. Systematische Maßnahmen und Indikatoren für die Sicherheit an Krankenhäusern Im Hinblick auf Naturgefahren Besondere Risikoprofile haben Krankenhäuser, die sich in Risikogebieten, z. B. für Erdbeben, Erdrutsche, Über- schwemmungen, Wirbelstürme etc., befinden. Für diese Häuser sind Faktoren der strukturellen und nicht-struktu- rellen Sicherheit von herausragender Bedeutung, z. B.: ▪ einfache Oberfläche mit symmetrischen Elementen mit möglichst geringer Angriffsfläche für kinetische Belastungen (z. B. Sturm) ▪ tragende Elemente auf große Belastungen durch Sturm und Erbeben ausgelegt ▪ sichere Deckenkonstruktionen ▪ kein Bau von Hochhäusern, v. a. in Erdbebengebieten ▪ Verwendung von feuerfesten Baustoffen ▪ Etablierung und Offenhalten sicherer Zugangswege zum Krankenhaus, für Personal, Rettungskräfte und Patienten Wurmb T et al. Sicherheit von Krankenhäusern ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 493–502 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 497
Fortbildung | Topthema ▪ Verwendung von wind- und feuerfesten Türen ▪ bauliche Einrichtung adäquater Fluchtwege Erhöhung der Sicherheit bei technologischen Risiken Wesentlich steht bei der Betrachtung der technologi- schen Risiken die Sicherung der Funktionalität im Vorder- grund. Die Aufrechterhaltung der elektrischen Energieversor- gung ist dabei ein wichtiger Faktor. Sie kann durch folgen- de Maßnahmen abgesichert werden: ▪ Vorhandensein von Notstromaggregaten mit ausrei- chender Kapazität, um einen Notbetrieb am Kranken- haus zu sichern ▪ Lokalisation der Notstromaggregate in einer gegen Naturgefahren gesicherten Umgebung ▪ Bevorratung von ausreichend Treibstoff zum Betrieb der Notstromaggregate ▪ Nachschubsicherung von Treibstoff Ein weiterer entscheidender Faktor ist die Aufrechterhal- tung der Kommunikation. Die zunehmende Digitalisie- rung der Kommunikation stellt hier bei der Absicherung der Systeme und der Bereitstellung von Redundanzen eine besondere Herausforderung dar. Die folgenden Maß- nahmen können dazu beitragen, Kommunikation abzu- sichern: ▪ Aufrechterhaltung analoger Kommunikationswerk- zeuge ▪ Bereitstellung redundanter Systeme, z. B. lokaler Funk (batteriebetrieben) oder Satellitentelefone ▪ Vorbereitung eines Totalausfalls an technischen Kom- munikationsmöglichkeiten ▪ Planung des Einsatzes von Läufern ▪ Vorhalten standardisierter Meldezettel ▪ Definition und Festlegung von 24/7 besetzten Kon- taktpunkten Die Wasserversorgung eines Krankenhauses ist ein hoch- kritisches Thema. Ohne Wasser ist die Aufrechterhaltung der Funktionalität schneller gefährdet als bei einem Aus- fall der elektrischen Energieversorgung. Daher sind die folgenden Maßnahmen von besonderer Bedeutung: ▪ Vorhandensein unterschiedlicher Quellen zur Wasser- versorgung ▪ technische Möglichkeit zur externen Einspeisung von Wasser einschließlich der Planung, wie dies konkret er- folgen soll ▪ gehärtete Versorgungssysteme mit Zisternen und Zu- leitungen in einer insbesondere vor Naturgefahren und Sabotage gesicherten Umgebung Zuletzt in dieser keinesfalls vollständigen Aufzählung sei noch die Versorgung mit medizinischen Gasen genannt: ▪ sichere Versorgungsleitungen (z. B. feuer- und wasser- sicher) ▪ ausreichende Vorräte ▪ Vorräte gesichert von Naturgefahren, Diebstahl und Sabotage ▪ Vorhaltung von Backupsystemen zur Bevorratung und Einspeisung Im Hinblick auf Gewalttaten wie Amok und Terrorismus Schon Anfang der 1970er-Jahre wurde eine Theorie von Oscar Newman zum Einfluss der Raum- und Gebäude- gestaltung auf die Prävention und Bewältigung von Ge- waltverbrechen veröffentlicht [24]. DEFINITION Theorie des „Defensible Space“ Diese Theorie besagt, dass das physische Design von Gebäuden und Plätzen so gestaltet werden kann, dass diese weniger vulnerabel für Verbrechen und Gewalttaten sind und mehr Möglichkeiten ge- schaffen werden, potenzielle Gewalttaten in ihren Auswirkungen abzumildern und sogar eine bessere Bekämpfung zu erzielen [25]. Diese Theorie hat nach wie vor Bestand und lässt sich auch auf Krankenhausbauten übertragen. In einem Artikel aus dem Jahr 2021 beschreibt Daniel, wie bauliche und organisatorische Elemente die Sicherheit an Krankenhäu- sern und den Schutz vor Gewalttaten erhöhen können [26]; der Autor nennt 8 Säulen, die hierzu beitragen kön- nen: ▪ Schaffung von Distanz, um Fluchtwege zu eröffnen, schnell zu Gebäudeausgängen zu gelangen, den Zu- gang zu Schutzräumen zu erleichtern und die Reak- tionszeit der Polizei zu verkürzen ▪ Einplanen von Winkeln in die Gebäudestruktur, um die Sichtlinien eines bewaffneten Angreifers zu begrenzen ▪ Schaffung von ausreichend Deckung und Sichtschutz ▪ Verwendung von durchschusshemmenden Konstruk- tionen ▪ Einsatz von mobilen Elementen zur schnellen Siche- rung einzelner Bereiche ▪ Implementierung von „Human-Centred-Design“- Konzepten ▪ Kombination von Training und Krisenarchitektur ▪ Einsatz von Überwachungstechniken Die Realität an deutschen Krankenhäusern sieht allerdings so aus, dass es keine verbindlichen Normen für die bauli- che Sicherheit, weder im Hinblick auf terroristische und Amoklagen noch mit dem Fokus Landes- und Bündnisver- teidigung, gibt. Normen gibt es für den vorbeugenden und abwehrenden Brandschutz, für Arbeitsschutz und Krankenhaushygiene [18, 27]. Auch wenn in Deutschland Krankenhäuser bisher vor sol- chen Lagen weitestgehend verschont blieben (s. o.) ist die 498 Wurmb T et al. Sicherheit von Krankenhäusern ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 493–502 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Vorbereitung auf solche Lagen zukünftig von hoher Wich- tigkeit [18, 28]. Die von Daniel aufgeführten Maßnahmen können aus Sicht der Autoren mit einem vertretbaren Aufwand realisiert werden und könnten als Grundlage für eine verbindliche Regelung für Krankenhausneubauten dienen. Weitere wichtige organisatorisch-funktionelle Elemente sind: ▪ Türknauf-Lösungen für dezidierte Funktionsräume und Dienstzimmer zur Abriegelung nach außen ▪ zentrale (automatisierte) Durchsagemöglichkeiten zur Warnung aller im Gebäude befindlichen Personen- gruppen ▪ klare Beschilderung und Wegeführung, v. a. zur Orien- tierung von polizeilichen Einsatzkräften ▪ Erstellung von Einsatzkonzepten samt Vorhalten aktu- eller Objektmappen für Polizeieinsätze Merke Ein wichtiger Grundsatz lautet: Je höher die täglich ge- lebte Basissicherheit, desto höher ist auch die Sicherheit bei außergewöhnlichen Lagen. Maßnahmen der Basissicherheit sind z. B.: ▪ geregelter Zugang zu den kritischen Bereichen (z. B. Intensivstationen, OP-Bereich, Zentrale Notaufnahme, Perinatalzentrum, Kreißsaal, Versorgung, Logistik und IT) ▪ Identifikations- und Berechtigungstools wie der Mit- arbeiterausweis/Keys ▪ verschließbare Zugangsbereiche, Bewegungsmelder mit dynamischer Beleuchtung der Eingänge Diese müssen in einem Krankenhausbetrieb verbindlich eingeführt sein. Ebenso wären durch die Implementie- rung z. B. von Videoüberwachung und die Alarmsicherung von Nebeneingängen noch weitere sicherheitssteigernde Vorteile zu erwarten. Hierbei gilt es aber, Aufwand und Nutzen sowie insbesondere auch die Folgeaufwände ab- zuwägen. Maßnahmen, die mit dem Klinikalltag und Mas- senverkehr von Personen in Gebäuden letztendlich nicht vereinbar sind, sollten vermieden werden. Für den Fall der Landes- und Bündnisverteidigung Die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung bei Landes- und Bündnisverteidigung ist eine Aufgabe der Daseinsvorsorge und wesentliche Säule der Resilienz einer Gesellschaft [18]. Diese Sicherstellung ist eine staatliche Aufgabe und ist eine der 7 Basisanforde- rungen der NATO, welche die alliierten Nationen für sich festgelegt haben [29]. Um in bewaffneten Konflikten die medizinische Versorgung möglichst lange aufrechterhal- ten zu können und dabei Patienten und Personal vor An- griffen zu schützen, sind besondere Maßnahmen und ent- sprechende Vorplanungen erforderlich. Das Bundeswehr- krankenhaus in Ulm, Deutschland, hatte beispielsweise zu den Zeiten des Kalten Krieges ein unterirdisches Ersatz- krankenhaus in betriebsbereitem Zustand verfügbar. Die Räumlichkeiten sind heute zwar noch vorhanden, aller- dings nicht mehr reaktivierbar. FALLBEISPIEL Ein aktuelles Beispiel bietet das Rambam Medical Center in Haifa/Israel. Ausgehend von den Erfah- rungen aus dem 2. Libanon-Krieg im Jahr 2006, wo das Krankenhaus von Raketeneinschlägen getroffen wurde, wurde ein unterirdisches Krankenhaus ein- gerichtet, das über 2000 Betten bereithält. Im All- tagsbetrieb wird dieses Krankenhaus als Parkhaus genutzt. Im Aktivierungsfall kann durch die bauli- chen Vorkonfigurationen und klar definierte organi- satorische Maßnahmen binnen 3 Tagen ein voll ein- satzbereites Krankenhaus eingerichtet werden [30]. Im Falle der Landes- und Bündnisverteidigung ist mit einer außergewöhnlichen Belastung des Gesundheitswesens zu rechnen, und die damit verbundenen Herausforderungen müssen im Vorfeld identifiziert und adressiert werden. Es ist von einer hohen Anzahl an Verwundeten, sowohl sei- tens der Streitkräfte als auch seitens der Zivilbevölkerung, auszugehen. Die öffentlich zugänglichen Schätzungen lie- gen bei 1000 Patienten pro Tag für die Bundesrepublik Deutschland [31]. Selbst wenn Deutschland nicht un- mittelbar Schauplatz von Kampfhandlungen sein sollte, als Aufmarschgebiet und Drehscheibe der NATO wird Deutschland möglicherweise dennoch gezielten Angriffen auf die kritische Infrastruktur ausgesetzt sein. Dazu zählen Cyberangriffe, Sabotage von Verkehrs- und Transport- wegen und intendierte Unterbrechung von Lieferketten. Krankenhäuser können von all diesen Lagen direkt betrof- fen sein. Folgende Aspekte müssen für die Planung berücksichtigt werden: ▪ robuste und redundante Anlage von Ver- und Entsor- gungswegen (Wasser, Dampf, elektrische Energie) ▪ Schutz kritischer Technikbereiche (Wärme, Luft, Ser- ver/IT) ▪ Vorhaltung von unterirdischen, beschusssicheren Be- handlungsräumen, die im Bedarfsfall kurzfristig akti- viert werden können; v. a. die kritischen, unbedingt zu schützenden akut- und intensivmedizinischen Kern- bereiche eines Krankenhauses müssen hier bedacht werden: – Notaufnahme – Operationssäle – Intensivstationen – Labore – Transfusionsmedizin ▪ Vorhalten zusätzlicher Anschlüsse für medizinische Gase in geschützten, unterirdischen Bereichen Wurmb T et al. Sicherheit von Krankenhäusern ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 493–502 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 499
Fortbildung | Topthema ▪ Einrichten von Dekontaminations- und Behandlungs- bereichen für kontaminierte Patienten (chemisch, bio- logisch, radionuklear); v. a. 2 Aspekten dienend: dem Schutz des Krankenhauses vor Kontamination und der Behandlung von betroffenen Patienten ▪ Bevorratung von Verbrauchsmaterialien und Arznei- mitteln Im Falle der Landesverteidigung und damit verbundenen Kampfhandlungen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland wird die Lage durch direkte Zerstörungen, unmittelbare Gefährdung der Bürger und vieler weiterer, kaum abschätzbarer Faktoren noch ungleich komplexer. Für die Planung und Vorbereitung sollte folgende ungüns- tige Konstellation berücksichtigt werden: erhöhtes Patien- tenaufkommen, Mangel an Material und Personal, Ausfall von IT, Stromausfall, Störung der Wasserversorgung und Zerstörung von kritischer Infrastruktur. Darauf müssen die Vorbereitungen ausgerichtet sein. Merke Das Ziel im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidi- gung ist die möglichst lange Aufrechterhaltung der Behandlungskapazität und Funktionalität von Kranken- häusern unter der Bedrohung von indirekten oder direkten Angriffen auf die kritische Infrastruktur. In Bezug auf bauliche Maßnahmen sind v. a. die Themen Behandlungsräume und die Versorgungssicherheit (z. B. elektrische Energie, Wasserver- und -entsorgung, Dampf, Medizinische Gase, IT) zur Aufrechterhaltung einer Basis- funktionalität zu bedenken. Diese Funktionalität ist eine unabdingbare Voraussetzung zum Erhalt der Behandlungs- kapazität. Fazit für die Praxis Krankenhäuser spielen eine herausragende Rolle im ge- sundheitlichen Bevölkerungsschutz. Die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung im Rahmen von Großscha- denslagen, Katastrophen, Krisen und Kriegen ist ein es- senzieller Baustein bei der Bewältigung solcher Lagen und bildet eine wichtige Säule zur Steigerung der Resilienz einer Gesellschaft. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, dürfen Krankenhäuser nicht nur als kritische In- frastruktur bezeichnet werden, sie müssen auch als solche behandelt und ausgestattet werden, um die Basis für ein robustes Gesundheitssystem zu bilden. Neben den essen- ziellen organisatorischen Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit an Krankenhäusern müssen strukturelle und nicht-strukturelle Komponenten verbindlich in die Pla- nung von Krankenhäusern einfließen. So wie über den Brandschutz und Hygiene keine Diskussionen im Rahmen der Neuplanung von Krankenhäusern geführt werden, sollte dies zukünftig auch für die in diesem Artikel auf- geführten Aspekte der Sicherheit gelten. KERNAUSSAGEN ▪ Die medizinische Versorgung der Bevölkerung in Katastrophen, Krisen und Kriegen ist von hoher Bedeutung für die Resilienz einer Gesellschaft. ▪ Krankenhäuser müssen robuste Systeme sein, um eine medizinische Versorgung unter extre- men Bedingungen sicherzustellen. ▪ Die Sicherheit an Krankenhäusern ist durch Na- turgefahren und menschengemachte Bedrohun- gen gefährdet. ▪ Die Sicherheit von Krankenhäusern lässt sich in strukturelle, nicht-strukturelle und organisatori- sche Sicherheit unterteilen. ▪ Im Hinblick auf eine Terror- oder Amoklage müssen spezielle Sicherheitsvorkehrungen ge- troffen werden. ▪ Im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidi- gung sind geschützte Behandlungsbereiche und eine gesicherte Versorgung der Krankenhäuser essenziell. ▪ Je höher die alltäglich gelebte Sicherheit an Krankenhäusern, desto besser sind die Voraus- setzungen, in einer Krise zu bestehen. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Autorinnen/Autoren Prof. Dr. med. Thomas Wurmb Seit 2015 Universitätsprofessor für Notfall- und Katastrophenmedizin und Leiter der gleichna- migen Sektion an der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedi- zin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würzburg. Stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Krankenhaus-Einsatzpla- nung (DAKEP) e. V. Chris Speicher Jahrgang 1995. 2014–2021 Medizinstudium an der Université du Luxembourg und der medizi- nischen Fakultät der Julius-Maximilians-Univer- sität Würzburg. Promotion 2025. Seit 2022 Weiterbildung an der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedi- zin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würzburg. 500 Wurmb T et al. Sicherheit von Krankenhäusern ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 493–502 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
PD Dr. med. Björn Hossfeld Oberstarzt. Klinischer Direktor der Klinik für Akut- und Notfallmedizin und stv. Leiter des Departments AINS am Bundeswehrkrankenhaus Ulm. Leitender Arzt der RTH Station CHRIS- TOPH 22. Notarzt auf dem RTH CHRISTOPH 22. Mehrfache Teilnahme an Auslandseinsätzen der Bundeswehr in Afghanistan, Kosovo, Kongo, Libanon, Niger und Mali. Vorstandsvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der in Bayern tätigen Notärzte e. V. (agbn). 2. Sprecher der AG „Taktische Medizin“ des Wissenschaftlichen AK Notfallmedizin der DGAI. Dr. med. Felix Kolibay Facharzt für Anästhesiologie mit Zusatzbezeich- nung Spezielle Anästhesiologische Intensiv- medizin. Verantwortlich für die Krankenhaus- alarm- und Einsatzplanung der Uniklinik Köln. Vorstandsmitglied der Deutschen Arbeitsge- meinschaft für Krankenhaus-Einsatzplanung (DAKEP) e. V. Prof. Dr. med. Patrick Meybohm Seit 2020 Direktor der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedi- zin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würzburg. Vorstandsmitglied Deutsche Sepsis- gesellschaft (DSG) und Network for the Ad- vancement of Patient Blood Management, Hae- mostasis and Thrombosis (NATA). Schwerpunkte: Intensivme- dizin, Patient Blood Management. PD Dr. med. Maximilian Kippnich Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Anäs- thesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Würz- burg. Zusatzbezeichnung Notfallmedizin, Inten- sivmedizin und Ärztliches Qualitätsmanagement. Notarzt auf dem RTH CHRISTOPH 18, Leitender Notarzt in Stadt und Landkreis Würzburg. Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Thomas Wurmb Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie, Sektion Notfall- und Ka- tastrophenmedizin Universitätsklinikum Würzburg Oberdürrbacher Str. 6 97080 Würzburg Deutschland Wurmb_T@ukw.de Literatur [1] Wurmb T, Rechenbach P, Scholtes K et al. Alarm- und Einsatz- planung an Krankenhäusern: Das konsequenzbasierte Modell. Med Klin Intensivmed Notfallmed 2017; 112: 618–621. DOI: 1 0.1007/s00063-016-0190-8 [2] Wurmb T, Hahn N, Leßnau P et al. COVID-19-Pandemie: Füh- rung in Krisensituationen mithilfe des Windmühlenmodells. Dtsch Arztebl Ausg A 2022; 119: A 64–68. Zugriff am 31. März 2025 unter: https://www.aerzteblatt.de/archiv/covid-19-pan- demie-fuehrung-in-krisensituationen-mithilfe-des-windmueh- lenmodells-df7b5188-b458-4d7a-9bb9-8918d4c48aa3 [3] Hick JL, Einav S, Hanfling D et al. Surge capacity principles: care of the critically ill and injured during pandemics and disasters: CHEST consensus statement. 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Notfallmedizin – leicht erlernen und richtig handeln Für den Ernstfall gerüstet Dieser Taschenatlas vermittelt allgemeines und spezifisches Notfallwissen. Er befähigt Rettungsdienst und Notfallmediziner, Ernstfälle zu erkennen und schnell richtig zu handeln. Durch den modularen Aufbau und die Gegenüberstellung von Text und Bild lassen sich die Themen rasch nachschlagen. Das gibt Sicherheit bei Notfallsituationen im präklinischen und klinischen Alltag. Diese überarbeitete 4. Auflage enthält 15 neue Bildtafeln, neue Algorithmen und Checklisten u.a. zu den Themen: Wirbelsäulentrauma, Diagnostik von septischen Schockzuständen und Neugeborenenversorgung. Buch plus Online-Version in der eRef ISBN 978 3 13 243261 1 72,00 € [D] shop.thieme.de n e d n e l l i a f n a e d n e d r e w 9 9 4 3 A R H , t r a g t t u t S r e t s i g e r s l e d n a H d n u - z t i S , G K g a l r e V e m e h T g r o e G i . t e n h c e r e b r e t i e w n e t s o k d n a s r e V ] D l [ b a h r e ß u a n e g n u r e f e i L i e B . n e t l a h e b r o v r e m ü t r r I d n u n e g n u r e d n ä s i e r P
Fortbildung Schmerztherapie bei Phantomschmerz Moritz Erk, Christian Volberg, Christine Gaik Phantomschmerzen betreffen einen Großteil der amputierten Patienten und stellen eine komplexe interdisziplinäre Herausforderung dar. Dieser Beitrag bietet einen strukturierten Überblick zu Pathophysiologie, Risikofaktoren und differenzialdiagnos- tischen Aspekten. Im Fokus stehen präventive und therapeutische Maßnahmen – von regionalanästhesiologischen Verfahren über medikamentöse Strategien bis hin zu psychologischen und physikalischen Ansätzen. Definition Ursachen Der Phantomschmerz ist ein Deafferenzierungsschmerz nach peripheren Nervenläsionen, der trotz Ausfall sensib- ler Afferenzen im zugehörigen Innervationsgebiet wahr- genommen bzw. in das nicht mehr vorhandene Körperteil projiziert wird [1, 2]. Phantomschmerzen weisen häufig Merkmale eines chronischen, schwer behandelbaren neu- ropathischen Schmerzsyndroms auf. FALLBEISPIEL Phantomschmerz nach Oberschenkelamputation – Teil 1 Einem 74-jährigen Patienten wurde vor einigen Ta- gen aufgrund einer fortgeschrittenen peripheren arteriellen Verschlusskrankheit der rechte Ober- schenkel oberhalb des Kniegelenks amputiert. Zu den Vorerkrankungen des Patienten zählen eine ar- terielle Hypertonie, ein fortgeführter Nikotinabusus und eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD). Nach einem bisher unauffälligen postoperativen Verlauf zeigen sich auch beim Verbandwechsel kei- ne Zeichen einer Wundheilungsstörung im Bereich des Amputationsstumpfes. Der Patient berichtet jedoch über spontan einschießende Schmerzen in das rechte Bein. Er wisse zwar, dass das Bein „nicht mehr da sei“, dennoch spüre er dort immer wieder ein „Brennen“ auf der Haut und ein Gefühl ähnlich „Muskelkrämpfen“ und „kleinen Elektroschocks“. Diese Schmerzen würden jeweils für Minuten, manchmal aber auch über Stunden anhalten. Au- ßerdem fühle sich das rechte Bein „verkürzt“ an – als befinde sich der Fuß „direkt am Oberschenkel“. Die genaue Ätiologie von Phantomschmerzen ist noch nicht vollständig geklärt. Es wird jedoch vermutet, dass eine Nervenverletzung über periphere und zentrale Me- chanismen eine Sensibilisierung sowie Veränderungen im somatosensorischen Kortex hervorruft. Diese kortikale Reorganisation kann zu fehlerhaften Signalübertragungen führen, bei denen das Gehirn Schmerzempfindungen er- zeugt, obwohl das betroffene Körperteil nicht mehr exis- tiert [3, 4, 5]. Zudem wird angenommen, dass eine verän- derte thalamische Verarbeitung von Sinneseindrücken die Entstehung von Phantomschmerzen begünstigen kann. Durch die zentrale Sensibilisierung kann das Nervensys- tem auf langanhaltende Schmerzeinwirkungen überemp- findlich reagieren, sodass Schmerzen auch ohne äußere Stimuli wahrgenommen werden [4]. Merke Neben neurophysiologischen Prozessen tragen im Sinne des biopsychosozialen Modells der Schmerzentstehung auch Persönlichkeitsmerkmale, Coping-Strategien und das soziale Umfeld maßgeblich zur Manifestation des Phantomschmerzes bei [6, 7]. Auftreten, Verlauf und Einflussfaktoren Inzidenz und zeitlicher Verlauf Die Inzidenz von Phantomschmerzen nach Amputationen zeigt eine große Variabilität. Innerhalb des ersten post- operativen Jahres sind bis zu 82 % der Patienten betroffen, und die Lebenszeitprävalenz liegt bei bis zu 87 % [8]. Phantomschmerzen und -sensationen werden nach Am- putationen der oberen Extremität häufiger berichtet als nach Amputationen der unteren Extremität [3]. Etwa 10 % der Betroffenen leiden auch 6 Monate nach dem Eingriff 504 Gaik C et al. Schmerztherapie bei Phantomschmerz ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 504–510 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
a b ▶ Abb. 1 Schematische Darstellung des Teleskopeffekts als Form der Phantomsensation nach Amputation. a Beispiel für den Tele- skopeffekt: Die Phantomhand wird subjektiv als „verkürzt“ und näher am Stumpf wahrgenommen, obwohl sie anatomisch nicht mehr vorhanden ist. b In einigen Fällen zeigt sich der Teleskopeffekt dadurch, dass sich die Phantomwahrnehmung der amputierten Gliedmaße schrittweise in Richtung des Stumpfes verlagert, bis sie – wie in dieser Abbildung dargestellt – vollständig im Bereich des Stumpfes lokalisiert wird. noch unter starken Schmerzen, die mit einer deutlichen Beeinträchtigung der Lebensqualität einhergehen [2, 7]. Symptomatik Risikofaktoren Bestimmte chirurgische Eingriffe sind mit einer erhöhten Inzidenz von Phantomschmerzen assoziiert. Insbesondere bei großflächigen Amputationen, wie z. B. einer Ober- schenkelamputation, ist die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Phantomschmerzen deutlich erhöht [7]. Merke Je proximaler amputiert wird, desto häufiger treten Phantomschmerzen auf [9]. In diesem Zusammenhang ist auch das sogenannte Post- Mastektomie-Schmerzsyndrom erwähnenswert: Hierbei treten Schmerzen nach einer Mastektomie im Bereich der Brust oder Brustwand auf, die häufig als Phantomschmer- zen beschrieben werden [10]. Eine hohe Prävalenz für Phantomschmerzen nach Ampu- tationen wird zudem im Kindesalter beobachtet, insbe- sondere in Zusammenhang mit tumorbedingten Eingrif- fen. Eine Besonderheit in dieser Altersgruppe besteht je- doch darin, dass die Phantomschmerzen in der Regel auf das erste Jahr nach der Amputation begrenzt bleiben [11]. Phantomschmerzen gelten als neuropathische Schmerz- form und können in unterschiedlicher Ausprägung (z. B. einschießend, elektrisierend, brennend) und Intensität auftreten. Typisch für Phantomschmerzen ist ein intermit- tierender Schmerzcharakter. Während die Intensität der Schmerzen über die Zeit hinweg häufig konstant bleibt, nehmen Häufigkeit und Dauer der Schmerzattacken in der Regel signifikant ab [2, 5, 12]. Neben Phantomschmerzen können auch Phantomsensa- tionen auftreten. Diese äußern sich als nicht schmerzhaf- te sensorische Empfindung im amputierten Gliedsegment – etwa in Form von Bewegungen, Temperaturwahrneh- mung, Berührung, Druck oder Jucken [3, 13]. Im Laufe der Zeit können diese Empfindungen schwächer werden oder ganz verschwinden. Bei manchen Patienten tritt zudem der sogenannte Te- leskop-Effekt auf: Hierbei scheint der entfernte Teil des Phantomglieds zunehmend näher an den Stumpf zu „rücken“, bis er schließlich vollständig im Bereich des Stumpfes wahrgenommen wird (▶ Abb. 1) [2]. Diagnostik Im Rahmen einer klinisch-neurologischen Untersuchung sind neben der offenkundigen Nervenläsion infolge der Amputation weitere potenzielle Schmerzursachen, z. B. Gaik C et al. Schmerztherapie bei Phantomschmerz ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 504–510 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 505
Fortbildung entzündliche Prozesse, zu klären [14]. Als Differenzialdiag- nose sollte bei Phantomschmerzen neben stumpfnahen bzw. nervalen Ursachen auch an eine Bandscheibenpro- trusion oder -herniation gedacht werden, da diese radiku- läre, einschießende oder brennende Schmerzen verursa- chen kann. Merke Insbesondere bei Neuauftreten oder Verschlechterung der Phantomschmerzen ist eine bildgebende Abklärung (z. B. MRT oder Myelografie) empfehlenswert, um exter- ne Schmerzursachen auszuschließen [15]. Zur strukturierten Erfassung des Schmerzcharakters sind eine präzise Dokumentation und Bewertung von Schmer- zart, Häufigkeit und Intensität essenziell. Hierfür eignen sich standardisierte Instrumente wie Schmerzfragebögen oder Schmerztagebücher [16]. Da Phantomschmerzen häufig durch psychische Faktoren wie traumatische Erfah- rungen oder Stress beeinflusst werden, kann eine ergän- zende psychologische Untersuchung sinnvoll sein, um mögliche emotionale oder psychologische Einflüsse ange- messen zu berücksichtigen [17]. Präventive Maßnahmen Regionalanästhesie Im Rahmen einer geplanten Amputation zielt die prophy- laktische Schmerztherapie darauf ab, die Entstehung von Phantomschmerzen gezielt zu verhindern oder deren In- tensität zumindest zu verringern. In mehreren Studien wurden unterschiedliche Formen der Nervenblockade un- tersucht. Bisherige Daten legen nahe, dass eine kontinu- ierliche prä- und intraoperative Nervenblockade nicht nur zur postoperativen Schmerzreduktion nach Amputatio- nen beitragen kann, sondern auch einen signifikanten präventiven Effekt auf die Entstehung von Phantom- schmerzen hat [2, 18, 19, 20]. Bei Amputationen der unteren Extremität können sowohl periphere Nervenblockaden als auch eine Periduralanäs- thesie zur prophylaktischen Schmerztherapie eingesetzt werden. So konnten Ilfeld et al. (2021) in einer rando- misierten, kontrollierten Studie zeigen, dass eine konti- nuierliche periphere Nervenblockade über mehrere Tage postoperativ zu einer signifikanten Reduktion der Phan- tomschmerzintensität führen kann [18]. Können diese Verfahren nicht bereits präoperativ etabliert werden, kann intraoperativ ein nervennaher Katheter durch das chirurgische Team eingelegt werden, um eine suffiziente postoperative Schmerztherapie sicherzustellen [21]. Operative Techniken Neben regionalanästhesiologischen Verfahren stellen auch chirurgische Techniken einen wichtigen Bestandteil der Prophylaxe von Phantomschmerzen dar. Eine adäquate chirurgische Muskel- und Hautabdeckung des Amputa- tionsstumpfes ist dabei entscheidend, sowohl zur Reduk- tion von Phantomschmerzen als auch zur funktionellen Vorbereitung des Stumpfes auf eine spätere Prothesen- versorgung [22]. Das primäre Ziel der Muskelabdeckung besteht darin, frei- liegende Nervenenden zu vermeiden. Durch die Schaffung einer schützenden Weichteilpufferzone können mechani- sche Reizwirkungen minimiert und das Risiko postoperati- ver Nervenirritationen reduziert werden. Eine sorgfältige Hautabdeckung wiederum fördert die Infektionsprophyla- xe, verbessert das kosmetische Ergebnis und ermöglicht eine bessere spätere Prothesenanpassung [23, 24, 25]. Merke Chirurgische Techniken zur adäquaten Weichteilab- deckung spielen ebenfalls eine zentrale Rolle für die Prä- vention postoperativer Komplikationen, einschließlich Phantomschmerzen. Darüber hinaus kann eine gezielte Re-Innervation der Muskulatur Stumpfschmerzen lindern und reduzieren. Da- bei entstehen nach einer Amputation neue Nervenverbin- dungen innerhalb des Stumpfes, was eine verbesserte Reizverarbeitung und Schmerzmodulation begünstigen kann [24, 26, 27]. Therapieoptionen Medikamentöse Therapie Die konsequente postoperative Fortführung einer bereits prä- oder intraoperativ initiierten Nervenblockade kann eine effektive Strategie zur Reduktion von Phantom- schmerzen darstellen. Studien zeigen, dass eine mehrtägi- ge, kontinuierliche Nervenblockade das Risiko für die Ent- wicklung von Phantomschmerzen reduzieren kann [18, 19, 20]. Zur Prävention akuter Schmerzen sowie zur Vermeidung von Phantomschmerzen kann perioperativ eine intrave- nöse Ketamingabe über bis zu 3 Tage erfolgen [21]. Auch Morphin zeigt in der Akutschmerztherapie eine nach- gewiesene Wirksamkeit. Es kann entweder in Form von retardiertem Morphinsulfat über 2 Wochen titriert oder, wenn eine Anlage von Schmerzkathetern nicht indiziert oder durchführbar ist, perioperativ kontinuierlich intrave- nös verabreicht werden [28, 29, 30, 31]. Verwandte Me- dikamente wie Tramadol, Codein und Memantin zeigen hingegen nur eine schwache, teils einer Placebogruppe gleichgestellte Wirkung [32, 33, 34, 35]. 506 Gaik C et al. Schmerztherapie bei Phantomschmerz ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 504–510 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
FALLBEISPIEL Phantomschmerz nach Oberschenkelamputation – Teil 2 Der Patient hatte im Rahmen der Oberschenkelam- putation keine prophylaktische Schmerztherapie erhalten. Die präoperative Anlage eines Epidural- katheters oder eines peripheren Schmerzkatheters (z. B. N. femoralis) mit kontinuierlicher Gabe eines Lokalanästhetikums wie Ropivacain, beginnend 24 Stunden präoperativ, hätte hierbei potenziell einen präventiven Effekt auf die Ausbildung der Phantomschmerzen haben können. Im Rahmen der Allgemeinanästhesie wäre eine zusätzliche Gabe von Ketamin möglich gewesen, welches über einen Zeitraum von mindestens 48 Stunden postoperativ hätte fortgeführt werden können. Antikonvulsiva wie Pregabalin haben in einem Fallbericht eine potenziell signifikante Wirkung in der Therapie von Phantomschmerzen gezeigt. Der Wirkmechanismus be- ruht auf einer Reduktion der neuronalen Erregbarkeit sowie einer Hemmung die Erregungsausbreitung im zen- tralen Nervensystem, wodurch eine Schmerzlinderung möglich wird [36]. Eine Therapie über mindestens 12 Wo- chen hinweg ist hier empfehlenswert [37]. Weitere therapeutische Möglichkeiten umfassen intra- dermale Injektionen von Botulinumtoxin Typ A (BTX-A) und die topische Anwendung von 5 %igem Lidocaingel. Zu berücksichtigen ist, dass die Wirksamkeit von BTX-A auf 2–14 Wochen nach Injektion und bei Lidocain auf 24 Stunden nach der Anwendung beschränkt ist [38, 39]. FALLBEISPIEL Phantomschmerz nach Oberschenkelamputation – Teil 3 Da der Patient des Fallbeispiels intraoperativ keine prophylaktische Schmerztherapie erhalten hat, empfiehlt es sich, die Phantomschmerzen postope- rativ mit einer Kombinationstherapie zu behandeln. Hierzu können ein Opioidanalgetikum (z.B. retar- diertes Morphinsulfat) und Pregabalin genutzt wer- den. Eine Basismedikation mit Metamizol oder einem nichtsteroidalen Antirheumatikum (NSAR) nach festem Schema ergänzt die medikamentöse Behandlung. Im Falle von pharmakologisch unzureichend kon- trollierbaren Phantomschmerzen kann ergänzend eine intradermale Injektion von Botulinumtoxin oder die transdermale Anwendung von Lidocain versucht werden. Darüber hinaus ist es empfehlenswert, die Therapie durch nichtmedikamentöse Maßnahmen, wie eine ▶ Abb. 2 Anwendung der Spiegeltherapie zur Behandlung von Phantomschmerzen der oberen Extremität: Dem Ge- hirn wird durch das Spiegelbild der gesunden Hand vor- getäuscht, dass beide Hände noch vorhanden sind. Diese Illusion kann in Kombination mit taktiler Stimulation – wie hier mit einem Igelball – zur Linderung von Phantom- schmerzen beitragen. Spiegeltherapie sowie TENS in der ergo- und phy- siotherapeutischen Behandlung, zu ergänzen. Eine begleitende psychotherapeutische Gesprächsthera- pie kann helfen, psychische Einflussfaktoren gezielt zu erfassen und zu adressieren. Für die Gabe von Gabapentin gibt es in der aktuellen Leit- linie keine Empfehlung, mit Ausnahme der Anwendung im Kindesalter, bei der vorteilhafte Effekte berichtet wer- den [21]. Trizyklische Antidepressiva (z. B. Amitriptylin) sowie Calcitonin zeigten bisher ebenfalls keine signifikan- te Schmerzreduktion in der Behandlung von Phantom- schmerzen [31, 40, 41]. Duloxetin ist ein selektiver Sero- tonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI) und hat eine moderate Schmerzlinderung, allerdings ohne nachgewiesene Langzeitwirkung [42]. Nichtmedikamentöse Therapieoptionen Neben pharmakologischen Behandlungsformen existieren auch konservative Therapieansätze. Einen zentralen Stel- lenwert nimmt dabei die Spiegeltherapie ein: Durch die visuelle Rückmeldung des Spiegelbilds der intakten Extre- mität (▶ Abb. 2, ▶ Abb. 3) entsteht im Gehirn die Illusion, beide Gliedmaßen seien noch vorhanden. Diese sensori- sche Täuschung kann eine Reorganisation zentraler neu- ronaler Netzwerke fördern und mit einer signifikanten Schmerzreduktion einhergehen [12, 43]. Auch andere nichtinvasive Verfahren wie die elektrische Nervenstimulation (z. B. TENS) sowie das Vibrationstrai- ning können bei mehrfacher Anwendung zu einer Reduk- tion der Schmerzintensität beitragen [44, 45, 46, 47]. Für Gaik C et al. Schmerztherapie bei Phantomschmerz ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 504–510 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 507
Fortbildung medizin, Anästhesie, Physiotherapie, Psychologie und Er- gotherapie ist entscheidend für den langfristigen Thera- pieerfolg [54]. Während Schmerzmedizin und Anästhesie primär für eine differenzierte Pharmakotherapie und ggf. interventionelle Verfahren (z. B. periphere Nervenblockaden, Spinalmodu- lation) zuständig sind, zielen ergo- und physiotherapeuti- sche Maßnahmen auf die Wiederherstellung der senso- motorischen Kontrolle und Integration der Prothesen ab. Psychologische Interventionen unterstützen bei der Ver- arbeitung traumatischer Erlebnisse und fördern die Schmerzbewältigung. Merke Interdisziplinäre Behandlungsprogramme, die pharma- kologische Maßnahmen, Physiotherapie sowie verhal- tenspsychologische Ansätze kombinieren, können zu einer signifikanten Reduktion der Phantomschmerz- intensität und einer spürbaren Verbesserung der Le- bensqualität führen [54]. KERNAUSSAGEN ▪ Phantomschmerz entsteht durch periphere und zentrale Mechanismen sowie psychologische Einflussfaktoren. ▪ Die Inzidenz von Phantomschmerzen liegt bei über 80 % – besonders häufig nach großen und proximalen Amputationen (z. B. Oberschenkel- amputation). ▪ Typisch sind einschießende, brennende Schmer- zen, die von Phantomsensationen begleitet sein können. ▪ Die medikamentöse Behandlung sollte im Rah- men eines multimodalen Ansatzes durch Physio- therapie, Ergotherapie und psychotherapeuti- sche Angebote ergänzt werden. ▪ Perioperative kontinuierliche Nervenblockaden und eine adäquate chirurgische Weichteil- deckung des Amputationsstumpfes können Phantomschmerzen vorbeugen. Danksagung Herzlichen Dank an Carolin Schmack (Ergotherapie, Universi- tätsklinikum Marburg) für die freundliche Hilfe bei der Erstel- lung von Abb. 2 und 3. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. ▶ Abb. 3 Spiegeltherapie bei Phantomschmerzen der unteren Extremität im Rahmen der spezialisierten Ergo- therapie. Durch die gezielte visuelle Rückmeldung des erhaltenen Beines kann eine Reorganisation im zentralen Nervensystem angestoßen und die Intensität der Phan- tomschmerzen reduziert werden. Therapieansätze wie die Infrarot-, Photobiomodulations- oder auch die Thermotherapie konnte in Studien bisher hingegen keine signifikante Schmerzreduktion nachge- wiesen werden [48, 49]. Psychologische Behandlungsoptionen Psychologische Interventionen können bei der Behand- lung von Phantomschmerzen, insbesondere bei Betroffe- nen mit traumatischen Vorerfahrungen, eine unterstüt- zende Rolle einnehmen. Eine zentrale Methode ist die Traumatherapie, die sich in Bezug auf eine Reduktion von Phantomschmerzen als wirksam erwiesen hat [50]. Im Vordergrund steht dabei die Verarbeitung des Amputa- tionstraumas, da eine Assoziation zwischen posttrauma- tischer Belastungsstörung (PTBS) und der Entwicklung chronischer Schmerzen besteht [51]. Emotional‑kognitive Faktoren wie Stress, Katastrophisierung und Körperwahr- nehmung modulieren Phantomschmerzen und werden in aktuellen Übersichtsarbeiten als therapeutische Ansatz- punkte benannt [50]. Kognitive Verhaltenstherapien konn- ten bisher hingegen keine belastbaren Ergebnisse in der Therapie von Phantomschmerzen zeigen [52, 53]. Merke Die Therapieplanung sollte stets unter Berücksichtigung der individuellen Anamnese sowie der bestehenden Vormedikation des Patienten erfolgen. Eine Kombination aus medikamentöser Behandlung und konservativen Methoden bildet die Grundlage für eine effektive Behandlung von Phantomschmerzen. Dabei kommt einem multidisziplinären Therapieansatz eine zen- trale Rolle zu. Die enge Kooperation zwischen Schmerz- 508 Gaik C et al. Schmerztherapie bei Phantomschmerz ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 504–510 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
Autorinnen/Autoren Moritz Erk Medizinstudent an der Philipps-Universität Mar- burg, Masterand im Studiengang Interprofessio- nelles Management in der Gesundheitsversor- gung an der Hochschule Fulda sowie Promo- tionsstudent an der Technischen Universität München, Klinikum rechts der Isar. Zudem stu- dentischer Mitarbeiter der Klinik für Anästhesie und Intensiv- therapie am Universitätsklinikum Marburg. PD Dr. med. Christian Volberg, M.A. Palliative Care Facharzt für Anästhesiologie und Intensivthera- pie. Oberarzt der Palliativstation am Universi- tätsklinikum Marburg. Mitglied des klinischen Ethikkomitees. Mitglied der DGP und der DGAI. Dr. med. Christine Gaik, , DESAIC, FESAIC Dr. med., Fachärztin für Anästhesiologie, Funk- tionsoberärztin in der Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie am Universitätsklinikum Gie- ßen und Marburg, Standort Marburg. Zusatz- bezeichnungen Intensivmedizin, Notfallmedizin und Palliativmedizin. Korrespondenzadresse Dr. med. Christine Gaik Universitätsklinikum Marburg, Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie Baldingerstraße 35033 Marburg Deutschland gaikc@med.uni-marburg.de Literatur [1] Elahi F, Ho KWD. Anesthesia Dolorosa of Trigeminal Nerve, a Rare Complication of Acoustic Neuroma Surgery. Case Rep Neurol Med 2014; 2014: 496794. DOI: 10.1155/2014/496794 [2] Nikolajsen L, Jensen TS. Phantom limb pain. Br J Anaesth 2001; 87: 107–116. DOI: 10.1093/bja/87.1.107 [3] [4] [5] Poor Zamany Nejatkermany M, Modirian E, Soroush M et al. Phantom Limb Sensation (PLS) and Phantom Limb Pain (PLP) among Young Landmine Amputees. Iran J Child Neurol 2016; 10: 42–47 Flor H, Elbert T, Knecht S et al. Phantom-limb pain as a percep- tual correlate of cortical reorganization following arm amputa- tion. Nature 1995; 375: 482–484. DOI: 10.1038/375482a0 Flor H, Andoh J. Ursache der Phantomschmerzen: Eine dyna- mische Netzwerkperspektive. E-Neuroforum 2017; 23: 149– 156. DOI: 10.1515/nf-2017-0018 [6] Diers M, Flor H. 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Mythen & Fakten Dexamethason – Risikofaktor für Wundheilungsstörung und Hyperglykämie? Die aktuelle Konsensus-Leitlinie zum Ma- nagement postoperativer Übelkeit und Er- brechen (PONV) empfiehlt einen freizügi- gen Einsatz antiemetischer Kombinations- therapien. Insbesondere Dexamethason erscheint hierzu geeignet; im klinischen Alltag wird es bei Patienten mit Diabetes mellitus jedoch nur zurückhaltend einge- setzt, da Hyperglykämien und Wundhei- lungsstörungen befürchtet werden. In diesem Beitrag werden diesbezügliche Studienergebnisse näher beleuchtet. FALLBEISPIEL Eine 57-jährige Patientin mit einer bekannten arteriellen Hypertonie und einem insulinpflichtigen Diabe- tes mellitus stellt sich zur abdomi- nellen Hysterektomie vor. Der prä- operative Blutzucker wird auf der Station mit 145 mg/dl gemessen. Die anästhesiologische Assistenzärz- tin schlägt dem supervidierenden Oberarzt bei positiver PONV-Anam- nese die Einmalgabe von 8 mg Dexa- methason vor. Dieser weist die Wei- terbildungsteilnehmerin darauf hin, dass eine solche Maßnahme bei die- ser Patientin aus mehreren Gründen kontraindiziert sei: Das Risiko einer Wundheilungsstörung werde auf- grund des insulinpflichtigen Diabe- tes um ein Vielfaches erhöht, wei- terhin sei das Auftreten einer Blut- zuckerentgleisung wahrscheinlich. Nach einem komplikationslosen in- traoperativen Verlauf verzögert sich die Rückverlegung der Patientin auf die Station deutlich. Aufgrund einer schweren PONV-Symptomatik kann sie erst nach etwa 3 Stunden den Aufwachraum verlassen. War die Ent- scheidung des Oberarztes im Einklang mit dem aktuellen Wissensstand? Eine intraoperative Einmalgabe von Dexa- methason geht mit zahlreichen Vorteilen wie verringertem postoperativem Schmerz- mittelbedarf, besserer Erholungsqualität, weniger respiratorischen Komplikationen und kürzerer Krankenhausverweildauer ein- her [1]. Im perioperativen Kontext stellt bisher allerdings die effektive Reduktion von postoperativer Übelkeit und Erbrechen (PONV) die Hauptindikation der Anwen- dung von Dexamethason dar. Die 2020 veröffentlichte, 4. europäische Konsensus-Leitlinie zum Management von postoperativer Übelkeit und Erbrechen empfiehlt vor dem Hintergrund generell niedriger Raten unerwünschter Arzneimit- teleffekte einen freizügigen Einsatz von antiemetischen Kombinationstherapien. So sollten Erwachsene – unabhängig vom Ri- sikoprofil – mindestens eine Basistherapie mit 2 antiemetischen Maßnahmen erhal- ten. Insbesondere Dexamethason erscheint hier auf Basis langjähriger Anwendungser- fahrungen und einer extensiven Datenlage als Kombinationspartner geeignet [1]. Im klinischen Alltag erfolgt sein Einsatz bei ver- meintlichen Risikokollektiven jedoch häufig zurückhaltend [2]. HINTERGRUNDWISSEN Wirkweise von Dexamethason Dexamethason (9-Fluor-16α-Methyl- prednisolon) ist ein langwirksames, halogeniertes Glukokortikoid ohne mineralokortikoide Funktion, wel- ches die Potenz der Referenzsub- stanz Kortisol mindestens um den Faktor 25 überschreitet. Es besitzt zahlreiche immunmodulatorische Eigenschaften. Neben schnell ein- setzenden, nichtgenomischen Wirk- effekten über unspezifische Mem- braninteraktionen werden mit einer Latenz durch veränderte Gentran- skription eine gesteigerte Expression von regulatorischen antiinflammato- rischen Proteinen und eine reduzier- te Freisetzung von proinflammatori- schen Mediatoren vermittelt [3]. Aufgrund seiner substanzspezifisch langen Halbwertszeit von bis zu 72 Stunden kann Dexamethason so auch nach Einzelgabe einer überschießenden Immunantwort in der postoperativen Periode entgegenwir- ken [4]. Interaktionen mit der spinalen Ver- arbeitung nozizeptiver Signale und eine verringerte Freisetzung von Mediatoren wie Bradykinin, Substanz P und CGRP (Cal- citonin Gene-Related Peptide) bringen wahrscheinlich die zusätzlich beschriebe- nen koanalgetischen Effekte mit sich [4]. Darüber hinaus bewirkt Dexamethason eine vorübergehende Insulinresistenz bis hin zur Hyperglykämie durch eine Hem- mung der zellulären Glukoseaufnahme und eine reduzierte Glukoseoxidation [5]. Des- wegen ist eine Sorge vor Hyperglykämien, Wundheilungsstörungen und Anastomo- seninsuffizienz bei Patienten mit Diabetes mellitus und/oder Wiederholungseingriffen weit verbreitet. In einer australischen Ko- hortenstudie gaben 80 % der Anästhe- sist*innen Sicherheitsbedenken im Zusam- menhang mit Dexamethason an [2]. Merke Die große Mehrheit der Anästhesisten hat Sicherheitsbedenken im Zusammen- hang mit der Gabe von Dexamethason. Tatsächlich zeigen aktuelle Daten jedoch, dass diese Sorge unbegründet und ein großzügiger Verzicht nicht zu rechtferti- gen ist. So konnte bereits eine Cochrane- Analyse aus dem Jahr 2018 nach Auswer- tung von 37 Studien keinen Zusammen- hang mit postoperativen Infektionen fest- stellen (OR 1,01; 95 %-KI 0,80–1,27) [6]. 2021 wurden die Ergebnisse des PADDI- Trials veröffentlicht, der bislang größten und qualitativ hochwertigsten Studie zu dieser Thematik. Insgesamt 8725 Patien- ten erhielten nach Randomisierung entwe- der 8 mg Dexamethason oder Placebo. Es stellten sich vergleichbare Raten an Wund- infektionen in beiden Behandlungsarmen (8,1 % vs. 9,1 %) dar, und auch nach Adjus- tierung für eine Diabeteserkrankung konn- 512 Wenk M, Massoth C. Dexamethason – Risikofaktor ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 512–514 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
te weiterhin eine Nichtunterlegenheit von Dexamethason gegenüber Placebo gezeigt werden (− 0,9 %-Punkte; 95 %-KI − 2,1 bis 0,3; p < 0,001) [7]. Merke Durch Gabe von Dexamethason kommt es nicht vermehrt zu postoperativen In- fektionen oder Wundheilungsstörungen, auch bei Diabetespatienten. Weitere Untersuchungen in spezifischen Patientenkollektiven mit Diabetes mellitus konnten ebenfalls keine relevanten nach- teiligen Effekte nachweisen. Ein systema- tischer Review mit Metaanalyse unter Be- rücksichtigung von insgesamt 2592 rando- misierten Patienten mit kontrollierter Dia- beteserkrankung (Dexamethason n = 1315, Placebo n = 1277) zeigte, dass eine einma- lige Gabe die Rate postoperativer Wund- infektionen nicht beeinflusst (Log Odds Ra- tio [LOR]: − 0,10, 95 %; 95 %-KI: − 0,64 bis 0,44) und sogar mit weniger postopera- tiven Komplikationen (PONV, Schmerzen, Länge des ICU- und Klinikaufenthalts, kar- diale und respiratorische Ereignisse) ein- hergehen kann [8]. In diesen Untersuchungen konnten zwar Auslenkungen des Blutzuckerspiegels als Folge einer Dexamethasongabe beobach- tet werden, deren klinische Relevanz scheint aber bislang deutlich überschätzt worden zu sein. So berichtete ein aktueller großer systematischer Review mit Meta- analyse über 23 randomisiert-kontrollierte Studien und insgesamt 11 154 Patienten zwar häufiger Hyperglykämien nach Dexa- methason-Applikation (2,7 % vs. 1,2 %), Subgruppenanalysen stellten diesbezüglich aber keinen Unterschied zwischen Patien- ten mit und ohne Diabetes mellitus fest (p = 0,89). Auf den ersten Blick konnte im Zusam- menhang mit Dexamethason zwar zu allen untersuchten Zeitpunkten eine signifikant höhere Auslenkung des Blutzuckerspiegels im Vergleich zu Placebo beobachtet wer- den; das tatsächliche Ausmaß stellte sich jedoch verhältnismäßig gering und ohne klinische Relevanz dar, exemplarisch: ▪ 2 Stunden: 6,7 mg/dl (95 %-KI: 2,9– 10,5 mg/dl) ▪ 24 Stunden: 10,6 mg/dl (95 %-KI: 4,0– 17,3 mg/dl) Die Autoren folgerten, dass der zu erwar- tende Anstieg bei der Mehrheit der Patien- ten eine Obergrenze von 180 mg/dl nicht überschreiten wird und daher bei norm- wertigen Ausgangswerten und eingestell- ten Blutzuckerwerten ohne klinische Rele- vanz bleibt [9]. Merke Im Zusammenhang mit der Dexametha- son-Gabe können zwar signifikant höhere Auslenkungen des Blutzuckerspiegels be- obachtet werden; das tatsächliche Aus- maß stellt sich jedoch verhältnismäßig gering und ohne klinische Relevanz dar. Ein weiterer interessanter Aspekt der intra- operativen Dexamethason-Gabe ergibt sich aus der Frage der Dosierung: Das empfoh- lene Intervall der PONV-Leitlinie bewegt sich im Bereich von 4–10 mg [1]. Während 4 mg für die PONV-Reduktion bereits aus- reichen, können adjuvante koanalgetische Effekte ab einer Dosis von 8 mg beobach- tet werden. Die S3-Leitlinie zur Behandlung akuter peri- operativer und posttraumatischer Schmer- zen von 2021 empfiehlt die systemische Einmalgabe von 8 mg zur Verlängerung der Wirkung peripherer Regionalanästhe- sien, aber auch als Teil eines multimodalen Schmerzkonzepts für verschiedene Eingrif- fe wie Sectio caesarea, laparoskopische Cholezystektomie oder Tonsillektomie [10]. Eine Dosierung von 8 mg scheint ebenfalls dazu geeignet, die Inzidenz von Hals- schmerzen nach endotrachealer Intubation zu senken; in einer kleinen prospektiven Kohortenstudie deutete sich hier ein über- legener Effekt gegenüber Lidocain oder kei- ner Intervention an (32 % vs. 40 % Lidocain- gruppe, 57,1 % Kontrollgruppe; p = 0,0356). Merke Bezüglich der Dosierung von Dexametha- son ist es so, dass 4 mg für die PONV- Reduktion bereits ausreichen; ab einer Dosis von 8 mg sind zusätzlich koanalge- tische Effekte zu erzielen. in Bezug auf die verwendete Dosis (4 mg vs. 8 mg): So konnte in sequenziellen Mes- sungen lediglich für den 24-Stunden-Wert eine höhere Auslenkung festgestellt wer- den (4,0–19,5 mg/dl vs. − 8,3 bis 7,0 mg/ dl [9]. KERNAUSSAGEN ▪ Eine perioperative Einmalgabe von Dexamethason kann auf- grund des günstigen Nebenwir- kungsprofils und der zahlreichen positiven Eigenschaften generell großzügig erfolgen. ▪ Eine einmalige Gabe von Dexa- methason ist nicht mit einem er- höhten Risiko für Wundheilungs- störungen assoziiert. ▪ Das Vorliegen einer eingestellten Diabeteserkrankung stellt keine Kontraindikation für eine einma- lige Gabe dar. ▪ Die Auswirkung von repetitiven Gaben von Dexamethason auf Wundinfektions/-heilungsraten bei Wiederholungseingriffen ist nicht abschließend geklärt. ▪ Definitive Anwendungsbeschrän- kungen sollten im Einzelfall bei onkologischen Erkrankungen wie Lymphomen, Leukämien oder Tu- morlyse-Syndrom sowie bei flori- den Infektionen geprüft werden. Interessenkonflikt Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Autorinnen/Autoren Prof. Dr. med. Manuel Wenk Medizinstudium Universität Göttingen, 2003–2008 Assis- tenzarzt Universitätsklinik Münster, bis 2011 University of Western Australia in Perth. Bis 2019 Leitender Oberarzt Uniklinik Münster. 2019–2022 Chefarzt am Florence-Nightingale-Krankenhaus Düssel- dorf. Seit 2023 Chefarzt der Klinik für Anäs- thesiologie und operative Intensivmedizin am Clemenshospital und der Raphaelsklinik in Münster. ▪ 12 Stunden: 16,2 mg/dl (95 %-KI: 11,2– 21,4 mg/dl) Auswirkungen auf den Blutzuckerspiegel unterscheiden sich dabei nur geringfügig Wenk M, Massoth C. Dexamethason – Risikofaktor ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 512–514 | © 2025. Thieme. All rights reserved. 513
Mythen & Fakten Priv.-Doz. Dr. med. Christina Massoth Oberärztin der Klinik für Anäs- thesiologie, operative Inten- sivmedizin und Schmerzthera- pie der Universitätsklinik Münster. Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Manuel Wenk Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin, Clemenshospital Düesbergweg 124 48153 Münster Deutschland manuel.wenk@alexianer.de Literatur [1] Gan TJ, Belani KG, Bergese S et al. Fourth Consensus Guidelines for the Management of Postoperative Nausea and Vomiting. Anesth Analg 2020; 131: 411–448. DOI: 10.1 213/ANE.0000000000004833 [2] Corcoran TB, Edwards T. A Survey of Anti- emetic Dexamethasone Administration – Frequency of use and Perceptions of Benefits Katerenchuk V, Ribeiro EM, Batista AC. Im- pact of Intraoperative Dexamethasone on Perioperative Blood Glucose Levels: System- atic Review and Meta-Analysis of Random- ized Trials. Anesth Analg 2024; 139: 490– 508. DOI: 10.1213/ANE.0000000000006933 [10] Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e. V.. S3-Leitlinie „Be- handlung akuter perioperativer und post- traumatischer Schmerzen“. 2021. Zugriff am 17. Juli 2025 unter: https://register.awmf. org/assets/guidelines/001-025l_S3_Behand- lung-akuter-perioperativer-posttraumati- scher-Schmerzen_2022-11.pdf Bibliografie Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 512–514 DOI 10.1055/a-2643-7242 ISSN 0939-2661 © 2025. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse- Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany and Risks. Anaesth Intensive Care 2015; 43: 167–174. DOI: 10.1177/0310057X1504300 205 [9] [3] Stahn C, Buttgereit F. Genomic and nonge- nomic effects of glucocorticoids. Nat Clin Pract Rheumatol 2008; 4: 525–533. DOI: 10. 1038/ncprheum0898 [4] Myles PS, Corcoran T. Benefits and Risks of Dexamethasone Surgery. Anesthesiology 2021; 135: 895–903. DOI: 1 0.1097/ALN.0000000000003898 in Noncardiac [5] [6] Tappy L, Randin D, Vollenweider P et al. Mechanisms of dexamethasone-induced in- sulin resistance in healthy humans. J Clin En- docrinol Metab 1994; 79: 1063–1069. DOI: 1 0.1210/jcem.79.4.7962275 Polderman JA, Farhang-Razi V, Van Dieren S et al. Adverse side effects of dexamethasone in surgical patients. Cochrane Database Syst Rev 2018(11): CD011940. DOI: 10.1002/146 51858.CD011940.pub3 [7] Corcoran TB, Myles PS, Forbes AB et al. Dexa- methasone and Surgical-Site Infection. N Engl J Med 2021; 384: 1731–1741. DOI: 10.105 6/NEJMoa2028982 [8] Jones IA, LoBasso MA, Wier J et al. Periopera- tive Dexamethasone in Diabetic Patients: A Systematic Review and Meta-Analysis of Ran- domized, Placebo-Controlled Trials. Anesth Analg 2024; 139: 479–489. DOI: 1 0. 1 21 3/ ANE.0000000000007007 514 Wenk M, Massoth C. Dexamethason – Risikofaktor ... Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2025; 60: 512–514 | © 2025. Thieme. All rights reserved.
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Impressum Anästhesiologie Intensivmedizin Notfallmedizin Schmerztherapie (AINS) 60. Jahrgang Die Anästhesiologie Intensivmedizin Notfallmedizin Schmerztherapie (AINS) erscheint mit 12 Ausgaben in 10 Heften pro Jahr. ISSN (Print): 0939-2661 eISSN: 1439-1074 Copyright & Ownership Wenn nicht anders angegeben: © 2025. Thieme. All rights reserved. Die Zeitschrift AINS ist Eigentum von Thieme. Georg Thieme Verlag KG, Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany Herausgebendengremium Prof. Dr. M. Adamzik, Bochum; Prof. Dr. med. G. Beck, Mannheim; Prof. Dr. W. Koppert, Hannover; Prof. Dr. G. Marx, Aachen; Prof. Dr. P. Meybohm, Würzburg; Prof. Dr. P. Rosenberger, Tübingen; Prof. Dr. V. von Dossow, Bad Oeynhausen; Prof. Dr. J. Scholz, Kiel; Prof. Dr. C. Spies, Berlin; Prof. Dr. F. Wappler, Köln; Prof. Dr. H. Wulf, Mar- burg; Prof. Dr. Dr. K. Zacharowski, Frankfurt/Main. 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